For the World Is Hollow and I Have Touched the Sky von Morwen ================================================================================ Kapitel 47: Leliana ------------------- Der morgendliche Wachwechsel fand gerade statt, als Leliana die Stufen des Rundturms hinaufstieg. „Mylady“, sagte einer der Wachposten und nickte ihr zu, als sie ihn auf der Treppe passierte. Leliana erwiderte die Geste knapp, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Gibt es Neuigkeiten?“, fragte sie einen ihrer Spione, als sie das oberste Zimmer erreichte. „Vier neue Nachrichten, Mylady“, erwiderte der junge Mann. „Zwei aus Nevarra, eine aus Tevinter... sowie eine Nachricht von Serah Hawke und Loghain.“ „Gebt sie mir“, sagte Leliana ruhig und streckte die Hand aus. Er beeilte sich, ihrer Bitte Folge zu leisten, und einen Moment später überflog Leliana die auf schmalen Pergamentstreifen verfassten Nachrichten. Die Briefe aus Tevinter und Nevarra enthielten keine neuen Informationen, sondern bestätigten nur ihre Vermutung bezüglich eines Komplotts der Venatori gegen den nevarranischen König. Sie würde ihre Erkenntnisse am späten Nachmittag der Inquisitorin sowie den restlichen Beratern mitteilen und versuchen, mit ihnen eine angemessene Lösung für das Problem zu finden. Es war Hawkes Nachricht, die ihr Interesse weckte. Wie es schien, waren sie, Loghain und Varric auf eine vielversprechende Fährte gestoßen, die die Inquisition zu den verschwundenen Wächtern führen würde. Aufgrund der vielen Risse und der großen Anzahl von Dämonen in den Westgraten war es ihnen jedoch unmöglich, sie weiter zu verfolgen. Auch ihr Bericht über fragwürdige Rituale und eine mögliche Einmischung der Venatori erfüllten Leliana mit Besorgnis. Sie sah von der Nachricht auf. „Teilt Serah Hawke mit, dass wir unverzüglich mit den Reisevorbereitungen beginnen und innerhalb der nächsten zwei Tage Verstärkung schicken werden“, wies sie ihren Spion an. Sie überlegte kurz. „Sagt ihr außerdem, dass sich die Inquisitorin persönlich der Sache annehmen wird. Haben wir die Risse in dieser Region erst einmal geschlossen, wird es ein Leichtes sein, die Wächter ausfindig zu machen.“ Der Mann nickte und machte sich sofort daran, ein Antwortschreiben zu verfassen. Leliana wandte sich ab. Im Laufe der nächsten Stunden würden weitere Berichte eintreffen, doch bevor sie sich an die Arbeit machte, würde sie sich ein kleines Frühstück genehmigen – sowie einen Moment der Ruhe in der Kapelle der Festung.   Kurz vor Sonnenaufgang war Leliana oft die erste, die am Morgen zum persönlichen Gebet die Kapelle betrat. Hin und wieder begleitete sie Cassandra, manchmal auch Cullen, doch oft war sie bereits vor den anderen Beratern wach. An diesem Morgen war sie jedoch nicht die einzige Person in der Kapelle.      „Mylady Lavellan“, sagte sie und konnte ihre Verwunderung nicht ganz verbergen. Obwohl sie auch jetzt noch oft als Heroldin Andrastes bezeichnet wurde, war die Inquisitorin nie eine gläubige Person gewesen, und Leliana konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals hier gesehen zu haben. Die junge Elfe zuckte kurz zusammen, als sie ihren Namen hörte, dann drehte sie sich zu Leliana herum. „Verzeiht“, sagte sie. „Ich habe Euch nicht eintreten hören.“ Leliana machte jedoch nur eine wegwerfende Handbewegung und schenkte der anderen Frau ein kurzes Lächeln, bevor sie neben ihr vor dem Altar niederkniete und zu der Statue der Prophetin aufsah. Dutzende von Kerzen waren zu Füßen Andrastes aufgestellt, von denen mittlerweile jedoch nur noch wenige brannten. Bald würden die Priesterinnen kommen, um die alten Kerzen durch neue zu ersetzen, damit das Feuer nicht erlosch. Leliana rechnete halb damit, dass die Inquisitorin das Wort an sie richten würde, doch Lavellan schwieg, tief in Gedanken versunken, und so zog Leliana schließlich ihre Kapuze zurück, neigte den Kopf und schloss die Augen, bevor sie zu beten begann. