Blutsbande von Cedar ================================================================================ Kapitel 4: Teil 1. Verschwörung. Verrat. Feldherren (1/2). ---------------------------------------------------------- Teil 1. Verschwörung. Verrat. Dritter Akt. Feldherren (1/2).   XIV Now it's happened, take no other view Collision course, you must believe it's true Now there's nothing left that we can do When two worlds collide The anger and the pain of all those who remain Two worlds collide Who will be left alive? No place to hide! When two worlds collide [When two Worlds collide – Iron Maiden] Zum zweiten Mal an diesem Abend herrschte im Konferenzraum absolute Stille: nichts hätte das Entsetzen der Versammelten deutlicher zum Ausdruck bringen können. Uzumaki Kushina. Namikaze Minato. Umino Ikkaku. Umino Kohari. Tetsuka Sana. Das waren nur fünf von mehreren dutzend Namen, die Fugaku aufzählte. Hunderte weitere blieben unausgesprochen. „Was verbindet diese Menschen?“ Die abscheulichste aller Fragen mit der abscheulichsten aller Antworten. Fugaku gab sie selbst. „Ihr Mörder.“ Du musst es ja wissen. Asuma schnaubte. Seine Mutter gehörte zu den vielen hundert, die jenem Mörder am 10. Oktober vor sieben Jahren zum Opfer gefallen waren. Du Mistkerl hast nicht mal ihren Namen erwähnt. Vor diesem Gedanken erschrak Asuma selbst ein bisschen, denn er schrammte hart an der Grenze zur Absurdität: als ob es ein Unrecht gegen seine Mutter wäre, dass ihr Name nicht unter den paar dutzend genannt wurde, die Fugaku aus hunderten ausgewählt hatte. Als ob getötet zu werden eine Leistung wäre, die Wertung und Platzierung verdiente. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Asuma so dringend nach einer Zigarette verlangt wie jetzt. Es war eine bittere Tatsache, dass er viele Menschen kannte, die dem Mörder vor sieben Jahren am 10. Oktober zum Opfer gefallen waren; aber die noch bitterere Tatsache war, dass die meisten dieser vielen Menschen einfach nicht zählten; nicht für Asuma: Uzumaki Kushina, Namikaze Minato, Umino Ikkaku und Kohari, Tetsuka Sana, und wie sie alle hießen! Das war vielleicht auch das Paradoxe an der ganzen Kyuubi-Episode. So sehr das bloße Ereignis die Gemeinschaft Konohas auch zum Zusammenhalt gezwungen hatte, so sehr trennten die Verluste. Bei so viel Tod musste man mit seiner Anteilnahme einfach haushalten. Sie reichte gerade so für den eigenen Schmerz. Deshalb gab es in Asumas Kopf nun mal sehr wohl Wertungen und Platzierungen. Wessen Tod zählt? – nach diesem Kriterium verteilte er die Ränge. Nach diesem besetzte Sarutobi Biwako unangefochten den ersten Platz. (Bis heute zumindest.) Und du Mistkerl hast nicht mal ihren Namen erwähnt! Eine kindische Wut in seinem Bauch verführte Asuma ein zweites Mal zu diesem einigermaßen abartigen Gedanken. Er konnte sich nicht dagegen wehren und wollte es auch gar nicht: diese kindische Wut war das einzige, was den Kummer und die Angst in Schach hielt. Kummer, weil er in seiner Rangliste nun auch noch einen angemessenen Platz für seinen enthaupteten Vater finden musste. Angst, weil er fürchtete, heute Nacht noch mehr geliebte Menschen nach dem Kriterium wessen Tod zählt? bewerten zu müssen. Die