Blutsbande von Cedar ================================================================================ Kapitel 1: Teil 1. Verschwörung. Verrat. Auftakt. ------------------------------------------------- Teil 1. Verschwörung. Verrat. Auftakt. I They say before you start a war You better know what you're fighting for [Angel with a Shotgun – The Cab] „Jetzt gibt es kein Zurück mehr, oder?“, fragte sie, als sie das Blut sah. Es tropfte von seinen Händen. „Nein“, antwortete er und zog die Tür hinter sich zu. Ihre Arme schlossen sich fester um den schlafenden Jungen auf ihrem Schoß. „Sie alle, ja?“ „Fast.“ Mit einem weißen Handtuch rieb er sich das feuchte Rot von der Haut. Nur unter seinen Fingernägeln blieben dunkle Ränder zurück. „Danzō fehlt noch.“ „Und... Itachi?“, fragte sie zögerlich. „Was ist mit ihm?“ Keine Antwort. Das sprach wohl für sich. Ihre Sicht verschwamm. „Bitte, Fugaku.“ Sie zitterte. „Falls er-... Oder wenn du ihn-... Ich will wirklich nur wissen, ob-...“ Eine erste Träne rann über ihre Wange. Für einen kurzen Moment sah sie klar, dann trübte ihre Sicht wieder ein; wurde wieder klar, als die zweite Träne aus ihrem Augenwinkel perlte. „Geht es ihm gut?“ Fugaku legte das Handtuch zur Seite. „Keine Sorge, er lebt. Wir haben ihn in der Nähe des Nakano-Flusses gestellt und verhaftet.“ Ihr Herz pochte so wild, dass sie fürchtete, es könnte den Jungen in ihren Armen wecken. „Und was wird jetzt aus ihm?“ Fugaku streifte sich das blutgetränkte Hemd vom Körper. Ein frisches lag schon bereit. Als er vor ein paar Stunden aufgebrochen war, hatte sie gewusst, dass er eines brauchen würde. Er entfaltete es. „Ist noch nicht entschieden. Aber Verrat ist Verrat, Mikoto.“ Mikoto strich sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Verstehe...“ Schweigen. Minuten lang. Aber Mikoto hatte dieses Gefühl, dass Fugaku auch ohne Worte deutlich hören könnte, was sie dachte. „Ich werde mich für ihn einsetzen“, sagte er schließlich. „Aber ich weiß nicht, ob das etwas nutzt.“ „Du musst tun, was du kannst.“ Mikoto konnte kaum sprechen, so sehr bemühte sie sich, die Tränen zurückzuhalten. Ihre Stimme klang ungewohnt hart. „Itachi ist trotz allem unser Sohn. Vergiss das bitte nicht. Ich will ihn nicht verlieren! “ „Das haben wir schon längst.“ Fugaku stand mit dem Rücken zu ihr; so konnte sie nicht sehen, dass auch seine Augen verräterisch glitzerten. „Itachi hat seine Seite gewählt. Selbst wenn ich es schaffe, die anderen davon zu überzeugen, sein Leben zu verschonen, ändert das nichts. Er hat sich entschieden! Und egal, wie oft ich ihn vor die Wahl stelle, er wird seine Meinung nicht ändern. Er wird sich immer wieder gegen uns entscheiden. Er ist weg – endgültig und unerreichbar.“ Fugakus Schultern bebten. „Es wäre weniger schmerzhaft, wenn er... wenn er...“ „Wenn er einfach tot wäre“, flüsterte Mikoto. Sie hob den Jungen in ihren Armen ein paar Zentimeter an, zog ihre Beine unter seinem Körper hervor und bettete ihn vorsichtig auf die Tatami-Matten auf dem Fußboden. „Ja, das wäre es“, fuhr sie fort, während sie sich erhob und auf ihren Mann zu ging. „Den Tod unseres Sohnes betrauern zu dürfen wäre weniger schmerzhaft, als ihn für seinen Verrat verachten zu müssen .“ Von dort, wo sie gesessen hatte, bis zu Fugaku waren es genau elf Schritte: ...acht. Neun. Zehn. Elf... Mikoto schloss ihre Arme um seinen Bauch. Ihr Kinn schmiegte sich an seine Schulter. Sie küsste seinen Hals. Seufzend ließ Fugaku seine Wange gegen ihr Haar sinken. „Das werde ich nie, oder? Ich werde ihn niemals verachten.“ „Wie könntest du?“, murmelte sie. „Er ist dein Sohn. Du wirst ihn immer lieben.“ Und du wirst dich nie davon erholen, dass du ihn verloren hast. Es wird immer weh tun. „Lass' nur niemals irgendjemanden außer mir wissen, wie du wirklich empfindest. Sie würden deinen Schmerz falsch verstehen und das Vertrauen in dich verlieren.“ Er drehte sich in ihrer Umarmung herum. Ich weiß, sagte der trostlose Ausdruck in seinem Gesicht. Mikotos Herz wollte brechen, als sie seine geröteten Augen und die Nässe auf seinen Wangen sah. Sie schluchzte. Ihre Finger vergruben sich in den Falten seines Hemdes. „Wenn sie auf seinen Tod bestehen, darfst du nicht zögern. Tu' es einfach.“ Sie zitterte wieder. „Tu' es wirklich selbst, um sicherzugehen, dass es schnell geht und er nicht leiden muss. Verrat hin oder her – das bist du unserem Sohn schuldig.“ Fugaku hob die linke Hand, berührte mit den Fingerspitzen ihre Schläfe und erfühlte so ihren rasenden Puls. Er glitt über ihren Kiefer, ihre Wange und schließlich mit dem Daumen über ihre Lippen, ehe er diese mit seinen berührte. „Versprochen“, flüsterte er in den Kuss. Seufzend schlang Mikoto beide Arme um seinen Nacken und schmiegte sich enger an ihn. Du bist ein guter Mensch, Fugaku, dachte sie dabei. Ich wünschte, die Welt wüsste das. Hinter ihnen klopfte es an die Tür. „Wir sind so weit, Taichō. Es kann losgehen.“ Mikoto spürte – oder glaubte zu spüren – dass Fugaku seine Lippen nur widerwillig von ihren löste. „Gleich“, sagte er über die Schulter durch das Holz. Die plötzliche Härte in seiner Stimme versetzte Mikoto einen Stich. „Geht schon mal vor. Ich komme nach.“ „Hai.“ Verhallende Schritte im Flur hinter der Tür. Mikoto zögerte kurz, ehe sie Fugaku die Tränen aus dem Gesicht strich. Trotz ihrer eigenen zwang sie sich zu lächeln. „Bist du bereit?“ „Fest entschlossen auf jeden Fall.“ Fugaku nahm ihre Hände in seine und behauchte sie mit einem Kuss, bevor er sich vorsichtig an ihr vorbei schob, um die elf Schritte zu gehen, die der schlafende Junge von ihnen entfernt lag. Mikoto blieb an Ort und Stelle zurück. Frische Tränen füllten ihre Augen, als sie sah, wie Fugaku sich neben dem Jungen niederkniete, ihm das schwarze Haar aus dem Gesicht strich und seine Stirn küsste. „Ich liebe dich, mein Sohn“, flüsterte er dem Kind zu. „Wenn du das nächste Mal aufwachst, wird es vorbei sein. Dann wird endlich alles gut.“ Fugaku küsste den Jungen ein zweites Mal. „Ich versprech's dir.“   II Out of the blue and into the black [My my, hey hey (Out of the Blue) – Neil Young] Hätte Amaya sich bei einer Mission zwei Wochen zuvor nicht die linke Schulter ausgerenkt, wäre an jenem Abend wohl vieles anders gekommen. Vermutlich wäre sie mit ihrem Team irgendwo auf der Strecke zwischen Na no Kuni und Konoha unterwegs gewesen, anstatt zu Hause über dem Spülbecken zu hängen und das Gesicht schlürfend im roten Fruchtfleisch einer Wassermelone zu vergraben. Tropfen des klebrigen Safts trieften ihr bei jedem Bissen über die Finger und plätscherten mit hohlen „Plong!“-Geräuschen in den Abfluss. Sie stand barfuß in der Küche, nur in ein weißes Handtuch mit dunkelblauen Tupfen gewickelt. Auf ihrer Haut glitzerten noch kleine Schweißperlen vom heißen Bad, das sie vor wenigen Minuten genommen hatte. In knotigen Strähnen klebte das nasse Haar an ihrem Rücken und auf ihren Schultern. An den Längen ihrer violetten Locken rannen kleine Wassertropfen herab und sammelten sich in den Spitzen, bis sie zu schwer wurden und auf die weißen Fliesen stürzten. Amaya spürte die winzigen Spritzer auf ihren Zehen. Das Fenster stand offen. Eine kühle Brise wehte durch das Haus und trug aus der Ferne die Worte einer harschen Stimme mit sich: „An alle Dorfbewohner: zieht euch sofort in die Evakuierungstunnel zurück! Das ist ein Befehl des Hokage! Konoha ist in Gefahr! Helft euch gegenseitig!“ Amaya hörte den Ruf, nahm ihn aber nicht wahr. Er war noch zu fern, zu dumpf, um herauszustechen; nur ein Geräusch unter vielen neben Vogelgezwitscher, dem klingelnden Windspiel vor dem Fenster und den bellenden Hunden der Inuzuka, deren Anwesen auf der anderen Straßenseite lag. „Alle Ninja versammeln sich auf dem 34. Übungsgelände! Wartet auf weitere Befehle!“ Amaya ließ die abgenagte Melonenschale ins Spülbecken klatschen und leckte sich den süßen Saft von Fingern von Lippen, ehe sie zum nächsten Stück griff. Ein paar der braun-schwarzen Kerne plumpsten auf ihre nackten Zehen, als sie von diesem zweiten Schnitz abbiss, sich aber nicht schnell genug nach vorne über das Spülbecken lehnte. Im gleichen Augenblick klingelte es an der Tür. Schmatzend schielte Amaya zur Uhr über dem Herd. Zu früh, behaupteten die Zeiger. Und zwar eine Stunde. Amaya legte das angeknabberte Melonenstück auf den Teller zurück und wischte sich mit einem karierten Geschirrtuch Mund und Finger ab. „Ick bing nock nickt fergig, Anko“, rief sie auf dem Weg zur Tür; undeutlich, weil sie sich mit einem Zahnstocher Fruchtfleisch aus den Zahnzwischenräumen pulte. „Aber im Kühlschrank ist noch etwas Sake, falls du-“ Amaya brach ab, weil sie nun nahe genug am Hauseingang war, um zu erkennen, dass zwei Personen hinter der Schiebetür warteten: zwischen den Gitterstreben warfen ihre Körper krumme Schatten auf das cremefarbene Reispapier mit seinem dunkelgrünen Bambusdruck. Eine Faust hämmerte gegen den Holzrahmen. „Aufmachen!“ „Es gibt ein Problem!“ Amaya klemmte sich das Handtuch sorgfältig unter den Achseln fest, denn den Stimmen nach zu nach zu urteilen gehörten die Schatten vor der Tür zu zwei Männern. Vorsichtig zog sie die Tür kleinen Spalt weit auf, um nach draußen zu spähen, zwei Paar blutroter Sharingan-Augen entgegen. „Ja?“ „Wir wollen zu Tetsuka Jun“, sagte einer der beiden Männer, ein glatzköpfiger Hüne. Er überragte Amaya um zwei Köpfe, seinen Begleiter immerhin noch um einen. „Er soll sich sofort im Konferenzraum der Hokage-Residenz melden. Befehl des Sandaime.“ Die Sonne stand schon recht tief über dem Horizont, sodass ihr Licht in einem ungünstigen Winkel auf das Haus der Tetsuka fiel und Amaya blendete. Sie musste ihre Augen mit der Hand abschirmen, um nicht zu blinzeln. „Mein Vater ist auf einer Mission“, erklärte sie. „Ich weiß nicht, wann er wiederkommt.“ Die Männer tauschten einen kurzen Blick. Der Typ mit der Glatze zuckte die Achseln. „Wie heißt du, Mädchen?“, fragte der andere. Seine Augen funkelten, als er Amaya ansah. Sie zog das Handtuch straffer. „Tetsuka Amaya.“ „Tetsuka Amaya“, wiederholte er und nickte dabei langsam. Amaya erinnerte sich diesem Moment plötzlich sehr deutlich daran, wie sie vor vielen Jahren das erste Mal eine fauchende Klapperschlange am Wegrand gesehen hatte. Deren Augen hatten nämlich so ähnlich gefunkelt wie seine. „Dann wirst du anstelle deines Vaters gehen. Das wird schon niemanden stören. Hauptsache der Tetsuka-Clan ist vertreten...“ Amaya schüttelte den Kopf. „Vertreten wobei? Was ist denn los?“ „An alle Dorfbewohner: zieht euch sofort in die Evakuierungstunnel zurück! Das ist ein Befehl des Hokage! Konoha ist in Gefahr! Helft euch gegenseitig! Alle Ninja versammeln sich auf dem 34. Übungsgelände! Wartet auf weitere Befehle!“ Automatisch wand Amaya den Kopf in die Richtung, aus der sie den Ruf vermutete. Dieses Mal nahm sie ihn wahr: vom Dorfzentrum war er in den vergangenen Minuten näher an den Bezirk im Süden gerückt, in dem Amaya mit ihrem Vater lebte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. „Was ist hier los?“, fragte sie wieder. Ihre Stimme zitterte. Der Typ mit den funkelnden Augen winkte ab: „Du wirst es früh genug erfahren.“ „Beeil' dich einfach“, fügte sein Begleiter hinzu. „Im Konferenzraum der Hokage-Residenz. Es ist wirklich dringend.“ Ohne ein weiteres Wort der Erklärung kehrten die beiden Männer Amaya den Rücken und schritten hintereinander die drei Stufen des Treppenaufgangs hinab, der Vorgarten und Veranda miteinander verband. Die Rückseiten ihrer grauen Hemden waren mit dem Uchiha-Wappen bestickt. Amaya blieb ratlos im Türrahmen zurück und sah den beiden Männern mit pochendem Herzen und einem unangenehmen Ziehen im Unterbauch hinterher, wie sie den schmalen Schotterweg durch den Vorgarten nahmen, an den gelben Chrysanthemen, den lila gesprenkelten Krötenlilien und den goldorangen Azaleen vorbei. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, bis sie das von Efeu überwucherte Messinggatter im Gartenzaun hinter sich ließen. Staub wirbelte von der trockenen Straße auf, als die beiden Uchiha sie in einer diagonalen Linie überquerten. Vor dem Holztor, das zum Inuzuka-Anwesen führte, blieben sie stehen. Das Tor war mit einem Schild versehen, das einen schwarz-grauen Hund mit gesträubtem Fell zeigte. Über dem rechten Auge trug das Tier eine Augenklappe, sein linkes Ohr fehlte. Die zurückgezogenen Lefzen entblößten vergilbte Reiß- und Fangzähne. „Ich brauche fünf Sekunden zur Tür“, stand in roten Schriftzeichen neben der Fotografie. „Und du?“ Unbeirrt hämmerte der glatzköpfige Uchiha mit der Faust gegen das Holztor – direkt auf die Schnauze des Hundes auf dem Schild. „Aufmachen!“ Und der andere fügte hinzu: „Es gibt ein Problem!“ Hinter der Mauer brach ein Sturm von Knurren, Kläffen und Jaulen los, unterlegt von zischenden „Pssst!“-Lauten oder „Aus! Aus!“-Rufen, ehe das Tor aufschwang. Ein kleiner Junge mit braunem Haar kam dahinter zum Vorschein. Auf seinem Kopf trug er einen weißen Welpen. „Jaaaa?“, hörte Amaya den Kleinen mit seiner hohen Kinderstimme fragen. „Wir wollen zu Inuzuka Tsume.“ „Maaaamaaaa! Komm' mal!“ Amaya atmete tief durch und zog sich ins Haus zurück, um sich anzuziehen. Sie begann zu verstehen: Der Hokage versammelt die Anführer der Clans. Was immer uns bevor steht, es ist schlimm. Dass der Hokage zu diesem Zeitpunkt allerdings schon tot war, konnte sie nicht ahnen.   III For too long now, there were secrets in my mind For too long now, there were things I should have said In the darkness, I was stumbling for the door To find a reason, to find the time, the place, the hour [Tears of the Dragon – Bruce Dickinson] „Hattest du deine Hände schon mal im Kopf eines Menschen?“, fragte Natsume. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand steckten in einer Augenhöhle, aus der mehr Blut sprudelte als diese fassen konnte. Satoshi zog die Nase kraus. „Nein.“ „Das wirst du in ein paar Sekunden nicht mehr sagen können – komm' mal her.“ Zögerlich kam Satoshi ein paar Schritte näher und ließ sich neben Natsume im Gras nieder. Der Druck seiner Knie presste versickertes Blut aus der Erde, das an die Oberfläche quoll und den Stoff seiner hellgrauen Hose durchdrang. „Meine Finger verstopfen die Wunde, aus der er blutet“, erklärte Natsume. „Ich kann sie schließen, aber ich brauch' ein, zwei Minuten, um das Jutsu vorzubereiten. Du drückst hier so lange, damit er nicht noch mehr Blut verliert.“ Satoshi schluckte. „Ist das dein Ernst?“ „Bei so etwas scherze ich eher selten, weißt du.“ Der Körper des bewusstlosen Jungen unter Natsumes Hand zuckte. „Na, mach' schon – bevor er zu sich kommt.“ „Soll ich meine Hände vorher desinfizieren?“, fragte Satoshi. Sein Blick klebte nervös an Natsumes Hand, deren Zeige- und Mittelfinger halb zwischen Wimpern und geschlossenen Lidern verschwanden. Natsume zog eine Augenbraue nach oben. „Was glaubst du wohl, hm?“ „Entschuldige.“ Satoshi räusperte sich ,,Ich hab' so was noch nie gemacht.“ Die kleine Plastikflasche mit dem Desinfektionsmittel lag noch im Gras neben dem bewusstlosen Jungen, auf dessen T-Shirt das Emblem der Uchiha prangte. Satoshis Hand zitterte, als er sie aufhob und ihren schnabelförmigen Deckel mehrmals hintereinander herunter drückte. Feiner Sprühnebel benetzte seine Haut und sammelte sich zu einem dünnen Film. Satoshi verrieb ihn sorgfältig auf beiden Händen. Der Geruch von Alkohol brannte in seiner Nase und die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf – teils wegen des kühlen Desinfektionssprays; teils ob des Gedankens, gleich in eine blutende Augenhöhle zu fassen. Er streckte die Hand nach dem fleischigen Loch aus, zögerte aber beim Anblick seiner Fingernägel: mit einem Mal kamen sie ihm vor wie Klauen. „Baka!“, zischte Natsume, als Satoshi sich ohne Vorwarnung die Hand mit einer raschen Bewegung in den Mund steckte, um seine Fingernägel bis auf die Kuppe abzuknabbern. „Jetzt kannst du deine Hände noch mal desinfizieren! Mach' das doch davor.“ Satoshi hob das Desinfektionsspray ein zweites Mal auf. „Entschuldige“, sagte er wieder und spuckte einen dünnen Fetzen Horn aus, den er vom Nagel seines Zeigefingers abgezupft hatte. „Ich hab' so was wirklich noch nie gemacht.“ „Glaub' mir“, seufzte Natsume, „das sehe ich: du musst es mir nicht alle paar Sekunden sagen.“ „Sehr hilfreich, Mann. Wirklich. Danke.“ Natsume schnalzte mit der Zunge. „Jetzt steck' endlich deine Finger da rein!“ Satoshi zauderte, während er seinen Zeigefinger vorsichtig in die rote Pfütze tunkte. Sein Mittelfinger folgte. Das ist nur ein Glas mit Erdbeermarmelade, das zu lange in der Sonne stand, beschwor er sich selbst. Deshalb ist es warm. Deshalb ist es klebrig. Weil es geschmolzene Erdbeermarmelade ist, kein Blut: süße Marmelade, die Wespen anlockt und schimmelt, wenn man sie nicht in den Kühlschrank stellt. Mit einem schmatzenden Geräusch verdrängten Satoshis Finger Blut (Erdbeermarmelade!) aus der Augenhöhle (dem Marmeladenglas!). Es schwappte über die Ränder und verlief auf dem blassen Gesicht des bewusstlosen Uchiha: über seine Schläfen in die Ohren; über Wangen, Lippen, Kinn und Hals in seine Kleidung; über die Brauen und Stirn in den Ansatz seiner schwarzen, struppigen Haare. Die Wand der Augenhöhle (des Marmeladenglas'!) war wie Matsch von fauligem Obst (verkochte Erdbeeren!) und das Blut fühlte sich noch klebriger, schleimigeran als erwartet. Eher wie Sirup als Marmelade. Fetzen von bereits geronnenem Blut trieben in dem Seim und Satoshi kam es so vor, als wohnte diesen ein Eigenleben inne, sodass sie sich aktivum seinen Finger schlingen konnten. „Ich glaub', mir wird schlecht...“, murmelte er. Sein Handgelenk stieß gegen Natsumes. Sie kamen sich in der engen Augenhöhle (dem Marmeladenglas!) gegenseitig in die Quere. „Hast du's?“, fragte Natsume. Satoshis Finger glitten an die Stelle von Natsumes. Etwas pulsierte gegen seine Haut und er hatte das Gefühl, in einer zerquetschten Nacktschnecke herumzupulen. Erdbeermarmelade! Erdbeersirup!, schrie Satoshi sich in Gedanken an. Erdbeermarmeladeerdbeersiruperdbeermarmeladeerdbeersirup!   IV No mercy from the edge of the blade Dare escape and learn the price to be paid Let the water flow with shades of red now [Hail to the King – Avanged Sevenfold] Die Explosion schien nur darauf gewartet zu haben, dass Amaya das Haus verließ: kaum hatte sie den zweiten Fuß über die Türschwelle gesetzt, schoss nahe beim Haupttor der rubinrote Blitz zum Himmel empor. Nur einen Herzschlag später brach eine Welle von gleißendem Licht über die Dächer von Konoha hinweg. Die Luft flimmerte und der Boden vibrierte. Die Fenster der umliegenden Häuser bogen sich ächzend nach innen. Etwas streichelte über Amayas Körper; sanft wie eine Katzenpfote, aber unerträglich heiß. Hinter ihr fing das Reispapier der Schiebetür Feuer. Runter!, befahl ihr Verstand. Auf den Boden! Amaya nahm alle drei Stufen zwischen Veranda und Vorgarten auf ein Mal. Kaum berührten ihre Füße den Boden, warf sie sich bäuchlings in den Schotter zwischen den Blumenbeeten. Zum Schutz von Hals und Kopf verschränkte sie die Hände im Nacken. Mit einem schwingenden Krachen barst das gebogene Glas der Fensterscheiben. Wie Blütenblätter im Frühling fegten scharfe Splitter über Amaya hinweg und regneten dumpf klirrend auf ihren Körper, den Schotter, die Dächer und die Blumenbeete nieder. Nur zögerlich hob sie ihren Kopf wieder an und erstarrte: Was zur Hölle ist das?! Vornüber gekrümmt und stocksteif stand es da, am östlichen Rande des Dorfes, jenseits der Mauer: dieses halbdurchsichtige Geisterskelett, das goldgelb leuchtete und von zuckenden Flammen umschlängelt wurde. Es ragte weit aus den Baumwipfeln empor und über die Dorfmauer hinweg. Allein einer seiner Halswirbel war größer als Amaya selbst und die Dächer der höchsten Häuser Konohas reichten ihm gerade mal bis zu den untersten seiner nackten Rippen. Wie Klauen klammerten diese sich am Brustbein des strahlenden Knochenwesens fest. Kein Herz schlug dahinter. Die Augenhöhlen des blanken Schädels glühten rot und anstatt einer Nase war da ein schwarz-gelbes Loch in Form eines um 180 Grad gewendeten Herzens. Ober- und Unterkiefer lagen fest aufeinander gepresst und grinsten das hämische Totenkopfgrinsen einer Piratenflagge. Selbst auf eine Entfernung von mindestens zwei Kilometern konnte Amaya die Rillen in seinem Zahnschmelz deutlich erkennen. Vorsichtig hob sie den Bauch an und kroch auf allen Vieren rückwärts. Nur ihre Zehen- und Fingerspitzen berührten den Boden. Die Glassplitter der zerbrochenen Fensterscheiben bohrten sich in ihre Haut. Warmes Blut tropfte aus den Schnitten. Das bemerkte Amaya jedoch genauso wenig, wie sie glauben wollte, was sie da sah: wie Ranken kletterten Fasern an dem leuchtenden Skelett empor, spannten sich um die blanken Knochen und richteten die krumme Wirbelsäule auf. Leben regte sich in dem Wesen. Es hob den Kopf, neigte das Kinn und streckte den linken Arm empor. Die Finger zogen sich dabei einem nach dem anderen zusammen, schlossen sich zu einer Faust. Trotz der Entfernung konnte Amaya sehen, wirklich sehen, wie die einzelnen Muskelstränge und Sehnen in Arm und Hand kontrahierten. Eine plötzliche Böe erhob sich und stürmte der Gestalt von Westen her entgegen. Auf Amayas Körper fühlte sich der Windstoß an wie der Hieb einer Peitsche. Ihre Haut rötete sich und ihre Augen tränten. Als die Böe auf das Geisterwesen traf, materialisierte sich die Luft, wurde zu Haut und, so unglaublich es auch klingen mag, einer kompletten Rüstung mit Helm, Brustpanzer, Schulterplatten, Hüft- und Beckenschutz, sowie Arm- Ober- und Unterschenkelschienen. Das Gesicht des Geistes verbarg sich hinter einer grinsenden Maske, die eine grausige Fratze mit tiefen Falten, angeklebtem Bart und Reißzähnen zeigte. Auf dem Helm trug er zwei Ochsenhörner. Ein Samurai, dachte Amaya ungläubig und schluckte. Ein leuchtender Geister-Samurai! Der Krieger drehte langsam den Kopf von der einen zur anderen Seite und traf dabei mit dem feurigen Glühen seiner roten Augen Amayas Blick. