Nicht in Zuckerwattenhausen von Evilsmile ================================================================================ Kapitel 10: Grinsemond ---------------------- Ich hatte Feierabend nach einem kräftezehrenden Tag, aber so wirklich wollte ich noch nicht gehen. Winfried Schwarzer hatte heute einen Schwächeanfall gehabt – ausgerechnet am einem Freitag, dem Dreizehnten. Der Mann war so kalkweiß gewesen wie ein Bettlaken, bevor er vom Stuhl umgekippt und seine Brille zu Boden gefallen war – in meiner Anwesenheit. Das war der Schock meines Lebens gewesen. Ich hatte gedacht, dass er niemals wieder auf die Beine kam. Doch der Arzt hatte ihn stabilisiert, ein Schmerzmittel gespritzt und strengste Bettruhe verordnet. Also drückte ich mich stattdessen bei Frau Moll herum, und es war auch wirklich nicht gelogen, dass ich mich für ihr Gedicht interessierte. „Ich habe es mitbekommen, was mit ihm passiert ist. Wir alle werden leider nicht jünger. Irgendwann kommt der große Schlag und dann ist es aus“, sinnierte sie, während sie den Füller in der Hand hielt. „Sie machen sich Sorgen, nicht wahr? Weil er der Großvater von Ihrem Verehrer ist.“ „Vater“, korrigierte ich und erhaschte einen Blick auf ihr säuberlich Geschriebenes auf Papier. „Kommen Sie voran mit Ihrem Gedicht?“ „Ich habe es versucht, aber…“, murmelte sie und strich ein paar Zeilen durch, wobei sie ein Lineal benutzte. „Ich bin so eingerostet, da kommt nichts Gescheites raus, hört sich so schief an. Mein Kopf ist müde und faul, ich habe seit einem halben Jahrhundert kein Gedicht mehr geschrieben... Seit ich mit Werner verheiratet war, und dann die Kinder kamen, hatte ich keine Zeit mehr dazu.“ Ich las das Gedicht von Anfang an. Es handelte, grob gesagt, von einem Mädchen, das im Wald spazieren ging und dabei eine Liebkosung zweier junger Männer zwischen den Bäumen beobachtete. „Es freut mich, dass Sie wieder ins Schreiben kommen. Klingt sehr spannend. Wie geht es aus?“ „Wie es ausgeht?“, fragte sie nach und klang ungläubig dabei. „Denkst du, ich denke mir dieses Gedicht aus wie ein Märchenerzähler? Diese Geschichte!“ Sie tippte mit ihrem Fingernagel auf das Blatt, „mein Lieber, hat sich so wirklich ereignet. Sie ist Geschichte! Das Mädchen war ich. In diesem Wald habe ich im Sommer Brombeeren gepflückt. Und Sepp und Gustl hat es tatsächlich gegeben, sie waren Schreinergesellen im Ort, wo ich aufgewachsen bin.“ Jetzt war mein Interesse wirklich geweckt – Fatima hatte also nicht zu viel versprochen. „Halten Sie mich unbedingt auf dem Laufenden, ja?“ Dann wünschte ich ihr noch einen schönen Tag, und sie mir einen schönen Feierabend, und ich ging mich umziehen. „Na, schon Feierabend?“, hörte ich eine nur zu bekannte Stimme und drehte mich erschrocken um – Sandro! Hier in der Umkleide! Was zum Henker… „Raus hier! Warte gefälligst vor der Tür!“ „Als hätte ich dich noch nie nackt gesehen“, meinte er dazu nur und ging mit federleichten Schritten zu meinem Spind. Seine Jacke hatte er über die Schulter geworfen, unter seinem dünnen, feuerroten Shirt konnte man seinen perfekten Körper erahnen. Bloß dass er für mich statt einer schwachen Ahnung eine zu lebhafte Erinnerung war. Die ich zu gern aus meinem Gedächtnis ausradieren würde, wirklich. Sandro würde nicht einfach auf mein Bitten hin verschwinden, das wusste ich genau. Und selbst das Weite zu suchen, fiel mir nicht im Traum ein. Also zog ich mich fertig an, wobei ich so tat, als wäre er gar nicht da. Ignorierte ihn komplett. Wohlwissend, dass er meine Bewegungen gebannt verfolgte, meinen Körper genau betrachtete, wahrscheinlich das Muskel-zu-Fett-Verhältnis abschätzte. Mit aller Gemütsruhe, zu der ich mich in dieser Lage zwingen konnte, was wirklich eine Meisterleistung war, hängte ich meinen weißen Kittel und die Hose auf den Bügel in meinem Spind auf, verstaute die weißen Turnschuhe auf dem Regal und bemerkte, wie sich sein Schatten vor mir aufbaute. Weil ich die Stille nicht mehr aushielt, fragte ich: „Warst du bei ihm?