heißesten Kandidaten für einen der begehrten Plätze unter den Ersten Fünf: seine Schwester und deren zweijähriger Sohn. Im Rausch des Gen-Jutsu hatte er die beiden heute schon mal sterben gesehen – überrollt von einer Feuerwelle. Böse Bilder zuckten durch Asumas Kopf, die ihm zeigten, wie die Körper der jungen Frau und des kreischenden Kleinkindes in ihren Armen in klebrigen Fäden miteinander verschmolzen. Die Haut der beiden schlug Blasen, die aufplatzten, als ihre Kleidung in schwarzen Fetzen auf flimmernder Luft davon stob. Prasselnd und knackend nagten die Flammen Mutter und Kind das Fleisch von den Knochen. Die Schreie des Kleinen verstummten erst, als seine Augäpfel verdampften. Da gab die junge Frau schon keinen Laut mehr von sich. Die Szene war immer noch so nah, dass Asuma sie nur überblenden konnte, indem er sich zwang, dem körperlosen Kopf seines Vaters in die Augen zu sehen. Das ist real, ermahnte er sich. Das ANDERE war nur eine Illusion. Ausgerechnet in diesem Moment erschlaffte eines von Sarutobi Hiruzens Lidern und schloss das linke Auge endgültig. Es sah aus, als würde der gefallene Hokage seinem Sohn noch ein letztes Mal zuzwinkern: Viel Glück mit diesem Albtraum, mein Junge. Ich hoffe, ihr überlebt. (Hunderte Tonnen von Fels, Beton und Stahl machen Konohas Evakuierungstunnel zu einer uneinnehmbaren Festung. Heute Abend sind sie ein Gefängnis.) (Ein Grab.) (Ja, in der Tat – ein Grab.) (Sie sind ihm schutzlos ausgeliefert.) Asuma schauderte: er hatte darauf bestanden, dass Mihana sich mit Konohamaru in Sicherheit brachte. In Wahrheit hatte er sie in den Tod geschickt. „Mörder“, hörte er sich sagen und brach damit endlich das entsetzte Schweigen. „Dann warst du es damals also doch“, setzte Hiashi nach. Das Zittern in seiner Stimme verwandelte sich in ein dunkles Donnergrollen. „Gib es endlich zu!“ Fugaku zuckte nur mit den Schultern. „Euer Urteil ist doch schon lange gefallen. Als ob es da tatsächlich eine Rolle spielt, was ich damals getan habe und was nicht.“ „Du leugnest es also immer noch?“ Shibi schüttelte verständnislos den Kopf. Eine ungewohnt energische Geste für den Aburame, wie Asuma fand. „Nicht mal jetzt rückst du mit der Wahrheit heraus?“ Fugaku lachte auf. „Die Wahrheit? Du willst die Wahrheit hören? Okay, hier ist sie: Wahrheit ist das, was alle glauben.“ Asuma täuschte sich vermutlich, aber einen kurzen Augenblick glaubte er zu sehen, wie Fugaku gequält, aufrichtig gequält, das Gesicht verzog. „Die sogenannte Gemeinschaft dieses Dorfes hat die Uchiha doch schon lange verstoßen. Und sie lässt keine Gelegenheit aus, uns das spüren zu lassen. Seid euch also einer Sache bewusst: alles, was in den vergangenen sieben Jahren zwischen den Uchiha und Konoha geschehen ist, hat dazu geführt, dass wir heute Abend hier sind.“ „Wichser!“ Obwohl Tsumes Kopf immer noch schlaff auf Chōzas Schulter lehnte, kam ihr das Wort dieses Mal ganz leicht über die Lippen. Fugaku ließ sich nur zu einem müden Lächeln herab. „Du wirst verstehen, was ich meine, wenn ihr heute Nacht erfahrt, wie sich Machtlosigkeit anfühlt: wer sich nicht beugt, bricht.