Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 2: Vergangenheit ------------------------ Dass Nathan nicht, nachdem er weggezogen war, in irgendeinem dunklen Raum gesessen und sich über seinen genialen Schachzug amüsiert hatte, war Shinji schon länger klar. Dass er wahrscheinlich gar nicht wusste, was genau passiert war, dämmerte Shinji nun auch so langsam. Dennoch hatte er sich ausgenutzt und betrogen gefühlt und vor allem hintergangen. Und trotz allem kam jetzt das verquere Bedürfnis in ihm auf, sich Nathan einfach an die Brust zu werfen und ihm zu erzählen, wie gemein die anderen zu ihm gewesen waren. Das war aus mehreren Gründen ungewöhnlich und der wichtigste davon: Er war gewiss keine Heulsuse. War er nie gewesen. Wenn er sich in eine Ecke gedrängt fühlte, biss er eher um sich wie ein verletztes Tier. Aber er weinte nicht. Ein anderer Grund war, dass er seine Probleme gewöhnlich immer selbst geregelt und nie Schutz bei Anderen gesucht hatte. Es war also eine wirklich merkwürdige Situation. Aber Nathans Auftauchen und seine Frage, die Shinji als unglaublich fehl am Platz empfand, ließen diesen Drang in ihm aufkommen. Deshalb wusste er nicht wirklich, was er antworten sollte. Offensichtlich - und das musste er sich langsam wirklich eingestehen - hatte Nathan nicht einmal eine Ahnung davon, was los war. Das wiederum ließ ganz andere Fragen aufkommen. Auch wenn er eigentlich nur weg wollte, war die kleine Stimme, die kleine Flamme der Hoffnung, plötzlich so dominant, dass er stehen blieb und durchatmete. Wahrscheinlich war das hier die einzige Chance, die er bekam, um alles zu klären und wenn sie schon dabei waren, warum dann nicht auch noch den Rest aufdecken? Dann konnte er das alles endlich hinter sich lassen. "Beantworte mir eine Frage...", murmelte er noch leiser, damit auch ja niemand sie hören konnte. Plötzlich schlug sein Herz ihm bis zum Hals und seine Handflächen wurden feucht. "Warum hast du..." Ihm blieb das verdammte Wort im Hals stecken. Noch heute war der Schaden so groß, dass er es nicht einmal aussprechen konnte. Er sollte sich zusammenreißen und es einfach durchziehen, aber er konnte nicht. Stattdessen begann er innerlich zu zittern und seine Kehle schnürte sich zu. "Warum hast du...", setzte er erneut an und bemerkte, dass er die Worte fast schon hervor würgte. Er konnte das nicht. "... das gemacht?", beendete er deshalb. Spezifischer konnte er einfach nicht werden. Diese dumme Hoffnung in ihm, pochte noch immer darauf, dass es alles nur ein Missverständnis gewesen war. Nathan war etwas näher gekommen, wahrscheinlich um ihn besser zu verstehen, doch es war Shinji schon zu nah. Ausweichen konnte er nur auch nicht, denn dann hätte er lauter sprechen müssen und das war ihm unmöglich. Wenn das jemand hörte! Wobei es ihm auch bereits den Schweiß auf die Stirn trieb, dass andere die körperliche Nähe missverstehen könnten. Hoffentlich zog niemand die falschen Schlüsse. "Ich nehme an, du meinst damit nicht den Umzug..." Shinji erstarrte, ehe er seine Kiefer wieder wütend aufeinander presste: "Machst du dich gerade über mich lustig!?" Es war eine dumme Idee gewesen einzulenken. Eine verdammt dumme. Wie war er überhaupt darauf gekommen? "Vergiss es einfach!", zischte er... aber er ging nicht. Verdammt nochmal, warum bewegten sich seine Füße nicht!? Vorwärts! Los jetzt! Doch er bewegte sich keinen Millimeter. Er stand nur da und starrte in seinen leeren Einkaufskorb. "Seh ich so aus, als würde ich dich verarschen?" Die Stimme von Nathan war dermaßen verwirrt, dass Shinji das Gefühl hatte, irgendetwas verpasst zu haben. "Shinji, bitte rede mit mir. Was um alles in der Welt habe ich getan, das dich so fertig macht?" Jetzt hob Angesprochener doch wieder den Kopf und sah den Anderen vollkommen fassungslos an. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob das Nathans Ernst war. Er sah deutlich die Sorge und Verwirrung in den Augen seines ehemaligen Kumpels, doch für Shinji war es unbegreiflich, dass er immer noch keine Ahnung hatte. Sie nie gehabt hatte... "Wofür hast du dich denn gerade entschuldigt, wenn du nicht weißt, wovon ich rede!?" Jetzt fühlte er sich wirklich verarscht. Hatte Nathan ihn nur einwickeln wollen? Mit einem Mal schlossen sich die Hände, die gerade noch vollkommen verkrampft um den Griff des Einkaufswagens gelegen hatten, um Nathans Kragen und zogen ihn etwas zu sich herunter. "Muss dir ja tierisch egal gewesen sein, wenn du es einfach vergessen hast!", spuckte er ihm förmlich ins Gesicht. Zu laut! Viel zu laut! Doch er konnte nicht aufhören, obwohl das innere Zittern sich bereits auf seine Hände übertrug. Zu viel Aufmerksamkeit, zu viele Missverständnisse! Der halbwegs rationale Teil seines Hirns feuerte Warnsignale, doch er ignorierte sie. Was jetzt folgte, platzte