“ „Ja. Aber ich habe immer noch nicht den richtigen Ansatz gefunden, es Vater zu sagen. Heute sowieso nicht, heute hat er mich noch nicht mal erkannt. Ich komme besser ein andermal wieder. Aber der Grund, wieso ich nach dir gesucht habe… Ich wollte dich fragen, wann wir das Probetraining machen.“ Ich schüttelte den Kopf und haute fester als beabsichtigt die Spindtür zu. „Vergiss es.“ „Wieso? Woher der Sinneswandel?“ „Hab ich so ein Studio nötig oder was? Bin ich dir zu unsportlich? Hab ich zu schnell abgespritzt?!“ Immer lauter wurde ich dabei. „Warte mal. Du hast doch mich darauf angesprochen, das kam von dir, daher dachte ich…“ „Falsch gedacht. Mein Freund mag mich so, wie ich bin.“ „Und du dich?“, fragte er, schenkte mir einen prüfenden Blick, ließ ihn in Höhe meines Bauchs verweilen. Daraufhin kniff ich die Augen zusammen. „Ich geh dann mal.“ „Halt. Du hast deinen Hosenstall offen gelassen.“ Seine Hand griff zu meinem Schritt. Er kam so nahe an mein Gesicht, als wolle er mich küssen und ich roch seinen Minzatem. Ich war im Begriff etwas Dummes zu sagen, machte den Mund aber wieder zu und beobachtete atemlos die paar Sekunden lang, wie er meinen Reißverschluss Millimeter für Millimeter hochzog. Mit diesen Fingern hatte er meinen Fuß massiert und… Nicht weiterdenken!! Ich schaute auf und direkt in seine Augen hinein, tief und noch tiefer. „Dominique. Du machst mich wahnsinnig…“ Unter meiner Haut kribbelte es und ich bemerkte, dass ich mit Speichelfluss auf seine geschnurrten Worte reagierte, und sträubte mich dagegen. Falls mir mein Körper, dieser Verräter, vorgaukeln wollte, dass ich Sandro geil fand, so hatte ich schließlich immer noch ein Hirn. Ein Hirn, das es für klüger hielt, diesen Ausrutscher bei einem einzigen zu belassen. „Dein Freund“, sagte er wie aufs Stichwort, und holte mich wieder in die Realität, in die Umkleide, zurück, so heftig wie ein Schubser vom Fünfmeterbrett ins eiskalte Nass. „Hast du es ihm schon gebeichtet?“ Einen Moment war ich verwirrt und überlegte, woher er über Davids Berufswunsch Bescheid wusste, bevor mir klar wurde, dass er das Wort ‚beichten‘ ganz ohne Hintergedanken verwendet hatte. „Natürlich nicht!“ „Wieso nicht?“ Ich schnaubte. „Weil es mir weniger bedeutet hat als nichts. Also gibt es auch nichts zu beichten, fertig.“ „Wow.“ Sandro bewegte sich in gemächlichem Gang von mir weg, nickte bedächtig. „Hast du etwa nicht gesagt: Schatzi, du musst jetzt ganz stark sein, denn ich habe den besten Blowjob meines Lebens bekommen, und zwar nicht von dir!“, säuselte er in verstellter Stimme und lachte über seinen eigenen Witz. „Du hast echt schlechten Stil“, stellte ich klar und sein Lachen erstarb. „Mag ja sein, dass dir andere Leute anderes erzählen. Viele Leute. Die genau so ticken wie du. Mir auch egal.“ „Moment. Du störst dich daran, dass ich nicht mit jedem Mann, mit dem ich im Bett war, auch eine Beziehung hatte, oder was? Stimmt. Dazu stehe ich!“ Und nun setzte er seinen Gletscherblick ein und auch seine Stimme wurde frostig. „Aber eines kann ich dir versichern, nämlich dass ich nie, wirklich niemals, fremdgegangen bin, während ich in einer festen Beziehung war! Zieh dich an deiner eigenen Nase.