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber lange genug, um ihr scheinbar jede Kraft aus den Muskeln zu saugen. Arme und Beine gaben unter ihrem Gewicht nach und sie sank der Länge nach bäuchlings zurück auf den Boden. Dieses Mal blieb sie liegen und schielte zitternd zu dem Samurai hinauf. Der hob derweil das rechte Bein an und ging einen Schritt nach vorne. Die Dorfmauer barst unter seinem Fuß. Amaya schauderte bei dem Lärm: so musste es klingen, wenn man einen Ziegelstein zwischen seinen Zähnen zermahlte. Sie sah Staub aufwirbeln, in dem der Geister-Samurai bis zu den Schultern versank; die geballte Faust immer noch empor gehoben. Dann ein erneutes Krachen und eine frische Fontäne aus braunem Dunst von einem zweiten Schritt. Wie die Flügel einer Motte sah die v-förmige Kluft zwischen den Bruchrädern der Dorfmauer hinter dem Samurai aus. Er stand zwischen den Häusern im östlichen Teil von Konoha. Amayas Haut kribbelte, als sie daran dachte, dass das Monster vermutlich nicht nur zwischen den Häusern, sondern auch auf den Trümmern einiger Gebäude (samt Menschen) stand. Es hob das Kinn um ein paar Grad, legte seinen Kopf ins Genick und wieder sah Amaya die Kontraktion jedes einzelnen Muskelstrangs. Sogar durch die Rüstung und wunderte sich nicht mal darüber, dass das überhaupt möglich war. Die Brust des Geistes spannte sich, der Rücken wurde lang und formte ein Hohlkreuz. Sein rechtes Schulterblatt zog seinen hängenden Arm zurück, während der erhobene sich noch ein Stückchen weiter dem Himmel entgegen reckte. Es... es sammelt Kraft! Es ist bereit zuzuschlagen! Und tatsächlich: der Samurai stieß einen Schrei, ein grelles Kreischen aus. Amaya war, als würden die Schallwellen durch ihre Haut und ihr Fleisch bis in ihre Knochen hervor dringen und diese zum Schwingen bringen. Die Glasscherben auf dem Boden schepperten. Amaya stöhnte auf, ließ die Stirn zu Boden sinken und wartete nur darauf, dass ihre Knochen unter dem Kreischen des Samurai zersprangen. So konnte sie nicht sehen, wie seine erhobene Faust des Samurai zu Boden sauste und mit der geballten Kraft ungezügelter Wut einschlug. Die Erde sprang auf. Eine tiefer Krater fraß sich durch Konohas Straßen. Häuser brachen auseinander und versanken in wirbelnden Schwaden von Staub. Amaya spürte nur die Erschütterung und das Beben unter ihrem Körper, stark genug um sie durch den Schotter schlittern zu lassen – mehrere Zentimeter von rechts nach links, vor und zurück. Ihr Kiefer klapperte, obwohl sie ihre Zähne so fest aufeinander presste wie sie nur konnte. Sieh nicht hin, riet ihr Verstand. Sieh einfach nicht hin. Denn was sie spürte, hörte und roch reichte ihrer Fantasie vollkommen aus, um sie mit ihrem geistigen Auge sehen zu lassen, was um sie herum geschah. Sie hörte Schreie; hohle Schreie wie abgespielt von einem Tonband in einer Art bizarrem Kanon ohne Melodie oder Musik. Prasseln. Rauschen. Schläge. Immer wieder Schläge. Metallische Schläge. Hölzerne Schläge. Dumpfe Schläge. Grelle Schläge. Der Gestank von Schwefel und Rauch lag in der Luft und trieb Amaya die Übelkeit in den Magen. Sie würgte leise. Erst Minuten, nachdem die Erde sich beruhigt hatte, wagte sie es den Kopf zu heben, obwohl der Lärm weiter dröhnte. Vom Himmel rieselten hellgraue Ascheflocken herab. Der Geister-Samurai war verschwunden. Dort, wo er gestanden hatte, zuckten noch rote und gelbe Blitze durch die Luft. Durch die v-förmige Kluft in der Dorfmauer sah Amaya die Schneise, die sein Fausthieb in den Wald gerissen hatte: die Grasnarbe fraß sich mehrere Meter tief in den Boden und reichte kilometerweit ins Unterholz. Wurzeln ragten dazwischen heraus. Das Holz der Bäume am zerwühlten Kraterrand war gesplittert und die Wipfel beinahe vollkommen kahl. Was grün und lebendig sein sollte, war nun schwarz und verbrannt. Die Schneise setzte sich in entgegengesetzte Richtung auch ins Dorfzentrum fort, aber die Häuser verdeckten Amaya die Sicht. Sie sah nur eine Wand aus Staub, in der sich Schatten von Hausfassaden abzeichneten, die ihr lichter schienen als zuvor. Flammen schlugen meterhoch zum Himmel, eingehüllt von dickem, schwarzen Rauch. Die Wand aus Staub durchschnitt das halbe Dorf: sie reichte bis zum Großen Marktplatz im Herzen von Konoha. Von dort, aus dem braunen Dunst, den Flammen und dem Rauch, schallte der Lärm; die hohlen Schreie, das Wimmern, das Wehklagen... Amaya wurde schwindelig. „Bewahrt Ruhe!“, setzte sich da die harsche Stimme wieder über den Lärm hinweg. „Setzt die Evakuierung fort! Helft euch gegenseitig! Ninja, befolgt eure Befehle!“ „Befolge deine Befehle!“, ermahnte Amaya sich selbst und schüttelte den Kopf, um den Schwindel zu vertreiben, ehe sie sich mit zittrigen Beinen aufrappelte und dem Turm zu Füßen des Hokage-Monumentes entgegen hastete – über das Bett von Scherben hinweg, die in der Sonne glitzerten. Ihre Haut hing in weißen Fetzen von blutigen Schnitten, zwischen denen Kieselsteine steckten und Glassplitter funkelten. Es sollte weh tun, brennen, aber Amya spürte keinen Schmerz. Es gibt einen Plan, sagte sie sich in Gedanken während sie durch die Straßen hetzte und über die Dächer des Dorfes, sofern noch vorhanden, hinwegsetzte. Es muss einen Plan geben! Hokage-sama wird uns erklären wollen, was jeder von uns tun muss, wenn... sobald dieses Ungeheuer wieder auftaucht. Deshalb ruft er uns zusammen! Jeder von uns, jeder Clan wird eine Aufgabe erhalten und gemeinsam werden wir dieses Monster schlagen. Ja, es gibt einen Plan. Der Sandaime hat einen Plan! Amaya wagte nicht an etwas anderes zu denken, denn was wäre die Alternative? Ein Blutbad wie im Oktober vor sieben Jahren, als der Neunschwänzige über Konoha hergefallen war. Bei den Erinnerungen daran zuckte Amaya unwillkürlich zusammen: „Dieses Mal gibt es einen Plan!“ Sie rannte schneller.   V Time will show If you did right to put your sails Into the wind, over the sea, into the storm [Darkest Age – Renegade Five] Das grün-türkise Leuchten des Chakra um Natsumes rechte Hand wurde dichter: die Energie sammelte sich aus seinen Fingerspitzen und dem Handrücken in einem einzigen Punkt auf ihrer Innenfläche. Die Farbe verblasste und das Leuchten strahlte heller. Wie ein Funken an einer herab brennenden Lunte kroch es flackernd von Natsumes Handinnenfläche an seinem Zeigefinger entlang bis zu dessen Kuppe. „Vorsicht“, warnte Natsume und streckte die Hand von seinem Gesicht weg. „Heiß.“ „Was hast du vor?“, fragte Satoshi und lehnte sich etwas zurück, um dem seltsamen, grünlich-weißen Licht ebenfalls nicht zu nahe zu kommen. „Das ist eine Variation des Shōsen Jutsu“, erklärte Natsume. „Hab' ich entwickelt: indem ich das Chaka des Jutsu auf kleinster Fläche zusammenpresse, vergrößere ich seine Energiedichte. So entsteht Hitze.“ „Und?“ „Ich zeig's dir. Halt still, ja?“ Der Hinweis war gut, denn ohne ihn hätte Satoshi in diesem Moment seine Hand wohl augenblicklich weggezogen: Natsume beugte sich zu dem Gesicht des Uchiha hinab und stülpte seine Lippen über dessen Brauen und Wangenknochen. Satoshi zuckte zusammen, als er dabei das feuchte Zahnfleisch und die Zunge seines Kameraden auf der eigenen Haut spürte. Sie wurde angesaugt. „Jetzt ist mir schlecht...“ Natsume ließ von der Wunde ab und drehte das Gesicht leicht zur Seite, den glühenden Zeigefinger dabei so weit wie möglich von allem weg gestreckt, was lebendiges Fleisch war. Er spuckte aus: Blut, Speichel und einen schleimigen Faden, in dem das eine am anderen klebte und der sich erst von Natsumes Mundwinkel löste, als er ihn mit seiner freien Hand wegwischte. „Du, mein Freund, bist abartig“, kommentierte Satoshi und starrte fassungslos auf das rotzige Blut-Spucke-Gemisch zwischen den Grashalmen. Natsume zuckte die Achseln. Übersetzung: Wie soll ich's denn sonst machen? Aus seiner Shuriken-Tasche holte er eine weiße Mullbinde hervor und presste sie in die Augenhöhle, um auch die letzten Blutstropfen herauszuziehen und sie so trocken wie möglich zu legen. Anschließend brachte er den Kopf des Uchiha in Position. Dessen linke Gesichtshälfte war geschwollen und unter verkrustetem Blut schimmerte blau-violette Haut hervor. Seines Kiefer neigte sich schräg im Uhrzeigersinn. „Bereit?“, fragte Natsume. Satoshi nickte. Auch wenn er nicht wusste, wofür. „Auf drei ziehst du deine Hand da weg, verstanden?“ Satoshi nickte wieder. „Falls du kotzen musst, dreh' den Kopf zur Seite, damit die Wunde nichts abbekommt.“ „Ich werd' schon nicht kotzen. Ich habe genug gesehen, um so einen Anblick ertragen zu können.“ Außerdem steckt meine Hand gerade im Kopf eines Menschen und übergebe mich nicht, obwohl du eben noch daran genuckelt hast! Natsume zuckte wieder mit den Schultern. Wart's ab, bedeutete die Geste diesmal. „Eins. Zwei. Drei.“ Satoshi zog seine Hand zurück. Natsume nahm seinen Platz ein. Die leuchtende Chakra-Konzentration in seiner Fingerspitze berührte die offene Stelle in der Augenhöhle nur ganz leicht, aber das reichte. Die Hitze ließ die Flüssigkeit im Gewebe verdampfen. Es zischte. Darum hatte Natsume die Augenhöhle zuvor mit dem Mund abgesaugt: das Blut hätte sonst zu kochen begonnen und den Schädel von innen verbrüht. So trocknete die Hitze nur die zerfetzten Enden der abgerissenen Gefäße aus, verschweißte sie. Die Blutung stand. Satoshi verdrehte unwillkürlich die Augen: der Gestank von verbranntem Fleisch, der in kleinen Dampfwölkchen von dem besinnungslosen Gesicht aufstieg, war abartig... und irgendwie süßlich; wie ein Schlag für den Geruchssinn, der tief im Magen traf. Satoshis Lippen entwich ein kurzes Stöhnen, als er sich umdrehte und einen Schwall zähflüssiges Orange erbrach. „Mit geht’s gut“, erklärte er ungefragt und würgte einen zweiten Schwall hervor. Natsume ließ es unkommentiert. Er schraubte den Pumpdeckel des Desinfektionsmittels auf und kippte einen Teil davon in die frisch versorgte Augenhöhle. Dann zerschnitt er mit einem Kunai eine zweite Mullbinde, tränkte diese mit dem Rest des Desinfektionssprays und stopfte den Verband unter die Augenlider des Uchiha, bevor er ein quadratisches Pflaster darüber klebte. Erst dann wendete er sich Satoshi zu, der gerade einen dritten Schwall halbverdauter Nahrung aufstieß – einen Teil davon durch die Nase: „Alles klar, Kumpel?“ „Du hast mir nicht gesagt, dass das so stinken würde!“, krächzte Satoshi. Seine Kehle und die Innenwände seiner Nase brannten wie Feuer. Er roch und schmeckte eine süßlich-bittere Mischung von Mandeln, Grüntee und Pfirsichen „Kami, und ich dachte, wir könnten uns heute einen entspannten Abend machen.“ „Daraus wird nichts.“ Natsume seufzte. „Das Auge ist nicht im Eifer des Gefechts verloren gegangen, sondern sehr gezielt herausgerissen worden.“ Satoshi spuckte aus, fuhr sich mit dem Unterarm über seinen triefenden Mund und verzog angewidert das Gesicht, als er sah, dass farblose Brocken an seinem Handgelenk kleben blieben. „Wegen des Sharingan.“ Satoshi wischte den Arm an seiner Hose ab. „Konoha hat ein echtes Problem, wenn die Geheimnisse der Uchiha in die falschen Hände geraten.“ „Du denkst an Orochimaru.“ Natsume nickte. „Wir müssen das melden: geh' ins Dorf und sag' dem Hokage, er soll einen Trupp losschicken. Die Wunde war ganz frisch. Wer immer das war, kann nicht weit gekommen sein. Vielleicht kriegen wir ihn noch. Und sorg' dafür, dass sich ein paar Sanitäter auf den Weg hier her machen.“ Satoshi seufzte nun ebenfalls und betrachtete nachdenklich den verletzten Uchiha am Boden, dessen Brust sich unruhig hob und senkte. Ob er in seiner Ohnmacht wirklich keine Schmerzen spüren konnte wie Natsume behauptete? Satoshi war sich da nicht so sicher. „Armer Kerl...“ „Shisui“, sagte Natsume. „Sein Name ist Shisui.“ Auf Satoshis fragenden Blick hin fügte er hinzu: „Als Ge-Nin waren wir zusammen in einem Team. Es ist zwar schon ein paar Jahre her, aber... Eine Zeit lang waren ein Team – Shisui, Amaya und ich. Bis er zur Anbu ging und du seinen Platz eingenommen hast.“ „Ich verstehe.“ Satoshi stand auf. Seine Kleidung klebte von Blut und Erbrochenem. „Schaffst du das hier allein?“ Natsume fuhr sich übers Gesicht. Blutige Spuren blieben auf seiner Haut zurück. „Mir bleibt nichts anderes übrig. Lass' mich nur nicht zu lange warten.“ „Ich beeil' mich. Versprochen.“   VI Master of puppets, I'm pulling your strings Twisting your mind and smashing your dreams Blinded by me, you can't see a thing Just call my name, 'cause I'll hear you scream [Master of Puppets – Metallica] Sie rannten. Sie schrien. Sie stießen einander zur Seite und stolperten übereinander hinweg. Konoha glich an jenem Abend einem Ameisenhaufen, den ein dummer Junge mit einem Stock auseinandernahm. Jede noch so kleine Seitengasse war vollgestopft mit hastenden Menschen, die versuchten, sich zu den Evakuierungstunneln im Herzen des Hokage-Monumentes durchzuschlagen. Und durchschlagen war wörtlich zu nehmen! Da war zum Beispiel dieses Mädchen auf der Nord-Süd-Hauptstraße. Es hockte weinend vor den Trümmern des Yamanaka-Blumenladens, dessen obere Stockwerke samt Dach in den Verkaufsraum gestürzt waren. Vom Nachbargebäude, einem Grill-Restaurant, hatte Feuer auf den Blumenladen der Yamanaka übergriffen, sodass Flammen unter herunter gebrochenen Balken und gesprungenen Ziegeln hervor krochen. Das kurze, fransige Haar des weinenden Mädchens stand zerzaust in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Die blonden Strähnen verschwanden beinahe komplett unter hellgrauen Ascheflocken. Ihr Gesicht war überzogen von einer staubigen Schicht Schwarz, die dort verschwamm, wo die Tränen über ihre Wangen strömten. „Mami“, jammerte sie und rieb sich den Ruß aus den blauen Augen. Um sie herum lagen zertrampelte Blumen und bunte Scherben von zerbrochenen Vasen. „Mami.“ Unter einem der herabgestürzten Balken lugte ein schwarzer Klumpen mit menschlicher Silhouette hervor. Das verkohlte Etwas von einem kahlen Schädel mit zwei Löchern, fehlender Nase und einer ovalen Kuhle mutete an wie die Maske einer geschmolzenen Wachsfigur und hatte kaum noch etwas mit einem menschlichen Gesicht gemein. Für Amaya war das kleine Mädchen nur ein paar wenige Sekunden sichtbar, bevor es zwischen fliehenden Beinen verschwand. Die Leute stolperten einfach über die Kleine hinweg. Kurz spielte Amaya mit dem Gedanken, sich in die Menge zu werfen, das Kind aus der gesichtslosen Masse hastender Füße zu fischen und irgendjemandem in die Arme zu drücken, der es in Sicherheit bringen konnte. Aber noch im selben Augenblick verwarf sie die Idee wieder. Befolge deine Befehle, sagte sie sich und hielt weiter auf die Hokage-Residenz zu. Befolge deine Befehle. Jeder muss seine Aufgabe erfüllen. Bei den Sprüngen von Dach zu Dach konnte Amaya nun auch sehen, welche Verwüstung der Fausthieb des Geister-Samurai tatsächlich angerichtet hatte: der Krater von zerwühlte Erde fraß sich von der Dorfmauer bis ins Zentrum des Dorfes. Er war bestimmt drei Meter tief und gut zehn Meter breit. Aus geplatzten Wasserleitungen schossen Fontänen empor, die an Geysire erinnerten. Sie verwandelten die Schneise in eine Rinne voller metertiefem Matsch. Unzählige Körper suhlten sich in dem Schlamm; Körper, von denen Amaya sich nicht vorstellen konnte (wollte), dass sie vor wenigen Minuten noch lebendige Menschen gewesen waren. Sie waren zerfetzt oder zerquetscht, sodass man sie für geplatzte Wassermelonen hätte halten können. Wassermelonen... Amaya wurde schlecht. Manchmal schauten nur Beine oder Füße aus dem verwaschenen Boden heraus. Manchmal steckten Menschen bis zum Hals verschüttet darin fest. Teilweise lebten sie noch. Ihre Gesichter waren blau angelaufen und die Münder zu stummen Hilfeschreien verzerrt, die sie nicht von sich geben konnten, weil die Erdmassen ihnen den Sauerstoff aus den Lungen pressten. Amaya fragte sich, warum kein Shinobi ihnen half. Ein Doton-Nutzer hätte die, die so elendig ersticken mussten, mit Leichtigkeit aus ihrem matschigen Gefängnis befreien können. Wo waren all die Ninja, die die Bewohner beschützen sollten? Es schien Amaya schier unmöglich, dass sie das Dorf alle schon verlassen und sich auf dem 34. Übungsgelände versammelt hatten. Doch auch sie selbst unternahm nichts und so sehr sie sich darüber auch wunderte, war es, als könnte sie nicht anders; als müsste sie die Leute im Stich lassen. Der Befehl, sich im Konferenzraum der Hokage-Residenz einzufinden schien mehr zu sein als eine mündliche Anweisung. Ein unbewusster Teil in Amayas Verstand wusste, dass allein der Versuch sich zu widersetzen gescheitert wäre. Sie hatte keine andere Wahl als all das Chaos zu ignorieren. Es steckte tief in ihr. So half sie nicht einmal Kiba, dem Inuzuka-Jungen von gegenüber, der am Rand des Marktplatzes zwischen zermatschtem Obst bei dem Händler kauerte, in dessen Holzkisten das Schriftzeichen 'frisch' eingeritzt war. Hier hatte Amaya erst gestern noch eingekauft. Kibas Kleidung hing in Fetzen von seinem Körper. Die nackte Haut darunter schimmerte rot, war aufgesprungen und übersät von kleinen Pusteln, aus denen Blut und eine klebrige, durchsichtige Flüssigkeit tropften. Der Kleine schrie. Um Hilfe. Nach seiner Mutter Tsume. Nach seiner Schwester Hana. In den zitternden Armen hielt er Akamarus schlaffen Körper. Akamaru war der weiße Welpe, den der Junge vorhin auf dem Kopf getragen hatte. Am Morgen noch hatte der Hund sich durch den Gartenzaun der Tetsuka gequetscht und in die goldorangen Azaleen gepinkelt. Jetzt hing er in Kibas Umklammerung und die Zunge baumelte zwischen seinen spitzen Zähnen hervor. Seine Lider waren weit aufgerissen und die Äderchen in seinen Augäpfeln geplatzt. Rot tropfte aus seinem weißen Fell. Amaya setzte nahe den beiden auf dem Boden auf, ging in eine Hocke, um Schwung für den nächsten Sprung zu holen. Ein Fisch zerplatzte unter ihren Füßen. Seine Säfte und Eingeweide drangen in ihre Schuhe. Einen einzigen Herzschlag lang traf ihr Blick den von Kiba, bevor sie wieder durch die Luft segelte und auf dem Vordach der Marktplatz-Konditorei landete. Sie setzte über den Giebel des Hauses hinweg. Auf der anderen Seite schlitterte Amaya die Dachschräge hinab und bremste, indem sie beide Fersen gegen die Regenrinne stemmte. Mit einem kontrollierten Sprung landete sie sicher wieder auf der Straße. Keuchend stützte sie sich mit beiden Händen auf ihren Oberschenkeln ab. Strähnen ihres langen Haares hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und hingen ihr wirr ins Gesicht. Heißer Schweiß perlte über ihre Stirn. Geronnenes Blut blätterte in braunen Klümpchen von ihrer zerschnittenen Haut. Jeder Atemzug brannte in ihrer Kehle. „Ich kann nicht mehr“, japste sie und leckte sich über die trockenen Lippen. „Ich kann nicht mehr...“ Seit sie von Zuhause aufgebrochen war, war bestimmt schon über eine Stunde vergangen, in der sie durch das Chaos im Dorf irrte, ohne ihrem Ziel näher zu kommen. Es war, als hätte der Angriff dieses Geister-Samurai die komplette Architektur des Dorfes durcheinander gebracht. Egal, wo sie abbog; egal, wie schnell sie lief – der Hokage-Turm blieb in unerreichbarer Ferne. Ich bin gefangen. Amaya fuhr erschreckt zusammen, als diese drei Worte durch ihren Verstand zuckten. Sie fühlten sich mächtig an; nicht wie ein Gedanke, sondern viel mehr wie ein beherzter Schlag gegen die Innenseite ihres Schädels. Atemlos blickte Amaya sich nach allen Seiten um. „Gefangen“, murmelte sie benommen. „Ich bin gefangen.“ Plötzlich war es ganz still. Die Wucht dieser drei Worte verursachte einen rasenden Schmerz („Was zur Hölle ist hier los?!“) hinter Amayas Stirn. Ein Teil ihres Gehirns... ein betäubter Teil ihres Gehirns war dabei aufzuwachen, erahnte bereits die Bedeutung hinter diesem kurzen Satz: „Ich bin gefangen...“ Aber sie war noch nicht („Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung.“) in der Lage, es zu realisieren. Sie taumelte und presste beide Hände gegen ihren Kopf, weil sie glaubte, er würde gleich (peng!) explodieren: da war diese Erkenntnis. Sie war da, sie pirschte sich an und würde sehr bald mit voller Wucht zuschlagen. Amaya spürte es ganz genau. Sie hörte sich nicht mehr denken, sie sah zu, wie ihr Verstand diese Erkenntnis formte – Kontur um Kontur, Nuance um Nuance wurde sie klarer; erst nur ein Schatten, dann eine Silhouette. Je klarer die Erkenntnis wurde, desto mehr verschwammen die stumm schreienden, sterbenden, fliehenden Menschen um sie. Sie verblassten einfach, als würde („Unser Taichō möchte nur eine kleine Angelegenheit mit euch besprechen.“) eine unsichtbare Hand sie ausradieren. „Ich. Bin. Gefangen“, murmelte Amaya ein drittes Mal. Jedes Wort für sich genommen hatte Inhalt und Bedeutung, doch sobald Amaya versuchte, sie in einen Zusammenhang zu setzen, verloren sie jeden Sinn. Sie verkamen zu einer Aneinanderreihung von („Und was sollen dann die Fesseln?“) willkürlichen Silben, einem Kauderwelsch genauso unsinnig wie 'dorkileb' oder 'telinaram'. Amaya keuchte auf: die Farben um sie herum bluteten aus. Sie flossen („Fugaku, du hast dreißig Sekunden Zeit, um das hier zu erklären!“) einfach vom Himmel, den Bäumen, den Häusern und der Erde. Zurück blieb ein schwarz-weißes Gitter von Formen, deren Umrisse nur noch mit großer Fantasie an das erinnerten, was sie („Ich glaube nicht, dass du in der Position bist, so mit mir zu reden, Tsume.“) zuvor gewesen waren. Nur der Himmel über ihr wurde nicht Schwarz oder Weiß. Er färbte sich Rot. Blutrot. Granitgraue Wolken zogen wie im Zeitraffer über die blutrote Fläche hinweg. Die Erkenntnis schlug zu. „Gen-Jutsu!“, stieß Amaya beinahe tonlos hervor. „Ich bin gefangen! Gen-Jutsu! Verdammt!“ Am blutroten Himmel, jenseits der fliehenden Wolken regte sich etwas – Augen? Ja, Augen! Blinzelnde Augen. Blinzelnde Sharingan-Augen, die sie drohend („Wo ist der Hokage?“) anstarrten. Amaya wich einen Schritt zurück. Ihr Fuß trat ins Leere. Sie stürzte und fiel unendlich tief in einen schwarzen Tunnel, dessen triefende Wände aus bröckelnden („Verhindert.“) Ziegelsteinen bestand. Sie verschwammen, der blutrote Himmel mit den drohend starrenden Sharinganaugen und das schwarz-weiße Gitter von Formen; sie zogen sich in einem winzigen Punkt in der Ferne zusammen. Alles Licht schwand. Gen-Jutsu!, schrie Amaya sich stumm an. Ich falle nicht! Nicht wirklich! Das ist nur eine Geistestäuschung, eine verdammte Illusion. Aufwachen. Ich muss aufwachen. Als Amaya das dachte, drehten sich die Gesetzte der Physik („Er hat uns überhaupt nicht hergerufen, oder?“) plötzlich um: anstatt zu fallen, stieg sie empor. Sie stieg schnell, wie eine menschliche Luftblase, für die es auch aus den dunkelsten Tiefen („Gut beobachtet.“) des Ozeans nur ein Ziel gab – die Oberfläche. In der Finsternis sah Amaya Nebel, hinter dem ein bläulicher Schimmer glomm. Die trüben Schwaden manifestierten für ihren Verstand die Grenze („Was willst du von uns, Fugaku?“) zwischen Illusion und Realität; die Membran, die ihr Geist durchdringen musste, um an die Oberfläche ihres Bewusstseins zu gelangen. Amaya tauchte in den Nebel ein und glitt durch ihn hindurch. Er fühlte sich zäh an, schleimig („Die Kontrolle über dieses Dorf.“) wie Gelee, sodass sie nicht atmen konnte. Licht – ich muss zu dem Licht. Der bläuliche Schimmer leuchtete heller. Seine Strahlen drangen in die Pupillen von Amayas geistigem Auge ein, durchstießen die Netzhaut und glitten an ihrem Sehnerv entlang direkt in ihr Gehirn. Hier, im Zentrum ihres Verstandes, explodierte das Licht. Es drang in jede ihrer Hirnwindungen ein, erhellte ihren Geist und überstrahlte die grausigen Bilder, die er zu sehen glaubte. Amaya riss die Augen auf. Ihre Brust („Was soll das bedeuten?“) spannte sich, als sie nach Luft schnappte. Die Membran war durchstoßen. Die Realität hatte sie wieder: „Es bedeutet, dass Konoha morgen früh entweder von den Uchiha angeführt wird, oder aber in Trümmern liegt.