“ Da schossen Asuma ein paar hässliche Wörter durch den Kopf: Verwüstung, Vernichtung, Dezimierung. Worte, die für gewöhnlich nur im Krieg Verwendung fanden. Ist es das? Asuma schielte zu Shikaku. Ein Angriff mit vier Figuren kann nicht schief gehen, was? Kyuubi ist die dritte, das steht fest. Und die letzte wird das sein, was die Ninja Konohas ausmacht; der Wille des Feuers: er soll brechen! „Worauf wartest du dann noch?“, zischte Asuma. „Na los, mach' schon! Beschwör' deinen Samurai. Entfessle den Neunschwänzigen. Du hast schließlich dafür gesorgt, dass unsere Leute eine Katastrophe erwarten, nicht wahr? Also, nur zu. Dieses Mal wirst du sie nicht so kalt erwischen wie bei deinem letzten Versuch. Greif' an! Greif an mit allem, was du hast, und sieh zu, wie Konohas Ninja ein Mal mehr über sich hinaus wachsen! Wir werden taumeln, aber ganz bestimmt nicht brechen.“ Hey-hey, flötete eine Stimme in Asumas Kopf, noch während er sprach. Ich glaube, bei Ihnen knallen gerade ein paar Leitungen durch, Herr Sarutobi. - Vermutlich. Aber das ist doch gut. Immerhin haben wir's mit 'nem Durchgeknallten zu tun. In der Tat, Sarutobi-san, in der Tat. Weitermachen. - Hai! Zigarette? - Halt' die Klappe. „Gesprochen wie ein wahrer Hokage“, bemerkte Fugaku jedoch nur trocken, während er Tekka und Inabi zuzwinkerte. Die klatschten Beifall. „Klingt als sei gerade der Geist deines Vaters in dich gefahren“, meinte Inabi. „Der hat nämlich so was ähnliches gesagt, als unser Taichō ihn – na ja...“ Tekka tauschte einen Blick mit Inabi, bevor er mit dem linken Zeigefinger eine waagrechte Linie über seinen Hals zog und dabei „Krrrrk“ machte. Asuma bekam große Lust, diesem Scheißkerl den Zeigefinger abzuscheiden. Damit ich ihn dir in den Arsch stopfen kann! „Ich werde dir jetzt dasselbe sagen wie deinem Vater kurz vor seinem Tod.“ Fugakus Lächeln wurde wieder etwas munterer. „Wenn ich mit allem angreife, was ich habe, ist es vorbei. Von Konoha wird nichts weiter übrig bleiben, als der Wind, der über seine Trümmer weht.“   XV Welcome to my nightmare Welcome to my breakdown I hope I didn't scare you That's just the way we are, when we come down We sweat and laugh and scream here 'Cause life is just a dream here [Welcome to my Nightmare – Alice Cooper] „Von Konoha wird nichts weiter übrig bleiben als der Wind, der über seine Trümmer weht.“ (So ein furchtbarer Traum.) Von all dem Schrecklichen, was jener Nacht folgte, verankerte sich vom Morgen danach eines besonders fest in Amayas Gedächtnis: bunte Flecken von gebrochenen Lichtstrahlen. Sie schimmerten auf weißem Keramik und waren das erste, was sie sah, als sie zuhause auf dem Badezimmerfußboden zu sich kam – neben der Toilette, geblendet von gleißendem Licht, das ihre Nase kitzelte. „Hatschi! Hatschi! Hatschi!“ Das Niesen stach irgendwo tief in ihrer Brust. Hinter ihren Zähnen sammelte sich... Speichel; genug, um ihre Lippen zu benetzten. Er schmeckte nach Salz und Metall. (So ein furchtbarer Traum.) Mit den tauben Fingern ihrer rechten Hand fuhr Amaya sich über den Mund. Zwischen blinzelnden Lidern, die immer noch vor dem blendenden Licht zurückzuckten, sah sie hellrote Tropfen auf ihren Kuppen kleben. Blut. Das ist nur ein bisschen Blut. Und erst nachdem sie die Hand wieder sinken ließ, wuchs allmählich ihr Bewusstsein dafür, wie