Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 1: Wiedersehen ---------------------- Es war eine merkwürdige Zeit zum Einkaufen, aber das war vollkommene Absicht gewesen. Um diese Uhrzeit war hier kaum jemand im Laden, Shinji wusste das. Er mochte Menschen nicht besonders und größere Menschenmengen machten ihn nervös. Deshalb ging er ihnen aus dem Weg. Dummerweise war die Zeit auch eine, in der er normalerweise schlief. Zwar war es schon nach Mittag, doch meist arbeitete er bis Sonnenaufgang. Dementsprechend müde war er gerade. Aber es ging heute nicht anders. Er musste einkaufen, er konnte nicht die ganze Zeit von Pizza leben. Wozu hatte er auch kochen gelernt, wenn der Lieferservice seine Essgewohnheiten besser kannte, als er selbst? Mal abgesehen davon, dass man etwas mehr zum Leben brauchte, als Essen und er war kein großer Fan von Leitungswasser. Das hatte kein Koffein. Wenn er ehrlich zu sich war, wäre er auch nicht hier, wenn er noch Kaffee zu Hause hätte. Ein leerer Kühlschrank war zu verkraften, fehlendes Koffein nicht. Der Schlafmangel und der Entzug sorgten aber dafür, dass er ewig brauchte. Wo hatte er noch mal hin gewollt? Er sah auf seinen leeren Einkaufswagen und seufzte. War er nicht schon mal in dem Gang gewesen? Müde sah er sich um. Durch seine eigenen, trägen Bewegungen, kamen ihm die Leute um ihn herum geradezu hyperaktiv vor. Manchmal beneidete er sie dafür. Um die Kraft die sie hatten, die Ignoranz, die sie alle mit sich herum schleppten, wie er seine Müdigkeit. Er wünschte, er könne auch so ignorant sein. Stattdessen sah er unterbelichtete Menschen, die durch ihren Alltag hetzten, als hätten sie zu wenig Zeit. Dabei könnten sie sich diese Zeit nehmen. Sie taten Dinge, die sie nicht wollten, bereuten Entscheidungen, die sie niemals hatten treffen wollen und taten vor sich selbst doch so, als wären sie glücklich. Sie wirkten glücklich. Ob sie das auch waren? Ignoranz machte vieles einfacher. Er selbst war zufrieden. Es war nicht alles perfekt, aber die meiste Zeit fühlte er sich wohl. Er hatte sich sein Leben so gemacht, dass er damit klar kam und das beinhaltete möglichst wenig Kontakt mit Menschen. Kein leichtes Unterfangen, aber er hatte so lange daran gearbeitet, bis er das geschafft hatte. Als er seinen Weg fortsetzte, hatte er das Gefühl sich in Zeitlupe zu bewegen. Vielleicht sollte er sich erst einmal einen Kaffee oder Energy Drink holen und das Einkaufen später noch einmal versuchen. Dieser Alltagskram war einfach nichts für ihn. Das einzige was er wollte, war an seinen PC zurück und arbeiten. Erschreckt zuckte er zusammen, als ein lautes Scheppern in seinen Ohren klingelte. Ein viel zu lautes Geräusch, für diese Tageszeit. Erst danach realisierte er, dass er mit seinem Wagen gegen einen anderen gefahren war. Mit kaltem Blick fuhr er auf: "Hey du..." Ihm blieb der Rest des Satzes im Hals stecken, als er erkannte, wer da vor ihm stand. Nathan. Er hatte sich ganz schön verändert, aber Shinji würde ihn unter tausenden wieder erkennen. Er war noch ein gutes Stück größer geworden und noch muskulöser. Unter seinen hoch geschobenen Ärmeln, traten die Ansätze von Tattoos hervor. Die kurz geschorenen Haare ließen ihn noch bulliger und gefährlicher wirken. Shinjis Blick wurde kälter. "Arschloch", fluchte er und riss seinen Einkaufswagen herum um in einem anderen Gang zu verschwinden. Vielleicht hatte er ja Glück und der andere hatte ihn nicht erkannt. "Shinji!" Beinahe hätte Angesprochener seinen Wagen in die Pyramide aus Ananasdosen gesteuert, als er seinen Namen hörte. Nein, natürlich hatte er kein Glück. Zudem war sein Name derart euphorisch ausgesprochen worden, dass er sich fragte, ob der Andere die Beleidigung überhaupt gehört hatte. "Wie geht`s dir, Alter?" Die Hand, die seine Schulter traf, ließ ihn leicht zusammen zucken, bevor er sie weg schlug. "Lassen