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie die Zeilen aus dem Gesang des Lichts rezitierte, die sie schon seit so vielen Jahren begleiteten und ihr in so vielen schwierigen Momenten Kraft gegeben hatten. Leliana hatte schon vor langer Zeit aufgehört, Andraste um Vergebung für ihre Sünden zu bitten. Sie hatte akzeptiert, dass sie die Vergangenheit nicht rückgängig machen konnte – dass sie nicht denen das Leben zurückgeben konnte, die sie geopfert hatte, um Schlimmeres zu verhindern. Mittlerweile betete sie nur noch, dass der Preis, den sie und die Inquisitorin für die vielen unmöglichen Entscheidungen, die sie jeden Tag trafen, bezahlen mussten, den Ausgang dieses Krieges wert war. Schließlich hob Leliana wieder den Kopf und sah zu der ewig jungen, gütig lächelnden Marmorstatue auf, und wie jeden Morgen nach ihrem Gebet war ihr etwas leichter ums Herz. Sie erhob sich schweigend und wandte sich zum Gehen, als die leise Stimme der Inquisitorin sie innehalten ließ. „Darf ich Euch etwas fragen?“ Lavellan sah sie nicht an, doch ihre angespannte Körperhaltung verriet, dass sie sich danach sehnte, sich jemandem anzuvertrauen. Leliana überlegte kurz, dann trat sie auf die andere Frau zu und setzte sich hinter ihr auf eine der hölzernen Bänke. „Gewiss“, sagte sie. Lavellan gab ein erleichtertes Seufzen von sich, bevor sie sich vom kalten Boden erhob und sich ebenfalls auf die Bank setzte. „Womit kann ich Euch behilflich sein?“, fragte Leliana, nachdem wieder Stille eingekehrt war. Lavellan sah auf ihre Hände hinab, die sie im Schoß gefaltet hatte. „Sagt...“, begann sie schließlich leise. „Zweifelt Ihr manchmal an der Richtigkeit Eurer Entscheidungen?“ Leliana legte nachdenklich den Kopf zur Seite. Worauf auch immer die junge Frau hinauswollte, es schien ihr sehr ernst zu sein. Sorgfältig legte sie sich ihre nächsten Worte zurecht. „Jeden Tag“, erwiderte sie. „Ich erlaube den Zweifeln nicht, mich zu beherrschen, sonst wäre ich nicht in der Lage, meine Arbeit zu machen, aber... sie sind da, ja.“ Lavellan nickte nur, als würde sie diese Antwort nicht überraschen. Dann fuhr sie fort: „Und was ist mit denjenigen, denen Ihr Euer Vertrauen schenkt? Habt Ihr manchmal Bedenken, dass sie dieses Vertrauen auch wert sind...?“ Leliana spürte, dass sie sich allmählich dem Kern der Sache näherten. „Ich kann nicht in die Seelen der Menschen schauen“, erwiderte sie und sah zu Andraste auf. „Doch wenn ich ein gutes Gefühl bei ihnen habe, wenn sie sich als zuverlässig erweisen und mir keinen Anlass geben, ihnen nicht zu trauen... dann ist das eine Menge wert.“ „Und wenn...“ An dieser Stelle stockte Lavellan plötzlich und rieb sich seufzend das Gesicht. „Verzeiht“, sagte sie. „Ich weiß, diese Frage ist sehr persönlich, aber...“ „Fragt nur“, ermutigte Leliana sie. Die Inquisitorin nickte schließlich. Dann stellte sie ihre letzte Frage: „Und wenn diese Person jemand ist, den Ihr liebt?“ „Ah“, machte Leliana und schwieg. Es ging also um Liebe. Und Liebe machte immer alles komplizierter, war es nicht so...? Sie dachte einen Moment nach, dann steckte sie ihre Hand in die Tasche ihrer Robe und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier daraus hervor, das an den Rändern schon vergilbt war. Lavellan starrte fragend darauf hinab, als sie es ihr reichte, doch nachdem Leliana ihr ermutigend zugenickt hatte, begann sie schließlich zu lesen. Mehrere Minuten vergingen in völliger Stille, und als die junge Frau den Brief wieder sinken ließ, zitterten ihre Hände. „Was ist das?