Wege des Schicksals von Saph_ira (Oder eine kleine Zusatzstory zu "Schicksalswege") ================================================================================ Kapitel 2: Notre Dame de Paris ------------------------------ „Es tut mir leid, Emilie, aber deine Eltern sind nicht hier.“   Das war wohl zu erwarten. Emilie fragte nicht, wo sich ihre Eltern im Moment aufhielten, denn das konnte sie sich auch so denken. Seit einer Woche wohnten sie bei Rosalie und Bernard, die schon seit mindestens zwanzig Jahren zu sehr guten Freunden ihrer Eltern zählten. Und jeden Tag gingen sie zu Jean, einen gutem Jugendfreund ihres Vaters, um die Geschäfte zu überprüfen. Nach dem Sturm auf Bastille vor guter sechzehn Jahren und als sie noch nicht auf der Welt war, waren ihre Eltern alle aus Paris zu Jean nach Aquitanien geflohen. Die danach ausgebrochene Revolution war grausig, schrecklich und hatte viele unschuldige Opfer gekostet. Kein Mensch erinnerte sich gern daran. Aber nun war die Revolution, mit ihrer Terrorherrschaft seit etwa sechs Jahren vorbei und Jean kam wieder nach Paris, um sein Geschäft – ein Gasthof, erneut zu eröffnen und Emilies Eltern halfen ihm dabei. Bisher lief soweit alles reibungslos. „Cathy! Wir gehen zu dir!“, beschied Emilie sie neckisch und verabschiedete sich schon von Rosalie. „Wir sehen uns später.“       „Seit wann bestimmst du, wo wir hingehen?!“, Catherine war noch immer leicht über das merkwürdige Verhalten ihrer Freundin und Milchschwester angesäuert.   „Ich bestimme nicht, sondern ich muss so schnell wie möglich zu meinen Eltern!“ erwiderte Emilie knapp und beschleunigte ihren Schritt. Jeans Wirtshaus befand sich nicht weit von dem Wohnhaus, wo Rosalie und Bernard wohnten, aber leider waren ihre Eltern auch bei Jean nicht. „Wo sind sie denn hin?!“   „Sie wollten zu Notre Dame.“, sagte Alain - auch ein guter und langjähriger Freund der Familie Grandier wie Jean, stellte ein schweres Fass auf dem Boden ab und fuhr sich über die Stirn. Der Tag ging zwar zu neige und die untergehende Sonne berührte schon den Horizont, aber die Sommerhitze ließ noch nicht nach.   „Danke.“, Emilie schürzte ihre Röcke und war wieder fort. Eigentlich durfte sie nicht ohne Begleitung durch so eine große Stadt laufen – schon alleine wegen der Vergangenheit ihrer Eltern, aber die Begegnung mit dem alten Mann auf dem Marktplatz ließ sie all die Vorsicht in den Wind schlagen.   „Sag deinen Eltern, dass die Weinlieferung eingetroffen ist!“, rief Alain ihr noch nach, aber Emilie hörte ihn in ihrer Eile gar nicht mehr richtig zu. Sie musste so schnell wie möglich zu ihren Eltern! Sie würde nicht lange aushalten, auf sie zu warten und deshalb musste sie einfach zu ihnen!   „Sie ist heute anders als sonst...“, bemerkte Jean und seine Tochter, Catherine, die zurückgeblieben war, erzählte ihm und Alain von der Begegnung mit dem eigenartigen Mann auf dem Markt, bevor sie zu ihrer Mutter in die Küche ging, um ihr beim Zubereiten des Abendbrotes zu helfen.   „Ich ahne nichts Gutes...“, Alain runzelte missmutig die Stirn, ging jedoch nicht weiter darauf ein und half seinem Freund beim ausladen der Weinfässer, die gerade eben geliefert wurden.           - - -             Notre Dame de Paris...   Emilie erklomm die unzählige Stufen und hoffte insgeheim, dass sie den richtigen Turm gewählt hatte. Endlich die letzte Stufe! Emilie versuchte ihr schnellen Atem zu beruhigen und... Ach, sieh an! Erleichtert atmete sie auf – sie hatte den richtigen Turm erwischt! Und sie ertappte ihre Eltern auch noch in einer tiefen Umarmung! Schamröte schoss ihr sofort in die Wangen, ihre Eltern ausgerechnet in dieser herzzerreißenden Stimmung und beim zärtlichen Kuss zu stören. Sie ging dennoch nicht zurück, sondern kehrte ihnen den Rücken und schritt langsam an den Rand der Mauer, um den Sonnenuntergang besser zu beobachten, bis ihre Eltern genug Liebeleien miteinander ausgetauscht hatten. Das orangefarbene Licht der rotglühenden Sonne breitete sich schon fast über den gesamten Horizont aus und sah von hier noch wunderschöner als von da unten.   „André...