“ Und als ich ihn nur feindselig anschaute, sagte er mit etwas sanfterer Stimme: „Ich lass mir nicht die Schuld geben, dass ich deine Beziehung kaputt mache, denn jeder entscheidet selbst darüber, was er tut und was er lässt…und eine Beziehung, die deswegen kaputt geht, die war vorher schon angeknackst.“ „Gar nichts ist kaputt!“, empörte ich mich. „David und mir geht es besser denn je. Es ist bloß ein bisschen kompliziert. Freu dich, wenn es bei dir einfacher ist.“ Wutentbrannt verließ ich die Umkleide, diese Kühlkammer, wünschte mir dabei Schlittschuhe, damit sein Glatteis mich nicht zu Fall brachte, und sein Lachen hallte mir immer noch nach, als ich längst in der Straßenbahn saß und die SMS von David las: Hab die Klausur bestanden! Jetzt gehe ich mit Kommilitonen noch eine Ausstellung besuchen, wir sehen uns Samstag, freu mich riesig. Kuss ~ Ja, das kleine italienische Restaurant machte seinem Namen Il Belvedere alle Ehre, mit seinem Blick auf die nächtliche Skyline der Stadt. Jetzt fehlte nur noch David. Hoffentlich ließ er mich nicht noch länger warten. Ich erwartete ihn frierend und mit knurrendem Magen auf der kleinen gusseisernen Bank unter den Arkaden des Restaurants. Dann, nach ein paar Minuten, sah ich endlich eine dunkle Gestalt auftauchen und machte sie im schwachen Licht der Außenlaterne als David aus. Er sah fantastisch aus, hatte sich sogar die Haare schneiden lassen, ich vermutete, damit sie seine vor Kälte roten Ohren noch besser zur Geltung brachten. „Wieso wartest du denn draußen in der Kälte?! Auf, rein jetzt!“ Wir betraten das Lokal, in der leise Kuschelrock dudelte und wurden vom geschwätzigen Inhaber an einen freien der gerade mal zehn Tische geführt. Alle Tische waren mit einer roten Tischdecke gedeckt, hatten in der Mitte eine rote Kerze und eine Vase mit einer roten Tulpe aufgestellt. Girlanden mit roten Papierherzen zierten die Wände und die Serviette war mit Rosen bedruckt. Ich musste schlucken. Ja, es war definitiv Valentinstag. Überall. Man konnte dem nirgends entfliehen, in keinem Geschäft, in keiner Zeitschrift, an keinem Schaufenster; es wurde einem die Besonderheit dieses Tages unter die Nase gerieben, ob man wollte oder nicht. Er war mir immer egal gewesen – bis heute. David musterte ebenfalls befremdlich die Inneneinrichtung. „Als ich neulich mit Jochen und Claudia auf ein Mittagessen hier war, sah es noch ganz ... normal aus.“ Ich grinste. „Ist doch nett.“ Die Kerze schob ich zur Seite und stellte die kleine Tragetasche auf den Tisch. „David, alles Gute zum Geburtstag!“ Dekorieren und Verpacken war leider noch nie mein Ding gewesen. David zog die Brauen zusammen, als er das Päckchen herausnahm, wahrscheinlich, weil auf das Papier Merry Christmas aufgedruckt war – schon peinlich, aber zu Hause hatte ich kein anderes gefunden und zum Einkaufen war keine Zeit mehr gewesen. Aber es zählte schließlich der Inhalt, nicht die Verpackung! Diese hatte er ziemlich schnell entfernt. „Danke“, sagte er zu dem dunklen Schal, den er ausgepackt hatte, dann entdeckte er die Beilage. „Oh – das ist ja…?“ „Ganz genau. Massage-Gel Granatapfel.“ Ich grinste amüsiert, als er es hastig in den Schal wickelte, um es vor neugierigen Blicken zu verbergen – obwohl ich es eigentlich nicht als zu heiß für die Allgemeinheit bezeichnen würde; in diese Kategorie fielen für mich ganz andere Dinge. Aber Davids Ohren schienen sich gar nicht mehr abkühlen zu wollen. „Das ist nur eine Kleinigkeit…mach doch mal den Umschlag auf.