“   VII Hello, hello, hello, how low? Hello, hello, hello, how low? Hello, hello, hello, how low? Hello, hello, hello [Smells like Teen Spirit - Nirvana] Shuu-hu-mlnn-shu-hu-u-u... Shisui lag flach auf dem Bauch; getragen von Kälte, die im Schritt zwickte und seine Brustwarzen hart machte. In seiner Vorstellung sah er die verwackelten Umrisse seines Körpers unter der schaumigen Gischt von tanzenden Wellen hervorschimmern: er hielt seine Arme so weit nach vorne ausgestreckt wie es ihre Länge zuließ. Die Innenflächen seiner Hände lagen wie zum Gebet platt aneinander, sodass seine Daumen nach Oben wiesen und seine Fingerspitzen einen Keil formten, der zu seinen Schultern hin breiter wurde. Seine Zehen reckten sich in die entgegengesetzte Richtung. Aus der Vogelperspektive betrachtet musste er aussehen wie ein menschlicher Pfeil. Aber abgesehen der Tatsache, dass er dahinglitt, hatte Uchiha Shisui nichts mehr mit einem schnellen, zielstrebigen Pfeil gemeinsam... nichts mehr. Inzwischen war Uchiha Shisui nur noch ein Stück bleiches, nacktes Fleisch, das in der scheinbaren Unendlichkeit kalter, schwarzer Nässe trieb. Nässe, die wie Wasser aussah, sich so anfühlte und die er deshalb auch so nannte, aber mit Sicherheit keines war: sie schmeckte bitterer als Galle und brannte entsetzlich Shisui drehte seine Handflächen nach außen und zog die Arme zurück. Sie beschrieben einen Kreis und verdrängten die kalte, schwarze Nässe, die er Wasser nannte, obwohl sie keines war. Gleichzeitig zog er die Knie in Richtung Oberkörper und ließ den Oberschenkel in der Hüfte auswärts rotieren. Lass' es. Genug. Es ist zu spät. Shisuis Handflächen berührten sich vor seiner Brust – platt aneinander. Wie zum Gebet. Die Bewegung von Armen und Beinen trieb seinen Körper an die Wasseroberfläche. Sein Oberer Rücken durchdrang sie zuerst, bevor auch sein Hals und zuletzt sein Kopf auftauchten. Shuu-hu-shu-hu-u-u... Eine kalte Böe fegte über seine Schultern hinweg und verbiss sich in seinem Nacken. Die Haut in seinem Gesichts spannte sich, sodass Shisui glaubte, sie würde zerreißen. Nur mühsam gelang es ihm, den Mund zu öffnen, um Luft zu holen und konnte nicht anders, als mit ihr er auch etwas von dem Wasser einzusaugen. Es triefte über seine Lippen und jeder Tropfen, der hinter seine Zähne gelangte, schien sich wie glühend heißes Eisen erst in die Schleimhäute seiner Mundhöhle zu fressen, um anschließend in seiner Kehle zu versickern. Shuu-hu-mlnn-shu-hu-u-u... Mit schiefen Tönen umpfiff der Wind Shisuis Ohren, denn der Winkel, in dem die Windstöße auf die brechenden Wellen trafen, bestimmte die Tonhöhe ihres Heulens. Die Willkür hatte ein grauenvolles Ohr für Melodik. Mlsh-nnnn-huu-u-shu... Shisui zog das Kinn Richtung Brust und während sein Kopf abtauchte, schob er seine Arme dem finsteren Wasserwiderstand entgegen und stieß seine Fußsohlen nach hinten weg. Zehen und Fingerspitzen reckten sich wieder in entgegen gesetzte Richtungen. Die kalte, schwarze Nässe zog an ihm vorbei. Shisui glitt dahin. Du hast Schmerzen. Du bist müde. Du kannst nicht mehr. Warum wehrst du dich da noch? Lass' doch einfach los. Eine Wolke von sprudelnden Blasen blubberte an Shisuis Gesicht vorbei, als er ausatmete. An der Oberfläche einige Zentimeter über seinem Kopf zerplatzen sie und wühlten das Wasser so sehr auf, dass es ihm die Sicht nahm. Es zersetzt dich. Spürst du das nicht? Du löst dich auf! Die Stimme hinter Shisuis Stirn wurde allmählich lauter. Ihm war klar, dass da sein eigener, schwindender Wille sprach. Und, verdammt noch mal, der Mistkerl hatte recht: das Wasser hatte ihm tatsächlich schon sein rechte Auge weggeätzt (obgleich ein Teil von Shisui sehr genau wusste, dass er es auf eine andere Weise verloren hatte – aber das war einerlei: weg ist weg). Es wird aufhören, sobald du aufhörst. Also, hör' auf! Hör' auf und lass' es einfach zu. Armzug-Beinschlag. Auftauchen. Beißender Wind. Shuu-hu-shu-hu-u-u... Einatmen. Shuu-hu-mlnn-shu-hu-u-u... Wasser im Mund. Brennen in der Kehle. Shuu-hu-mlnn-shu-hu-u-u... Untertauchen. Ausatmen. Sprudelnde Blasen. Gleiten. Armzug-Beinschlag. Wo schwimmst du hin? Zu Itachi? Glaubst du, du findest ihn hier draußen? Glaubst du, du könntest ihn noch rechtzeitig warnen? Was willst du ihm sagen, hm? Dass er die Sache in die Hand nehmen muss, weil du versagt hast? Junge, sieh's ein: es ist zu spät! Du hast getan, was du konntest. Jetzt lass' es gut sein. Es ist genug – genug der Zweifel, genug der Opfer, genug des Sträubens. Geh' einfach! Gehe reinen Gewissens, denn auch wenn du versagt hast, trifft dich keine Schuld. Bewahre dir einen Funken Frieden. Du verdienst diesen Frieden. Und das war er – der Moment, in dem auch der letzte Teil von Shisuis kämpfenden Geist nicht mehr kämpfen wollte. Er hörte einfach auf... Ließ los... Wusste, dass es geschehen würde... Seine Muskeln erschlafften. Eine Welle erfasste seinen Körper und wirbelte ihn mehrmals im Kreis herum. Die Welt verlor ihre Form: oben, unten, links, rechts; Norden, Süden, Osten, Westen – all das existierte plötzlich nicht mehr. Mehr noch; es war viel mehr so, als hätte nichts davon jemals existiert. Shisui schloss die Augen und lächelte. Er vergaß. Das war gut, das war tröstlich. All die Zweifel, als die Opfer, all das Sträuben – einfach vergessen. Vergessen. Vergessen. Vergessen? Was bedeutet dieses Wort? Während er noch darüber nachdachte, spürte Shisui dumpf, wie der Sog der Wellen ihn in die Tiefe zog und er nach sehr langer Zeit auf losem, sandigen Grund liegen blieb. Das Wasser zwängte sich in seine Nasenlöcher, kroch durch die Nasenhöhle in seinen Rachen und floss hier in Luft- und Speiseröhre. Magen und Lunge liefen voll wie ein gefluteter Keller. Genug ist genug. Shisui war froh, dass es vorbei war. Doch das war es noch nicht: ein Mund wurde über seinen gestülpt, der warm, weich und trocken war. Der Atem aus diesem Mund drang tief in Shisuis ein, blies seine Kehle hinunter und verdrängte das Wasser aus seiner Lunge, sodass die sich aufblähen konnte. Die Penetration des fremden Atems endete. Die warmen, weichen, trockenen Lippen zogen sich zurück. Dafür bohrte sich etwas Festes in Shisuis Brustkorb und wippte gegen das Xylophon seiner Rippen. Sie knirschten. Die Luft entwich ihm wieder durch Mund und Nase. Atme, rief eine Stimme, von der Shisui genau wusste, dass sie nicht aus seinem Kopf stammte. Die Lippen senkten sich wieder herab. Der Atem blies wieder seine Kehle hinunter. Shisui schmeckte ihn auf seiner Zunge: eine Spur von Blut, ein Hauch von Fisch, ein bisschen Ingwer und das Salz von Sojasauce. Etwas ekelte er sich davor, aber der Ekel wurde schnell von erleichtertem Staunen verdrängt: Ich schmecke etwas. Atme, forderte die unsichtbare Stimme wieder. Sie klang, als würde sie keinen Widerspruch dulden. Shisuis Rippen knirschten wieder. Die Luft entwich. Er spürte ein leichtes Stechen, dessen Ursprung er nicht lokalisieren konnte. Über seinem Kopf rauschte das Wasser und obwohl Shisui es nicht sah, wusste er doch, dass es zurückwich: das Rauschen glich dem in einem Abfluss, wenn man den Stöpsel aus einem Becken zieht. Der Wasserspiegel sank. Mach' schon! Atme! Shisui versuchte es, aber noch ehe er recht damit anfangen konnte, drückten sich die unsichtbaren Lippen zum dritten Mal auf seine. ffffffffff – machte die Luft, als sie seinen Rachen hinab kroch. Als der Mund dieses dritte Mal von seinem weggenommen wurde, entwich der fremde Atem nicht einfach, sondern wurde von Shisui ausgestoßen. Gierig sog er frischen Sauerstoff ein. Shisui wartete darauf, dass seine Brust sich wieder von allein hob und senkte, wie sie es sein ganzes Leben getan hatte. Doch sie blieb starr. Also schnappte er ein weiteres Mal hektisch nach Luft und dann, endlich, atmete er wieder von selbst. Er tat es keuchend, beinahe hechelnd, aber er tat es. Das Wasser versickerte... Kapitel 2: Teil 1. Verschwörung. Verrat. Shōgi (1/2). ----------------------------------------------------- Teil 1. Verschwörung. Verrat. Shōgi (1/2).   VIII A warning to the people, the good and the evil This is war To the soldier, the civilian, the martyr, the victim This is war [This is War – 30 Seconds to Mars] Satoshi wunderte sich nicht darüber, Konoha still und verlassen vorzufinden. „Ich habe es gewusst“, wie er später sagen würde, wenn er von jenem Abend erzählte. „Ich habe gewusst, dass etwas im Gange war, etwas Großes. Da war dieses Gefühl... Diese, diese Gewissheit: sobald ich das Haupttor durchschritten hätte, würde ich feststellen, dass Konoha nicht mehr das Dorf war, in dem ich bis dahin gelebt hatte... Ich hab' diesen Gedanken ignoriert. Warum habe ich das? Es lag doch in der Luft...“ Was für Satoshis Zuhörer wie eine willkürliche Floskel klang, die man eben benutzt (Es lag in der Luft), war in Wirklichkeit wörtlich gemeint, ohne dass es Satoshi jemals bewusst geworden wäre. Es lag tatsächlich in der Luft. An einem gewöhnlichen Abend hingen Wolken köstlichster Gerüche in den Straßen von Konoha, die man bisweilen sogar im Wald jenseits seiner Mauern roch: der Duft von gebratenem Fisch, das bittersüße Aroma von frischem Sencha-Tee, der matte Hauch scharfer Essenzen aus erhitztem Sake... Nur Moleküle von Gerüchen, die der Verstand nicht mehr bewusst wahrnehmen oder gar benennen konnte, aber eben doch roch. Für Satoshis Unterbewusstsein waren sie untrennbar mit dem Gefühl von Heimkehr verbunden. An jenem Abend stellte es sich jedoch einfach nicht ein, dieses unbewusste Gefühl von Heimkehr. Irgendetwas stimmt nicht, hörte Satoshi sich stattdessen denken und konnte sich nicht erklären, wie er auf diesen Gedanken kam. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht. Sein Magen zog sich unangenehm zusammen und etwas in ihm (sein alarmiertes Unterbewusstsein) wies ihn an, schneller zu gehen. Sein Herz pumpte das Blut kräftiger durch seinen Körper. Jeder Pulsschlag vibrierte in seinen Fingerspitzen. Es lag in der Luft... Die Sonne war schon komplett im Westen verschwunden. Nur ein paar ihrer Strahlen brachen noch über die Kante des Horizonts und tauchten in der Ferne eine dünne Linie am Himmel in feuriges Orange. Im Osten schwoll unterdessen der grau-violette Schatten der Nacht an, näherte sich den strengen Felsgesichtern der Hokage wie eine stumme Drohung – düster, massiv und unausweichlich. So düster, massiv und unausweichlich wie der Schatten, der schon wer weiß wie lange im Herzen von Konoha keimte und kurz davor stand, in voller Pracht zu erblühen. Satoshi stand vor Konohas Haupttor. Wie ein gieriger Schlund kam ihm der Bogen mit seiner gigantischen Flügeltür heute vor und eine leise Stimme aus den Tiefen seines Verstandes riet ihm, keinen Schritt weiter zu gehen. Es liegt in der Luft. Es liegt in der Luft. Es liegt in der Luft. Ein leichter Wind kam auf, fegte durch das Tor und die verlassenen Straßen dahinter. Die bunten Stoffvorhänge vor den Eingängen der Bars und Tavernen schlugen dumpf gegen ihre Verankerung. Die Stromleitungen über den Gassen schwangen wie die Saiten eines Basses und der Wind pfiff wie eine verstimmte Flöte über die Dächer hinweg. Es war eine laue Brise, aber Satoshi fröstelte trotzdem. Unentschlossen blickte er sich nach allen Seiten um und nagte an seiner Unterlippe bis sie blutete. Wie ein schleimiger Pelz legte sich der Geschmack von Salz und Eisen auf seine Zunge. Irgendetwas stimmt nicht, dachte Satoshi ein zweites Mal und wusste beim Anblick der leeren Straßen jenseits des Haupttores jetzt auch ganz genau warum. Irgendwas stimmt ganz und gar nicht. Hinter seiner Stirn blitzte das Bild des verwundeten Uchiha auf; diesem Shiusi, dem ein Auge fehlte und dessen Kiefer sich schräg im Uhrzeigersinn neigte. Du denkst an Orochimaru, hörte Satoshi sich selbst sagen und er sah Natsume, der nickte. Konoha hat ein echtes Problem, wenn die Geheimnisse der Uchiha in die falschen Hände geraten. „Ach, verdammt!“, fluchte Satoshi und zerwühlte sich mit beiden Händen das kinnlange Haar. Es war beinahe eine Woche vergangen, seit er und Natsume zu ihrer Mission aufgebrochen waren. In dieser Zeit hätte alles Mögliche in Konoha passieren können! „Vielleicht hätten wir uns nicht aufteilen sollen“, murmelte Satoshi und ging zögerlich die letzten paar Schritte auf das Haupttor zu. „Aber wer denkt schon an so was, wenn er zu seinem Heimatdorf zurückkehrt?“ Für gewöhnlich besetzten um diese Tageszeit Hagane Kotetsu und Kamizuki Izumo den Wachposten am Haupttor. Dort, wo sonst Kotetsu saß, räkelte sich heute jedoch nur eine schwarze Katze mit giftgrünen Augen. Izumos Stuhl lag umgestoßen auf dem Boden. Satoshi runzelte die Stirn: wer immer hier zuletzt Wache gehalten hatte, schien den Posten eilig verlassen zu haben... Aber warum? Und wie lange war das her? Möglicherweise Tage. Unter dem Tisch des Wachpostens entdeckte Satoshi das Besucherregister - ein Buch mit rotem Ledereinband, in den mit einem heißen Stück Eisen das Emblem Konohas gebrannt worden war. Mit Datum und Uhrzeit trug die Wache hier jede dorffremde Person ein, die sie passieren ließ. Zum Beispiel die Bauern aus der Umgebung, wenn sie den Markt oder die Läden von Konoha belieferten, genauso wie Reisende und ganz besonders natürlich Ninja aus anderen Ländern. Das war Teil von Konohas Spionage-Abwehr: sobald der Verdacht der Infiltrierung bestand, musste nur dieses rote Buch aufgeschlagen werden, um eine vollständige Liste von Hauptverdächtigen zu haben. Satoshi bückte sich nach dem Register. Es lag mit den Seiten nach unten im Straßenstaub und war irgendwo in der Mitte aufgeschlagen. Auf der Innenseite des Buchrückens war ein schwarzes, fingerbreites Seidenband befestigt, das als Lesezeichen diente. Als Satoshi das Register aufhob, rutschte dieses schwarze Seidenband zwischen den Seiten heraus, sodass er hin und her blättern musste, um den jüngsten Eintrag zu finden. Laut diesem war das Buch heute Mittag um 12.43 Uhr zum letzten Mal benutzt worden: Watanabe Keiko, stand da, Lieferung für Yamanaka Inoichi (Schnittblumen). Darunter folgte ein Vermerk, der erklärte, dass eine Kopie des Lieferscheins in dem dafür vorgesehenen Ordner zu finden sei. „Hm“, machte Satoshi nachdenklich und tippte mit dem Zeigefinger auf die Spalte mit dem Datum und der Uhrzeit. Es musste jetzt kurz vor Neun sein. Also waren seit der Blumenlieferung für Yamanaka Inoichi etwa acht Stunden vergangen. Was war in dieser Zeit nur passiert?   IX They say that life's a carousel Spinning fast, you've got to ride it well The world is full of kings and queens Who blind your eyes and steal your dreams It's Heaven and Hell, oh well And they'll tell you black is really white The moon is just the sun at night [Heaven and Hell – Black Sabbath] Er stand in der Mitte des Konferenzraums – der große, rechteckige Eichentisch mit den abgerundeten Kanten. Alle paar Wochen kam der Hokage hier mit den Clan-Oberhäuptern und den Kommandanten der einzelnen Abteilungen zusammen. Das wusste Amaya von ihrem Vater, und obwohl sie noch nie dabei gewesen war, konnte sie alles ganz deutlich vor sich sehen: Sarutobi lächelt. Er steht am oberen Kopfteil des großen, rechteckigen Eichentisches mit den abgerundeten Kanten. Sein Gesicht spiegelt sich schemenhaft auf der blank polierten Platte wider, die von kleinen Kratzern durchzogen ist. In seiner linken Hand hält er eine braune Meerschaumpfeife. Von seinem Mund steigt ein graublaues Wölkchen auf. Es tränkt die Luft mit dem Geruch von rauchigem Karamell. ‚Nehmt Platz‘, sagt Sarutobi und deutet mit einer fließenden Handbewegung auf die leeren Stühle, die um den großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten verteilt stehen, bevor er seinen eigenen zurückzieht. Die hölzernen Stuhlbeine schaben über den dunkelgrünen Teppichboden. Nara Shikaku lässt sich gähnend auf den Platz zur linken Seite des Hokage nieder, stützt die Ellenbogen auf dem Tisch ab und lässt das Kinn in seine Handballen sinken. Ihm gegenüber sitzt Yamanaka Inoichi, der Akimichi Chōza mit einem Augenzwinkern ermahnt, sich bei den Süßigkeiten zurückzuhalten: „Denk' an deinen Cholesterinspiegel.“ Chōza greift beherzt noch tiefer in die knisternde Papiertüte und rülpst. Sarutobi legt derweil seine Pfeife zur Seite. Asche rieselt auf die blank polierte Tischplatte und den Stapel von braunen Aktenumschlägen, der für die Besprechung schon bereit liegt. „Gibt es noch einen Punkt, den wir auf die Tagesordnung setzen sollen, ehe wir anfangen?“, fragt er, während er den obersten Umschlag vom Aktenstapel nimmt und aufschlägt. Verhaltenes Murmeln rund um den Tisch. Dann Kopfschütteln. Tetsuka Jun, Amayas Vater, macht irgendeinen schlechten Witz, über den nur er selber lacht und Inuzuka Tsume aus Mitleid zumindest müde schmunzelt. So wie sie’s auch tut, wenn Jun morgens am Gartenzaun unkomische Witze reißt. Hyūga Hiashi bittet höflich um Professionalität und Aburame Shibi nickt zustimmend. Jun zieht entschuldigend die Schultern hoch, grinsend wie ein Akademieschüler, der gerade den Lehrer reingelegt hat. Tsume neben ihm kichert. Nur einer ist da und doch auch irgendwie nicht – Uchiha Fugaku. Er sitzt ganz am Rand des großen, rechteckigen Eichentisches mit den abgerundeten Kanten und starrt auf die haarfeinen Kratzer in dessen blank polierter Platte. Die Stühle links und rechts von ihm sind leer. Und sein Blick ist finster – oh ja, finster! Finster wie ein Erdloch auf einer bunten Blumenwiese, das man erst bemerkt, wenn man darin umgeknickt ist und sich den Knöchel gebrochen hat. Am Abend seines großen Coups saß Fugaku ganz allein an dem großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten. Er besetzte den Stuhl am Kopfende, der in Amayas Vorstellung dem Hokage allein vorbehalten war. Seine Worte hallten so laut in ihren Ohren wider, dass sie die empörten Proteste der anderen gar nicht hörte: „Es bedeutet, dass Konoha morgen früh entweder von den Uchiha angeführt wird, oder aber in Trümmern liegt.“ Vor Aufregung lief Amaya das Wasser im Mund zusammen. Schale, schleimige Taubheit legte sich auf ihre Zunge. Sie sah das Erdloch auf der bunten Blumenwiese einstürzen: es wuchs zu einem unüberwindbaren, bröckelnden Abgrund an. Er erinnerte sie an das Loch, durch das sie fallen musste, um aufzuwachen. Amaya konnte noch nicht recht verstehen, was geschehen war, während sie in dem Gen-Jutsu gefangen gewesen war oder wie das dazu geführt hatte, dass sie nun gefesselt zwischen Hyūga Hiashi und Nara Shikaku am Boden kniete – im Konferenzraum der Hokage-Residenz, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Ihr Gehirn musste sich erst akklimatisieren: Gen-Jutsu. Gefesselt. Konferenzraum der Hokage-Residenz - all das waren nur Fragmente eines Bildes. Wie ein Mosaik würde es erst erkennbar werden, wenn Amaya ein paar Schritte zurückgetreten war. Die Gedanken flossen zäh durch ihren Verstand, sodass sie wieder nur erahnte, was sie bald begreifen würde. Wir stehen am Abgrund. Und das war das, was sie alle dachten. Oder wie Hiashi es formulierte: „Eine Kriegserklärung, also.“ Falls er aufgeregt war, ließ er es sich nicht anmerken. Seine Stimme klang so souverän, so alltäglich, als hätte er nur eine Bemerkung über das angenehme Wetter der letzten Tage gemacht. Fugaku winkte ab. „Ganz im Gegenteil. Ich würde es eher eine Friedensverhandlung nennen.“ Irgendjemand schnaubte verächtlich. Amaya wusste nicht wer, aber in ihrer Vorstellung war es Tsume. Ehe noch jemand etwas sagen konnte, flog plötzlich die Tür zum Konferenzraum der Hokage-Residenz auf und schlug so heftig gegen die Wand, dass der Putz bröckelte. Amaya wich im Sitzen zurück und drückte sich so unbewusst an die Seite von Hiashi, der sie mit dem linken Ellenbogen wieder abdrängte. „Reiß‘ dich zusammen“, raunte er ihr zu, doch Amaya hörte es gar nicht. Im Türrahmen stand Yamanaka Inoichi. Mit seiner linken Hand krallte er sich am glänzenden Türknauf fest, seine rechte presste er zur Faust geballt gegen seinen Mund. Blut tropfte von seinen Fingerknöcheln, weil seine Zähne ununterbrochen darüber schabten. Von ihrem Platz am Boden aus sah Amaya sein Gesicht nur von schräg unten, aber das reichte, um das heftige, angeekelte Grinsen hinter der blutigen Faust zu sehen: eine Maske des puren Entsetzens. „Ino“, nuschelte Inoichi gegen das Fleisch seiner Hand. Ton und Lippenbewegungen schienen dabei zeitversetzt zueinander. „Ino-chan.“ Seine Augen schimmerten trüb hinter halbgeschlossenen Lidern hervor. In ihren Außenwinkeln glänzten Tränen. „Ino!“, kreischte er plötzlich. Er kreischte wirklich! Und dieser Laut traf alle Anwesenden auf eine Weise, die nicht mal eine Metapher erfassen konnte. Mit hastigen Schritten stolperte Inoichi ins Zimmer, direkt auf den großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten zu und heulte dabei wie ein verängstigtes Kind. Er prallte gegen die Tischplatte, taumelte einen Schritt rückwärts und trat mit dem linken Fuß über die Linie des rechten. Seine Beine überkreuzten sich, er wankte und ruderte mit den Armen, um die Balance zu halten, stürzte aber letztlich doch. Bevor er auf dem Teppich aufschlug, knallte er mit der Stirn noch gegen die Kante von einem der leeren Stühle. Seine Haut platzte auf. Dunkelrotes Blut floss in seine rechte Braue und perlte von dort in das Auge darunter. Es zuckte reflexartig zusammen, blinzelte hektisch und tränte, um die roten Tropfen auszuwaschen. „Alles wird gut“, keuchte Inoichi und kroch ziellos auf allen Vieren durch das Zimmer. „Keine Angst, Kleine. Alles wird gut.“ Shikaku, Chōza und all die anderen Clan-Oberhäupter schlugen stumm die Augen nieder. Aus Respekt vor ihrem Kameraden, der sich seines würdelosen Anblicks sicher zu Tode geschämt hätte, wenn er bei Sinnen gewesen wäre. Ihn so zu sehen, war für alle Anwesenden erniedrigend. Nur Amaya wandte ihren Blick nicht ab, weshalb dieses Mal Shikaku ihr von der Seite mit seinem Ellenbogen leicht zwischen die Rippen stieß: „Sieh nicht hin.“ Amaya musste aber hinsehen. Denn der Anblick befreite ihren Geist von den letzten Fesseln der Benommenheit. Die unscharfen Linien des Mosaiks setzten sich zu einem klaren Bild zusammen. Sie machte den entscheidenden Schritt rückwärts und erkannte endlich, was den übrigen Versammelten schon klar war: genauso war sie auch hier aufgetaucht – kopflos wie ein geschlachtetes Huhn, das noch flügelschlagend durch die Gegend tippelte, nachdem das Beil seine Kehle schon durchtrennt hatte; mit betäubten Sinnen und Füßen, die blind einem ins Unterbewusstsein gepflanzten Befehl folgten: „Im Konferenzraum der Hokage-Residenz. Es ist wirklich dringend.“ Genauso waren sie alle hier aufgetaucht! Funkelnde Augen. Amaya schluckte. Ihr wurde ganz kalt. Die ganze Zeit über, ja? Unwillkürlich dachte sie an die beiden Uchiha, die bei ihr vor der Haustür gestanden hatten. An den glatzköpfigen Hünen konnte sie sich problemlos erinnern: die Kerbe in seiner linken Braue, dieser blutleere Schnitt; die dunklen Bartstoppeln seiner unsauberen Rasur; die Falten auf seiner Stirn... Doch sobald Amaya jedoch versuchte, das Gesicht seines Begleiters zu visualisieren, sah sie nur eine fauchende Klapperschlange mit funkelnden Sharingan-Augen, die wild mit ihrer Schwanzspitze rasselte und – „zzzzzzssss!zzzzzzzsssss!zzzzzssss!“ – grimmig züngelte. Da war es schon geschehen: als sie das erste Mal in diese funkelnden Augen gesehen hatte, hatte er sie in seinem Gen-Jutsu gefangen genommen. Amaya dämmerte allmählich, dass der leuchtende Geister-Samurai niemals wirklich existiert hatte. Und zum ersten Mal, seit sie aus dem Gen-Jutsu erwacht war, ließ sie den Blick auf ihre Beine sinken. Sie steckten in einem Paar olivgrüner Shorts, gänzlich unversehrt. Da war nichts: kein verkrustetes Blut, keine Kieselsteine, keine Glasscherben, keine Hautfetzen. Darum hat es nicht wehgetan... Darum hat kein Ninja geholfen, als die Leute im Matsch ertranken... Als ihr das erst mal klar wurde, wusste sie auch, dass hinter den Jalousien, die den Blick durch die Fenster auf das Dorf verbargen, kein einziges Gebäude Schaden genommen hatte. Es gab keine Verletzten. Niemand war gestorben. Amaya hätte sich erleichtert fühlen müssen, aber tatsächlich hatte diese Erkenntnis etwas unglaubliche Lähmendes. Ihre Glieder wurden schwer. