Nicht in Zuckerwattenhausen von Evilsmile ================================================================================ Kapitel 2: Der Goldene Wurf --------------------------- Wenn es um Technik, insbesondere Computer ging, konnte mein Kumpel Mik sich nie bremsen. Aber er war auf diesem Gebiet nun mal bewandert, ein Segen, aber manchmal auch ein Fluch. Ich saß Montagmittag in der Straßenbahn, das Handy am Ohr und hatte ihn am anderen Ende. Und kämpfte gegen das Einschlafen. Das Klima in der Straßenbahn trug auch nicht gerade zum Wachbleiben bei. Um mich herum saßen Leute, die entweder Zeitung lasen oder unentwegt in ihr Smartphone starrten. „Dome.“ Das war sein Spitzname für mich, den ich ihm nie so richtig habe ausreden können. Immer nannte er mich so und hatte mich sogar auf dem Handy unter diesem Namen gespeichert – weil er ja angeblich so viel cooler klang. „Am Samstag hast du sowas von gefehlt.“ Ich erwachte wieder aus dem Stand-by-Modus, in den mich sein nerdiger Vortrag über diese App versetzt hatte. „Samstag? Was war da? Warst du wieder in diesem China-Imbiss?“ Mik stand total auf Asiatinnen, er betete sie regelrecht an. Besonders die eine Kellnerin im Schnellimbiss, von der er mir stundenlang vorschwärmen konnte. Aber den ersten Schritt wagen? In diesem Punkt war er genau wie ich. „Nein“, sagte er beleidigt, „die kann mich mal, wenn sie nicht erkennt, was sie an mir hat!“ Ich grinste mir einen ab. Das hörte sich an, als hätten die beiden schon jahrelang eine On-Off-Beziehung. Stattdessen war absolut nichts passiert außer einem einzigen intensiven Blickkontakt – bei dem Mik möglicherweise zu viel hinein interpretierte. „Ich habe Tabea besucht, wegen unserer Hausarbeit in Datenbanken. Jedenfalls, sie wohnt mit zwei anderen Leuten zusammen; Titus, der studiert Design…“ Er zögerte kurz. „Egal. Und mit ihrer besten Freundin, sie studiert Soziale Arbeit. Sie heißt Steffi“, säuselte er. „Dome, die ist so eine geile Braut!“ „Titus?“, fragte ich nach, um von Mädchen im Allgemeinen, und Steffi im Besonderen abzulenken. „Was für ein Design studiert er denn, da gibt es ja vieles?“ „Wahrscheinlich Modedesign, der Typ ist sowas von schwul!“ Er schnaubte. „Also, wenn Steffi nicht da gewesen wäre, ich wäre gar nicht so lang geblieben. Mann, sie sieht nicht nur Hammer aus, sie ist der Hammer“, plapperte er. „Sie ist Koreanerin…sie ist so richtig niedlich! Dome, würde sie wollen, dass ich ihr Sklave bin…dann würde ich mich auf der Stelle fügen!“ Seine letzten Worte zogen wie Wolken an mir vorüber, ohne dass ich sie mitbekam. Das Stichwort ‚schwul‘ hatte mich neugierig werden lassen. „Bist du sicher was Titus angeht?“, hörte ich mich plötzlich fragen. „Hä? Wieso fragst du noch? Echt, du hättest den Typen sehen müssen, das war so klar, da braucht man nicht mal mehr zu fragen. Also ich hab ja nix gegen die, aber…Naja. Was hast du am Samstag gemacht?“ „Ich? Nichts Besonderes.“ Nur mit David geknutscht, mir dann die Kante gegeben, dann einen Wildfremden als Taschentuch missbraucht, meinen Rausch ausgeschlafen und den restlichen Sonntag gegammelt. Hach, es hätte wirklich was, wenn ich das laut sagen könnte. Wenn ich mit Mik darüber reden könnte und nicht alles für mich behalten müsste, genau so, wie er mir von seinen Mädchen vorschwärmte… In den drei Jahren, die wir uns nun schon kannten, hatte ich nie die richtige Gelegenheit gefunden, und dann war irgendwann die Zeit abgelaufen. Es war wie zu einem Abendessen eingeladen zu sein, auf dem Zucchinisuppe auf der Speisekarte stand. Während man selbst Zucchini wie die Pest hasste, und sich einem der Magen umdrehte, das grüne Zeug nur zu riechen, freuten sich alle wie wild auf die Suppe, redeten über Zucchini und deren Formen und Sorten und darüber, zu was man sie alles verarbeiten konnte und machten