hundeelend sie sich tatsächlich fühlte: in ihrem Magen rumorte es schmerzhaft, sie fror und nicht nur die Finger ihrer rechten Hand, sondern alles südlich ihrer Schultern schien taub und wie versteinert. Ganz zu schweigen von dem Druck, der auf ihrer Brust lastete. (So ein furchtbarer Traum.) Ich habe geträumt, dachte Amaya benommen; zu benommen, um in ihrem Kopf die Frage zu formulieren, warum sie ausgerechnet im Badezimmer zu sich kam oder weshalb sie überhaupt das Bewusstsein verloren hatte. So ein furchtbarer Traum... Das letzte, woran sie sich wirklich noch erinnerte war das rauschende Wasser in der Toilette, als sie sich die Hose hochzog. Sie erinnerte sich an einen flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster... Die Dunkelheit jenseits der Scheibe, bevor-... Bevor, was?! (Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben. Dunkelheit...) Die Bilder blitzten stroboskopartig durch Amayas Gedanken. Zu schnell, um auch nur eines davon klar zu erkennen. (Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben. Dunkelheit...) Der Schwindel setzte ein. Amaya stöhnte und kniff die Augen zusammen: hinter ihrer Stirn flimmerte die mentale (Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben. Dunkelheit...) Diashow weiter. Alles auf Anfang. (So ein furchtbarer Traum.) Noch mal. (Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben.) Dunkelheit... Sternenhimmel--- ja, der klare Sternenhimmel, über den ein düsterer Schatten (einer von neun) hinweg fegte – das war das letzte, wirklich das allerletzte, woran Amaya sich erinnerte. Sie riss die Augen auf, fuhr hoch und stöhnte vor Schmerz auf: Ich habe nicht geträumt! Definitiv nicht. Denn da, wo eigentlich graumelierte Fließen, ein Fenster mit hochgezogenem Bambusrollo und eine Badewanne, vor allem aber eine Wand, sein sollten, war nichts mehr, was Drinnen von Draußen trennte. Und Draußen hatte nichts mehr mit der Straße gemein, durch die Amaya gestern noch gegangen war. Sie dachte bei sich, dass so die Welt aus der Sicht einer Puppe aussehen musste, die im Regal eines (unordentlichen) Kinderzimmers saß; wenn Kuscheltiere mit ihren blinden Glasaugen zwischen Bauklötzen von umgestoßenen Türmen verteilt lagen, Unterhosen vor sich hin muffelten und Buntstifte über Kritzeleien von Strichmännchen, Häusern und Blumen kullerten. Mit schwerfälligen Bewegungen rappelte Amaya sich auf. Ihre Glieder antworteten mit einem schmerzhaften Knacksen in Knie- und Sprunggelenken. Der Druck auf ihrer Brust schien noch schwerer zu wiegen als zuvor und ein frischer Schwall des salzigen, metallischen Speichels (Blut. Das ist Blut, verdammt noch mal!) füllte ihre Mundhöhle. Sie schluckte ihn herunter und trat an den Rand des (Regals) Badezimmers. Der Boden knarzte unter ihrem Gewicht und schwang bei jedem Schritt mit. Scherben von Fließen, Glas und Keramik knirschten unter ihren nackten Füßen. Beinahe glitt sie auf einem schleimigen Film Shampoo aus, der aus einer zerbrochenen Flasche quoll. Für einen kurzen Moment umhüllte der Geruch von Jasmin sie so stark, dass ihr beinahe schlecht wurde. („Von Konoha wird nichts weiter übrig bleiben als der Wind, der über seine Trümmer weht.