einfach aus ihm heraus. "Mir war's das nicht! Ich habe dir vertraut! Ich hab' mir Mut antrinken müssen, damit ich überhaupt mit jemandem darüber reden konnte! Über diese komischen Träume und die anderen Anwandlungen! Und du brabbelst noch was davon, wie froh du bist und dass du mich magst und dass du mir zeigst, dass das alles gar nicht so schlimm und ganz normal ist! Und danach!? Nichts! Gar nichts und dann bist du einfach weg und lässt mich mit der ganzen Scheiße alleine! Und kaum bist du weg und hast rein gar nichts mehr zu befürchten, geht so ein scheiß Video von uns durch die ganze Schule!" Nathan stand da, wie vom Donner gerührt. Und dann schien ihn die Erkenntnis zu treffen. Shinji konnte förmlich sehen, wie es in Nathans Kopf arbeitete. Als sich Nathans Hände dann auf seine legten, ließ er es zu, dass er sich von ihm löste, ein wenig Abstand nahm und ihn leicht geschockt, aber auch nachdenklich musterte. "Was für ein Video?" Zitternd atmete Shinji durch und ließ selbst erst einmal sacken, was gerade geschehen war. Es war raus. Er hatte es ausgesprochen und plötzlich fühlte er sich nicht nur unglaublich müde, sondern auch vollkommen leer. All die Jahre hatte er das mit sich herum geschleppt, hatte sich ausgemalt wie es war, Nathan das ins Gesicht zu sagen, ihm zu sagen, was er von ihm hielt. Und jetzt war es raus und die Welt drehte sich einfach weiter. Es hatte sich nichts verändert. Seine Hände lagen kraftlos und leicht zitternd in denen von Nathan, während er geradeaus auf die Brust seines Gegenübers starrte. "Ich glaube es war wer aus unserer Clique", murmelte er leise. "Aber als ich es mitbekommen hab, war das Video schon zu weit verbreitet." Er hatte nicht einmal eine Ahnung, wie es sich überhaupt so schnell hatte verbreiten können. Internet, so wie man es heute kannte, hatte es damals noch nicht gegeben. Bitter presste er die Lippen aufeinander. "Und von wegen so was ist ganz normal." Jetzt fing er doch noch an zu jammern, aber er konnte nicht anders. Nathan hatte ihm versprochen, dass er nicht abnormal war! Und er hatte ihm geglaubt... "Sie haben mich alle spüren lassen, wie abnormal das ist. Ich war mal einer der beliebtesten Jungs in der Schule gewesen. Auf jeder Party eingeladen... immer vorne dabei. Das war dann sehr plötzlich Geschichte. Und als mein Dad es mitbekommen hat... ich will gar nicht mehr daran denken... seitdem hab ich nicht mehr mit ihm geredet... er will nichts mehr von mir wissen." Dass er ihn mit achtzehn vor die Tür gesetzt hatte, konnte er nicht einmal aussprechen und er unterdrückte krampfhaft die Erinnerungen an die Worte und den Gesichtsausdruck seines Vaters. Er wollte sich nicht daran erinnern. Nie wieder. Einige lange Sekunden war es still, ehe er wieder leise, aber gepresste Worte von seinem ehemaligen Freund hörte: "Entschuldige... dass ich nicht an deiner Seite war." Und diesmal glaubte Shinji ihm, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Die Wut war endgültig verraucht. Die Wut, die er all die Jahre mit sich herum geschleppt hatte und die ihn Nathan keinen einzigen Tag hatte vergessen lassen. Es war weg und er fühlte sich doch kein Stück besser. Nur leer. So hatte er sich das nie vorgestellt. In seiner Fantasie war an diesem Punkt wieder alles gut. In seiner Fantasie hatte er sich danach befreit gefühlt. Aber es war einfach nichts da. Nur der dumpfe Schmerz, der sich langsam wieder in den Hintergrund seines Bewusstseins schob. Etwas hilflos sah er auf seinen leeren Einkaufswagen, nachdem er seine Hände endlich aus Nathans gelöst hatte und wusste nicht recht, wie er jetzt weiter machen sollte. "Schon in Ordnung", begann er dann langsam. Er sah, dass Nathans ganze Körper unglaublich angespannt war, doch Shinji wusste, dass dessen Wut nicht ihm galt, sondern der Vergangenheit. Nathans Beschützerinstinkt hatte eingesetzt und wäre ein ehemaliges Cliquenmitglied gerade hier, wäre wohl die Hölle los. Aber Nathan riss sich zusammen, wahrscheinlich Shinji zuliebe. Nein... sein ehemaliger Freund hatte wirklich nichts mit der ganzen Sache zu tun gehabt. Eigentlich war es von Anfang an lächerlich gewesen, überhaupt zu glauben, dass er es hätte. Aber er hatte irgendwem die Schuld geben müssen und es war einfacher gewesen, sie auf jemanden zu schieben, der nicht dagewesen war, als sie bei sich selbst zu suchen. Ein leises Seufzen entkam Shinji und ihm wurde klar, dass er es gerade nicht ertrug, allein in seine leere Wohnung zurückzukehren. So tief konnte er sich nicht in seine Arbeit stürzen, dass ihm das hier nichts mehr ausmachte. Er wollte gerade nicht allein sein. Das erste Mal in 15 Jahren, wollte er Gesellschaft. Wie absurd... "Ich brauch 'nen Kaffee...", sagte er dann, ohne Nathan anzusehen. "Kommst du mit?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)