sich schlussendlich darüber her. Und man selbst rührte gedankenverloren darin herum, wusste, dass es einem nicht schmecken würde, dass einem übel davon werden würde, und alle schaufelten Zucchini in sich rein, als würden sie dafür bezahlt werden. Und ehe man sich versah, hob man den Löffel an den Mund und schluckte es hinunter…und bemühte sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Denn man hatte zuvor eifrig mitdiskutiert über Zucchini, dann musste man schließlich auch die Suppe auslöffeln. Und niemand schien das in Frage zu stellen. Mik würde es nie im Leben verstehen. So wie er drauf war, mit Sicherheit nicht. Quasi von mir aus hatte ich mich in die Hetero-Rolle begeben, das Theater mitgespielt. Mit ihm war ich feiern gegangen, hatte mir über Mädels das Maul zerrissen, so getan als würde mich die eine oder andere interessieren, und dann hatte es eine Eigendynamik entwickelt und die Monate und Jahre waren vergangen. „Mik, war David gestern online?“ „David? Nein, war er nicht. Hab das ganze Wochenende nichts von ihm gehört, der hat sich wohl in die Bibel vergraben. Das ist schon ein Kreuz mit ihm, hihi, verstanden, den Joke?“ „Er hat mit Marie Schluss gemacht.“ „Was, ernsthaft?“ „Ja, er hat es mir am Samstag erzählt. Du bist gar nicht up to date“, zog ich ihn auf. „Hat er eine Neue?“ „Nein.“ Dann wechselte er auch schon das Thema. „Kommst du mal wieder zum Zocken vorbei? Das Spiel ist der Burner, so geil, grafisch bombastisch, ich hab schon das Bonus-Level freigespielt und…“ „Bist du nur am Zocken, oder was?“, zog ich ihn auf. „Wie wäre es mal mit Lernen für die Klausuren?“ Mik gähnte. „Lernen, was denn? Ich kann alles schon im Schlaf, in den Vorlesungen langweile ich mich zu Tode, die meiste Zeit mach ich eh blau – zum Glück gibt’s nur in zwei Modulen Anwesenheitspflicht. Bin total unterfordert mit diesem ewigen Grundlagen-Gedöns. Das Studium hab ich mir anders vorgestellt!“ „Du armes Genie.“ Ich wusste schon, wer sich sein Gejammer nicht anhören würde, wenn er die Klausuren verhaute. Die mechanische Stimme kündigte den nächsten Halt an: Das Altenpflegeheim, wo ich mein freiwilliges Jahr absolvierte. Auf Station Mohnblume. „Alles klar. Bis dann.“ ~ „Das ist so hundsfies, dass du tonnenweise Schokolade in dich reinschaufeln kannst und dabei kein Gramm zunimmst! Und ich hab fünf Kilo Drübergewicht.“ Fatima, die Azubine auf unserer Station, kam mit Schmollmund um die Ecke gebogen und schob den Rollstuhl von Frau Winter. Ihr dunkles, glänzendes Haar trug sie heute geflochten. Sie war witzig, manchmal etwas einfältig, und sie konnte gut anpacken, wenn sie wollte... und genau da lag der Hase im Pfeffer. Wenn sie mal wollte! „Drübergewicht?“, fragte ich nach und schluckte die Praline runter, die mir ein Bewohner zugesteckt hatte. Wörter zu erfinden war Fatimas Hobby. „Was soll das denn schon wieder sein?“ Sie starrte mich mitleidig an. „Das bedeutet, dass ich fünf Kilo über dem Gewicht, das ich haben will, drüber bin. Klingt doch logisch.“ „Man sieht es, Fatima! Du bist so richtig fett“, zog ich sie auf. Ich knüllte die Verpackung zusammen und legte sie auf die flache Hand. Fatima, die vor den Fahrstuhltüren stand, streckte mir noch extra die Zunge raus. „Triff mich doch, du Eierloch!“ „Kindsköpfe, ihr seid doch solche Kindsköpfe!“ Doch Frau Winter musste trotzdem lachen. „Was sich liebt, das neckt sich!“ Sie und einige andere Damen auf unserer Station sahen Fatima und mich schon vor dem Traualtar. Wenn die wüssten! „Du kriegst jetzt dein Fett weg!