“) Shu-huuu, machte der Wind, als er mit einer kurzen, kalten Böe einmal durch die Hausruinen (das Kinderzimmer!) fegte. Brauner Dunst stob von den Trümmern (dem Spielzeug, liebe Freunde, dem Spielzeug: umgestoßene Bauklotztürme!) auf. Direkt unter ihr lag die vermisste Badewanne – zerbrochen und halb versunken im Schutt der zerbröckelten Hausfassade. Zum Westen hin war das Gebäude nun nackt. Doch das war etwas, woran Amaya sich später nicht mehr erinnern würde. Bunte Lichtflecken und ein (unordentliches) Kinderzimmer – das waren die Bilder, die sie im Gedächtnis behielt. Für ihren Verstand vermutlich die einzige Möglichkeit, mit dem Grauen des Morgens danach fertig zu werden. Sie machte einen Schritt nach vorne und ließ sich über die Badezimmer(Regal)kante fallen. Nicht sehr tief, weil sich der Schutt der zerstörten Westfassade zu einem losen Hügel aufschichtete. Sie schlitterte an seiner Flanke hinab. Ihre Fersen frästen Rinnen in das Geröll. Scharfe, hervorragende Kanten zerschnitten ihr die Haut. Amaya spürte den Schmerz, aber er schien bedeutungslos. Mit jedem Zentimeter, den sie der Straße entgegen glitt, tauchte sie tiefer in diesen surrealen Traum ein, zu dem die Grausame Wirklichkeit und ihre Trotzige Fantasie mutierten. So spürte sie keine Erde, als ihre Füße die Straße berührten, sondern weiche Teppichflusen. Ziegel- und Zementblöcke wurden zu Bauklötzen, Scherben zu funkelnden Murmeln, Blut zu bunten Lichtflecken und Leichen zu Teddybären. Nur die grauen Planen, die in sorgfältigen Reihen den Weg säumten, blieben was sie waren: graue Planen, unter denen sich die Konturen menschlicher Gestalten abzeichneten. Die versteckten das wahre Grauen schließlich schon und so gut Amayas Fantasie den sichtbaren Horror auch zu verschleiern wusste, so machtlos war sie gegen den maskierten: es stand außer Frage, was (wen!) die grauen Planen verbargen... Und es gab kein Bild, das stark genug wäre, dieses Wissen zu übertünchen. Eine der grauen Planen fiel besonders auf: den Konturen nach zu urteilen war der Mensch, den sie verbarg deutlich kürzer als alle anderen Verdeckten. Ein Kind. Möglicherweise Hana von gegenüber. Zwischen den grauen Planen trotteten die Überlebenden umher: sie waren wie Puppen, die von ihren Regalbrettern gestürzt waren, und genauso leblos schauten sie auch drein, während sie ziellos Murmeln auflasen, Bauklötze auf Haufen warfen und Teddybären über den Teppich schleiften. Obwohl Amaya die meisten der Gesichter kannte, wirkten sie fremd und abstoßend, geradezu furchteinflößend. So wie es eigentlich nur in Albträumen üblich ist. Denn fast konnte sie es sehen; die Flügelschrauben zwischen den Schulterblättern. Damit Puppen funktionierten, musste man sie aufziehen. Amaya achtete nicht darauf, wohin sie ging (Wer hat mich aufgezogen?), sodass ihren Füßen mit einem Mal die Straße (der Teppich) abhanden kam. Sie stürzte und glitt dabei bäuchlings über einen Film schleimiger Feuchtigkeit. Ein wirrer Gedanke (Die Farben schreien) huschte durch ihren Kopf. Wieder roch sie Jasmin. Und wieder wurde ihr schlecht. Benommen von Jasminduft und ihrer Übelkeit, drehte sie sich mit plumpen Bewegungen im Sitzen herum. Sie war über einen Teddy gestolpert: die Naht zwischen den Beinen des Kuscheltieres war aufgerissen, sodass seine Wattefüllung hervor quoll. Sie berührte Amayas Zehen. Es kitzelte. Ekelhaft! Und der Ekel verstärkte ihre Übelkeit. „Hey, du lebst ja noch.