Sie mich in Ruhe. Sie verwechseln mich.", antwortete er so unfreundlich wie möglich, auch wenn er ahnte, dass es den überaus selbstbewussten Amerikaner nicht interessierte. Sie beide waren schon immer unglaublich stur gewesen. Leider konnte er nicht fliehen, denn Nathan hatte sich so gestellt, dass er die Dosen hätte umfahren müssen, um an ihm vorbei zu kommen. "Dann warst du also nicht auf der Johnson-High?" Er sollte einfach die Klappe halten! Am liebsten hätte er ihn umgefahren, aber er wollte nicht die Aufmerksamkeit des ganzen Ladens auf sich haben. "Seltsam", fuhr der Amerikaner fort, "Ich kann mich gut an dich erinnern. Wir waren doch eine größere Clique..." Gut an dich erinnern!? War das sein verdammter Ernst!? Wie konnte er das sagen, nach allem was... Er war eben doch genau das Arschloch, für das er ihn immer gehalten hatte. Er hatte ihn nur verarscht. All die verdammten Jahre lang. "Mann, wie viele Jahre ist das jetzt her? 15?" Noch nicht lange genug, wenn es nach Shinji ginge. Am liebsten hätte er Nathan sein verdammtes Grinsen aus dem Gesicht geschlagen! "Hören Sie", versuchte es Shinji noch einmal, mit unterdrückter Wut, "Ich kenne Sie nicht und ich habe heute noch was vor. Würden Sie mich also meinen Einkauf fortsetzen lassen?" Er wollte nur weg von ihm. Er wollte ihn nicht sehen, nicht mit ihm reden, gar nicht erst von seiner Existenz wissen. Nathan hatte ihn verarscht und es war eigentlich eine Schande, dass es jetzt schon wieder so weh tat, obwohl er es doch die ganze Zeit gewusst hatte. "Ich bin`s, Nate.", sagte sein Gegenüber, jetzt doch etwas verdutzt und sein Grinsen fiel endlich. "Erkennst du mich denn gar nicht mehr?" Wütend presste Shinji die Kiefer aufeinander und schaute angestrengt in seinen leeren Einkaufskorb. Er durfte nicht nachgeben. Nur noch ein bisschen und der Amerikaner würde endlich verschwinden, dann konnte er selbst wieder verdrängen, dass er überhaupt existierte. Nur noch ein wenig durchhalten. "Ist nicht gerade nett von dir, so zu tun, als würden wir uns nicht kennen." Nicht nett. Das traf einen dermaßen wunden Punkt, dass sich Shinji diesmal nicht zurückhalten konnte. Er explodierte: "Mir wirfst du vor 'nicht gerade nett' zu sein!? Fass dir erst einmal an die eigene Nase!" Er war viel zu laut. Seine eigene Stimme hallte schmerzhaft in seinen Ohren wider und er kauerte sich etwas zusammen, als habe er Angst, eine schlafende Bestie geweckt zu haben. "Du kannst froh sein, dass ich so tue, als würden wir uns nicht kennen.", zischte er jetzt wieder leise. Und da sowieso alles zu spät war, riss er den Einkaufswagen herum und versuchte, ohne Rücksicht auf Verluste, davon zu stapfen. "Und dein scheiß Grinsen kannst du dir sonst wo hin stecken!", setzte er noch nach, weil er einfach nicht anders konnte. Zu seinem großen Missfallen ging Nathan ihm allerdings nach. Natürlich ließ er ihn nicht in Ruhe! Dieser verdammte...! "Wann war ich denn nicht nett?" War das sein Ernst!? "Komm schon, Kumpel. Klär mich auf." War Nathan die ganze Sache tatsächlich dermaßen egal gewesen, dass er es vergessen hatte? War es für ihn nur ein dummer Scherz gewesen? Hatte er das alles vielleicht gar nicht mitbekommen? Das konnte er kaum glauben! Das konnte nicht sein! "Ist das dein Ernst!?", sprach er seine Gedanken laut aus. Natürlich wieder in gedämpfter Stimmlage. Sie zogen sowieso schon genug Aufmerksamkeit auf sich. "Raffst du es nicht!? Ich will nichts mit dir zu tun haben, also verschwinde einfach!" Verschwinden konnte der Kerl sowieso sehr gut. Wie befürchtet, vertrieb diese Ansprache den Anderen aber nicht. Stattdessen hielt Nathan jetzt seinen Wagen fest und machte es ihm so unmöglich, weiter zu fliehen. "Gut, ich verschwinde meinetwegen." Da war doch noch ein 'aber' in dem Satz. "Aber..." Na bitte. "... sag mir doch vorher wenigstens, warum du so sauer auf mich