“ Ich spannte den Mittelfinger an und schnippte das goldene Bällchen weg, Fatimas Kopf angepeilt. Noch im Flug bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie sich die Türen des Fahrstuhls öffneten, und der Ball traf tatsächlich auf Haar…. Aber leider nicht Fatimas. Die kicherte jetzt los wie eine Grundschülerin, während ich im Boden versinken wollte. Ich räusperte mich und vergrub die Hände in den Taschen meines weißen Baumwollkittels. Der kräftige Blonde, den mein Geschoss erwischt hatte, schob unseren Bewohner Winfried Schwarzer, der nicht oft Besuch bekam, im Rollstuhl langsam aus dem Fahrstuhl heraus, wobei er mich nicht aus den Augen ließ. Seine schwarze Lederjacke trug er offen über einem schlabberigen schwarzen Kapuzenpulli, weite Jogginghosen und dazu Sportschuhe… Er schaute mich an; so kalt und abweisend, das waren keine Augen, sondern zwei Eiswürfel! Ringsum war sein Gesicht rot vor Anstrengung. Oje. Ob er meinen Satz gehört hatte; du kriegst dein Fett weg? Das war ja gleich doppelt peinlich! „Na, das nenne ich mal einen goldenen Wurf.“ Fatima schob Frau Winter in den nun leeren Fahrstuhl hinein, die sich den Kopf nach ihm verrenkte, grinste mir noch mal zu, bevor sich die Türen schlossen. Na, dieses Grinsen kannte ich nur zu gut! Als letztens der picklige Praktikant von Station Pusteblume bei uns ausgeholfen hatte, hatte sie mir das gleiche Grinsen zugeworfen. Ihr fragendes Na-wäre-der-nichts-für-dich-Grinsen. Es war ein Fehler gewesen, sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich einen Freund wollte und keine Freundin. Seitdem hielt sie immer und überall nach Jungs für mich Ausschau. Weil ich David ja ohnehin vergessen könnte, ihrer Meinung nach. Aber jetzt, ihn betreffend – ernsthaft?! Der Fremde kam näher und schenkte mir tödliche Blicke. Mir schien der Mund wie zugefroren zu sein, nicht mal eine Entschuldigung brachte ich heraus und das war erbärmlich. Aber das kümmerte ihn nicht wirklich, denn im Vorbeigehen tat er etwas, das mich vollends aus dem Konzept brachte: Lächeln. Ganz flüchtig, ganz warm wie ein winziges Feuerchen in der Antarktis… Von seinem Drei-Tage-Bart wurde es perfekt eingerahmt. Hatte dieses Lächeln etwas zu bedeuten? Kannte er mich vielleicht von irgendwoher? Er ging an mir vorüber und ihn begleitete der Hauch eines Duftes, der mir vage bekannt vorkam. Winfried Schwarzer dagegen blickte durch seine dicken Brillengläser ausdrucklos in die Ferne, wie er es immer tat, ohne wirklich viel mitzukriegen. Schweigsam und geistig in einer anderen Welt. Dazu kam, dass er sich immer noch nicht richtig von seinem grippalen Infekt erholt hatte. So ein Quatsch, ich arbeitete seit Monaten hier, und wenn er öfters Winfried besuchte, hatte er mich bestimmt schon mal gesehen, daher hatte er mich wohl angelächelt. Aber wieso hatte ich ihn dann nie gesehen? Ich räusperte mich, hob meine verirrte Rocher-Verpackung auf und schmiss sie in den Mülleimer. Eigentlich hatte ich bei Hannelore Bach vorbeischauen wollen. Und das tat ich jetzt auch. Ich klopfte an die Zimmertür, bevor ich eintrat. „Sie haben heute Mittag Ihr Essen schon wieder nicht angerührt, Hannelore?“, erkundigte ich mich. Die zierliche Frau saß mit schlohweißem, zerzausten Haar fast aufrecht in ihrem Bett, und ihre Haut war fast ebenso weiß wie die Bettwäsche. „Es ist nicht so, dass es mir nicht schmeckt.“ Sie legte eine kurze Pause ein, um Luft zu schnappen. „Aber ich habe nicht so wirklich Hunger…und die Portion ist so groß…“ „Ich mache Ihnen auch gar keine Vorwürfe.“ Ich reichte die Teetasse vom Nachttisch in die Hand der Frau, die nur noch Hell und Dunkel unterscheiden konnte. „Den Tee trinken Sie aber? Hagebutte? Der schmeckt richtig lecker!“ „Weil du es bist, mein Kind.