“ „Was darf es denn zu trinken sein?“, fragte die Kellnerin, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. David schrak so heftig zusammen, dass er das Gel fallen ließ. Lächelnd hob sie es auf, ohne einen Kommentar dazu abzulassen. „Wir nehmen beide einen Eistee“, sagte ich stellvertretend für David, der nicht in der Lage schien, einen Ton herauszubringen. Schwach nickte er und versenkte Gel und Schal wieder in der Tüte. „Na? Schon mit Glückwünschen überhäuft worden?“, versuchte ich ihn abzulenken. „Ja…“ Er blickte wieder zu mir auf, und nahm den Umschlag zur Hand. „Aber mein Handy habe ich jetzt ausgeschaltet. Ich will den Abend in Ruhe mit dir genießen!“ Demonstrativ zog er es aus seiner Hosentasche, drückte den Ausschaltknopf und legte es dann vor sich auf den Tisch. Ich nickte verschwörerisch und machte meines ebenfalls aus, legte es direkt neben Davids Smartphone. Handykuscheln – die wahrscheinlich strahlendste Zärtlichkeit der Welt! „Außerdem habe ich mir für die Fastenzeit vorgenommen, vierzig Tage darauf zu verzichten. Komplett.“ „Wow“, lobte ich ihn. „Vierzig Tage ohne Handy, das ist wirklich eine Leistung, wenn du das durchhältst.“ „Ja. Ich denke mir, wieso soll ich mich von Elektronik versklaven lassen. Fastest du auch?“ „Ich?“ Ich überlegte. „Eigentlich nicht.“ „Domi…“, stieß David hervor und bekam den Mund nicht mehr zu. „Ist das dein Ernst?!“ Er hielt mir den Gutschein vor die Nase. „Karten für das König der Löwen Musical?“ „Na, das siehst du doch schwarz auf weiß“, lächelte ich. David bedankte sich inständig, gab zu, dass er schon lange mal das Musical besuchen wollte, aber wie es halt so war im Leben, noch nicht dazu gekommen war. „Gestern habe heute die letzte Klausur geschrieben.“ „Bei Theo?“ Wir nahmen uns die Speisekarte, die ein einlaminiertes Papier war. Als Spezialität des Tages wurde die „Pizza Amore“ empfohlen, eine Pizza mit Salami, Mozzarella, Chili und Paprika. Das war wohl diese autoreifengroße Pizza, die sich das junge Pärchen drei Tische weiter teilte. Ich überlegte… „Wir dürfen ihn nicht duzen.“ Aber Moment mal. Wieso war die mit Fleisch? An Vegetarier wie David hatten sie dabei gar nicht gedacht, fiel mir auf. „Ich habe den Stoff nicht unterschätzt, die war wirklich nicht ohne; wir hatten endlos viele Themen, die drankommen könnten, davon kamen dann nur zwei Themen dran! Zum Glück habe ich nicht gepokert wie die meisten.“ „Pokern, ja?“, zog ich ihn auf. „Das ist doch Gottes Spezialität; er würfelt schließlich nicht! Hast du schon eine Idee, was du nimmst?“, fragte ich ihn. David nickte. „Die Tortellini mit Pilzsoße. Die Nudeln hier sind hausgemacht und schmecken richtig lecker“, schwärmte er. Zuerst hatte ich mit Spaghetti Bolognese geliebäugelt, aber dann kam mir eine Idee. „Fleisch!“, sagte ich laut und deutlich. „Ich werde Fleisch fasten. Ich fange jezt damit an!“ David fing an zu kichern, und je mehr er es zu unterdrücken versuchte, desto mehr musste er lachen, und er steckte mich bereits an, obwohl ich nicht mal wusste, wieso er lachte „Au Mann, die schmeißt uns jetzt bestimmt raus, weil wir hier so rumkichern“, flüsterte ich ihm zu. Doch die Bedienung brachte bloß die Getränke und nahm die Bestellung auf. Schließlich hatte ich mich für die Rigatoni mit Brokkoli entschieden. „Weißt du was, Domi?