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und nie wieder aufgemacht. Ich bin gefangen. Intensiver denn je spürte sie die Macht dieser drei Worte. Inoichi ist gefangen. Wir sind gefangen. Nur am Rande ihrer Wahrnehmung registrierte sie, wie sich zwei Gestalten von der Wand lösten. Sie waren Amaya bisher nicht aufgefallen, obwohl sie dort schon die ganze Zeit über stumm und starr auf den Wink ihres Anführers gewartet hatten. Stumm und starr. Wie Mahnmale. Amaya kannte sogar die Namen der beiden Männer, wie sie in trüben Gedanken feststellte – Tekka und Inabi. Aber sie wusste nicht mehr, bei welcher Gelegenheit sie sie kennengelernt hatte. Vielleicht weiß ich’s noch von damals, von Shisui… Vielleicht hat er uns bekannt gemacht… Aber eigentlich war es ja auch egal. Unter ihren Chu-Nin-Westen trugen Tekka und Inabi langärmlige, dunkelblaue T-Shirts, die am Oberarm mit dem Wappen der Konoha Keimu Butai versehen waren: das Uchiha-Emblem mit einem vierstrahligen Stern als Grund. Vier. Amaya dachte beiläufig an die alternative Lesform des Zahlenworts yon, nämlich shi. Tod. Tekka packte den kriechenden Inoichi am Kragen und zog ihn mit einem kräftigen Ruck zurück auf die Beine. Der ließ es mit sich machen wie eine willenlose Puppe: als Tekka ihm die Arme hinter den Rücken zog, blieben sie von selbst dort, sodass der Strick, der um seine Handgelenke festgezurrt wurde, eigentlich überflüssig war. Inabi biss sich unterdessen die Daumenkuppe seiner linken Hand blutig. Mit der rechten drückte er Inoichis Kopf zur Seite, sodass der den Nacken neigte. Amaya sah, wie Inabi mit seinem Blut das Kanji Shibire 痺 auf Inoichis Haut knapp unterhalb von dessen Ohr zeichnete und einkreiste. Lähmung? Was hat er vor? Inabi formte nacheinander die Fingerzeichen Eber, Ratte und Schaf, bevor er seine Hand flach auf das eingekreiste Kanji drückte. Amaya glaubte, ein leises Knistern zu hören und zwischen Inabis Fingern ein helles, bläuliches Flackern zu sehen. Als er seine Hand wieder von Inoichis Hals nahm, hatten sich die Linien schwarz gefärbt. Amaya stöhnte auf: Natürlich – ein Siegel. Vermutlich verursachte es eine temporäre Blockade des Chakra-Flusses und machte die Verwendung von Jutsu unmöglich; was erklärte, warum sämtliche Clan-Oberhäupter von Konoha überhaupt gefesselt am Boden kauerten. Inabi hatte das Siegel mit ziemlicher Sicherheit jedem von ihnen verpasst, als sie wie kopflose Hühner ins Zimmer gestolpert waren. Währenddessen, meine Damen und Herren, stellte Tetsuka Amaya fest, dass sie nicht einmal versucht hatte, das Jutsu der Entfesslung anzuwenden, dachte Amaya bitter und biss sich auf die Unterlippe. Nachdem Tekka die Fesseln um Inoichis Hände noch mal geprüft hatte, schoben die beiden Uchiha ihn in die Reihe der anderen Clan-Anführer und drückten ihn an seinen Schultern zu Boden. Inoichis Beine gaben einfach nach und mit einem hohlen, gedämpften Aufprall schlugen seine Knie auf dem dunkelgrünen Teppich auf. Klebriger Speichel triefte von seinen brabbelnden Lippen. „Soll ich, Taichō?“, fragte Tekka. Fugaku nickte. „Er war der letzte. Nur zu.“ Tekka legte seine rechte Hand auf Inoichis Haar. „Aufwachen, Prinzessin.“ Das Trübe schwand aus Inoichis Augen und er erwachte so jäh, dass er aufschrie, als die Illusion in sich zusammenfiel. Wahrscheinlich war er auch durch jenen triefenden, schwarzen Tunnel mit den bröckelnden Wänden gefallen. Amaya schauderte bei der Erinnerung an diesen Sturz. Anders als sie und die anderen bekam Inoichi jedoch keine Chance, sich von dem harten Bruch zwischen Illusion und Realität zu erholen: „Da die Versammlung nun vollzählig ist“, sagte Fugaku feierlich, „erkläre ich die Friedensverhandlungen zwischen dem Uchiha-Clan und Konoha offiziell für eröffnet.“ „Friedensverhandlungen!“ Chōza kotzte dieses Wort förmlich vor Fugakus Füße. „Das wird Konsequenzen haben!“, knurrte Tsume. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass der Hokage dir das einfach durchgehen lässt, oder? Er wird dich aufhalten!“ Fugaku zog die Augenbrauen nach oben und grinste: „Wenn Sarutobi mich hätte aufhalten können, wären wir jetzt nicht hier.“ Unter dem großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten stand ein Papierkorb. Fugaku wuchtete ihn mit beiden Händen empor. „Ich will euch zu Beginn etwas zeigen“, sagte er. Amaya fragte sich noch, warum ein Sack über die Öffnung des Korbs gestülpt war…   XI Dead scared - 'cause I'm fearless in the head Bang, bang - 'cause the needle's in the red My, my - I can't lie I need a shot again - that sweet adrenaline  [Adrenaline - Shinedown] Nacheinander zog Fugaku sie an den Haaren aus dem Papierkorb und ordnete sie in einem Dreieck auf dem Tisch an. Wie Büsten ohne Oberkörperanschnitt klebten die Köpfe von Sarutobi Hiruzen, Utatane Koharu und Mitokado Homura mit ihren zerfetzten Halsansätzen auf dem Holz. Halb geronnenes Blut breitete sich schwerfällig um sie herum aus, perlte in unregelmäßigen Abständen über die Tischkante und auf den Boden. Es waren nur vereinzelte Tropfen, denn die Gefäße der durchgetrennten Kehlen waren schon beinahe ausgeblutet. Mitokado Homuras Gesicht trug noch den Ausdruck, mit dem er gestorben war: sein Mund stand offen, verzerrt von einem Schrei, der schon lange verklungen war. Das Gaumenzäpfchen glänzte in seinem Rachen und in den weit aufgerissenen Augen waren die Äderchen geplatzt. Blut füllte seine Augäpfel aus: das Weiße darin funkelte rosa. Der Dutt von Utatane Koharu hing schepp über ihrem linken Ohr. Die perlenbesetzte Haarnadel hatte sich aus ihrer Frisur gelöst und pendelte nun an einer verknoteten Strähne ihres grauen Haares vor ihrem Gesicht hin und her. Wie roher Teig zog sich die käsig weiße Haut ihrer Wangen nach unten in die Länge, sodass ihre Mundwinkel beinahe neben ihrem Kinn baumelten. Ein Kragen aus verkrustetem Blut legte sich um den faltigen Hals der alten Dame. Er hatte die Farbe von trübem Purpur. Der Schädel von Sarutobi Hiruzen war zur Hälfte zerschmettert, die Rundung seines Hinterkopfes eingedrückt. An den blutigen Bruchrändern des Knochens klebten Hautfetzen, Haare und getrocknete Brocken einer eitrigen, gelben Flüssigkeit. Ein Stück der Schädeldecke war herausgebrochen, sodass knapp über seinem Ohr ein etwa fünf Zentimeter großes Loch prangte. Mit ein bisschen Fantasie erinnerte dessen Form an die Umrisse eines Schmetterlings. Es war wie ein Fenster in den Kopf des (ehemaligen) Hokage: wenn man hindurch sah, sah man Sarutobis weißlich graues Gehirn. Knochensplitter steckten in den geschwollenen Windungen. Seine Augen waren nur zu Hälfte geschlossen und starrten blind auf die versammelten Clan-Oberhäupter nieder. Unter ihnen sein Sohn. Beim Anblick des abgetrennten Hiruzen-Kopfes verzog Asuma die Lippen zu einem heftigen, angeekelten Grinsen ( - eine Maske des puren Entsetzens). Es ähnelte jenem, mit dem Inoichi in den Konferenzraum gestürmt war. Herzlichen Glückwunsch, Asuma, dachte Fugaku. Du hast deinen Vater nun offiziell als Anführer eures Clans beerbt. Tsume war die erste, die nach Minuten ihre Stimme wiederfand. „Arschloch“, zischte sie und bleckte die Zähne. „Du verdammtes Arschloch!“ Mit einem raschen Ruck zog sie die Knie an den Oberkörper, stellte die Fußsohlen flach auf den Boden und stemmte ihren Rücken gegen die Wand, um sich an ihr empor zu schieben. Fugakus Finger zuckten leicht – ein unauffälliger Wink, auf den Inabi sofort reagierte: in seinen schwarzen Augen flammte das Sharingan auf und binnen dem Bruchteil einer Sekunde schlossen seine Händen wieder das Fingerzeichen Schaf. Die schwarzen Linien des Shibire-Siegels auf Tsumes Hals leuchteten weiß auf. Kleine blaue Funken zuckten über ihre Haut. Wie von unsichtbaren Fäden in die Höhe gezogen hoben sich ihre Haare einzeln von ihrem Kopf ab und knisterten. Atemlos schrie Tsume auf und sackte zurück auf den Boden. Unter ihrer Haut versteiften sich die Muskeln ihres Körpers. Nur an ihrem Kiefer kroch ein kleines Zittern entlang, das kurz darauf ihr komplettes Gesicht flimmern ließ: Tsumes Augen flatterten, ihre Nasenflügel bebten und hinter den halbgeöffneten, vibrierenden Lippen krampfte ihre Zunge, sodass sie würgende Bibberlaute von sich gab: „bbb-bbrbb-bbbrbb-bbbrbbb.“ Nach etwa vier Sekunden löste Inabi das Fingerzeichen wieder. Das Sharingan in seinen Augen und das Siegel auf Tsumes Hals erloschen. Trotzdem zitterte ihr Gesicht noch ein paar Sekunden nach, bevor die Muskeln in ihrem Rumpf, dem Rücken und den Gliedmaßen erschlafften. Mit einem leisen Seufzen sank sie in sich zusammen. Ihr Körper neigte sich nach links und nur Chōzas massiger, weicher Leib hielt sie davon ab, umzukippen. Ihr Kopf sank auf seine Schulter. „Die ersten beiden Male haben wohl noch nicht gereicht“, kommentierte Fugaku. „Das scheint dir ja echt Spaß zu machen. Was glaubst du, wie viele Schocks hältst du noch aus, bevor dein Herz versagt? Um die Käfer in Shibis Körper zu töten, haben zwei gereicht...“ „Wi'gs-!“, stieß Tsume mit tauber Zunge aus und rümpfte die Nase, als sie hörte, wie schlaff der Laut klang, der aus ihrem Mund quoll. „Nur zu“, frohlockte Fugaku. „Gib Laut!“ Tsume schnaubte. Ihr Nasenrücken schlug eine waagrechte Falte, als sie drohend die Lippen zurückzog, um dem Uchiha ihre Zähne ein zweites Mal zu präsentieren. „Wi-“, setzte sie wieder an. „Wi-k-ksss-s...er.“ Fugakus Mundwinkel zuckten leicht nach oben. „So ist's fein“, sagte er. „Braves Mädchen.“ Aus Tsumes Augen schlug ihm ungetrübter, heißer Hass entgegen. Fugaku konnte förmlich hören, was hinter ihrer Stirn vor sich ging: Ich werd' dir die Haut abziehen. Schicht um Schicht, mit bloßen Händen. Und dann verfüttere ich sie an Kuromaru! Fugaku presste die Lippen zusammen, um dem irrsinnigen Drang lauthals loszulachen zu widerstehen. Tsumes hasserfüllter Blick war einfach köstlich! Denn er drückte die ganze Machtlosigkeit aus, die sie alle umtrieb. Das war alles, was sie ihm antun konnten: ihn hasserfüllt anstarren! Er tötete den Hokage samt des Ältesten Rats und die Anführer von Konohas Clans konnten nichts weiter tun als ihn hasserfüllt anzustarren! Kami, so debil heiter wie jetzt hatte Fugaku sich zuvor nur ein einziges Mal in seinem Leben gefühlt: als er im letzten Krieg verwundet ins Lazarett gebracht worden war und irgendein ahnungsloser Sanitäter ihm mehr Morphin als nötig in die Venen gespritzt hatte. Und diesmal sogar ganz ohne schräge Halluzinationen. Dabei wusste er ganz genau, dass er keine Heiterkeit empfand. Nicht wirklich. Er glaubte es nur. In Wirklichkeit hatte er Angst – schreckliche Angst, die sein Verstand nur ertragen konnte, indem er einen Cocktail aus Adrenalin, Endorphinen, Dopamin und Serotonin durch seinen Körper pumpte, um dem Gehirn einen Freudentaumel vorzugaukeln. Ich habe Angst, und auf eine merkwürdige Art und Weise war das ein befreiender Gedanke. Das unterdrückte Lachen schmerzte sein Zwerchfell und trieb ihm die Tränen in die Augen. Seine Schultern bebten. „Na, Hauptsache du hast Spaß.“ Kaum waren Shikakus Worte verklungen, hallte ein leises Rülpsen durch den Konferenzraum. Das Mädchen mit dem violetten Pferdeschwanz, von dem Fugaku nur wusste, dass es Amaya hieß und Tetsuka Juns Tochter war, hielt es nicht mehr aus: sie drehte das kreidebleiche Gesicht zur Seite und erbrach sich auf Hiashis Schoß. Als die ausgeblichenen, roten Brocken mit den deutlich erkennbaren Kernen auf seinen Oberschenkel plätscherten, entglitt dem Hyūga die bis dahin erstaunlich gefasste Miene: er sah aus wie hypnotisiertes Kaninchen. Da konnte Fugaku nicht mehr. Er brach in schallendes Gelächter aus: „Jetzt hab' ich tatsächlich Spaß!“ Eine frische Woge der debilen Heiterkeit umspülte Fugakus Gehirn. Er konnte kaum noch klar denken. Dass es schlimm werden würde, hatte er gewusst. Er hatte gewusst, dass es ihm schwer fallen würde, die Fassung zu wahren. Er hatte gewusst, dass es ihm alles abverlangen würde, bis zum Ende durchzuhalten. Doch auf diese debile Heiterkeit war er nicht vorbereitet gewesen. Bisher läuft alles nach Plan, beschwor er sich deshalb selbst. Ich hab' alles im Griff. Dann dachte er versehentlich an Mikoto. An Sasuke. Und ganz kurz sogar an Itachi... Einen Augenblick lang war Fugaku dem wahren Ausmaß seiner betäubten Angst ganz nahe; spürte, wie sie sein Herz mit kalten Fingern umgriff und zudrückte. Fugaku hielt die Luft an und wartete auf die nächste Welle debiler Heiterkeit, die die grapschenden Finger von seinem Herz wusch. Sie brach - Nur nicht den Kopf verlieren, haha – und Fugaku musste wieder kichern. Er sah Shikaku direkt in die Augen: Du ahnst es noch nicht, oder? Du bist der Schlüssel. Von dir hängt alles ab... Und als ob Shikaku gehört hätte, was Fugaku dachte, sagte er: „Glaubst du das reicht? Du beseitigst einfach den Hokage, den Dorfrat und uns, und schon fürchten die Shinobi Konohas dich genug, um dir willig zu folgen? Du bist dir deiner Sache zu sicher: Konohas Ninja werden kämpfen - mit oder ohne Hokage; egal, ob wir am Leben sind oder nicht. Ist dir klar, wie sehr deine wahnwitzige Aktion das Dorf destabilisiert? Möglicherweise genug, um die gesamte Ninja-Welt in den Abgrund zu reißen. Du riskierst hier einen Bürgerkrieg! Ein gewonnenes Spiel ist teuflisch –so lautet eine Shōgi-Weisheit. “ Fugakus Kichern erstarb: „Du musst eine noch geringere Meinung von mir haben als ich dachte, wenn du mich für so einfältig hältst.“ „Na dann, nur zu!“, forderte Shikaku grimmig. „Erleuchte uns!“ Wieder schlossen sich die kalten Finger der Angst um Fugakus Herz. Die dämpfende Woge der debilen Heiterkeit schwemmte wie zuvor über sie hinweg, doch diesmal hielten die Finger fest und quetschten sein Herz zusammen. Fugaku spürte ein Stechen in seiner Brust und versteckte seine zitternden Hände unter dem Tisch – die Mischung aus Angst und debiler Heiterkeit waren pures Gift für seinen Verstand. Aber Fugaku zwang sich zur Selbstbeherrschung. So gut er konnte. „Ich habe auch eine Shōgi-Weisheit für dich, Shikaku“, sagte er und der irrsinnige Drang zu lachen wuchs wieder. Er hoffte, dass niemand das Zittern in seiner Stimme hörte „Ein Angriff mit vier Figuren kann nicht schiefgehen... Hast du jemals darüber nachgedacht, wie mächtig Glaube ist?“ „Wovon sprichst du?“ „Kōdō-kihan.“   Kapitel 3: Teil 1. Verschwörung. Verrat. Shōgi (2/2). ----------------------------------------------------- XI No hope for the hopeless I can see the pieces all laid out in front of me No point even asking why Couldn't help even if you tried Step aside or you might just be the next contestant to feel the brutality [The Curse – Disturbed] An alle Dorfbewohner: zieht euch sofort in die Evakuierungstunnel zurück! Das ist ein Befehl des Hokage! Konoha ist in Gefahr! Helft euch gegenseitig! Alle Ninja versammeln sich auf dem 34. Übungsgelände! Wartet auf weitere Befehle! – Nara Shikaku hielt die Hand seines Sohnes, als der Ruf zum ersten Mal durch die Straßen von Konoha hallte. Sie standen im Eingangsbereich ihres Hauses, zwei Mitgliedern der Konoha Keimu Butai gegenüber. Kōdō-kihan?, hörte Shikaku sich in seiner Erinnerung fragen, in der er Shikamarus kleine Hand automatisch fester drückte. Einer der Polizisten nickte. Leider, Nara-san. Und der zweite fügte hinzu: Sie sollen sich umgehend im Konferenzraum der Hokage-Residenz melden. Shikaku spürte Shikamarus fragenden Blick auf sich ruhen. Ein Blick, der flaues Kitzeln in seinem Magen weckte. Alles in Ordnung, mit der freien Hand tätschelte Shikaku über den braunen Haarschopf seines Sohnes, Du brauchst keine Angst zu haben. Ich hab' keine Angst, erwiderte der Junge. Warum? Hast du etwa Angst? Wovor? Shikaku schwieg. Hinter ihnen trat Yoshino aus der Küche. Um den Körper trug sie eine weiße Schürze mit braunen Soßenflecken. Shikaku?, fragte sie zögerlich und sah an ihm vorbei zu den beiden Agenten der Keimu Butai. Dem unsicheren Schimmern in ihren dunklen Augen nach zu urteilen, hatte sie den Ruf von der Straße ebenfalls gehört. Shikaku erinnerte sich daran, wie er dachte, dass ihr das nicht stand – dieses Zögerliche, diese Unsicherheit. Er mochte es lieber, wenn ihre Augen vor Angriffslust Blitze schlugen (selbst wenn sie dann meistens einen harten Gegenstand nach ihm warf). Kōdō-kihan. Als Shikaku das sagte, sog sie scharf die Luft ein. Beeil' dich und bring' den Jungen in Sicherheit. Yoshino nickte. Ohne irgendwelche Fragen zu stellen, verschwand sie noch mal kurz in der Küche. Vermutlich um den Herd abzuschalten, denn eigentlich kochte sie gerade das Abendessen. Als sie in den Flur zurückkehrte, trug sie keine Schürze mehr. Und was ist mit dir?, fragte sie, als sie sich im schmalen Flur an ihm vorbei schob. Sie nahm Shikamarus freie Hand und Shikaku ließ auf der anderen Seite los. Er verspürte den Drang sie zu küssen und fragte sich, warum er es nicht getan hatte. Der Hokage scheint andere Pläne für mich zu haben. Mit sanften Druck schob er Yoshino an den Schultern Richtung Haustür. Sie zog Shikamaru an der Hand mit. Was immer uns erwartet, vielleicht sieht er noch eine Möglichkeit, diese Krise doch abzuwehren. Oder er braucht mich für einen Schlachtplan. Ich weiß es nicht. Sei trotzdem auf alles vorbereitet. Otō-san? Shikaku erkannte keine Angst in den Augen seines Sohnes, nicht mal Unsicherheit. Der Junge konnte wahrscheinlich noch nicht wirklich verstehen, was hier vor sich ging. Und Shikaku war dankbar dafür. Es ist alles in Ordnung, Shikamaru. Du brauchst keine Angst zu haben. Das waren seine letzten Worte an das Kind, bevor es mit seiner Mutter das Haus verließ. Sie verschwanden aus Shikakus Blick und einen Augenblick lang hatte er das schmerzhafte Gefühl, es sei für immer. Was steht uns wirklich bevor?, fragte er, als er mit den beiden Uchiha der Konoha Keimu Butai allein war. Jetzt, wo Shikamaru außer Hörweite war, glaubte er, jede noch so schlimme Nachricht ertragen zu können. Es tut mir leid, Nara-san, sagte einer der beiden. Seine Augen funkelten. Wir haben auch keine Details, nur Anweisungen. Shikaku konnte sich beim besten Willen nicht mehr an das Gesicht dieses Uchiha erinnern; nicht mal, ob es überhaupt ein Er oder vielleicht doch eine Sie gewesen war. Nur die funkelnden Sharingan-Augen sah er immer noch ganz deutlich vor sich. Mann oder Frau – wie kann man so etwas vergessen?! „Mein Sohn besucht seit ein paar Wochen die Akademie.“ Fugakus Stimme zwängte sich so gewaltsam in Shikakus Gedanken wie ein Mann seinen Unterleib zwischen die Schenkel einer unwilligen Frau. „Ich glaube erst in derselbe Klasse wie-... Wie heißt dein Sohn noch mal?“ „Shikamaru.“ Als Shikaku den Namen seines Sohnes aussprach, spürte er ein Ziehen in seinem Herzen. Kalter Schweiß benetzte seinen Nacken: Er ist gestorben! Ich habe meinen Sohns sterben sehen! Ohne, dass Shikaku sich dagegen wehren könnte, sah er es wieder – Blut (Wie kann aus so einem kleinen Körper so viel Blut strömen?), geplatzte Haut (Geplatzt wie ein Luftballon – peng!) und einen roten, stückigen Brei mit Knochensplittern (Sein Herz! Wo ist sein Herz?!). Shikaku versuchte sich klar zu machen, dass das nicht wirklich passiert war. Shikamaru geht es gut. Er lebt. Das ist nie geschehen. Es ist geschehen!, donnerte ein empörter Teil seines Verstandes dagegen. Dein Sohn ist gestorben! Du hast es gesehen! Seine zerfetzte Leiche lag zu deinen Füßen! Es mag nur ein Trugbild gewesen sein, aber deine Gefühle waren echt. Du hast es geglaubt. Du hast geglaubt, dass er tot sei, und weil du es geglaubt hast, war das für eine gewisse Zeit deine Realität. Jetzt weißt du, wie es sich anfühlt, in Shikamarus Blut zu knien. Und das ist genau das, was er wollte. Er wollte, dass du dieses Gefühl kennenlernst! Fugaku nickte und Shikaku erschrak, weil er einen kurzen Augenblick glaubte, es sei eine Reaktion auf seine Gedanken. Die Lippen des Uchiha verzogen sich zu einem freudlosen Grinsen. Gleich lacht er wieder, dachte Shikaku. Gleich lacht er wieder. „Ach ja, richtig – Shikamaru.“ Fugaku lachte tatsächlich auf und es war unheimlich, wie ehrlich und herzlich sein Lachen klang. „Ja, der ist in Sasukes Klasse. Dann weißt du sicher, was sie erst vor ein paar Tagen im Unterricht durchgenommen haben...“ Fugaku fischte ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der linken Tasche seines Haori und klappte es auf. Wie zum Beweis hielt er es nach oben. Das Papier war zwei Mal gefaltet worden – ein mal längs, ein mal quer. Die Knicke überschnitten sich in der Mitte des Blattes und teilten es so in vier Rechtecke auf. Kōdō-kihan, stand da in etwas verwackelter, aber ansonsten erstaunlich sorgfältiger Kinderhandschrift geschrieben, ist die Bezeichnung für das Sicherheitsprotokoll der höchsten Krisenstufe. Es umfasst drei Punkte: Dorfbewohner evakuieren. Streitkräfte formieren. Anweisungen befolgen. Sobald eine Einheit (z.B. Spionage-Abteilung, Anbu, Konoha Keimu Butai etc.) Hinweise hat, dass eine unmittelbare Gefahr für das Dorf besteht und keine Zeit mehr bleibt, um die üblichen Abwehrmaßnahmen (siehe Krisen-Vorschriften 18.4 bis 30.1) zu ergreifen, gilt die Weisung, dem Hokage Meldung zu erstatten und Kōdō-kihan auszurufen. Ab diesem Zeitpunkt unterstehen alle verfügbaren Ninja von Konoha Gakure dem Kommando der Abteilung, die das Sicherheitsprotokoll ausgerufen hat (Hinweis von Iruka-sensei: nur Befehle des Hokage haben eine höhere Priorität): diese Abteilung weiß, was los ist und kann somit am schnellsten Evakuierung und Verteidigung einleiten. Kōdō-kihan soll im Notfall Zeit sparen, indem es die Prioritäten festlegt und Kompetenzgerangel vermeidet. [-> zuhause Otō-san oder Nii-san fragen: kann eine Gefahr, die ganz Konoha bedroht, überhaupt so plötzlich auftreten, dass ein solches Protokoll nötig ist?] Um den Textblock war mit rotem Buntstift ein ordentlicher Rahmen gezogen worden. Darunter folgte eine schematische Darstellung der Kommandokette von Konoha: in grünen Kästen standen stichpunktartig die Pflichten und Autorisierungen der einzelnen Ränge, in blauen dasselbe für die jeweiligen Abteilungen. Das alles war durch leuchtend gelben Pfeilen und Klammern miteinander verbunden, die veranschaulichen sollten, wer wem Befehle erteilen durfte und wer wem gehorchen musste. Shikaku erinnerte sich tatsächlich daran, in den Unterrichtsnotizen seines Sohnes ebenfalls einen kurzen Abschnitt über Kōdō-kihan entdeckt zu haben. Was sich bei Fugakus Jungen jedoch wie ein Lehrbucheintrag las, hatte Shikamaru auf seine ganz eigene Art zusammengefasst: Du spiehlst mit deinen Freunden Versteken. Dabei entdeckst du ein Feuer. Bis du die Feuerwerr allermiert hast wird es sich zu einem geferhlichen Brand ausgebreitet haben. Das weist du. Deshalb hollst du deine Freunde. Weil die nicht wissen wo das kleine Feuer ist, must du es ihnen zeigen und sie müsen auf dich hören, damit ihr das Feuer zusamen auspinkeln könnt, bevor es geferhlich wird. Das ist Kōdō-kihan. Für diese Definition hätte Shikamaru in einem Test wohl nicht nur wegen der Rechtschreibfehler und der unbeholfenen Ausdrucksweise keine Punkte erhalten, aber trotzdem fand Shikaku die Pragmatik in den Worten seines Sohnes beeindruckend, so abstrakt sie auch dargestellt war. Der Junge hatte die Idee von Kōdō-kihan verstanden, mit der sein Vater seinerzeit kurz nach dem Angriff des Kyuubi vor den Hokage getreten war. Shikaku suchte den toten Blick von Sarutobis zertrümmertem Schädel. Der Anblick forderte auch seinen Brechreiz heraus, aber es ging, angesichts dessen, was er im Gen-Jutsu mitansehen hatte müssen. Es tut mir leid, Hokage-sama. Es ist wirklich alles schief gegangen. Momente wie diese hatte Shikaku zuvor schon einige Male durchlebt; Momente, in denen sein Verstand solch überwältigende Kräfte entwickelte, dass die Welt schrumpfte und die Zeit neben der Geschwindigkeit seiner rasenden Gedanken still zu stehen schien. An alle Dorfbewohner: zieht euch sofort in die Evakuierungstunnel zurück! Das ist ein Befehl des Hokage! Konoha ist in Gefahr! Helft euch gegenseitig! Alle Ninja versammeln sich auf dem 34. Übungsgelände! Wartet auf weitere Befehle! Shikaku erkannte, dass alles zusammenhing. Hast du je darüber nachgedacht, wie mächtig Glaube ist? Es war eine lange Kette von Ereignissen. Ein Angriff mit vier Figuren kann nicht schiefgehen. Er sah sie vor sich: alles, was bisher geschehen war, und alles, was noch geschehen würde. Es bedeutet, dass Konoha morgen früh entweder von den Uchiha angeführt wird, oder aber in Trümmern liegt. Es lag vor ihm ausgebreitet, wie die Figuren auf einem Schachbrett. Hast du jemals darüber nachgedacht, wie mächtig Glaube ist? Nicht nur der Hokage, die Ältesten und die Clan-Oberhäupter, nein, sie alle, jeder in Konoha, war ein Teil davon. Auch Yoshino und – bei allen Mächten dieser Welt – sogar Shikamaru: Figuren auf einem Schachbrett, die dank Kōdō-kihan genau da standen, wo Fugaku sie haben wollte. „Vier Figuren“, murmelte Shikaku. Seine rasenden Gedanken bewegten immer noch auf einer anderen Zeitebene als jener, die in Sekunden und Minuten die Realität bestimmte. Seine eigene Stimme klang fremd, irgendwie verzerrt. Als würde sie nicht aus seinem Mund kommen, sondern aus weiter Ferne in sein Ohr dringen. Es kam ihm so vor, als klebte die Zunge an seinen Gaumen. Die Worte erstickten beinahe in Heiserkeit. „Ich habe mein Kind sterben sehen...