“, hörte sie die atemlose Stimme ihrer Mutter. „Wir sind nicht allein...“ „Ich weiß, Oscar...“, flüsterte auch ihr Vater gleich darauf: „Aber das ist nur unsere Kleine...“ „Ich bin nicht klein!“ Emilie wirbelte herum. Sie mochte diese Neckereien nicht mehr, sie war ja bereits sechzehn Jahre alt!   Ihre Eltern lächelten und kamen gemeinsam Händchenhaltend auf sie zu. „Jetzt hast du sie verärgert, Geliebter.“ Oscar schmunzelte dabei – eine Seltenheit, seit sie in Paris waren. In dieser großen Stadt hatte sie immer das Gefühl, ständig auf der Hut zu sein. Kein Wunder, denn sie war früher eine Adlige. Sie hatte als Kommandant des königlichen Garderegiments gedient und im Verborgenen einen Bürgerlichen geliebt... Seinetwegen und um mehr mit ihm zusammen zu sein, hatte sie sich als Befehlshaber in die Söldnertruppe bei Paris versetzen lassen, wo ausschließlich Männer einfacher Herkunft waren. Und als die Revolution losbrach, wechselte sie mit ihrem geliebten André und seinen Kameraden der Söldnertruppe auf die Seite des Volkes und hatte sogar mit ihnen den Sturm auf die Bastille angeführt... Sie wurde von der gegnerischen Besatzung durch Gewehrkugelhagel verletzt, aber wie durch ein Wunder überlebte sie und galt seit dem für ihresgleichen als gestorben...   Oscar wurde plötzlich aus den Gedanken an all ihre Vergangenheit entrissen, als sie ihre Tochter jauchzen hörte. „Papa, lass das!“, brachte Emilie von sich.   „Das vergeht.“ André bezog das auf die Äußerung seiner Frau und zog schwungvoll seine Tochter entgegen ihrer Protesten in seine Arme. „Verzeih, aber du bleibst für immer unsere Kleine... solange du nicht verheiratet bist...“   „Ich werde nur dann heiraten, wenn ich mich verliebe!“, stellte Emilie klar und sträubte sich – sie hatte doch etwas Wichtiges mitzuteilen! Aber im nächsten Augenblick schmiegte sie sich schon an die Brust ihres Vaters – dieser vertrauten Wärme und Geborgenheit konnte sie nicht länger widerstehen... „Ja... ich heirate nur den, dem ich aus tiefstem Herzen lieben werde... so wie du, Papa...“   Oscar verdrehte die Augen. Vielleicht hätte sie lieber ihre Tochter genauso wie ein Mann erziehen sollen, wie es bei ihr war? Denn ihr Vater, ein berüchtigter General und treuer Untertan des enthaupteten Königs in der Revolutionszeit, hatte es so gemacht und seine Tochter seit ihrer Geburt an wie einen Knaben erziehen lassen – nur weil er keinen Sohn hatte... Nein! Oscar schüttete sich, ihre Tochter sollte selbst entscheiden können und wenn sie keine Männerkleider wie ihre Mutter tragen wollte, dann war es ihr überlassen. Sie liebte sie trotzdem wie sie war und war stolz auf sie. So wie auch André, der seine Tochter ganz beherzt an sich drückte und seiner Frau dabei mit seinem liebevollen Lächeln das Herz erwärmte.   „Ich habe Zeit...“, murmelte Emilie und dann schob sie sich aus den Armen ihres Vaters. „Ich habe etwas für dich.“ Sie zog das grüne Haarband aus ihrem Beutel und reichte es ihm.   „Ich danke dir, mein Liebes.“ Andrés Lächeln wurde breiter und er betrachtete die leuchtende Farbe gegen das Licht untergehenden Sonne verzückt.   „Und ich muss euch etwas erzählen...“, Emilie tat es beinahe leid, diese harmonische Stimmung zu unterbrechen, aber früher oder später würde sie das tun müssen! Also warum nicht gleich jetzt? Das wollte sie doch vor kurzem auch tun! Also legte sie die passende Worte zurecht, machte eine Kunstpause um die Spannung etwas zu heben, bis ihre Eltern sie mit Blicken beinahe neugierig aufforderten, endlich zu Sache zu kommen: „Auf dem Marktplatz, an dem Stand, wo ich die Haarschleife gekauft hatte, bin einem Mann begegnet... Nein, sogar zwei Männern...“, korrigierte sie sich auf die Schnelle: „...aber der ältere war ein General und der etwas Jüngere nannte ihn: General Jarjayes...“, Emilie bemerkte sofort, wie sich die Gesichtszüge ihrer Eltern veränderten und sich blanker Schrecken darin abzeichnete. „Haben sie dich gesehen?!