“ David lächelte, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die Finger. „Ich habe heute jemandem geholfen. In der U-Bahn hat ein alter Mann das Gleichgewicht verloren. Ich habe das gesehen und ihn noch aufgefangen, zum Glück war er nicht bewusstlos oder so, und wir sind ins Gespräch gekommen. Einundsiebzig war er, und er sollte Kreislauftabletten nehmen…“ Wieder mal schien er das Atmen beim Erzählen komplett zu vergessen. „Er meinte, dass er einzig und allein Gott vertraut, ihn zu heilen, den Ärzten traut er nicht über den Weg und lieber betet er zu Gott als seine Tabletten zu nehmen.“ Ich schüttelte nur den Kopf. „Und was hast du ihm geraten?“ „Dass ich ihn einerseits verstehe, es gut finde, dass er einen starken Glauben hat, aber er übersieht etwas Wichtiges. Nämlich, dass Gott ihm durch die Tabletten hilft – Gott hat es erst ermöglicht, dass Menschen diese Tabletten herstellen können, und Gott will, dass er dieses Geschenk annimmt.“ „Ganz schön hinterlistig“, grinste ich. „Meinst du, er nimmt die Tabletten jetzt?“ „Zumindest hat es ihm eingeleuchtet, so wie ich es ihm erklärt habe.“ „Stoß mit mir an!“, forderte ich und hob mein Glas. „Auf was?“ „Auf uns einfach! Dass es uns gibt, dass wir hier sind!“ Er tat es und die Gläser klirrten hell. ~ Schier endlos war mir die Fahrt mit der Straßenbahn vorgekommen, aber schließlich waren wir am Wohnheim angelangt. „Ich bin pappsatt!“, sagte ich, während wir an der Ampel warteten. Wir hatten noch Vanilleeis mit heißer Himbeersoße als Nachtisch gegessen, das wirklich köstlich gewesen war. „Ich auch. Die Portion war reichlich.“ „Hmm…“ Ich schlenderte neben David her, der eine Hand in den Taschen vergraben hatte, und in der anderen die Geschenktüte hielt. Sternenklar war die Nacht, aber gleichzeitig eiskalt. Ich verfolgte die Atemwölkchen, die aus seiner Nase empor stiegen, und mein Blick wanderte dabei hoch zum Mond. Heute war er dünn, eine bananenschmale Sichel, die uns zulächelte. Die Welt war eine andere mit David in meinen Armen, es lächelte einfach alles und jeder. „Ein Grinsemond!“, kicherte ich. „Was?“ „Na schau doch.“ Ich streckte den Arm in die Luft, machte das Peace-Zeichen um den Mond herum. „Stimmt, irgendwie schon. War ein richtig schöner Abend“, sinnierte David, als er den Aufzug betrat. „Er kann noch schöner werden“, versprach ich ihm und schaute ihn vielsagend an, bis er peinlich berührt den Kopf wegdrehte. Leise schlichen wir durch den Flur des Studentenwohnheims, doch leise schleichend hieß nicht gleich leise, denn unser Kichern konnte man sicher noch hinter den verschlossenen Türen vernehmen. „Lass das“, heischte David wenig überzeugend, als ich mich in seinen Knautschzonen vergriff. Vor Kichern fand er sein Türschloss kaum, an dem er mit dem Schlüssel unkoordiniert herum stocherte wie ein Betrunkener, sodass ich seine Hand führen musste. Nur dass wir von dem winzigen Aperol beim Italiener kaum betrunken waren, sondern eher in einer Art Liebestaumel torkelten, der nur für uns beide einen Sinn ergab. Ich erkannte David gar nicht wieder. Er war wie auf Droge. Dass ich die andere Hand zwischen seine Oberschenkel legte, erhöhte seine Präzision keineswegs; auch nicht, dass ich ihm zuflüsterte, dass ich es kaum erwarten konnte, ihn zu verwöhnen mit dem Massagegel. Voller Verlangen küssten wir uns, und die elende Klemmtür kickte er mit der Fußspitze auf, ohne von mir abzulassen. Ich bemerkte es als erster. Am Licht und weil es hier so anders roch. Der Raum war quietschbunt mit Luftschlangen, Konfetti plus Ballons hergerichtet wie bei einem Kindergeburtstag und kaum wieder zu erkennen; ein Geburtstagskuchen… Schluck. Ein Häufchen Menschen in diesem winzigen Raum, die gemeinsam „Happy birthday