“ Die Berührung an ihrer Schulter erfolgte so unerwartet, dass Amaya atemlos aufschrie, wieder herumfuhr, gleichzeitig zurück wich und sich so mit den Händen in der weichen Teddyfüllung abstütze. Ihr Bewusstsein setzte sich nur noch aus sehr knappen Gedanken zusammen: Vor ihr stand Tsume. Tsumes Lippen bewegten sich. Kein Ton. Nur Rauschen. Auf dem Rücken trug Tsume ihren Sohn. Ein Baby. Drei Monate alt. Der Junge trug den Namen... Backenzahn? Nein, das war es nicht... „Das ist eine ganze Menge Blut, Mädchen. Bist du verletzt?“ Amaya sah an sich hinunter: an ihrer Körperfront – von der Brust bis zu den Schienbeinen – klebten bunte Lichtflecken. Sie schimmerten auch auf der Lache, in der sie kniete. „Über uns ist nur der Himmel“, murmelte sie. „Wie können sich die Strahlen da brechen?“ „Was hast du gesagt? Ich versteh' dich nicht.“ „Das Licht. Ich weiß nicht, wie-... Irgendwo muss doch Glas sein. Oder Regen.“ Amaya suchte den Himmel ab. „Vielleicht sind es auch die Murmeln...“ „Murmeln?“ Tsume gluckste... nervös? ...ängstlich? „Du fantasierst, Kleine. Ich glaub', es wäre besser, wenn du dich hinlegst.“ Mit der rechten Hand stützte Tsume das Baby auf ihrem Rücken und drückte Amaya mit der anderen sanft an der Schulter zu Boden. „Hana-chan, Amaya braucht Hilfe. Hol' schnell einen Sanitäter her! Na, mach' schon, hopp!“ Die graue Plane. Der kurze Mensch darunter. „Hana ist tot.“ „Nein, nein – Hana ist gesund und munter. Um dich mache ich mir gerade mehr Sorgen.“ Schatten. „Hey – wach' bleiben! Okay?“ So schläfrig... (Salz und Metall.) Die Schatten verdichteten sich zu Nebel. Nur ein bisschen schlafen... „Du sollst wach bleiben, habe ich gesagt!“ Etwas klatschte gegen Amayas Wange. Halbherzig schlug sie die Augen wieder auf und scheiterte am Versuch, durch den Nebel zu blicken. Stattdessen würgte sie nur einen weiteren Schwall ihres zähen Speichels hoch. Der Druck auf ihrer Brust wurde allmählich unerträglich. Als Amaya zu sprechen versuchte, entkamen ihrer Kehle zunächst nur gurgelnde Laute (irgendwas Feuchtes triefte über ihr Gesicht und floss in ihre Ohren), bis ihr Mund endlich Worte formte: „Meine Mutter... Sie war auch Zuhause... Hast du sie gesehen?“ (Hana ist gesund und munter.) (Sana ist gesund und munter.) Tsume schwieg. Lange genug, damit selbst Amayas schläfriger Verstand schlussfolgern konnte, was dieses Schweigen aussagte: „Sie ist tot... Ja... ja, das ist sie. Wenn... es ihr gut ginge... oder... es zumindest... Hoffnung gäbe... hättest du's schon gesagt... Oder?“ „Darüber reden wir, wenn es dir besser geht.“ Diesmal gluckste Amaya. Würde es ihr denn wieder besser gehen? „Sag' es einfach. Ich bin doch sowieso schon-...“ was? So gut wie tot? Es fühlte sich so an. „Bitte, Tsume. Sag' es. Dann kann ich meine Kraft darauf verwenden am Leben zu bleiben, anstatt sie für Zweifel zu vergeuden...“ Tsume seufzte. „Es tut mir sehr leid. Wirklich. Weißt du, als der Neunschwänzige-“ Richtig! Bei dem flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild im Fester hatte Amaya das Monster in der Dunkelheit jenseits der Scheibe gesehen – irre, blutunterlaufene („Euer Haus wurde ziemlich in Mitleidenschaft gezogen.