“ Shikaku dachte an Inoichi, wie er den Namen seiner Tochter kreischte, heulend durchs Zimmer kroch und sich die Haut von der Hand schabte, bis die Knöchel bluteten. „Und da bin ich nicht der einzige...“ „Aber das ist doch nicht wirklich passiert!“ Shikaku drehte das Gesicht zur Seite und blickte in die grauen Augen von Juns Tochter Amaya. Das Mädchen lächelte. Aber es war ein unbehagliches Lächeln, fast so als erwartete sie von Shikaku so etwas wie eine Bestätigung für ihre Worte. „Es war ein Gen-Jutsu. Von Anfang an. Alles, was wir gesehen haben, war nur eine Illusion. Niemand wurde verletzt. Niemand ist gestorben.“ Shikaku lachte auf. Er wollte nicht, aber er tat es – heiser und bitter wie ein Mann, der in seine eigene tödliche Falle getappt war. „Das ist es doch, was es so grausam macht, Mädchen! Shikamaru ist nicht tot. Das weiß ich. Aber er ist gestorben. Er lag da. Ich habe neben ihm auf dem Boden gekniet. In seinem Blut. Die Rippen ragten gesplittert aus seinem Bauch – nicht aus seiner Brust, seinem Bauch. Von seinen Organen war nur roter, stückiger Brei übrig und das Gesicht hing in Fetzen von seinem blanken Schädel! Und sein Herz...“ ...klebte an der Fassade der Marktplatz-Konditorei... „...war einfach weg. Ob Illusion oder nicht, ich habe es geglaubt. Und deshalb ist es, als sei es wirklich passiert: alles, was ich beim Anblick seines verstümmelten Leichnam empfunden habe, war real. Diese Gefühle kamen nicht vom Gen-Jutsu, sondern von mir!“ Shikaku holte tief Luft und schloss die Augen. „Das Kind zu verlieren ist mehr, als der Verstand erfassen kann. Aber das kann man erst verstehen, wenn man eines hat: ich werde meinen Sohn niemals wieder ansehen, ohne mich daran zu erinnern wie ich empfand, als er starb. Ich werde wissen, dass es jederzeit passieren kann.“ „Aber der Geister-Samurai existiert nicht“, murmelte Amaya und dieses Mal war sich Shikaku sicher, dass sie versuchte, sich selbst zu überzeugen. „Er existiert nicht!“ Und das ist die wahre Illusion! Fugakus Leute haben uns dieses... Shikaku wollte 'Monster' denken, aber Amayas Bezeichnung schien ihm passender, ...diesen Geister-Samurai nicht wegen der schönen Dramatik sehen lassen. Sie haben ihn uns gezeigt. Wir sollen wissen, dass er existiert und welchen Schaden er anrichten kann. Auf eine unbestimmte Art und Weise hatten sie es vermutlich alle schon viel früher geahnt, aber jetzt spürte Shikaku förmlich, wie ihre Köpfe aus der unbestimmten Ahnung eine konkrete Erkenntnis formten. Und er spürte, dass Amayas es nicht tat. Nicht etwa weil sie zu dumm war, um es zu erkennen, sondern weil sie mit voller Absicht die Augen davor verschloss. Er existiert nicht, war das, was sie glauben wollte und Shikaku konnte es verstehen. Das Mädchen tat ihm leid, und wenn er gekonnt hätte, hätte er ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Du hast recht, Fugaku, dachte Shikaku und sah dem Uchiha direkt in die Augen. Ob voller Abscheu oder Anerkennung, wusste er selbst nicht so genau. Glaube ist etwas sehr Mächtiges... „Der Geister-Samurai existiert, Amaya“, sagte Shikaku, weil er wusste, dass sie es nicht glauben würde, solange es niemand aussprach. „Das Gen-Jutsu war keine Illusion, sondern eine Vision, verstehst du? Es gab noch keinen Angriff, es wurde noch niemand verletzt und es ist noch niemand gestorben. Aber es kann passieren. So ist es doch, oder Fugaku?“ „Susano'o“, sagte der und musste nicht erklären, dass dies der Name des Jutsu war, das sie im Gen-Jutsu gesehen hatten. Ein Jutsu, das keiner von ihnen kannte, aber dessen Existenz sie auch nicht im geringsten anzweifelten. „Das ist der erste Stein“, sagte Shikaku. „Eine von vier Figuren, die uns matt setzen soll. Und die zweite... Beim Shōgi dürfen Steine, die man vom Gegner erobert hat, auf der eigenen Seite eingesetzt werden, um sie gegen ihn zu verwenden...“ Shikaku stöhnte auf. Sein Verstand entfesselte wieder diese überwältigenden Kräfte: wenn die anderen nur sehen könnten, was er sah. „Wir wissen nicht, ob wir in Konoha sicher sind – wir müssen es glauben. Wir wissen nicht, ob wir einander vertrauen können, wir müssen es glauben. Wir wissen nicht, ob Kōdō-kihan das Dorf vor Unheil beschützen kann, aber sobald es ausgerufen wurde, müssen wir daran glauben. Anders funktioniert es nicht. Fugaku verwendet diesen Glauben gegen uns.“   XII Water shapes it's course according to the ground over which it flows A soldier works out his victory in relation to the foe he is facing Therefore, just as water retains no constant shape In warfare, there are no constant conditions  [The Art of Warfare – Sabaton (ursprünglich aus The Art of War von Sun Tzu)] Es war beinahe unheimlich, wie schnell das 34. Übungsgelände sich mit Menschen füllte. Fast so als wären sie alle nur Schauspieler, die schon die ganze Zeit auf ihren Auftritt gewartet hatten und nun auf die Bühne gerufen worden waren. Vielleicht hatte Hatake Kakashi deshalb die ganze Zeit über das absurde Gefühl, Teil eines Theaterstückes zu sein. Er stand ganz am Rand des Geländes und lehnte mit dem Rücken gegen einen Baum. Die Arme hielt er locker vor der Brust verschränkt. Das Gewicht seines Körpers ruhte auf dem rechten Bein, die Fußsohle seines linken lag flach am Stamm des Baumes, an dem er lehnte. „Die wenigsten werden merken, wie verunsichert sie sind. Sie sind es, aber sie werden es nicht merken. Das ist reine Psychologie: Konoha musste schon viele Krisen durchstehen und egal, wie hart es auch war, wir haben es immer überstanden. Wir haben zusammengehalten und den Krieg überstanden, den Angriff des Kyuubi... Es gibt keinen Grund, warum sie glauben sollten, dass es dieses Mal anders sein könnte. Sie glauben, dass alles gut wird. So wie jedes Mal...“ „Weiß den wirklich niemand was Genaues?“ Kakashi drehte den Kopf zur Seite. Durch die Sichtlöcher seiner Maske entdeckte er einige Meter von sich entfernt im Meer aus Gesichtern die von Shiranui Genma und Namiashi Raidou. Raidou zuckte mit den Schultern: „Ich hab' gehört, Iwa plant eine Großoffensive gegen Konoha.“ „Iwa?“ Zwischen Genmas Lippen steckte eine Wurfnadel. Er nahm sie heraus und rollte sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. „Wer sagt das?“ „Hab's von Iwashi gehört“, antwortete Raidou. „Es gab die Tage wohl Auffälligkeiten an der Grenze.“ Genma nickte verständig. „Späher?“ „Vielleicht.“ Raidou zuckte wieder mit den Schultern. Kakashi konnte sehen, wie er die Lippen zu einem erwartungsvollen Grinsen verzog. „Die Gerüchte werden sich von ganz allein verbreiten. Auch in Zeiten des Friedens ist die Ninja-Welt niemals sicher: beinahe jeder Shinobi schnappt auf Missionen irgendwelche Informationen auf, die potenzielle Bedrohungen für Konoha bedeuten. Wenn es so etwas wie den perfekten Zeitpunkt für Spekulationen gibt, dann ist er jetzt gekommen.“ Kakashis Blick klebte förmlich an Raidous erwartungsvollem Grinsen. Es war das perfekte Bild für die eigenartige Stimmung, die hier auf dem 34. Übungsgelände herrschte – so desorientiert und doch irgendwie voller Zuversicht. Wie ein Theaterstück, dachte Kakashi und diesem Gedanke folgte das Gefühl, dass es nur für ihn aufgeführt wurde. Die bittere Ironie konnte er erst später verstehen: sie waren tatsächlich Statisten in einem Theaterstück, der Inszenierung des Uchiha-Clans. „Absurderweise sind es die Spekulationen und die Fragen, auf die niemand eine Antwort gibt, die die ganze Geschichte authentisch machen. Es gehört dazu. So ist unsere Welt nun mal: voller Intrigen und unvorhersehbaren Katastrophen... Deshalb gibt es Kōdō-kihan. Deshalb hat es eigene Spielregeln. Ohne absolute Kooperation geht es nicht. So lange niemand etwas weiß, müssen sie glauben: die Bedrohung, wie auch immer geartet, wird so lange als real anerkannt, bis das Gegenteil bewiesen ist. Nicht mal die scharfsinnigsten unter ihnen werden es wagen, zu zweifeln.“ „Senpai.“ Kakashi löste endlich den Blick von Raidous erwartungsvollem Grinsen und das Gefühl, Zuschauer eines Theaterstückes zu sein, verging. Ein junger Mann mit braunem Haar trat an ihn heran. Auch er trug eine Maske. Ihre Konturen waren dem Gesicht einer Katze nachempfunden. Grüne, zugespitzte Streifen zogen sich links und rechts über den Kiefer und unterhalb der spitzen Ohren zur Mitte der Maske hin. Rote, zueinander geöffnete Mondsicheln rahmten die Augen mit den Sichtlöchern ein. „Hast du was raus gefunden, Tenzō?“ „Nicht viel“, antwortete Tenzō. „Nur Gerüchte. Die Keimu Butai hat Kōdō-kihan ausgerufen – das ist das einzige, was wirklich fest steht.“ Kakashi nickte. „Ja, ich weiß. Uchiha Yashiro hat hier das Kommando, so lange sein Vorgesetzter sich mit dem Hokage und den Clan-Oberhäuptern berät.“ „Die meisten vermuten einen groß angelegten Überfall durch ein anderes Dorf“, fuhr Tenzō fort. „Kiri, Suna, Iwa – da gibt’s verschiedene Theorien. Der heißeste Kandidat ist Kumo. Wegen des Streits, den es vor ein paar Jahren mit den Hyūga gab.“ „Unser Glaube an alles, wofür dieses Dorf steht, das ist Fugakus zweite Figur. Er hat sie mit Kōdō-kihan erobert, sie unter seiner Kontrolle wieder ins Spiel gebracht und damit nun die Streitkräfte von Konoha außer Gefecht gesetzt. Ganz ohne Gewalt.“ Kakashi runzelte die Stirn. „Nein, auf keinen Fall“, sagte er. „Wenn uns ein Angriff durch feindliche Ninja bevorstünde, wäre es unsinnig, uns an einen Platz außerhalb des Dorfes zu beordern und es ungeschützt zurückzulassen. Ganz abgesehen davon, dass die Konoha Keimu Butai für die Innere Sicherheit zuständig ist. Wenn sie Kōdō-kihan ausgerufen hat, dann wegen einer internen Angelegenheit.“ Tenzō lachte trocken auf. „Fatal genug für das Sicherheitsprotokoll mit der höchsten Krisenstufe? Senpai, da müsste uns schon ein Staatsstreich bevorstehen.“ „Wissen wir etwa, dass es nicht so ist?“ „Und während sie noch abwarten und spekulieren, schließen sich in den Evakuierungstunnel die Bunkertüren... Die Dorfbewohner glauben, sie seien in Sicherheit, aber in Wahrheit sitzen sie in der Falle.“ Tenzō räusperte sich. „Nein.“ „Ganz genau – nein, wir wissen es nicht.“ Kakashi biss sich auf die Lippe. „Die Agenten der Keimu Butai sagen zwar, sie hätten auch noch keine genauen Informationen, aber in Wahrheit halten sie sie nur zurück. Sie beschützen unsere Gemeinschaft vor der Wahrheit. So lange es geht zumindest.“ Maito Gai stach in seinem grünen Trainingsanzug aus der Menge heraus. Er stand bei Ebisu und riss gerade die Arme zum Himmel empor. „Okay, dann lasst uns ordentlich Krach machen, wenn sie zuschlagen!“, rief er aus und grinste dabei so breit, dass seine Zähne im gold-orangen Licht der Abenddämmerung aufzublitzen schienen. Kakashi seufzte. Reiß' dich zusammen, Gai. Das ist immerhin eine Krisensituation. „Welcher Wahrheit, Senpai?“, fragte Tenzō. „Dass wir einander nicht so bedingungslos vertrauen können wie wir bisher geglaubt haben.“ „Hunderte Tonnen von Fels, Beton und Stahl machen Konohas Evakuierungstunnel zu einer uneinnehmbaren Festung. Heute Abend sind sie ein Gefängnis.“ „Ein Grab“, korrigierte Fugaku. Shikaku schloss die Augen. „Ja, in der Tat – ein Grab... Die dritte Figur, der dritte Stein zum Matt... Sie sind mit ihm eingesperrt – die Dorfbewohner und unsere Familien... Sie sind ihm schutzlos ausgeliefert.“ „Ich spreche von Verschwörung, Tenzō“, fügte Kakashi hinzu. „Von Verrat.“ Ein Team von Ge-Nin, alle drei höchstens zwölf Jahre alt, stürmte nahe an ihm und Tenzō vorbei und verschwand gleich wieder in der Masse der wartenden Shinobi. Es hatte den Anschein, als würden die drei Kids Fangen spielen und so absurd ihm das momentan auch erschien, vermutete Kakashi, dass sie genau das taten. Sie spielten. Vielleicht nicht Fangen, aber irgendwas spielten sie. Kinder können das, dachte Kakashi, spielen, auch wenn die Welt untergeht. Und wieder war das Gefühl, eine Rolle in einem Theaterstück zu spielen, ganz nah. Kälte durchzog die Adern in Kakashis Körper. „Spürst du diese eigenartige Stimmung hier?“, fragte er Tenzō. „Mir kommt es vor wie Zuversicht. Ist das nicht paradox? Das Sicherheitsprotokoll der höchsten Krisenstufe wurde ausgerufen und die Menschen sind zuversichtlich. Das schafft unsere Gemeinschaft; alle Katastrophen, die wir bisher zusammen überwunden haben... Wenn wir von außen angegriffen werden, halten wir zusammen, und egal wie hart die Verluste sind, unsere Gemeinschaft übersteht das. Es schweißt uns sogar noch enger zusammen, macht uns noch stärker.“ Kakashi sah einen der Ge-Nin. Der Junge drängte sich gerade an Ibiki vorbei und lachte. „Aber wenn der Angriff aus unserer Mitte erfolgt, brechen wir auseinander. Glaub' mir, ist der Glaube an unsere Gemeinschaft erst mal zerstört, erholen wir uns davon nie wieder.“ „Er?“ Hiashis Stimme zitterte. Ganz untypisch für ihn, wie Shikaku feststellte. „Wer? Wer ist die dritte Figur, Shikaku?“ Doch Shikaku schüttelte nur den Kopf: nein, er würde nicht derjenige sein, der das Unaussprechliche aussprach. Tenzō schnaubte. „Und allein das Wissen um Verschwörung und Verrat würde unserem Glauben schon nachhaltig schaden. Hier bräche Chaos aus! Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Aber solange nicht eindeutig klar ist, wer Freund und Feind ist, muss es geheim bleiben!“ Geheim bleiben... Kakashis Bizeps spannte sich unwillkürlich an. Er drückte seine Finger so fest in die Haut seiner Oberarme, dass die Adern auf seinem Handrücken hervortraten. „Oh, Mann!“, rief Tenzō aus. „Du weißt es schon!“ „Kssht!“, zischte Kakashi. „Gar nichts weiß ich! Ich habe nur einen Verdacht.“ Tenzō senkte die Stimme: „Du bist wirklich unglaublich, Senpai! Na los, sag's mir! Wer ist es? Wie hast du's rausgefunden?“ Kakashi blickte sich prüfend in alle Richtungen um, um sicherzugehen, von niemandem beachtet zu werden. Dann drückte er sich leicht vom Baumstamm hinter seinem Rücken ab und lehnte sich nah zu Tenzōs Ohr, um möglichst leise sprechen zu können: „Die, die hier sind, sind nicht das Problem. Es gibt eine Gruppe, die fehlt. Und zwar geschlossen. Welche? Sieh genau hin!“ Tenzō ließ den Blick schweifen. Zugegeben, es war schwer zu erkennen. Bei dieser Masse an Shinobi verlor man einfach die Übersicht darüber, wer da war und wer nicht. Aber Kakashi war... zuversichtlich, dass Tenzō die chaotische Masse durchschauen würde. Und tatsächlich, er zog scharf die Luft ein. „Nein“, stieß er atemlos hervor. „Unmöglich.“ „Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, warum Danzō in letzter Zeit so unruhig war“, murmelte Kakashi. „Die Stimmung zwischen ihm und dem Hokage schien noch angespannter zu sein als sonst. Mir ist inzwischen klar, warum...“ Tenzō schüttelte den Kopf. „Nein, Senpai. Du irrst dich. Ich hoffe wirklich, dass du dich irrst. Denn das wäre-“ Er brach ab. „Böse“, ergänzte Kakashi das einzig passende Wort. „Ja, es ist böse. Ich meine, du weißt am besten, wozu die Mitglieder der Ne in der Lage sind.“ Tenzō wankte und einen Augenblick glaubte Kakashi, seine Beine würden unter ihm nachgeben und er einfach zu Boden sinken. „Die Ne verschwört sich gegen Konoha. Danzō verrät den Hokage.“ Ein tiefer Atemzug. „Manchmal vergesse ich wie skrupellos er ist. Aber dass er so weit gehen könnte...“ Kakashi nickte. „Die Ne ist dem Rest von Konoha zahlenmäßig unterlegen, aber mit dem Überraschungseffekt auf ihrer Seite hätten sie uns eiskalt erwischt. Außerdem möchte ich wetten, dass das ganze Dorf mit Fallen der tödlichen Art präpariert ist. Wäre es dort zum Kampf gekommen...“ Kakashi sah es vor sich: Sprengfallen, die Explosionen oder giftigen Nebel auslösten, stählerne, mannshohe Dornen, die aus dem Boden empor schossen. „Möglicherweise hat uns die Keimu Butai vor einem großen Unglück bewahrt.“ Tenzō atmete noch mal tief durch. „Und was machen wir jetzt?“ „Na, was schon? Wir halten uns an das Protokoll.“ „Namikaze Minato“, sagte Fugaku schließlich, als Shikaku sich auch nach Minuten noch in hartnäckiges Schweigen hüllte. „Uzumaki Kushina. Umino Ikkaku. Umino Kohari. Tetsuka Sana...“   XIII The desperation of the situation getting graver Getting ready when the wild wind blows Have you seen what they said on the news today Have you heard what they said about us all Do you know what is happening to just every one of us Have you heard, have you heard? There will be a catastrophe the like we've never seen There will be something that will light the sky That the world as we know it, it will never be the same Did you know, did you know? [When the wild Wind blows – Iron Maiden] Kapitel 4: Teil 1. Verschwörung. Verrat. Feldherren (1/2). ---------------------------------------------------------- Teil 1. Verschwörung. Verrat. Dritter Akt. Feldherren (1/2).   XIV Now it's happened, take no other view Collision course, you must believe it's true Now there's nothing left that we can do When two worlds collide The anger and the pain of all those who remain Two worlds collide Who will be left alive? No place to hide! When two worlds collide [When two Worlds collide – Iron Maiden] Zum zweiten Mal an diesem Abend herrschte im Konferenzraum absolute Stille: nichts hätte das Entsetzen der Versammelten deutlicher zum Ausdruck bringen können. Uzumaki Kushina. Namikaze Minato. Umino Ikkaku. Umino Kohari. Tetsuka Sana. Das waren nur fünf von mehreren dutzend Namen, die Fugaku aufzählte. Hunderte weitere blieben unausgesprochen. „Was verbindet diese Menschen?“ Die abscheulichste aller Fragen mit der abscheulichsten aller Antworten. Fugaku gab sie selbst. „Ihr Mörder.“ Du musst es ja wissen. Asuma schnaubte. Seine Mutter gehörte zu den vielen hundert, die jenem Mörder am 10. Oktober vor sieben Jahren zum Opfer gefallen waren. Du Mistkerl hast nicht mal ihren Namen erwähnt. Vor diesem Gedanken erschrak Asuma selbst ein bisschen, denn er schrammte hart an der Grenze zur Absurdität: als ob es ein Unrecht gegen seine Mutter wäre, dass ihr Name nicht unter den paar dutzend genannt wurde, die Fugaku aus hunderten ausgewählt hatte. Als ob getötet zu werden eine Leistung wäre, die Wertung und Platzierung verdiente. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Asuma so dringend nach einer Zigarette verlangt wie jetzt. Es war eine bittere Tatsache, dass er viele Menschen kannte, die dem Mörder vor sieben Jahren am 10. Oktober zum Opfer gefallen waren; aber die noch bitterere Tatsache war, dass die meisten dieser vielen Menschen einfach nicht zählten; nicht für Asuma: Uzumaki Kushina, Namikaze Minato, Umino Ikkaku und Kohari, Tetsuka Sana, und wie sie alle hießen! Das war vielleicht auch das Paradoxe an der ganzen Kyuubi-Episode. So sehr das bloße Ereignis die Gemeinschaft Konohas auch zum Zusammenhalt gezwungen hatte, so sehr trennten die Verluste. Bei so viel Tod musste man mit seiner Anteilnahme einfach haushalten. Sie reichte gerade so für den eigenen Schmerz. Deshalb gab es in Asumas Kopf nun mal sehr wohl Wertungen und Platzierungen. Wessen Tod zählt? – nach diesem Kriterium verteilte er die Ränge. Nach diesem besetzte Sarutobi Biwako unangefochten den ersten Platz. (Bis heute zumindest.) Und du Mistkerl hast nicht mal ihren Namen erwähnt! Eine kindische Wut in seinem Bauch verführte Asuma ein zweites Mal zu diesem einigermaßen abartigen Gedanken. Er konnte sich nicht dagegen wehren und wollte es auch gar nicht: diese kindische Wut war das einzige, was den Kummer und die Angst in Schach hielt. Kummer, weil er in seiner Rangliste nun auch noch einen angemessenen Platz für seinen enthaupteten Vater finden musste. Angst, weil er fürchtete, heute Nacht noch mehr geliebte Menschen nach dem Kriterium wessen Tod zählt? bewerten zu müssen. Die heißesten Kandidaten für einen der begehrten Plätze unter den Ersten Fünf: seine Schwester und deren zweijähriger Sohn. Im Rausch des Gen-Jutsu hatte er die beiden heute schon mal sterben gesehen – überrollt von einer Feuerwelle. Böse Bilder zuckten durch Asumas Kopf, die ihm zeigten, wie die Körper der jungen Frau und des kreischenden Kleinkindes in ihren Armen in klebrigen Fäden miteinander verschmolzen. Die Haut der beiden schlug Blasen, die aufplatzten, als ihre Kleidung in schwarzen Fetzen auf flimmernder Luft davon stob. Prasselnd und knackend nagten die Flammen Mutter und Kind das Fleisch von den Knochen. Die Schreie des Kleinen verstummten erst, als seine Augäpfel verdampften. Da gab die junge Frau schon keinen Laut mehr von sich. Die Szene war immer noch so nah, dass Asuma sie nur überblenden konnte, indem er sich zwang, dem körperlosen Kopf seines Vaters in die Augen zu sehen. Das ist real, ermahnte er sich. Das ANDERE war nur eine Illusion. Ausgerechnet in diesem Moment erschlaffte eines von Sarutobi Hiruzens Lidern und schloss das linke Auge endgültig. Es sah aus, als würde der gefallene Hokage seinem Sohn noch ein letztes Mal zuzwinkern: Viel Glück mit diesem Albtraum, mein Junge. Ich hoffe, ihr überlebt. (Hunderte Tonnen von Fels, Beton und Stahl machen Konohas Evakuierungstunnel zu einer uneinnehmbaren Festung. Heute Abend sind sie ein Gefängnis.) (Ein Grab.) (Ja, in der Tat – ein Grab.) (Sie sind ihm schutzlos ausgeliefert.) Asuma schauderte: er hatte darauf bestanden, dass Mihana sich mit Konohamaru in Sicherheit brachte. In Wahrheit hatte er sie in den Tod geschickt. „Mörder“, hörte er sich sagen und brach damit endlich das entsetzte Schweigen. „Dann warst du es damals also doch“, setzte Hiashi nach. Das Zittern in seiner Stimme verwandelte sich in ein dunkles Donnergrollen. „Gib es endlich zu!“ Fugaku zuckte nur mit den Schultern. „Euer Urteil ist doch schon lange gefallen. Als ob es da tatsächlich eine Rolle spielt, was ich damals getan habe und was nicht.“ „Du leugnest es also immer noch?“ Shibi schüttelte verständnislos den Kopf. Eine ungewohnt energische Geste für den Aburame, wie Asuma fand. „Nicht mal jetzt rückst du mit der Wahrheit heraus?“ Fugaku lachte auf. „Die Wahrheit? Du willst die Wahrheit hören? Okay, hier ist sie: Wahrheit ist das, was alle glauben.“ Asuma täuschte sich vermutlich, aber einen kurzen Augenblick glaubte er zu sehen, wie Fugaku gequält, aufrichtig gequält, das Gesicht verzog. „Die sogenannte Gemeinschaft dieses Dorfes hat die Uchiha doch schon lange verstoßen. Und sie lässt keine Gelegenheit aus, uns das spüren zu lassen. Seid euch also einer Sache bewusst: alles, was in den vergangenen sieben Jahren zwischen den Uchiha und Konoha geschehen ist, hat dazu geführt, dass wir heute Abend hier sind.