bist." Langsam musste er einsehen, dass er den Amerikaner nicht los werden würde, ehe er nicht Klartext gesprochen hatte. Offenbar hatte Nathan tatsächlich vergessen, was passiert war. Eine kleine, gemeine Stimme in seinem Kopf, wollte ihm weiß machen, dass Nathan vielleicht gar nichts damit zu tun gehabt hatte. Dass er nicht einmal etwas davon wusste und deshalb jetzt so ratlos vor ihm stand. Aber Shinji wollte dieser Stimme nicht vertrauen. Die Hoffnung war immer geblieben, aber er würde sie nicht auch noch nähren. Der Fall danach wäre so tief, dass er nicht wusste, ob er wieder aufstehen könnte. Wenn er also endlich nach Hause in sein sicheres Nest wollte, dann musste er hier jetzt durch. Also straffte er sich etwas und zischte so gefühlskalt wie er konnte: "Du hast mir meine Highschool Zeit komplett versaut und bist zu allem Überfluss danach einfach abgehauen! Deshalb bin ich sauer auf dich!" Er schnaufte vor unterdrückter Wut, aber er konnte nicht weg. Dass er einfach nur den verdammten Wagen loslassen müsste, sah er nicht. "Okay. Warte. Was?" Nathan schien ehrlich verwirrt über diesen Ausbruch und langsam musste Shinji wirklich glauben, dass er nicht wusste, was passiert war. Oder ob er es einfach nur als dummen Scherz gesehen hatte und die Konsequenzen nicht mehr mitbekommen hatte? Wusste er gar nicht, was er angerichtet hatte? Es war schwer zu glauben, aber die rohen Emotionen auf dem Gesicht des anderen machten Shinji unsicher. Wenigstens war Nathan das Grinsen endlich vergangen. "Ich bin umgezogen und nicht abgehauen.", stellte der Amerikaner erst einmal richtig. "Und ich kann mich nicht erinnern, dich gemobbt zu haben oder dergleichen. Also wie soll ich dir die Zeit dann versaut haben?" Shinji presste die Kiefer aufeinander und musste aufpassen, nicht frustriert zu schreien. Erinnerte dieses Arschloch sich denn tatsächlich nicht!? Er schloss kurz die Augen und rieb sich über den Nasenrücken, versuchte die Bilder wieder zu unterdrücken, die die aufkommenden Erinnerungen mit sich brachten. Er wollte gar nicht mehr daran denken. Nie wieder. Und dennoch wurde er dazu gezwungen, weil er Nathan nicht mehr los wurde, ehe er sich damit auseinander gesetzt hatte. Plötzlich fühlte er sich eingesperrt zwischen Nathan, der Gesellschaft und seinen eigenen Problemen und Komplexen. Er wollte einfach nur noch raus aus dieser Situation, doch nach einigen Sekunden fielen seine Schultern kraftlos und aufgebend und er senkte seinen Blick wieder auf den leeren Einkaufswagen. Müde diesen Kampf mit sich selbst zu führen, gab er einfach nach. Die Wut war urplötzlich verflogen und machte nur einer tiefen Leere Platz, in der ein dumpfer Schmerz hallte, der seit 15 Jahren nicht verklungen war. "Ist doch egal warum du weg warst. Du hast mich mit der ganzen Scheiße einfach allein gelassen. Ich hab mich dir anvertraut, du hast es ausgenutzt und dann warst du weg und ich stand da mit diesem ganzen Rattenschwanz an Problemen." Es war sehr lange unangenehm still um sie. Er hasste Stille, wenn er bei jemandem war. Sie war ihm unangenehm und ließ viel zu viel Platz um nachzudenken, um Dinge zu zerdenken. Normalerweise würde er sich jetzt an seinem Computer verkriechen und versuchen, das alles zu vergessen. "Entschuldige...", kam von seinem ehemaligen Kumpel. Shinji schnaubte. Das brachte ihm auch nicht viel, auch wenn es sich ein wenig gut anfühlte. Ein kleines bisschen nur. Als Nathan ihm mit einer Hand kumpelhaft auf die Schulter klopfte, wischte er sie dennoch vehement fort. "Kann ich jetzt gehen?", zischte er weiterhin schlecht gelaunt und hoffte, dass ihn der Amerikaner endlich entließ. "Klar..." Doch als er sich gerade erleichtert abwenden wollte, ertönte Nathans Stimme erneut: "Habe ich keine Chance, mit dir mal was trinken zu gehen?" Hosted by Animexx e.V. 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