to you“ anstimmen wollten – was sofort wieder erstarb. Wie waren sie denn da reingekommen? Mik, der sich im Schaukelstuhl fläzte, einen Kasten Bier daneben, höchstwahrscheinlich von ihm persönlich gesponsert, glotzte uns an als habe sich das Betriebssystem seines Gehirns soeben aufgehängt. Das im Gothicstil gekleidete Mädchen neben ihm versuchte Worte zu finden, die nicht da waren, und das Mädchen mit den langen blonden Haare, war das etwa Claudia? Ich wusste bloß, dass ich wie angewurzelt dastand und Davids Hand zerquetschte. Die er mir entzog. Und schneller als ich gucken konnte, machte er die Fliege! Dieser Feigling! Dieser Verräter! Nach dem heutigen Abend; nach dem, was uns verband? Wieso bekannte er sich nicht zu mir, genauso cool, wie er es bei Désirée getan hatte?! Ich wollte nicht alleine zurückbleiben wie ein Volltrottel, der den Blicken ausgesetzt war und sogar von der handgeschnitzten Madonnenfigur perforiert wurde, diesem potthässlichen handgeschnitzten Ding an der Wand. Auf dem Absatz machte ich kehrt um ihn einzuholen. „David!“, brüllte ich durch das dunkle Treppenhaus und hetzte ihm hinterher, nahm fast fünf Stufen auf einmal. Aber er war schneller. „Wo willst du hin, verdammt?!“ Ich bekam keine Antwort. Wir waren draußen, in der Nacht, ich rannte ihm hinterher quer über Rasen, aber konnte ihn nicht einholen und dann plötzlich hörte ich andere Schritte hinter mir. „David! Dominique!“, riefen zwei Stimmen. „David, ich hab damit nichts zu tun! Bitte glaub mir!“, rief ich ihm hinterher. Wieso hatte Mik mich eigentlich nicht über diese Party informiert, wieso war ich nicht eingeladen gewesen? Doch dann dämmerte mir, dass ich Idiot mein Handy nicht hätte ausgeschalten dürfen, denn garantiert hatte Mik versucht mich zu erreichen und mich über diese spontane Überraschungsparty zu informieren. Eine spontane Mik-Aktion, so typisch für ihn. Jetzt blieb er endlich stehen. Unter dem Schein der Straßenlaterne sah ich sein wutverzerrtes Gesicht, in dem Tränen glitzerten. „Du hast mir schamlos ins Gesicht gelogen, Dominique!“ „Das stimmt nicht! Ich wusste von nichts, mir hat niemand was gesagt! Aber jetzt ist es halt so…es ist doch okay! Lass uns einfach zurückgehen, ja?“ Ich wollte auf ihn zugehen doch er streckte die Hand weit aus, um mich auf Abstand zu halten. „Mein ganzes Leben! Hab ich mich an Regeln gehalten! Immer war ich brav, immer der Streber. Nie hab ich über die Stränge geschlagen! Ich hab immer alles geschluckt! Mich nie ausprobiert. Und jetzt ist es zu spät. Verdammt!!!“ Ich schüttelte heftig den Kopf. „Nein, es ist nicht zu spät! Gerade jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt! David! Ich flehe dich an! Lass uns zurück gehen! Niemand reißt dir den Kopf ab!“ „Ich bin so gut wie tot.“ Und damit drehte er sich um und ging über die Straße. „HEY! Pass auf!“, brüllte ich, als ich ein Auto um die Ecke biegen sah. Alles ging viel zu schnell. Die Hupe; Bremsen quietschten; das Auto stoppte. In letzter Sekunde. Es hatte David nicht einmal gestreift. Doch er taumelte, verlor das Gleichgewicht, fiel zu Boden. Mit dem Kopf zuerst, auf den Asphalt vor die Scheinwerfer des PKWs. Ich riss reflexartig die Hände vors Gesicht. David! Oh Gott! Das war zu viel für mich! Das letzte, was ich bewusst aufnahm, war die schrille Stimme der Fahrerin, die angerannt kam, um nach David zu sehen, und irgendjemand fing mich gerade so noch auf. Vielleicht war es auch gar nicht so schlimm, dass ich das Bewusstsein verlor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)