“ „Wichser!“ Obwohl Tsumes Kopf immer noch schlaff auf Chōzas Schulter lehnte, kam ihr das Wort dieses Mal ganz leicht über die Lippen. Fugaku ließ sich nur zu einem müden Lächeln herab. „Du wirst verstehen, was ich meine, wenn ihr heute Nacht erfahrt, wie sich Machtlosigkeit anfühlt: wer sich nicht beugt, bricht.“ Da schossen Asuma ein paar hässliche Wörter durch den Kopf: Verwüstung, Vernichtung, Dezimierung. Worte, die für gewöhnlich nur im Krieg Verwendung fanden. Ist es das? Asuma schielte zu Shikaku. Ein Angriff mit vier Figuren kann nicht schief gehen, was? Kyuubi ist die dritte, das steht fest. Und die letzte wird das sein, was die Ninja Konohas ausmacht; der Wille des Feuers: er soll brechen! „Worauf wartest du dann noch?“, zischte Asuma. „Na los, mach' schon! Beschwör' deinen Samurai. Entfessle den Neunschwänzigen. Du hast schließlich dafür gesorgt, dass unsere Leute eine Katastrophe erwarten, nicht wahr? Also, nur zu. Dieses Mal wirst du sie nicht so kalt erwischen wie bei deinem letzten Versuch. Greif' an! Greif an mit allem, was du hast, und sieh zu, wie Konohas Ninja ein Mal mehr über sich hinaus wachsen! Wir werden taumeln, aber ganz bestimmt nicht brechen.“ Hey-hey, flötete eine Stimme in Asumas Kopf, noch während er sprach. Ich glaube, bei Ihnen knallen gerade ein paar Leitungen durch, Herr Sarutobi. - Vermutlich. Aber das ist doch gut. Immerhin haben wir's mit 'nem Durchgeknallten zu tun. In der Tat, Sarutobi-san, in der Tat. Weitermachen. - Hai! Zigarette? - Halt' die Klappe. „Gesprochen wie ein wahrer Hokage“, bemerkte Fugaku jedoch nur trocken, während er Tekka und Inabi zuzwinkerte. Die klatschten Beifall. „Klingt als sei gerade der Geist deines Vaters in dich gefahren“, meinte Inabi. „Der hat nämlich so was ähnliches gesagt, als unser Taichō ihn – na ja...“ Tekka tauschte einen Blick mit Inabi, bevor er mit dem linken Zeigefinger eine waagrechte Linie über seinen Hals zog und dabei „Krrrrk“ machte. Asuma bekam große Lust, diesem Scheißkerl den Zeigefinger abzuscheiden. Damit ich ihn dir in den Arsch stopfen kann! „Ich werde dir jetzt dasselbe sagen wie deinem Vater kurz vor seinem Tod.“ Fugakus Lächeln wurde wieder etwas munterer. „Wenn ich mit allem angreife, was ich habe, ist es vorbei. Von Konoha wird nichts weiter übrig bleiben, als der Wind, der über seine Trümmer weht.“   XV Welcome to my nightmare Welcome to my breakdown I hope I didn't scare you That's just the way we are, when we come down We sweat and laugh and scream here 'Cause life is just a dream here [Welcome to my Nightmare – Alice Cooper] „Von Konoha wird nichts weiter übrig bleiben als der Wind, der über seine Trümmer weht.“ (So ein furchtbarer Traum.) Von all dem Schrecklichen, was jener Nacht folgte, verankerte sich vom Morgen danach eines besonders fest in Amayas Gedächtnis: bunte Flecken von gebrochenen Lichtstrahlen. Sie schimmerten auf weißem Keramik und waren das erste, was sie sah, als sie zuhause auf dem Badezimmerfußboden zu sich kam – neben der Toilette, geblendet von gleißendem Licht, das ihre Nase kitzelte. „Hatschi! Hatschi! Hatschi!“ Das Niesen stach irgendwo tief in ihrer Brust. Hinter ihren Zähnen sammelte sich... Speichel; genug, um ihre Lippen zu benetzten. Er schmeckte nach Salz und Metall. (So ein furchtbarer Traum.) Mit den tauben Fingern ihrer rechten Hand fuhr Amaya sich über den Mund. Zwischen blinzelnden Lidern, die immer noch vor dem blendenden Licht zurückzuckten, sah sie hellrote Tropfen auf ihren Kuppen kleben. Blut. Das ist nur ein bisschen Blut. Und erst nachdem sie die Hand wieder sinken ließ, wuchs allmählich ihr Bewusstsein dafür, wie hundeelend sie sich tatsächlich fühlte: in ihrem Magen rumorte es schmerzhaft, sie fror und nicht nur die Finger ihrer rechten Hand, sondern alles südlich ihrer Schultern schien taub und wie versteinert. Ganz zu schweigen von dem Druck, der auf ihrer Brust lastete. (So ein furchtbarer Traum.) Ich habe geträumt, dachte Amaya benommen; zu benommen, um in ihrem Kopf die Frage zu formulieren, warum sie ausgerechnet im Badezimmer zu sich kam oder weshalb sie überhaupt das Bewusstsein verloren hatte. So ein furchtbarer Traum... Das letzte, woran sie sich wirklich noch erinnerte war das rauschende Wasser in der Toilette, als sie sich die Hose hochzog. Sie erinnerte sich an einen flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster... Die Dunkelheit jenseits der Scheibe, bevor-... Bevor, was?! (Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben. Dunkelheit...) Die Bilder blitzten stroboskopartig durch Amayas Gedanken. Zu schnell, um auch nur eines davon klar zu erkennen. (Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben. Dunkelheit...) Der Schwindel setzte ein. Amaya stöhnte und kniff die Augen zusammen: hinter ihrer Stirn flimmerte die mentale (Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben. Dunkelheit...) Diashow weiter. Alles auf Anfang. (So ein furchtbarer Traum.) Noch mal. (Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben.) Dunkelheit... Sternenhimmel--- ja, der klare Sternenhimmel, über den ein düsterer Schatten (einer von neun) hinweg fegte – das war das letzte, wirklich das allerletzte, woran Amaya sich erinnerte. Sie riss die Augen auf, fuhr hoch und stöhnte vor Schmerz auf: Ich habe nicht geträumt! Definitiv nicht. Denn da, wo eigentlich graumelierte Fließen, ein Fenster mit hochgezogenem Bambusrollo und eine Badewanne, vor allem aber eine Wand, sein sollten, war nichts mehr, was Drinnen von Draußen trennte. Und Draußen hatte nichts mehr mit der Straße gemein, durch die Amaya gestern noch gegangen war. Sie dachte bei sich, dass so die Welt aus der Sicht einer Puppe aussehen musste, die im Regal eines (unordentlichen) Kinderzimmers saß; wenn Kuscheltiere mit ihren blinden Glasaugen zwischen Bauklötzen von umgestoßenen Türmen verteilt lagen, Unterhosen vor sich hin muffelten und Buntstifte über Kritzeleien von Strichmännchen, Häusern und Blumen kullerten. Mit schwerfälligen Bewegungen rappelte Amaya sich auf. Ihre Glieder antworteten mit einem schmerzhaften Knacksen in Knie- und Sprunggelenken. Der Druck auf ihrer Brust schien noch schwerer zu wiegen als zuvor und ein frischer Schwall des salzigen, metallischen Speichels (Blut. Das ist Blut, verdammt noch mal!) füllte ihre Mundhöhle. Sie schluckte ihn herunter und trat an den Rand des (Regals) Badezimmers. Der Boden knarzte unter ihrem Gewicht und schwang bei jedem Schritt mit. Scherben von Fließen, Glas und Keramik knirschten unter ihren nackten Füßen. Beinahe glitt sie auf einem schleimigen Film Shampoo aus, der aus einer zerbrochenen Flasche quoll. Für einen kurzen Moment umhüllte der Geruch von Jasmin sie so stark, dass ihr beinahe schlecht wurde. („Von Konoha wird nichts weiter übrig bleiben als der Wind, der über seine Trümmer weht.“) Shu-huuu, machte der Wind, als er mit einer kurzen, kalten Böe einmal durch die Hausruinen (das Kinderzimmer!) fegte. Brauner Dunst stob von den Trümmern (dem Spielzeug, liebe Freunde, dem Spielzeug: umgestoßene Bauklotztürme!) auf. Direkt unter ihr lag die vermisste Badewanne – zerbrochen und halb versunken im Schutt der zerbröckelten Hausfassade. Zum Westen hin war das Gebäude nun nackt. Doch das war etwas, woran Amaya sich später nicht mehr erinnern würde. Bunte Lichtflecken und ein (unordentliches) Kinderzimmer – das waren die Bilder, die sie im Gedächtnis behielt. Für ihren Verstand vermutlich die einzige Möglichkeit, mit dem Grauen des Morgens danach fertig zu werden. Sie machte einen Schritt nach vorne und ließ sich über die Badezimmer(Regal)kante fallen. Nicht sehr tief, weil sich der Schutt der zerstörten Westfassade zu einem losen Hügel aufschichtete. Sie schlitterte an seiner Flanke hinab. Ihre Fersen frästen Rinnen in das Geröll. Scharfe, hervorragende Kanten zerschnitten ihr die Haut. Amaya spürte den Schmerz, aber er schien bedeutungslos. Mit jedem Zentimeter, den sie der Straße entgegen glitt, tauchte sie tiefer in diesen surrealen Traum ein, zu dem die Grausame Wirklichkeit und ihre Trotzige Fantasie mutierten. So spürte sie keine Erde, als ihre Füße die Straße berührten, sondern weiche Teppichflusen. Ziegel- und Zementblöcke wurden zu Bauklötzen, Scherben zu funkelnden Murmeln, Blut zu bunten Lichtflecken und Leichen zu Teddybären. Nur die grauen Planen, die in sorgfältigen Reihen den Weg säumten, blieben was sie waren: graue Planen, unter denen sich die Konturen menschlicher Gestalten abzeichneten. Die versteckten das wahre Grauen schließlich schon und so gut Amayas Fantasie den sichtbaren Horror auch zu verschleiern wusste, so machtlos war sie gegen den maskierten: es stand außer Frage, was (wen!) die grauen Planen verbargen... Und es gab kein Bild, das stark genug wäre, dieses Wissen zu übertünchen. Eine der grauen Planen fiel besonders auf: den Konturen nach zu urteilen war der Mensch, den sie verbarg deutlich kürzer als alle anderen Verdeckten. Ein Kind. Möglicherweise Hana von gegenüber. Zwischen den grauen Planen trotteten die Überlebenden umher: sie waren wie Puppen, die von ihren Regalbrettern gestürzt waren, und genauso leblos schauten sie auch drein, während sie ziellos Murmeln auflasen, Bauklötze auf Haufen warfen und Teddybären über den Teppich schleiften. Obwohl Amaya die meisten der Gesichter kannte, wirkten sie fremd und abstoßend, geradezu furchteinflößend. So wie es eigentlich nur in Albträumen üblich ist. Denn fast konnte sie es sehen; die Flügelschrauben zwischen den Schulterblättern. Damit Puppen funktionierten, musste man sie aufziehen. Amaya achtete nicht darauf, wohin sie ging (Wer hat mich aufgezogen?), sodass ihren Füßen mit einem Mal die Straße (der Teppich) abhanden kam. Sie stürzte und glitt dabei bäuchlings über einen Film schleimiger Feuchtigkeit. Ein wirrer Gedanke (Die Farben schreien) huschte durch ihren Kopf. Wieder roch sie Jasmin. Und wieder wurde ihr schlecht. Benommen von Jasminduft und ihrer Übelkeit, drehte sie sich mit plumpen Bewegungen im Sitzen herum. Sie war über einen Teddy gestolpert: die Naht zwischen den Beinen des Kuscheltieres war aufgerissen, sodass seine Wattefüllung hervor quoll. Sie berührte Amayas Zehen. Es kitzelte. Ekelhaft! Und der Ekel verstärkte ihre Übelkeit. „Hey, du lebst ja noch.“ Die Berührung an ihrer Schulter erfolgte so unerwartet, dass Amaya atemlos aufschrie, wieder herumfuhr, gleichzeitig zurück wich und sich so mit den Händen in der weichen Teddyfüllung abstütze. Ihr Bewusstsein setzte sich nur noch aus sehr knappen Gedanken zusammen: Vor ihr stand Tsume. Tsumes Lippen bewegten sich. Kein Ton. Nur Rauschen. Auf dem Rücken trug Tsume ihren Sohn. Ein Baby. Drei Monate alt. Der Junge trug den Namen... Backenzahn? Nein, das war es nicht... „Das ist eine ganze Menge Blut, Mädchen. Bist du verletzt?“ Amaya sah an sich hinunter: an ihrer Körperfront – von der Brust bis zu den Schienbeinen – klebten bunte Lichtflecken. Sie schimmerten auch auf der Lache, in der sie kniete. „Über uns ist nur der Himmel“, murmelte sie. „Wie können sich die Strahlen da brechen?“ „Was hast du gesagt? Ich versteh' dich nicht.“ „Das Licht. Ich weiß nicht, wie-... Irgendwo muss doch Glas sein. Oder Regen.“ Amaya suchte den Himmel ab. „Vielleicht sind es auch die Murmeln...“ „Murmeln?“ Tsume gluckste... nervös? ...ängstlich? „Du fantasierst, Kleine. Ich glaub', es wäre besser, wenn du dich hinlegst.“ Mit der rechten Hand stützte Tsume das Baby auf ihrem Rücken und drückte Amaya mit der anderen sanft an der Schulter zu Boden. „Hana-chan, Amaya braucht Hilfe. Hol' schnell einen Sanitäter her! Na, mach' schon, hopp!“ Die graue Plane. Der kurze Mensch darunter. „Hana ist tot.“ „Nein, nein – Hana ist gesund und munter. Um dich mache ich mir gerade mehr Sorgen.“ Schatten. „Hey – wach' bleiben! Okay?“ So schläfrig... (Salz und Metall.) Die Schatten verdichteten sich zu Nebel. Nur ein bisschen schlafen... „Du sollst wach bleiben, habe ich gesagt!“ Etwas klatschte gegen Amayas Wange. Halbherzig schlug sie die Augen wieder auf und scheiterte am Versuch, durch den Nebel zu blicken. Stattdessen würgte sie nur einen weiteren Schwall ihres zähen Speichels hoch. Der Druck auf ihrer Brust wurde allmählich unerträglich. Als Amaya zu sprechen versuchte, entkamen ihrer Kehle zunächst nur gurgelnde Laute (irgendwas Feuchtes triefte über ihr Gesicht und floss in ihre Ohren), bis ihr Mund endlich Worte formte: „Meine Mutter... Sie war auch Zuhause... Hast du sie gesehen?“ (Hana ist gesund und munter.) (Sana ist gesund und munter.) Tsume schwieg. Lange genug, damit selbst Amayas schläfriger Verstand schlussfolgern konnte, was dieses Schweigen aussagte: „Sie ist tot... Ja... ja, das ist sie. Wenn... es ihr gut ginge... oder... es zumindest... Hoffnung gäbe... hättest du's schon gesagt... Oder?“ „Darüber reden wir, wenn es dir besser geht.“ Diesmal gluckste Amaya. Würde es ihr denn wieder besser gehen? „Sag' es einfach. Ich bin doch sowieso schon-...“ was? So gut wie tot? Es fühlte sich so an. „Bitte, Tsume. Sag' es. Dann kann ich meine Kraft darauf verwenden am Leben zu bleiben, anstatt sie für Zweifel zu vergeuden...“ Tsume seufzte. „Es tut mir sehr leid. Wirklich. Weißt du, als der Neunschwänzige-“ Richtig! Bei dem flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild im Fester hatte Amaya das Monster in der Dunkelheit jenseits der Scheibe gesehen – irre, blutunterlaufene („Euer Haus wurde ziemlich in Mitleidenschaft gezogen.“) Augen lachten sie aus der Finsternis heraus an. Sie rollten wild hin und her; drohten („Sana wurde verschüttet.“) mit grausamen Tod. Dann grinste es; grinste mit („Ein Balken hat sie... Na ja.“) der Verschlagenheit eines Wahnsinnigen und seine blanken Zähne quollen zwischen schwarzen Lefzen hervor. („Jedenfalls haben wir ihre Leiche vor etwa zwanzig Minuten geborgen...“) Bis dahin hatte Amaya es noch für Einbildung gehalten, einen jener Halbschlaf-Träume. Doch als die Erscheinung nicht verschwand, hatte sie das Fenster geöffnet und in die Dunkelheit gespäht: dort zeichneten sich die Umrisse eines riesigen Kopfes ab, der mit angelegten Ohren zwischen einem Paar sehniger Schultern saß. In Amayas Erinnerung öffnete das Ungeheuer sein Maul, um zu knurren. Die Schallwellen dieses Knurrens trafen in Form eines sanften, warmen Luftzugs auf ihr Gesicht, schwanger mit dem süßlichen Gestank von Fäule und Verwesung. Erst dann: Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben. Dunkelheit. Sternenhimmel, über den ein düsterer Schatten (einer von neun) hinweg fegte. Allmählich vervollständigte sich das Bild. „Jun übersteht das nicht, wenn ihr ihn beide verlasst. Deshalb musst du durchhalten. Okay?“ „Okay.“ Der Nebel zog inzwischen so enge Kreise um Amayas Verstand, dass sie Tsumes Gesicht nur noch als rosigen Fleck mit grauen und braunen Sprenkeln erfasste. Okay... Ihre Gedanken drifteten ab. Zurück zur grauen Plane, den Konturen darunter; diesem deutlich kürzeren Menschen. Kürzer, nicht kleiner – sie hatte kürzer gedacht. Warum? Warum kürzer und nicht kleiner? Amaya kannte die Antwort. Da war mehr... Manchmal sind Wahrnehmung und Bewusstsein zwei heimtückische Mistkerle, die mit allen Mitteln den Verstand sabotieren, den sie bewohnen: Amaya wusste, dass sie es gesehen hatte. Aber es fiel ihr erst jetzt auf: die violetten Haarspitzen, die unter der Plane hervorblitzten. Erst jetzt einigten sich Wahrnehmung und Bewusstsein darauf, den Verstand mit diesem grausamen Detail zu konfrontieren. Euer Haus wurde ziemlich in Mitleidenschaft gezogen, säuselte Wahrnehmung. Sana wurde verschüttet, setzte Bewusstsein nach. Ein Balken hat sie... Und beide im Chor: Halbiert! Hörst du? Der Balken hat deine Mutter halbiert! Wahrnehmung verstellte ihre Stimme, sodass sie klang wie eine grausige Karikatur von Tsume: Jedenfalls haben wir ihre Leiche vor zwanzig Minuten geborgen... Bewusstsein kicherte. Nein, nein – nicht ihre Leiche... Ihren Oberkörper, Maya-chan, nur ihren Oberkörper! Der Rest wurde von dem verschlungen, was gestern noch dein Zuhause war. Sie kreischten vor Lachen. Was für ein gelungener Streich! Was für ein gelungener Streich! Lach' doch, Mädchen, lach'! Vielleicht ist das deine letzte Gelegenheit. Nur Ohnmacht konnte die beiden zum Schweigen bringen... Es sollten sieben Jahre vergehen, ehe Amaya das komplette Ausmaß des Entsetzten jenes Augenblickes, jenes Morgens zu spüren bekam: Kami! Ich habe keinen Jasmin gerochen. Es war Verwesung. Kapitel 5: Teil 1. Verschwörung. Verrat. Feldherren (2/2). ---------------------------------------------------------- XVI I cannot dispel the illusion All my hopes and dreams are drowned by confusion Can I find a way to make a solution That will reconfigure my life [Pain redefined - Disturbed] Natsume atmete erleichtert aus und nahm seine Hände von Shisuis Brust, als diese sich wieder selbstständig hob und senkte: „Puh, das war knapp.“ Wo zur Hölle bleibst du, Satoshi? Die Sonne war inzwischen schon lange untergegangen. Am blau-schwarzen Himmel funkelten matt ein paar vereinzelte Sterne und das bleiche Licht des Vollmondes versank im Nebel. Vor etwa einer halben Stunde waren die grauen Schwaden über dem feuchten Grasboden aufgezogen und krochen seither durchs Unterholz. Lauernd wie hungrige Tiere. „Irgendwas ist da schiefgelaufen, sonst wäre schon längst Verstärkung eingetroffen“, murmelte Natsume und prüfte mit Zeige- und Mittelfinger den Puls an Shisuis Halsschlagader. Er spürte, wie sie schwerfällig unter Haut, Muskeln und Sehnen zusammenzuckte. Sie zuckte gleichmäßig. Also schlug das Herz in einem regelmäßigen Rhythmus. Und Shisui atmete – schnell und flach, aber er atmete. Mehr noch: in seinem aufgequollenen Gesicht regte sich etwas. Erst zitterten nur die Nasenlöcher ein kleines bisschen, aber die Bewegung übertrug sich rasch auf sein verbliebenes, linkes Auge. Die Lider flatterten ein paar mal, ehe sie einen kleinen Spalt weit offen stehen blieben. Um sich weiter zu öffnen, waren sie zu geschwollen. Shisuis dunkles Auge schimmerte kaum sichtbar zwischen den dichten Wimpern hervor. Vorsichtig berührte Natsume ihn an der Schulter: „Shisui, kannst du mich hören?“ Das Auge rotierte nach links, zum äußeren Augenwinkel hin, dann nach rechts. Es suchte nach dem Gesicht, zu dem die Stimme gehörte. „I-“, presste Shisui mühsam zwischen zitternden Lippen hervor. Von seiner Zunge flockte weißer Schaum. „Itash- gh... Itat-sch-i? Hg,hg,hg...“ „Nein, ich bin's – Natsume. Erinnerst du dich an mich?“ Shisui bewegte das Kinn (vermutlich um zu nicken) und fuhr dabei so ruckartig zusammen, dass Natsume überrascht zurückwich. „Gha!“, machte Shisui tonlos und keuchte. „Gharg! G-g-rg... Hrgh...“ Sein Auge rollte wild von rechts nach links. Der weiße Schaum stob in alle Richtungen. „Okay“, murmelte Natsume. Unter seiner Haut kribbelte es unangenehm. „Ruhig, ganz ruhig. Ich weiß, es tut weh. Und ich wünschte ehrlich, ich könnte dir etwas gegen die Schmerzen geben, aber ich habe leider nichts dabei. Sprich am besten nicht und halt' deinen Kopf ganz still.“ Shisui verharrte zitternd. Jetzt bei Nacht sahen die Blutergüsse in seinem Gesicht aus wie mit schwarzer Tinte unter die Haut gestochen. Natsume beugte sich nach vorn und tastete vorsichtig darüber. „Dein Kiefer ist gebrochen“, murmelte er dabei. „Und... das Jochbein wahrscheinlich auch.“ Er ergriff eine von Shisuis Händen. „Hier – für ja drückst du meine Hand ein Mal, für nein zwei Mal. Verstanden?“ Die Finger des Uchiha zuckten fahrig zusammen und erschlafften dann wieder. Natsume lächelte. „Gut. Ich weiß, dass du mich bestenfalls ziemlich verschwommen siehst. Aber zumindest was dein linkes Auge betrifft musst du dir keine Sorgen machen: da drückt nur die Schwellung ein bisschen und hindert es am Fokussieren. Das wird sich wieder geben. Dein rechtes hingegen... na ja... Erinnerst du dich daran, was damit passiert ist?“ Shisui zögerte (oder überlegte einfach nur), ehe er Natsumes Hand ein weiteres Mal drückte. „Okay. Weißt du auch, wer dir das angetan hat?“ Wieder ein einzelnes Zucken. Natsume atmete durch. Jetzt wird’s spannend. Gerade als er fragen wollte, ob es tatsächlich Orochimaru gewesen sei, löste Shisui seinen Griff. Mit gekrümmten Fingern streichelte er über Natsumes Handrücken; zeichnete unsichtbare Linien auf dessen Haut. Es war nur der Hauch einer Berührung, aber trotzdem glaubte Natsume, jede Rille der Papillarleisten von Shisuis Fingerspitzen erfühlen zu können. Er räusperte sich. „Ähm, nicht, dass das nicht angenehm wäre. Aber das ist echt kein guter Zeitpunkt, um- Au!“ Ohne Vorwarnung krallten sich Shisuis Fingernägel plötzlich so tief in die Hand, dass sie im knöchernen Spalt zwischen Natsumes Ring- und Mittelfinger versanken. „Spinnst du?! Was soll das?“ Shisui kratze eine gerade, vertikale Linie in die Haut und setzte ab, um eine zweite, waagrechte zu ziehen. Die zwei weißen Spuren, die zurückblieben, ergaben ein Kreuz, das sich rasch rot färbte. Aber erst nach dem vierten Strich begriff Natsume, dass die Kratzer Schriftzeichen ergeben sollten: 密謀 – Mitsubō. „Verschwörung?“, las er vor. Shisuis rechter Mundwinkel zuckte nach oben. Sein linker wahrscheinlich auch, aber da ließ die Schwellung keine sichtbare Bewegung zu. Natsume verstand es trotzdem als Lächeln. Er schob den Ärmel seines Shirts zurück und hielt Shisui den entblößten Unterarm hin: „Mach' weiter.“ Shisui setzte das nächste Schriftzeichen leicht oberhalb von Natsumes Handgelenk an. Wieder fügten sich die Krater zu einem Kanji zusammen: 叛 – Bōhan. Natsume biss sich auf die Unterlippe. „Verrat... Gegen Konoha, nehme ich an.“ Shisui drückte Natsumes Hand. „Orochimaru?“ Zweifaches Drücken. „Wer dann?“ Shisui seufzte durch die Nase und stöhnte auf, als dieser tiefe Atemzug seine Rippen knirschen ließ. „Mgh“, keuchte er und wand sich. „Mgh!“ „Nicht bewegen! Das macht es nur schlimmer.“ Natsume legte die linke Hand auf Shisuis Stirn, drückte den rechten Arm bis zum Ellenbogen an dessen Schultern und stemmte ein Knie gegen die Hüfte des Uchiha, um dessen Kopf, Brust und Becken am Boden zu fixieren. Doch die Kraft, die der Schmerz in dem geschundenen Körper entfesselte, war kaum zu halten. Shisui strampelte. Seine Fersen schabten Rinnen in die weiche Erde. Er krümmte die Zehen und krallte sich mit den Fingern im taunassen Gras fest. Er zitterte. Schwitzte kalten Schweiß. „Fft-fft-fft“, machte sein rasender Atem, der warm und feucht gegen Natsumes linke Wange hauchte. „Fft-fft-fft.“ „Gleich vorbei“, murmelte Natsume ächzend und konnte nur hoffen, dass es stimmte, denn lange würde er Shisuis windenden Körper nicht mehr ruhig halten können. „Gleich wieder vorbei...“ Tatsächlich dauerte es noch mehrere Minuten bis Shisui wieder zur Ruhe kam: seine Muskeln erschlafften ganz plötzlich. Aber das nicht etwa, weil die Schmerzen schwächer geworden wären, sondern weil der Uchiha schlicht keine Kraft mehr hatte, um sich weiter zu winden. Der letzten Funken Energie brannten nieder. Das spürte Natsume . Er ließ ebenfalls los und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. „Fft... Fft... Fft...“ Shisui war wieder an dem Punkt angelangt, ab dem er um jeden Atemzug kämpfen musste. Von hier aus war es auch zur Bewusstlosigkeit nicht mehr weit. Seine zitternde Hand tastete über den Boden und durch die Luft. Natsume verstand. Kurzentschlossen zog er ein Kunai aus seiner Shuriken-Tasche. „Du hast kaum noch Kraft. Damit wird es leichter gehen.