“, stieß sie mit rauer Stimme hervor. „Ein Abschiedsbrief“, sagte Leliana leise und nahm den Brief wieder an sich, bevor sie ihn zusammenfaltete und zurück in ihre Tasche steckte. „Von der Frau, die ich einst liebte. Sie gab ihn mir am letzten Abend vor ihrem Tod.“ „Elissa Cousland war Eure Seelengefährtin?“, fragte Lavellan ungläubig. Leliana lächelte schwach. „Seltsam wie sich das Schicksal manchmal fügt, nicht wahr...?“ Sie lehnte sich zurück. „Ihr wollt wissen, ob es ratsam ist, jemandem zu lieben – jemanden so nah an Euch heranzulassen, der Euch und all Eure Schwächen kennt – wenn das Schicksal so vieler von Euch abhängt“, fuhr sie ruhig fort. „... ja“, wisperte Lavellan. „Ich kann Euch diese Frage nicht beantworten, Mylady. Letztendlich könnt Ihr viele Dinge, die passieren, nicht beeinflussen. Ob diese Liebe Euch Kraft geben oder Euch zerstören wird, hängt darum am Ende einzig und allein von der Stärke Eures Herzens ab.“ Leliana legte die Hand auf die Tasche, in der der Brief ruhte. „Manchmal gibt es Tage, an denen sie mir so sehr fehlt, dass ich ohne ihre Worte nicht aufstehen könnte“, sagte sie leise. „Und manchmal hasse ich sie so sehr dafür, dass sie mich zurückgelassen hat, dass ich den Brief zerreißen möchte.“ Sie wandte Lavellan das Gesicht zu. „Doch könnte ich ihr erneut zum ersten Mal begegnen – selbst mit dem Wissen, wie es später enden würde – ich würde alles genauso machen.“ Sie musterte die andere Frau aufmerksam. „Seid ehrlich zu Euch selbst: was sagt Euch Euer Gefühl? Glaubt Ihr, dass Ihr Solas trauen könnt, Eure Liebe zu ihm nicht zu missbrauchen?“ Lavellans Blick flackerte, während sie sie ansah, und nach einer Weile senkte sie den Kopf, als könnte sie den bohrenden Blick nicht länger ertragen. „Da habt Ihr Eure Antwort“, sagte Leliana leise, Mitgefühl in ihrer Stimme. Sie erhob sich von ihrem Platz und warf Andraste einen letzten Blick zu. „Ich weiß, es ist ein schwacher Trost, aber... solltet ihr weiter darüber reden wollen, wisst Ihr, wo Ihr mich findet.“ Sie nickte Lavellan kurz zu, bevor sie sich abwandte und endgültig die Kapelle verließ.   Nachdem sie in den Garten hinausgetreten war, blieb Leliana stehen und zog erneut den Brief aus ihrer Tasche. Sie kannte seinen Inhalt auswendig, und doch war es immer noch etwas anderes, ihn in den Händen zu halten. Ihr Blick fiel wie von selbst auf eine der letzten Passagen.   ... ich weiß, was du denkst. Ich weiß, dass, wenn der morgige Tag vorüber ist, ein Loch in deiner Seele klaffen wird, das nichts und niemand zu füllen vermag, und dass du mit dem Gedanken spielen wirst, dir das Leben zu nehmen. Und ich weiß auch, wie egoistisch es von mir ist, dich darum zu bitten, es nicht zu tun. Es ist mein letzter und zugleich am schwersten erfüllbarer Wunsch an dich: dem Drang nicht nachzugeben, der Welt endgültig den Rücken zu kehren. Denn du hast ihr noch so vieles zu bieten. Du bist der wunderbarste, humorvollste, talentierteste und mitfühlendste Mensch, der mir je begegnet ist – und ich weiß, dass du es auch dann noch sein wirst, wenn ich nicht mehr hier bin. Darum bitte ich dich: gib nicht auf. Denn wer, wenn nicht du, soll die Barden korrigieren, wenn sie dereinst Lieder über unsere Abenteuer singen...?   Leliana schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Als sie sie wieder öffnete, hatte sie ihre Gesichtszüge – und ihre Gefühle – wieder unter Kontrolle. Sie zog ihre Kapuze über den Kopf und setzte ihren Weg fort. Es gab viel zu tun. Und wie es aussah, würde sie von nun an auch ein Auge auf Solas werfen müssen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)