“) Augen lachten sie aus der Finsternis heraus an. Sie rollten wild hin und her; drohten („Sana wurde verschüttet.“) mit grausamen Tod. Dann grinste es; grinste mit („Ein Balken hat sie... Na ja.“) der Verschlagenheit eines Wahnsinnigen und seine blanken Zähne quollen zwischen schwarzen Lefzen hervor. („Jedenfalls haben wir ihre Leiche vor etwa zwanzig Minuten geborgen...“) Bis dahin hatte Amaya es noch für Einbildung gehalten, einen jener Halbschlaf-Träume. Doch als die Erscheinung nicht verschwand, hatte sie das Fenster geöffnet und in die Dunkelheit gespäht: dort zeichneten sich die Umrisse eines riesigen Kopfes ab, der mit angelegten Ohren zwischen einem Paar sehniger Schultern saß. In Amayas Erinnerung öffnete das Ungeheuer sein Maul, um zu knurren. Die Schallwellen dieses Knurrens trafen in Form eines sanften, warmen Luftzugs auf ihr Gesicht, schwanger mit dem süßlichen Gestank von Fäule und Verwesung. Erst dann: Peitschende Schweife. Erdbeben. Flackerndes Licht. Berstende Scheiben. Dunkelheit. Sternenhimmel, über den ein düsterer Schatten (einer von neun) hinweg fegte. Allmählich vervollständigte sich das Bild. „Jun übersteht das nicht, wenn ihr ihn beide verlasst. Deshalb musst du durchhalten. Okay?“ „Okay.“ Der Nebel zog inzwischen so enge Kreise um Amayas Verstand, dass sie Tsumes Gesicht nur noch als rosigen Fleck mit grauen und braunen Sprenkeln erfasste. Okay... Ihre Gedanken drifteten ab. Zurück zur grauen Plane, den Konturen darunter; diesem deutlich kürzeren Menschen. Kürzer, nicht kleiner – sie hatte kürzer gedacht. Warum? Warum kürzer und nicht kleiner? Amaya kannte die Antwort. Da war mehr... Manchmal sind Wahrnehmung und Bewusstsein zwei heimtückische Mistkerle, die mit allen Mitteln den Verstand sabotieren, den sie bewohnen: Amaya wusste, dass sie es gesehen hatte. Aber es fiel ihr erst jetzt auf: die violetten Haarspitzen, die unter der Plane hervorblitzten. Erst jetzt einigten sich Wahrnehmung und Bewusstsein darauf, den Verstand mit diesem grausamen Detail zu konfrontieren. Euer Haus wurde ziemlich in Mitleidenschaft gezogen, säuselte Wahrnehmung. Sana wurde verschüttet, setzte Bewusstsein nach. Ein Balken hat sie... Und beide im Chor: Halbiert! Hörst du? Der Balken hat deine Mutter halbiert! Wahrnehmung verstellte ihre Stimme, sodass sie klang wie eine grausige Karikatur von Tsume: Jedenfalls haben wir ihre Leiche vor zwanzig Minuten geborgen... Bewusstsein kicherte. Nein, nein – nicht ihre Leiche... Ihren Oberkörper, Maya-chan, nur ihren Oberkörper! Der Rest wurde von dem verschlungen, was gestern noch dein Zuhause war. Sie kreischten vor Lachen. Was für ein gelungener Streich! Was für ein gelungener Streich! Lach' doch, Mädchen, lach'! Vielleicht ist das deine letzte Gelegenheit. Nur Ohnmacht konnte die beiden zum Schweigen bringen... Es sollten sieben Jahre vergehen, ehe Amaya das komplette Ausmaß des Entsetzten jenes Augenblickes, jenes Morgens zu spüren bekam: Kami! Ich habe keinen Jasmin gerochen. Es war Verwesung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)