“ Er legte das Wurfmesser in Shisuis Hand und hielt ihm wieder den entblößten Arm hin. Das Kanji Mitsubō war schon wieder verblasst, während Bōhan immer noch rot auf Natsumes heller Haut glühte. Shisui setzte die Klinge knapp darüber an. Mit einem reißenden Geräusch glitt sie durch Natsumes Fleisch. Wie die Blätter einer blühenden Blume klaffte die Haut auseinander. Tröpfchenweise strömte das Blut ein und füllte den Spalt der Wunde innerhalb weniger Sekunden aus, bevor es zu Boden tropfte. Bei jedem neuen Schnitt zog Shisui das Kunai so schnell durch Natsumes Arm, dass der davon eigentlich nur die Kälte der stählernen Klinge spürte. Der Schmerz setzte immer erst ein, zwei Sekunden später ein und selbst dann schien er nicht schlimmer als ein Brennsesselstich. Einige der Schnitte reichten tiefer in den Arm als nötig, weil Shisui nicht mehr in der Lage war, den Druck zu kontrollieren, den er auf die Klinge ausübte. Mal ganz davon abgesehen, dass er nicht sah, was er tat. Deshalb war es Natsume auch unmöglich, zwischen strömendem Blut und fasrigem Fleisch wenigstens eine klare Linie zu erkennen, die nicht von einer anderen überlappt zu sein schien. Er schüttelte den Kopf: „Tut mir leid. Ich komm' nicht drauf.“ Obwohl es ihn sichtlich große Anstrengung kostete, hob Shisui den Arm und berührte mit den Fingerspitzen sein eigenes Brustbein zwischen den beiden Höckern an den Innenseiten seiner Schlüsselbeine. „Du?“ Natsume deutete die Geste zwar richtig, verstand aber zunächst nicht, wie er sie deuten sollte. Doch als er den Blick wieder auf seinen zerschnittenen Arm senkte, dämmerte es ihm plötzlich. „Oh,du! Dein Name!“ Zwischen strömendem Blut und fasrigem Fleisch schien das Wort plötzlich aufzuleuchten: 団扇 – Uchiha.   XVII This is war with no weapons Marchin' with no steppin' Murder with no killin' Ill in every direction First, no sequel Do the math, no equal [Wastelands – Linkin Park] Auf Wut folgt Verzweiflung, dachte Fugaku und schwieg einfach nur, während Asuma ihn minutenlang über das hektische Schluchzen des Tetsuka-Mädchens hinweg anbrüllte: „Na, mach' schon, du Hurensohn! Fang' endlich an!“ Die Art, wie er bei jedem Wort die Zähne fletschte, erinnerte Fugaku an einen tollwütigen Waschbären. „Lass' Blut fließen! Geil' dich auf am Leid und den Schreien und dem Schmerz!“ In kleinen Tröpfchen stob die Spucke von Asumas Lippen. Er keuchte und in seinen Augen funkelten Tränen. „Nimm mir auch den Rest meiner Familie! Wirf sie der Bestie zum Fraß vor!“ Und so sieht es aus, wenn ein gestandener Shinobi die Nerven verliert. Fugaku seufzte. Mit einem Grinsen auf den Lippen. „Dein Mut in Ehren, Asuma. Aber muss es denn immer in Gewalt enden?“ Im Gesicht des jungen Sarutobi zuckte es gefährlich. „Du bist doch derjenige, der droht, alles zu zerstören, was wir beschützen wollen!“ „Genau das ist der Punkt“, entgegnete Fugaku. „Ich will nichts zerstören. Und ich will auch niemandem wehtun - wirklich nicht. Wir können diese Angelegenheit ganz ohne Blutvergießen klären.“ Ein kurzer Blick auf den Tisch. „Na ja, zumindest ohne weiteres Blutvergießen.“ „Worauf willst du hinaus?“ „Spielst du nicht selbst ab und an Shōgi? Da weißt du doch, worum es bei dem Spiel geht: Eroberung. Und dafür ist Zerstörung nicht erforderlich. Weder eure Familien noch die Shinobi Konohas sind das Ziel...“ „Sondern?“ „Wir, Asuma.“ Es war Shikaku, der antwortete. „Wir sollen den entscheidenden Zug zum Matt machen. Fugakus Strategie steht und fällt mit uns.“ Unter normalen Umständen hätte dieser Hinweis vielleicht gereicht, um den Gefangenen endlich klar zu machen, worauf dieses Spiel hinauslief. Doch Fugaku und seine Leute hatten bis hier ganze Arbeit geleistet. Am deutlichsten las Fugaku es aus Asumas Wut, Amayas Tränen und Inoichis leerem Gesicht, das in etwa so geistreich wirkte wie ein Stück roher Blumenkohl: sie klebten immer noch an der Erwartung von totaler Zerstörung. Die Erinnerungen an Schmerz und Verlust, ob sie nun echt oder nur durch Illusionen suggeriert waren, wirkten mächtiger, als Fugaku zu hoffen gewagt hatte. „Für eine erfolgreiche Strategie sind zunächst nur zwei Fragen von Bedeutung“, erklärte er deshalb. „Welche Widerstände ergeben sich, und wie können sie überwunden werden?“ Asuma gab einen eigentümlichen Laut von sich. Er klang wie eine Mischung aus Lachen und Schreien. „Davon rede ich doch die ganze Zeit! Du willst Konoha erobern. Damit ist seine Bevölkerung dein größter Widerstand – Shinobi wie Zivilisten. Und es gibt nur eine Möglichkeit, diesen Widerstand zu brechen: Unterwerfung. Und zwar durch Verwüstung, Vernichtung und Dezimierung. Bis niemand mehr übrig ist, der sich wehren könnte!“ „Ach, Junge“, entgegnete Fugaku in einem Tonfall, mit dem man sonst wohl nur mit einem Kind sprechen würde, das hartnäckig versuchte, den linken Schuh über den rechten Fuß zu streifen. „Wenn das wirklich die einzige Möglichkeit wäre, wäre es schon passiert.“ „Worauf wartest du dann noch?“ „Du steckst in einer gedanklichen Sackgasse fest“, meinte Shikaku und klang dabei genauso besonnen wie eben, als er Amaya erklärt hatte, dass der Geister-Samurai sehr wohl existierte. „Unterwerfung ist ein naheliegender Weg zur Eroberung, weil er kaum Geschick erfordert – grob, aber effektiv. Ein guter Stratege wird jedoch niemals die Frage der Angemessenheit außer Acht lassen: Grobheit kann man sich nur bei territorialer Eroberung leisten, wenn es um tote Erde geht. Aber hier geht es nicht um Konoha als einen Fleck auf der Landkarte. Es geht um seine Menschen.“ Er seufzte. „Und um Menschen zu erobern, braucht es Fingerspitzengefühl. Ein Mann gewinnt das Herz einer Frau schließlich auch nicht, indem er sie vergewaltigt... Es gibt nur eine angemessene Methode, um Menschen zu erobern: Kooperation.“ Das war endlich der entscheidende Hinweis! Asuma verstand: mit einem Mal wich die Wut aus seinen Zügen. Sein Gesicht wurde weich und seine Augen weiteten sich. „Oh, nein.“ Shikaku schloss die Augen und senkte das Kinn. „Ich fürchte, doch. Das ist der Grund, warum wir hier sind. Soll Konoha zu den Bedingungen der Uchiha kooperieren, braucht Fugaku Mittelsleute, die über den nötigen Einfluss verfügen: wer kontrolliert wen?“ Hiashi biss sich auf die Lippe. Auch er erkannte es nun. „Die Zivilisten sind vom Schutz der Ninja abhängig. Die meisten Ninja organisieren sich in Clans. Jedem Clan steht ein Oberhaupt vor...“ „Und wir sind alle hier“, meinte Chōza, „von Aburame bis Yamanaka.“ „Wenn wir kooperieren, kooperieren unsere Clans. Wenn unsere Clans kooperieren, werden die übrigen Ninja keinen Widerstand mehr wagen und sich ebenfalls fügen.“ Shibi schüttelte zum zweiten Mal an diesem Abend widerwillig den Kopf. Diesmal sogar so schwungvoll, dass seine Sonnenbrille ein kleines bisschen verrutschte. Fugaku hätte nie gedacht, dass der Kerl grüne Augen hatte. „Seit Kōdō-kihan ausgerufen wurde, hat also alles, was geschehen ist, nur einem Ziel gedient: uns mit einem aussichtslosen Kampf zu konfrontieren...“ Zum ersten Mal seit Inabi den letzten Stromschlag durch ihren Körper gejagt hatte, schaffte Tsume es, den Kopf von Chōzas Schulter zu heben. „Konohas Zivilisten, unsere Familien – sie sind kein Angriffsziel. Sie sind Geiseln; das Druckmittel: wir sollen die Kooperation zwischen Konoha und Uchiha legitimieren.“ „Zwischen Uchiha und Konoha“, korrigierte Fugaku. „Ich bestimme die Regeln.“ Tsume spukte in seine Richtung aus. „Friedensverhandlungen, was? “ „Ganz genau, meine Liebe. Denn es gibt nur eine sichere Strategie, einen aussichtslosen Kampf zu gewinnen: man lässt es gar nicht erst so weit kommen. Genau das biete ich euch an – einen Ausweg. Ich werde Susanoo nicht beschwören und Kyuubi bleibt in Naruto versiegelt; niemand wird verletzt und nichts wird zerstört.“ „Und im Gegenzug forderst du natürlich nichts weiter als unser bedingungsloses Einverständnis und tatkräftige Unterstützung bei allem, wonach dir der Sinn steht“, schloss Shikaku. Fugaku zog die Augenbrauen nach oben: „Kein Grund für diesen Unterton, mein Freund. Ich fordere viel, weil ich viel biete. Und weil ich weiß, dass ihr keine Wahl habt. Nicht, nachdem ihr gesehen und mit allen Konsequenzen gespürt habt, was es bedeutet, wenn ihr euch weigert.“ Und in den Gesichtern seiner Gefangenen sah Fugaku, dass er Recht hatte: ihre Blicke galten Shikaku, denn egal, wie raffiniert ein Gegner auch war, Nara Shikaku hatte immer einen Plan. Wenn es also noch irgendetwas gab, das sie tun konnten, dann würde Shikaku es erkennen. Das wusste auch Fugaku und die debile Heiterkeit – hast du mich vermisst? – wuchs wieder. Tick-tack, tick-tack, machte sie in seinem Kopf und klopfte gegen die Innenseite seines Schädels. Tick-tack. „Absolute Perfektion gibt es nicht“, sagte Shikaku schließlich und Fugakus Herz schien einen Moment auszusetzen: dieser Satz fühlte sich an wie ein Todesurteil. Einen grausamen Augenblick lang rechnete er fest mit einem Konter des Nara. „Aber du bist so nah dran wie man nur sein kann. Diese Strategie ist ein Meisterwerk.“ Es dauerte genau drei Sekunden, bis Fugaku die Bedeutung von Shikakus Worten verstand: die debile Heiterkeit implodierte. Endlich keine Angst mehr. „Ach“, grinste Fugaku und zum ersten Mal an diesem Abend fühlte es sich echt an, „zu viel der Ehre.“ „Doch, glaub' mir.“ Shikaku gluckste und Fugaku konnte die Bitterkeit dieses Lautes beinahe auf seiner eigenen Zunge schmecken. „Meine Bewunderung wird nur von der Abscheu übertroffen, dass du das Leben aller Menschen in Konoha – einschließlich das meines Sohnes und meiner Frau – auf einen Wert erniedrigst, um den wir pokern sollen!“ „Tss! Man kann ja wohl kaum von Poker sprechen, wenn wir alle wissen, dass ich ein unschlagbares Blatt auf der Hand habe.“ „Gar nichts hast du! Nur eine Drohung und die Hoffnung, dass wir sie genug fürchten, um uns zu fügen. Denn wenn nicht, hast du verloren. Dann war alles umsonst.“ Kapitel 6: Teil 1. Verschwörung. Verrat. Vierter Akt. Vaterrolle. ----------------------------------------------------------------- Teil 1. Verschwörung. Verrat. Vierter Akt. Vaterrolle.   XIX Stare at me with empty eyes and Point your words at me Mirror on the wall will show you What you're scared to see [Hate to feel – Alice in Chains]   Auch ohne Gen-Jutsu konnte Inoichi sie immer noch sehen. Die Hand seiner Tochter – klein, zart und blutig. Sie lag unter dem großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten. Dass es Inos war, erkannte er an den bunten Tupfen auf den Fingernägeln. Den ganzen Nachtmittag über hatte die Kleine vor dem Verkaufstresen des Yamanaka-Blumenladens gekniet und mit den Nagellackfläschchen ihrer Mutter herumexperimentiert, bevor sie zu dem Schluss gekommen war, dass sie bunte Tupfen am schönsten fand. Der beißende Geruch der Lösungsmittel aus dem Lack hing noch immer in Inoichis Nase. Glaubte er zumindest. In Wirklichkeit roch er nur die Säure von Amayas Erbrochenem, das Hiashis Hose durchweichte. „Ich denke, ich kann dir nicht ganz folgen.“ Inoichi riss seinen Blick von der Hand seiner Tochter los und sah Fugaku an. „Ob wir dir geben, wonach du verlangst oder nicht, bleibt allein unsere Entscheidung“, murmelte er und hätte viel für ein Glas Wasser gegeben. Sein Mund fühlte sich knochentrocken an. „Du kannst nur abwarten, ob sie deinen Wünschen entspricht. Aber wir entscheiden! Deine Drohung kann noch so schrecklich sein, sie hat nur Macht, wenn wir sie fürchten. Doch ich für meinen Teil fürchte keine Farce.“ „Farce?“ Kein Hinweis auf auf Beunruhigung in Fugakus Stimme, aber er war nervös. Inoichi las es in seinem Gesicht: die Mundwinkel des Uchiha sanken ein bisschen ab, die Augenlider spannten ein bisschen mehr. Oder... will ich das nur sehen? Und vor allem – will ich es nur so deuten? Inoichis Haut kribbelte. Doch ich für meinen Teil fürchte keine Farce. Diese Worte fühlten sich an wie unverdünnter Wahnsinn, fand der rationale Teil seines Verstandes und Inoichi sah Inos kleine, zarte, blutige Hand deutlicher denn je: die Umrisse wirkten klarer, die Farben satter, mit einer Haut dünn wie Papier. Die Finger mit den gepunkteten Nägeln zuckten. Und ob du dich fürchtest!, hörte Inoichi eine Stimme in seinem Kopf kreischen. Empört und panisch. Inoichi holte tief Luft. Das spielt keine Rolle, so lange er es nur auch tut. „Deine Drohung ist nur von Bedeutung, wenn du sie wirklich erfüllen kannst.“ Diesmal verzog Fugaku tatsächlich das Gesicht. Gekränkt. „Du zweifelst an meinen Fähigkeiten?“ „Mitnichten!“ Inoichi hätte nicht aufrichtiger antworten können. „Dann musst du krank sein, dich nicht zu fürchten.“ „Und wie ich mich fürchte!“ Inoichi war froh, dass ihm die Hände auf den Rücken gefesselt waren: so konnten sie nicht zittern. „Ich fürchte um alles, was ich verlieren könnte. Aber ich fürchte mich nicht vor deiner Drohung: du wirst den letzten Schritt nicht gehen. Du wirst nicht angreifen, auch wenn wir uns weigern, deine Bedingungen zu akzeptieren.“ „Wer oder was sollte mich davon abhalten?“ „Na, du selbst.“ Setz' ihm seine eigene Klinge an die Kehle! „Das Leben unserer Familien schert dich einen feuchten Dreck, daran habe ich keinen Zweifel. Aber was ist mit deiner eigenen?“ Inoichi stellte sich vor, wie sich eine stählerne Schneide an Fugakus Haut schmiegte, die Blutgefäße darunter zusammen schrumpelten und der Rachen des Uchiha sich verengte. „Es ist wie du sagst: von Konoha wird nichts übrig bleiben, außer der Wind, der über seine Trümmer weht. Und wenn es erst mal so weit ist, kreisen sehr bald die Aasgeier über dem Kadaver – Suna, Iwa, Kumo, Kiri. Wie lange kannst du deine Beute gegen ihren Hunger verteidigen, bevor sie dich einfach verschlingen?“ Die Klinge wischte über Fugakus Haut, glitt hinein in sein Fleisch. Nur ein oder zwei Millimeter tief – lange nicht genug, um ernsthaft zu schaden, aber ausreichend, um ihn spüren zu lassen, was sie anrichten konnte. Ein einzelner Tropfen Blut rann an seinem Kehlkopf herunter. „Ein Auge sieht alles. Nur sich selbst nicht: für dich steht genauso viel auf dem Spiel wie für uns.“ Die Klinge blitze zwischen ihnen beiden auf. Die Schneide schimmerte rot. „Wenn du Konoha heute zerstörst, wirst du morgen fallen.“ „Und wer sagt, dass mich das kümmert?“ Fugakus Finger reckten sich nach der Klinge. Sie fassten ins Leere, weil Inoichi seine Hand zurückzog. „Das muss nicht gesagt werden.“ Er setzte die Klinge neu an; ihre Spitze lag an Fugakus Herz. „Es zeigt sich: diesen letzten Schritt kann nur jemand gehen, der nichts mehr zu verlieren hat. Aber du hast noch etwas zu verlieren.“ Inos kleine, zarte, blutige Hand zuckte wieder zusammen. „Als Vater und Ehemann weiß ich das.“   XX I saw the devil today and he looked a lot like me I looked away, I turned away Arms wide open, I stand alone I'm no hero and I'm not made of stone Right or wrong, I can hardly tell I'm on the wrong side of heaven and the righteous side of hell [Wrong Side of Heaven – Five Finger Death Punch]     Aber du hast noch etwas zu verlieren. Als Vater und Ehemann weiß ich das. – Fugaku war, als würde sein Herz erstarren. Inochi konnte das zwar nicht wissen, aber zumindest was Itachi betraf, hatte er als Vater schon verloren.  In seinem Kopf hörte er den Jungen wieder ächzen; glaubte, sauren Schweiß und den modrigen Kupfergeruch von vergossenem Blut zu riechen. So wie in dem Augenblick, als Itachi in Ketten zu seinen Füßen gelegen hatte. Wie kannst du dich gegen deine eigene Familie stellen?! Blut ist dicker als Wasser! Aber ein Herz wiegt schwerer. Fugaku sah vor sich, wie Itachi mit blutunterlaufenen Augen zu ihm aufblickte. Seine geschwollenen Lippen erinnerten an fette, faulige Erdbeeren und die Zähne dahinter schimmerten rosa. Ich bin nicht wie du. Diese Wunde war frisch und reichte tief. Zu tief, um den Schmerz zu verbergen, wie es schien: „Meine Güte“, raunte ausgerechnet Shikaku. „Inoichi hat recht. Du kannst es nicht tun.“ Es stimmte. Aber dass es stimmte, hatte Fugaku bis zu diesem Augenblick nicht geglaubt. Und erst im nächsten wurde ihm klar, dass er genaugenommen nicht mal die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, irgendjemand könnte es wagen, seinen Willen infrage zu stellen. Denn... „Wenn ich auf der anderen Seite stünde und dasselbe durchgemacht hätte wie ihr, wäre ich zurückgewichen. Ohne zu zögern. Ich hätte alles hingenommen, um meine Familie zu beschützen.“ So wie in den letzten sieben Jahren. Fugaku schnaubte. „Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet du noch kälter kalkulierst als ich, Inoichi. Ich dachte, wenn es scheitert, dann an Shikaku.“ Inoichi schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war immer noch kreidebleich. „Es scheitert allein an dir“, murmelte er. In seiner Stimme klang nichts lebendig. Sie schwebte beinahe tonlos durch den Raum und sammelte sich wie heiße Luft unter der Decke. „Niemand kann außerhalb seiner Grenzen denken. Ich hab' deine nicht gezogen, sondern dir nur die Linien gezeigt.“ Irgendetwas brodelte in Fugakus Magen. Doch er konnte nicht eindeutig erfühlen, was es war: Zorn? Furcht? Nur ein Schwall bittere Galle? Ihm war jedenfalls ein bisschen nach Kotzen zumute: das hier war sein Spiel! Und er verlor (Es scheitert allein an dir.) die Kontrolle darüber. Wieder mal verlor er die Kontrolle! Er presste sich die Fingernägel in den Handballen: Verdammt! „Und wie geht’s jetzt weiter?“ Chōza sprach nur aus, was alle dachten. Aber es zu hören, hatte eine andere Qualität. Es verlieh der Frage eine gewisse Endgültigkeit. Denn ihre Antwort war glasklar. Und sie machte Fugaku Angst: „Irgendjemand muss nachgeben.“ „Solange du nicht bereit bist, den letzten Schritt zu gehen, haben wir dazu ja wohl keinen Grund.“ Bedauerlicherweise lag Hiashi damit richtig: es ging nicht ohne die Bereitschaft, die aufrichtige (niemand kann außerhalb seiner Grenzen denken) Bereitschaft, Opfer zu bringen. Fugaku spürte die Blicke auf sich ruhen. Selbst die von Tekka und Inabi. Der folgende Zug entschied: was auch immer er als nächstes sagte oder tat, er musste jeden in diesem Raum – vor allem sich selbst – davon überzeugen, dass er den letzten Schritt doch gehen konnte. Vorzugsweise ohne es tatsächlich zu tun. Er schloss die Augen. Und das ist in etwa so, als würde ich versuchen jemanden zu kennen, dem ich zuvor noch nie begegnet bin. Er wusste, dass in der logischen Konsequenz eines Problems meistens auch seine Lösung lag: man konnte niemanden kennen, dem man zuvor noch nie begegnet war, also musste man diesen Jemanden treffen. Und wenn er nicht außerhalb seiner Grenzen denken konnte, musste er sie überwinden; oder zumindest erweitern. Fugaku schlug die Augen wieder auf. Ich muss tun, was ich nicht denken kann. Dass er bei diesem Gedanken Amaya ansah, war kein Zufall. Er stand auf. Schnell und beherzt, sodass der Schwung seinen Stuhl umstieß. „Schluss mit den Illusionen.“ Aus dem Stand setzte er über den großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten hinweg. Innerhalb eines Wimpernschlages stand er vor seinen Gefangenen. Nah genug bei Amaya, dass er nur den Arm ausstrecken musste, um seine Hand auf ihren Kopf zu legen. Unter seiner Berührung schien ihr Körper zusammenzuschrumpfen: sie zog das Kinn zur Brust und die Schultern zu ihren Ohrläppchen. Als sie versuchte zurückzuweichen, stieß sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand, ehe Fugaku den Kontakt überhaupt verlor. Er spürte, wie ihre Muskeln anzogen – wahrscheinlich wollte sie den Kopf hin und her werfen, um seine Hand abzuschütteln. Bevor Amaya aber auch nur zucken konnte, presste Fugaku seinen Ballen fest gegen ihren Schädel, sodass sie es gar nicht erst wagte sich zu rühren. Falls sie es denn vorgehabt hatte. Sie hielt still – zitternd, mit glühenden Wangen und zusammengekniffenen Augen. „So ist's gut“, murmelte Fugaku und streichelte über ihr Haar. Ein Mal und zweites Mal; beim dritten Mal vergrub er seine Finger tief in ihren feuchten Locken. Amaya keuchte auf. „Gh!“ Vermutlich mehr vor Überraschung als Schmerz. „Aufstehen.“ Doch sie rührte sich nicht. Vom Zittern mal abgesehen. „Na, los!“ Fugaku riss an ihrem Haar – kurz, aber heftig. Ein paar Strähnen rutschten aus ihrem Pferdeschwanz. „Lass' sie-“ „Halt' die Klappe, Tsume, oder Inabi bringt dich dazu.“ An Amayas zuckendem Kehlkopf sah Fugaku, wie hart sie schluckte, bevor sie schließlich doch das rechte Bein aufstellte und sich langsam vom Boden emporstemmte. Er löste seinen Griff, als sie aufrecht vor ihm stand. Die losen Strähnen perlten durch seine Finger und fielen wie ein Vorhang vor ihr Gesicht. Mit jedem Mal, das sie Luft holte, sog sie die zerzausten Locken an ihre Lippen. Wenn sie ausatmete, tanzten sie auf dem Luftstrom, der ihrem Mund entwich: ein-aus-ein-aus-ein-aus – in knappen, harten Abständen. Mit jedem Atemzug hauchte sie Fugaku den zarten Jasmingeruch entgegen, der an ihrem Haar haftete. Ihre Lider zitterten, obwohl sie die Augen fest verschlossen hielt. In ihren Wimpern schimmerten Tränen. Was auch immer sie dachte, was auch immer sie empfand; er wollte es sehen. „Sieh‘ mich an.“ Er schob einen Daumen unter ihr Kinn und drückte es nach oben. Widerwillig folgte sie. Mit der freien Hand zeichnete er die Linie ihres Kiefers nach. Unter seinen Fingerspitzen schwoll die Wärme ihrer Haut zu Hitze an. Als er ihr Haar zurückstrich, entdeckte er eine gräuliche Narbe an ihrer Schläfe, die sich als winziger Krater in ihre Haut fraß. Fugaku kannte die Form: Sasuke hatte so eine ähnliche an der Brust, Itachi am Bauch. Windpocken, dachte er und was er dabei empfand, war einfach nur grausam. „Sieh mich an.“ Wie ihr Kiefer versteinerte, wie sie mit „mgh“-Lauten ihr Schluchzen unterdrückte, wie sie darum kämpfte, ihr Gesicht wegzudrehen – das gefiel ihm. Er lehnte sich zu ihr nach vorne, ganz nah an ihr Ohr: „Na, komm' schon, Kleine.“ Sein Daumennagel grub sich in ihre Windpockennarbe. „Mich hält nämlich überhaupt nichts davon ab, dir wirklich weh zu tun.“ Insgeheim hoffte er jedoch, sie würde sich weiter sträuben. Er wünschte sich einen Grund, ihr wirklich weh zu tun. Irgendetwas, das ihn davon abhielt zu tun, was er nicht denken konnte. Viel fehlte nicht: ein, zwei Sekunden länger und er hätte... na ja, vielleicht ihren Kopf gepackt und gegen die Wand geschlagen? So lange, bis ihr Schädel splitterte und sie blutend am Boden lag? Er war in der Stimmung dazu. Doch dann blinzelte Amaya ihm doch entgegen – aus trüben Augen, verschleiert von Tränen... Fugaku strich sie weg. Seine Fingerspitzen kribbelten dabei. Dieses Mädchen war ja so verdammt jung! Einige Jahre älter als Itachi, das auf jeden Fall. Wahrscheinlich sogar älter als volljährig, aber mit Sicherheit immer noch jung genug, dass sie rein rechnerisch seine Tochter sein könnte. Und das allein machte es... absolut: was immer sie dachte, was immer sie empfand; sehen allein reichte nicht aus. Er musste es erleben! Fugaku atmete tief durch und... lehnte seine Stirn gegen ihre. Amaya schreckte zurück; versuchte es zumindest, aber er hielt sie fest. „Halt' still.