“, Oscars gute Laune verwandelte sich schlagartig in Bestürzung. Sie hatte es geahnt, dass es ein Fehler war, nach Paris zurückzukehren! Dennoch hatte sie das aus Liebe zu ihrem Mann getan, weil Paris seine Heimat war und sie gehofft hatte, dass die Vergangenheit sie nicht einholen würde... Das lag doch schon sechzehn Jahre zurück... Nun rächte es sich und zwar an ihrem Kind! Nein, sie würde nicht zulassen, dass ihr etwas zustoßen würde!   Emilie spürte, dass ein Unheil aufkam, ihre feinen Härchen sträubten sich und ihr Körper durchfuhr ein unangenehmer Schauer, aber sie ließ trotzdem keine Details aus. „Ist es wahr, Mutter?“, wollte sie zum Abschluss wissen: „Bin ich wirklich meinem Großvater, deinem Vater begegnet?!“   „Kann schon sein...“, knurrte Oscar und ballte ihre Hände zu Fäusten. Nicht einmal André, der sofort einen Arm um sie legte, konnte sie in diesem Moment vertrösten. „Das war das letzte Mal, dass du in der Stadt warst!“, zischte sie angespannt.   „Aber Mama...“   „Wir reisen morgen ab!“, Oscar traf die erstbeste Entscheidung, die ihr gerade eingefallen war. Sie sah einfach keine andere Alternative, um ihr Kind in Sicherheit zu bringen – Paris kam ihr noch gefährlicher vor, als während der Revolution! „Ich will aber nicht abreisen!“, protestierte Emilie verständnislos. Nun gut, sie verstand schon irgendwo, dass ihre Mutter Gefahr lief, entlarvt zu werden. Aber die Revolution war doch vorbei und es herrschten schon seit Jahren friedliche Zeiten. „Ich will meinen Großvater noch einmal begegnen!“   „Nein!“, ermahnte Oscar mit Nachdruck. Wusste ihr törichtes Kind denn nicht, welcher Gefahr sie sich aussetzte?! „Mein Entschluss steht fest und keine Widerrede!“   Welch eine bittere Enttäuschung...   „Papa, sag du doch etwas!“ Emilie wagte den letzten Versuch, denn ihr Vater war meistens der einzige, der ihre Mutter umstimmen konnte. Wie die Reise nach Paris zum Beispiel, die sie ganz alleine ihm zu verdanken hatte.   „Nun...“, André versuchte so neutral wie möglich zu wirken. Er konnte alle beide verstehen, aber die Anspannung seiner Frau ein Stückchen mehr. „Wir verstehen dich und würden dir gern den Wunsch erfüllen, aber das geht nicht...“, erklärte er seiner Tochter schonend. „Und den Grund kennst du...“   Ja, Emilie kannte die Vergangenheit ihrer Eltern nur zu gut. Besonders Alain ließ es sich nicht nehmen und erzählte alles Mögliche über sie und was sie so alles erlebt hatten. „Ihr lauft also wieder weg...“, entfuhr es Emilie enttäuscht.   „Niemand läuft vor irgendetwas weg!“, schnaubte Oscar beinahe außer sich. Was für eine Anschuldigung und das auch noch aus dem Mund ihrer Tochter?! Was hatte sie nur bei der Erziehung falsch gemacht?   „Doch!“, brauste Emilie auf – ihr platzte der Kragen „Vor allem du Mutter! Warum stellst du dich nicht deiner Vergangenheit und schließt endlich damit ab? Du liebst doch die Herausford...“ Die Ohrfeige brannte höllisch auf ihrer Wange und ließ sie zurücktaumeln.   „Ich verbiete dir, mit mir in diesem Ton sprechen!“, Oscar erhöhte ihre Stimme. Das war das erste Mal, dass sie ihre Tochter geschlagen hatte und das schmerzte sie selbst unerwartet heftig.   „Aber Oscar...“ Auch André war fassungslos.   „Ich hasse euch...“, hörte er die heisere Stimme seiner Tochter hinter sich und sah erschrocken zu seiner Frau. Emilie hielt die schmerzende Wange mit ihrer Handfläche, mit der anderen schürzte sie ihre Röcke und verließ überstürzt den Turm.   „Emilie...“ Oscars Strenge wich von ihr zurück und ihr mütterliches Herz fing schmerzlich an zu stechen. „Ich wollte doch nur...“ Ihre Knie wurden weich, ihr Körper zitterte, als wäre ihr kalt und ihr Mann war sofort bei ihr. Er gab ihr den nötigen Halt und auch wenn er die Ohrfeige nicht nachvollziehen konnte, wusste er jedoch, dass Oscar das aus Aussichtslosigkeit getan hatte.   „Sie wird schon zurückkommen.“ beruhigte er sie und schloss sie tröstend in seine Arme. „Sie meinte das ganz bestimmt nicht so...“   Oscar schmiegte sich an ihn, aber diesmal löste sich die Unruhe und Gewissensbisse in ihr nicht auf. „Wenn ich nur daran glauben könnte...“   „Komm, las uns zu Rosalie gehen und uns mit Emilie aussprechen. Vielleicht finden wir einen Ausweg, der euch beide gefällt und versöhnt...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)