“ An ihrer Schläfe erfühlte er ihren rasenden Puls – wie vorhin bei Mikoto. Und da war es plötzlich ganz nah; das Gefühl, das er brauchte. Die Wärme von Amayas unruhigem Atem hauchte gegen seine Lippen. Nur eine kleine Bewegung. Mehr brauchte es nicht, um ihre zu streifen. Es war nur die Idee einer Berührung. Gerade mal für die Dauer eines Herzschlages. Fugaku spürte sie kaum, und trotzdem rauschte das Blut schneller durch seinen Körper. Ihm war ein bisschen schwindelig, als er Amayas Gesicht zwischen seine Hände nahm. Sie sah ihn nicht an, sondern durch ihn hindurch. Mit starrem Blick und engen Pupillen. In ihren Augen flackerte etwas, das ihn an die bläulichen Irrlichter erinnerte, die er vor vielen Jahren in einem Moor an der Grenze zum Flussreich gesehen hatte. Er war – gefangen. Irgendwo auf seiner Grenze zwischen Denkbarem und Unvorstellbarem. Er musste weiter gehen. Sein Körper bewegte sich wie von selbst: er neigte den Kopf ein bisschen zur Seite und legte seine Lippen auf ihre. Diesmal richtig. Nur um zu spüren, dass er nicht seine Frau küsste, sondern irgendein Mädchen – gegen dessen Willen. Ein hübsches, unverschämt junges Mädchen, das sich nicht wehren konnte, weil es gefesselt war. Fugaku empfand das selbst als abstoßend. Es widersprach seiner Rolle, seinem Selbstverständnis: dieses junge Mädchen, diese Kindsfrau zu küssen, war das letzte, was er als Vater und Ehemann tun wollte. Und genau deswegen machte er weiter. Seine rechte Hand glitt an ihrer Seite hinab: Brust, Taille, Hüfte, Oberschenkel. Das ganze in die entgegengesetzte Richtung. Auch mit der anderen Hand. Ihre Muskeln waren so hart, dass es sich anfühlte als würde er einen Stein streicheln. Dennoch wuchs darüber allmählich eine zweite Empfindung in ihm; eine Hitze unter seiner Haut, die er kannte: Erregung; aber eine Art von Erregung, die er so bisher noch nicht erlebt hatte. Sie war nicht körperlich oder gar sexuell, sondern rein mental. Als würde er eine Hülle von von seinem Gehirn schaben, die wie die Membran einer Zelle bisher nur Moleküle unterhalb einer bestimmten Masse passieren ließ und ihn nun endlich nicht mehr behindern konnte. Mit jedem Fetzen Hülle, den er abzog, begriff er es ein kleines bisschen mehr: nicht seine Rolle, die Umstände oder die Welt bestimmten die Grenzen, in denen er denken konnte. Die Grenzen, in denen er dachte, bestimmten seine Welt. Und die einzige Instanz, die Linien zog, war er selbst. Seine Zähne umschlossen Amayas Unterlippe. Sie keuchte auf und er verstärkte den Druck. Dann ließ er wieder wieder locker und stupste mit der Zungenspitze ein einziges Mal gegen ihre Lippe. Die letzte Rest der Hülle fiel: plötzlich sah Fugaku ganz genau vor sich, wie es weiter gehen musste. Ja, dachte er, als er endlich von Amaya abließ und sie vor ihm auf die Knie sank, es muss Sasuke sein. Er ist der unschuldige Sohn. Kapitel 7: Teil 1. Verschwörung. Verrat. Fünfter Akt (1/3). Schachmatt. ----------------------------------------------------------------------- Teil 1. Verschwörung. Verrat. Fünfter Akt (1/3). Schachmatt. XXI Listen up, listen up There's a devil in the church Got a bullet in the chamber And this is gonna hurt [This is gonna hurt – Sixx: A.M.] „Informationen extrahieren“ lautete die offizielle Bezeichnung für Inoichis Tätigkeit bei der Konoha Gakure Jōhōbu; inoffiziell sprach man von „Gehirnen auspressen“. In Shikakus Augen spotteten beide Umschreibungen dem Verhörstil des Yamanaka Inoichi, denn der hatte Grobheiten wie extrahieren oder auspressen nicht nötig, sondern kitzelte sich an die Substanz seiner Objekte heran. Objekte, weil die Einheit für Informationsbeschaffung den Status Mensch nicht kannte, sondern in einem Ninja nur eine Informationsquelle mit Puls sah. Eine Informationsquelle mit Puls hatte allerdings nicht sehr viel mehr zu verlieren als diesen; wohingegen ein Mensch um so viel mehr bangen konnte als das eigene Leben. Und man brauchte nur in Fugakus Gesicht zu sehen, um zu erkennen wie viel effektiver das war. Niemand ist wirklich kompliziert oder undurchschaubar, wie Inoichi vor einigen Jahren mal gesagt hatte. Lallend, wenn Shikaku sich recht erinnerte. An der Oberfläche scheint es nur so. In dieser... Wolke aus Willen, Moral und Pflichtbewusstsein. Ja, definitiv lallend. Und mit fuchtelnden Händen. Dabei gibt es im Grunde nur zwei Dinge, die einen Menschen wirklich bewegen: Liebe oder Angst – manchmal beides, selten mehr. Das gilt auch für einen Shinobi. Die meisten von uns stecken nur so tief in ihrer Wolke, dass sie den Himmel dahinter nicht mehr sehen und ihn vergessen. Aber am Ende des Tages sind wir alle nur Menschen. Wir reagieren alle auf dieselben Druckpunkte. Und für die hatte Inoichi ein Händchen! Er suchte immer nach dem Menschen im Shinobi. In Fugakus Fall nach dem Mann, der irgendwann zum ersten Mal die Lippen der Frau geküsst hatte, in deren Bauch einige Zeit später sein Kind herangewachsen war; nach dem Mann, der sich immer daran erinnern würde, wie die winzige Hand dieses Kindes zum ersten Mal seinen Zeigefinger umgriff – eine Berührung ohne Kraft, aber voller Leben... Doch nach all den Grausamkeiten, die der Uchiha an diesem Abend schon enthüllt hatte, hatte Shikaku diesem Mistkerl einfach nicht mehr zugetraut, dass er im eigenen Kind mehr sah als wandelndes Erbgut. Inoichi schon. Wie blöd, was? Als hätte er dir vor versammelter Mannschaft die Hose runter gezogen, um allen zu zeigen, dass du in Wahrheit Damenunterwäsche trägst. Jetzt erkannte es auch Shikaku: Fugaku bedrohte Konoha mit dem schlimmsten, was ihm selbst widerfahren könnte! Der Nukleus seiner Strategie war aus seiner eigenen Angst geboren! Vielleicht können wir diese Krise ja doch noch unbeschadet überstehen. Denn nun hatte Shikaku einen Anhaltspunkt: wenn Fugaku den letzten Schritt wegen seiner Familie nicht gehen konnte, würde er für sie vielleicht einen zurückweichen. Bist du bereit, aufzugeben und die Konsequenzen für alles zu tragen, was bis hier geschehen ist, wenn ich dir hier und jetzt Immunität verspreche? Für deine Frau zum Beispiel. Oder deinen Sohn; den, der in dieselbe Klasse wie Shikamaru geht – Sasuke. Vielleicht können wir sogar einen Deal aushandeln, der beide einschließt... Doch bevor Shikaku auch nur den Mund öffnen konnte, stand Fugaku plötzlich auf. „Schluss mit den Illusionen!“, sagte er und sprang wie ein wilder Tiger auf die gefesselten Clan-Oberhäupter zu – direkt auf Amaya zu, um genau zu sein. Als sich seine Finger einen Wimpernschlag später in ihrem Haar festkrallten und er sie mit einem heftigen Ruck auf die Beine zerrte, dachte Shikaku nur eins: Jetzt bringt er sie um! Er dachte es jedoch ohne Schrecken, sondern mit derselben Klarheit, mit der sich ihm sonst in einer Partie Shōgi ein gewagter Zug seines Gegners erschloss. Inoichi hatte den Mistkerl bloßgestellt und das konnte der unmöglich auf sich sitzen lassen: oh ja, auch wenn seine Stirn glatt wie Marmor war, innerlich kochte Fugaku! Und wie ein kleines Kind, das nicht bekam, was es wollte, würde er erst einsehen, dass alles Toben vergebens war, wenn irgendetwas zu Bruch gegangen war. In diesem Fall wohl Amayas Schädel... Aber sobald die Kleine erst mal blutüberströmt und mit starrem Blick zu seinen Füßen lag, würde Fugaku erkennen, wie aussichtslos seine Lage war, so lange er den letzten Schritt fürchtete. Erst dann würde er für Shikakus Angebot empfänglich sein... Es ist wirklich wie beim Schach. Manchmal muss man eine Figur opfern, um das Spiel zu gewinnen. „Sieh mich an“, raunte Fugaku Amaya gerade zu und Shikaku bekam eine Gänsehaut, denn der Blick des Uchiha ergänzte: Damit ich es sehen kann, wenn das Leben in deinen Augen erlischt. Shikaku hörte den Schädel des Mädchens schon knacken und spürte fast ihr warmes Blut auf seine Haut spritzen, als Fugakus Lippen plötzlich Amayas berührten. So unerwartet und kurz, dass Shikaku einen gnädigen Augenblick lang glaubte, seine Wahrnehmung würde ihm einen Streich spielen – zumindest bis der Mistkerl die Kleine ein zweites Mal küsste; küsste wie eine Geliebte... Shikaku versuchte wegzuschauen, konnte es aber nicht. Ihm war, als erlebte er in diesem Augenblick, wie die Realität zu ihrer eigenen Metaebene verkam. Und das fühlte sich genauso paradox an wie es klang: Shikaku spürte, dass es Fugaku nicht um den Akt des Küssens ging, nicht um die Handlung, sondern nur um ihre Bedeutung. Doch die entzog sich jeder Interpretation. Bring' sie um!, hörte Shikaku sich denken. Worauf wartest du?! Bring' sie um! Halt' dich wenigstens an die verdammten Spielregeln! Mit Brutalität konnte der Nara umgehen; Gewalt war er als Shinobi gewöhnt. Aber – ein Kuss?! Das offenbarte Verwundbarkeit auf einer ganz anderen Ebene. Einer Ebene, die außerhalb der Reichweite des Verstandes von Nara Shikaku lag, sodass nun nicht mal er noch vorausberechnen konnte, wie es weitergehen oder wo die Geschichte enden würde. Endgültig. Zumindest wünschte er sich das. Aber in Wahrheit... Als Fugaku endlich von Amaya abließ, einen Schritt von ihr zurücktrat und sie schluchzend zu Boden sank, fühlte Shikaku sich schmutzig. Als wären es seine Lippen gewesen, die an ihren geklebt, oder seine Hände, die ihre entblößte Haut gestreichelt hätten. Vor allem aber, weil ihn nicht überraschte, was Fugaku als nächstes sagte; weil er es auf eine verstörende Weise sogar verstand: „Tekka, bring' Sasuke her.“ Noch bevor er den Satz beendete, drehte Fugaku sich um und ging zurück zu dem großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten. Mit kantigen Bewegungen versenkte er nacheinander die abgetrennten Köpfe der Ältesten wieder im Papierkorb. „Was hast du jetzt wieder vor?“, fragte Chōza, aber am Klang seiner Stimme erkannte Shikaku, dass der Akimichi die Antwort bereits kannte. Fugaku stand immer noch mit dem Rücken zu ihnen. Mit beiden Händen stützte er sich auf der Tischkante ab. „Worauf wartest du, Tekka?“ „Ich- ähm... Ich... Was?“ Fragend sah Tekka zu Inabi, der hob jedoch nur die Schultern. „Du hast mich schon verstanden: hol' meinen Sohn her!“ Tekka rührte sich nicht. „Sollte ich nicht eher Itachi...?“ „Nein“, unterbrach Fugaku. „Für Itachi wäre es nur eine Strafe. Bei Sasuke allerdings... Er hat hiermit nichts zu tun.“ „Und...“ Tekka räusperte sich. „Mikoto?“ „Tu', was nötig ist.“ Wenn Shikaku bisher auch noch einen Funken Zweifel gehabt hatte, so stand eines spätestens jetzt fest: er hatte es hier mit einem erstklassigen Wahnsinnigen zu tun. Tekka und Inabi tauschten einen weiteren Blick. In ihren Augen lag jedoch kein Schreck, sondern- Sie bewundern ihn mehr denn je, dachte Shikaku. Sie sind stolz darauf, einem Anführer zu folgen, der bereit ist für ihre Sache ein solch gewaltiges Opfer zu bringen. Und er schämte sich, weil er diesen Stolz ganz tief im Innern sogar nachempfinden konnte. Wir haben dieses Spiel schon viel zu weit getrieben... „Genug!“, sagte er deshalb, als Tekkas Hand schon an der Türklinke lag. „Du hast gewonnen, Fugaku. Was immer du forderst, ich akzeptiere. Verschon' deinen Sohn. Wir verzichten auf dieses Opfer.“ „Das tun wir natürlich nicht, Shikaku!“, zischte Hiashi dazwischen. „Wer sagt denn, dass er nicht nur blufft?“ Shikaku deutete mit dem Kopf neben sich. „Ich denke, das kann Amaya dir am besten beantworten.“ Hiashi schnaubte. „Pah! Das hat damit doch nichts zu tun!“ „Und ob“, entgegnete Shikaku. „Denn jetzt geht es nur noch um Tabus und wer eher bereit ist, sie zu brechen. Ich meine, könntest du's tun? Sie küssen? Jenseits aller Unschuld gegen ihren Willen, während wir alle zusehen?“ Hiashi wurde erst blass und lief dann rot an, als er einen raschen Blick in Amayas junges Gesicht warf. Er schüttelte den Kopf. „Und wenn schon! Ich weiß nun mal wo die Grenzen des Anstandes verlaufen.“ Shikaku schmunzelte. Oh, Fugaku weiß das auch. Und genau da liegt Problem: er hat sich getraut sie zu überschreiten. „Wenn dieses perverse Schwein die Kontrolle über Konoha will“, beharrte Hiashi dennoch, „muss es dafür bezahlen. Und ich werde keinen geringeren Preis akzeptieren als das Blut seines Kindes.“ „Jawoll!“, bekräftigte Tsume und einige weitere Stimmen pflichteten ihr bei. „Wirklich?“, fragte Shikaku nur und sah Hiashi dabei über Amayas Kopf hinweg in die Augen. Seine eigenen füllten sich mit Tränen. Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren. „Ihr wollt einen Vater dazu drängen, sein eigenes Kind umzubringen und ihm danach die Kontrolle über euer gesamtes Leben und eurer Familien überlassen? Wirklich?!“ Shikaku ließ den Kopf an die Wand sinken. Es ist vorbei. Wie können nichts mehr tun. Kapitel 8: ----------- Teil 1. Verschwörung. Verrat. Fünfter Akt. (2/3) Perspektivenwechsel.   XXII Tell us all again What you think we should be What the answers are What it is we can't see Tell us all again How to do what you say How to fall in line How there's no other way [Guilty all the same – Linkin Park] Für Hiashi gipfelte die Absurdität der gesamten Geschichte in einer Schriftrolle, die Fugaku vor ihm ausbreitete, als sie sich wenige Minuten später ein paar Zimmer den Korridor hinab am Schreibtisch des Hokage gegenüber saßen. Von Tekka mal abgesehen waren sie allein. Inabi war als Wache mit den anderen Clan-Oberhäuptern im Konferenzraum zurückgeblieben. „Das ist ein Scherz“, sagte Hiashi schließlich, als er sich die handgeschriebenen Zeilen vor sich durchgelesen hatte. Fugaku zuckte die Achseln. Mit überschlagenen Beinen und verschränkten Armen lehnte er in dem Stuhl, in dem Sarutobi Hiruzen am Morgen noch entspannt Pfeife geraucht hatte. „Ein Scherz?“, wiederholte er dabei und tauschte einen kurzen Blick mit Tekka, der hinter Hiashi stand. „In der Tat, ja. Und du sitzt gerade vor der Pointe.“ „Hast du auch nur die leiseste Vorstellung davon, wie demütigend das ist?!“ „Eine sehr lebhafte sogar“, nickte Fugaku. „Immerhin haben der Hokage und die Ältesten mich in der Vergangenheit wiederholt zu Ähnlichem gezwungen.“ „Oder glaubst du die Umsiedelung unseres Clans vor ein paar Jahren war Fugakus Idee?“, ergänzte Tekka. In der Reflektion der Panoramascheibe gegenüber sah Hiashi, wie der Mistkerl die Arme vor Brust verschränkte. „De facto wurden wir verbannt“, fuhr Fugaku unterdessen fort. „Aber wenn man einen Rat abstimmen lässt und im Anschluss einen Vertrag aufsetzt, ist es keine Verbannung, sondern ein Friedensabkommen. Diplomatie ist 'ne feine Sache, wenn man auf der richtigen Seite steht, nicht wahr?“ Tekka legte seine Hände auf Hiashis Schultern und drückte leicht zu. „Immerhin warst du seinerzeit doch ein Befürworter der Umsiedelung, oder?“ Hiashi schüttelte die Hände ab. „Du hattest in dieser Versammlung die Chance, eure Unschuld zu beweisen, Fugaku. Aber die Indizien waren eindeutig. Danzō hat schlüssig dargelegt-“ „Danzō hat gesagt, was ihr hören wolltet“, unterbrach Fugaku. „Und ihr habt ihm brav aus der Hand gefressen.“ „Wir haben euch die Chance auf Bewährung gegeben. Ihr habt sie nur nicht genutzt.“ „Ja, aus deiner Sicht muss das wohl so sein...“, murmelte Tekka. Hiashi drehte sich über die Schulter zu ihm um. „Was willst du damit sagen?“ „Dass du offensichtlich nie den Unterschied zwischen Chance und Sanktion gelernt hast“, erklärte Fugaku. „Aber das wundert mich nicht. Jemand wie du hat das nicht nötig.“ „Und?“ „Und gar nichts.“ Fugaku tippte mit dem Zeigefinger auf die Schriftrolle zwischen ihnen. „Unterschreib'!“ „Vergiss es!“ Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, wischte er die Schriftrolle vom Tisch. „Bockig bis zum Schluss, was?“, kommentierte Fugaku, während Tekka sich nach der Rolle bückte und wieder auf dem Tisch ausbreitete. „Das ist ein verdammtes Drehbuch!“, knurrte Hiashi. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich durch eine Unterschrift daran gebunden fühle, deiner Lügengeschichte Leben einzuhauchen!“ Fugaku zuckte mit den Schultern. „Als ob das der Zweck dieser Unterschrift wäre...“ „Ach, was ist denn der Zweck?“ „Genau das!“ Fugaku zeigte auf Hiashis Gesicht. „Dieser Ausdruck in deinen Augen, den wollte ich sehen! Wenn du wüsstest, wie oft ich ihn in den letzten paar Jahren schon in meinen eigenen gesehen habe; bei jedem einzelnen Blick in den Spiegel. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut es tut, zu sehen, wie du dich hier quälst; wie du dich sträubst, obwohl du genau weißt, dass du jeden Funken Selbstbestimmung verloren hast.“ „Du bist krank“, meinte Hiashi nach kurzem Schweigen, griff aber trotzdem nach dem Federhalter auf dem Tisch und tunkte ihn in den Tiegel neben der Schriftrolle. „Ein kranker, furchtbarer Mensch.“ Mit kantigen Bewegungen kritzelte er seinen Namen auf das Papier. „Aber was erwartet man von einem Mann, der sogar bereit ist, seinen Sohn zu töten... Und das alles für Macht.“ Fugakus Gesicht verfinsterte sich für einen Augenblick und Hiashi sah, wie die Hände des Uchiha zusammenzuckten. Doch dann seufzte er nur und schüttelte den Kopf. „Um Macht geht es mir gar nicht.“ „Sondern?“ „Gerechtigkeit.“ Fugaku fixierte Hiashi mit seinem Blick. „Ich hab's wirklich versucht, weißt du. Ich dachte, ich könnte es wieder in Ordnung bringen, wenn ich mich einfach nur still verhielt; wenn ich nur all diese demütigenden... Maßnahmen hinnähme, und dafür sorgte, dass meine Leute ihre Arbeit ordentlich erledigen...“ Er schüttelte abermals den Kopf. „Aber es wird schlimmer statt besser... All die Versuche, etwas wieder hinzubiegen, was nicht mehr zu richten ist, ersticken mich langsam. Die Tatsache, dass ich bereit war, Sasuke etwas anzutun, beweist, wie wenig noch von dem Mann übrig ist, der ich einst war... Und ich will das nicht mehr. Ich will nichts mehr hinbiegen oder in Ordnung bringen; ich will endlich wieder frei sein!“ Hiashi verdrehte die Augen. „Arme geschundene Seele, mir kommen gleich die Tränen. Pah! So wie ich das sehe, ist dir nie etwas widerfahren, was du nicht auch verdient hast. Oder, wie viele Menschen sind noch mal gestorben, als du Kyūbi missbraucht hast, um dein eigenes Heimatdorf anzugreifen?“ Fugaku stöhnte auf und legte den Kopf ins Genick. „Geht das schon wieder los... Zum allerletzten Mal: ich habe nichts getan!“ „Richtig“, nickte Hiashi und deutete auf eine Zeile in der Schriftrolle. „Shimura Danzō ist der Schuldige. Er hat seinerzeit Uchiha Shisui korrumpiert und mit dessen Hilfe Kyūbi unter seine Kontrolle gebracht. Aber wir wissen ja, wie die Geschichte geendet hat. Deshalb wollte er heute Abend noch mal versuchen. Nur diesmal-“ Hiashi lachte auf. „Diesmal hatte Danzō zwei Uchiha auf seiner Seite, damit er nicht wieder die Kontrolle über den Neunschwänzigen verliert. Glücklicherweise hat deine Polizeieinheit jedoch noch rechtzeitig Kodō-kihan ausrufen können, bevor Schlimmeres passiert; bedauerlicherweise aber nicht rechtzeitig genug, um den Hokage und die Ältesten vor dem Tod zu bewahren...“ Wieder lachte er. „Wisst ihr, das ist das 'ne richtig miese Geschichte, und sie wird nicht besser, nur weil ihr uns Clan-Oberhäupter dazu zwingt, euch als Zeugen zu unterstützen. Aber durch eine Sache gewinnt sie doch ordentlich an Glaubwürdigkeit – durch das hübsche, kleine Detail, dass dein Sohn einer der Uchiha ist, der sich mit Danzō gegen Konoha verschworen hat. Wirklich gut gespielt, denn wer würde schon glauben, dass ein Vater seinem eigenen Kind so etwas antut; es zu einem der meist gehassten Menschen in der Geschichte von Konoha zu machen.“ Er schnaubte. „Tss, aber trotzdem gebe ich dir höchstens ein halbes Jahr, bevor du die Kontrolle über diese Geschichte verlierst. Und wenn es so weit ist, bekommt dein Clan es mit einem kompletten Dorf zu tun! Dann gibt es Krieg! Kyūbi hin oder her! Susanno'o hin oder her! Keiner kann sagen, was das für die Zukunft der Ninja-Welt bedeutet. Aber das braucht dich auch nicht mehr zu kümmern, denn du wirst dann schon tot sein. Genau wie der Rest von deinem verdammten Uchiha-Pack!“ Hiashi warf Fugaku den Federhalter entgegen; schwarze Tinte sprenkelte auf die Schriftrolle. Dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust; wartete ab, wie sein Gegenüber reagierte. Mit einem Ausbruch von Zorn vielleicht, oder sogar einem Schlag in sein Gesicht. Ja, das wollte Hiashi sehen (und wenn nötig auch spüren), denn in der Sekunde in der Fugaku die Fassung verlor, sich provozieren ließ, würde der Mistkerl erkennen, wie machtlos er trotz allem immer noch war; dass er heute Abend mehr zerstört als gewonnen hatte: sein Triumph war nur die Illusion eines Triumphs. In Wahrheit stand sein Untergang schon jetzt fest. Tatsächlich sah Hiashi in der Panoramascheibe, wie Tekka hinter ihm mit der rechten Faust zum Schlag ausholte. Doch ein kleiner Wink von Fugaku reichte, damit Tekka sie wieder senkte. „Ein halbes Jahr reicht mir vollkommen“, sagte er mit seiner beschwichtigenden Geste. Hiashi runzelte die Stirn. „Wofür?“ „Um Verbündete zu finden“, meinte Fugaku und die Gelassenheit, mit der er sprach, kitzelte nun in Hiashi die Lust, dem Mistkerl eine reinzuhauen. „Du weißt schon, Leute, die ein aufrichtiges Interesse daran haben, dass sich an den Machtverhältnissen in Konoha endlich etwas ändert.“ „Na, da wirst du wohl ein paar Nuke-Nin begnadigen und zurück ins Dorf lassen müssen, bevor du hier jemanden findest, der bereit wäre, sich mit dir zu verbünden.“ „Das kann nur jemand sagen, der noch nie die andere Seite gesehen hat.“ „Welche andere Seite?“ „Die Seite der Verlierer, der Unterdrückten, der Unsichtbaren“, erklärte Fugaku. „Weißt du, eine Lektion hat mein Vater mich schon früh gelehrt: es ist ein Grundgesetz des Universums, dass jede Handlung eine gleichwertige, entgegengesetzte Reaktion auslöst.“ „Soll heißen?“ „Soll heißen, damit Leute wie du Privilegien und Ansehen genießen können, müssen andere zurückstecken. Frag' mal die Mitglieder deines Clans, die nicht das Glück hatten, in die Hauptfamilie geboren zu werden. Deinen Bruder zum Beispiel – wenn der nicht schon tot wäre; geopfert zum Wohle der Hauptfa-“ „Wage es ja nicht! Meine Familienangelegenheiten gehen dich überhaupt nichts an!“ „Natürlich nicht. Aber seien wir doch einen Augenblick lang ehrlich: du musst nur einen Blick in den Spiegel werfen, um all das zu sehen, was du an mir verachtest.“ Fugaku machte eine Pause. „Weißt du, Hiashi, euer größtes Problem ist weder Kyūbi, noch Susanno'o, sondern ist die Tatsache, dass ich euch besser kenne als ihr euch selbst... Zum Beispiel wird es dir gar nicht gefallen, zu hören, dass Inabni nach einigen Jahren harter Arbeit die Geheimnisse des Hyuuga Souke no Juin-Jutsu entschlüsselt hat. Was Siegel angeht, ist der Junge wirklich ein Genie.“ Hiashi ballte die Hände. „Deine Überheblichkeit geht mir allmählich auf die Nerven! Sag' was du sagen möchtest oder lass' mich gehen!“ „Vor sieben Jahren kam ich in dieses Büro, um dem Hokage eine Frage zu stellen. Ich wollte ihn fragen, ob er damit einverstanden wäre, wenn ich meinem neugeborenem Sohn den Namen seines Vaters gebe. Ich habe Sarutobi Hiruzen mein ganzes Leben lang aufrichtig respektiert und bewundert; heute habe ich ihn umgebracht.“ Fugaku seufzte. „Das ist das Ergebnis von sieben Jahren Unterdrückung und Demütigungen... Was glaubst du? Wie weit würden wohl Menschen gehen, die seit Generationen unterdrückt und gedemütigt werden? Was würden sie tun, wenn jemand ihnen einen Ausweg zeigen würde? Was würden sie tun, wenn jemand sie befreien könnte?“ Hiashi verzog das Gesicht zu einer zornigen Grimasse.„Soll das eine Drohung sein?“ „Oh, nicht doch, Hiashi.“ Fugaku beugte sich nach vorne über den Schreibtisch; seine dunklen Augen schienen zu glühen. „Nimm' es als Versprechen.“   You're guilty all the same Too sick to be ashamed You want to point your finger But there's no one else to blame There's no one else to blame Guilty all the same! [Guilty all the same – Linkin Park] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)