“ Sie führte die Tasse an ihre dünnen Lippen und trank leise schlürfend. „Ihre Orchideen sind zu schön“, sagte ich mit Blick zu ihrem Fenster, und das war noch nicht mal gelogen. Ihr Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln. Mitgefühl war nicht das einzige, das ich für die Bewohner hier empfand. Viel öfters war es Bewunderung dafür, ein erfülltes Leben gelebt zu haben. Kinderlos geblieben, hatten ihr Mann und sie eine Gärtnerei betrieben und sich passioniert dem Züchten von Orchideen gewidmet. Ein paar waren nebeneinander am Fenstersims aufgereiht, die bunten Blütenblätter das einzig Farbige in diesem Zimmer. Das eine sah in diesem Blickwinkel aus wie ein Herz in kräftig roter Farbe. Ob ich David vielleicht eine Zimmerpflanze zum Geburtstag schenken sollte, damit er mal etwas Grün in der Bude hatte? Falls ich überhaupt zu seinem Geburtstag eingeladen war… Oh je. Ich dachte schon wieder an ihn! Konnte ich mir das jemals abgewöhnen? „Orchideen sind die Königinnen unter den Blumen“, flüsterte sie. Ihre Augen starrten ins Leere. Die von Flecken übersäten Hände krampften sich um die Tasse. Ich konnte gar nicht anders, als schützend meine eigenen Hände darum zu schließen und ihr Zittern legte sich etwas. Sie würde keine Angst haben, wenn es so weit wäre, hatte sie mir damals gesagt. „Schön und selten. Wie ein Mensch mit einem guten Herz. Hast du noch die, die ich dir zu Weihnachten geschenkt habe?“ „Ja, ich habe sie noch.“ Die Betonung lag auf noch. Fragte sich, wie lange noch, denn sie war kurz davor, zu Biomüll zu werden. Aber ich brachte es nicht übers Herz, ihr das zu sagen. „Wer Orchideen gedeihen lässt, der kann auch Herzen im Sturm erobern.“ Na toll, das hatte ich jetzt gebraucht, besten Dank, Hannelore. Mit anderen Worten: Du wirst den Rest deines Lebens Single bleiben, und das geschieht dir ganz recht, du Dummkopf, wenn du nicht mal auf eine Pflanze Acht geben kannst. „Schlafen Sie gut, Frau Bach.“ Mit der leeren Tasse ging ich wieder hinaus auf den Flur. Die Arbeit wartete schließlich nicht. „Zwei Fragen!“ hörte ich hinter mir eine tiefe Stimme. Ich drehte mich sofort herum. Der Dicke von eben war es wieder. Aber irgendwie sah er doch nicht so dick aus, als ich ihn mir genauer betrachtete. Und er bewegte sich auch nicht so. Komisch. „Erstens, mein Vater hat seine Tabletten vergessen zu nehmen.“ Sein Vater? Ich hätte geschätzt, dass er sein Enkel war, ließ mir aber nichts anmerken. „Zweitens.“ Er kam etwas näher, legte den Kopf schief und lächelte noch einmal so wie vorhin. „Ich bin mit meiner Band am Mittwoch im Kopfstand. Hast du da schon was vor?“ ~ Es war eiskalt, als ich nach der Arbeit auf meine Tram nach Hause wartete, frierend und hungrig. Hoffentlich schlief ich auf der Fahrt nicht ein, denn ich war tierisch müde. Ich überlegte, was ich mir zum Abendessen machen könnte, da riss mich das Vibrieren meines Handys aus den Gedanken. David! Wieso denn gerade jetzt? Alle Worte, die ich mir für diesen Fall zurechtgelegt hatte, verkrümelten sich augenblicklich und das letzte knipste das Licht aus. Ich drückte trotzdem tapfer auf Annehmen. Führte das Handy in Zeitlupe zum Ohr und meldete mich mit dünner Stimme. Was dieser Kerl mit mir anstellte! „Gut, dass ich dich erreiche.“, sagte David. Tss! Als hätte er schon zwanzigmal erfolglos probiert, bei mir durchzukommen, weil ich von Verehrern nur so belagert wurde! „Bist du schon zuhause?“ „Auf dem Weg dahin. War wieder mal ein anstrengender Tag“, sagte ich vorsichtig. Wie konnte er mit mir plaudern als wäre gar nichts passiert? „Das glaube ich dir. Mir würde das auch total nahe gehen, mich um die alten Leute zu kümmern…Mir fällt ein, ich habe meine Oma schon so lange nicht mehr besucht. Sie wohnt ganz alleine in diesem großen Haus.“ „Das ist deine verdammte Pflicht als Enkel.“ Der Tonfall war härter als beabsichtigt. Aber ich bekam mit, dass viele Bewohner bei uns kaum Besuch bekamen, und ich durfte die Alten dann wieder vertrösten. „Ja, wenn ich mehr Zeit hätte…“, gestand er schuldbewusst. „Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich“, sinnierte ich. „Und, worum geht es?“ Ein schweres Seufzen ging dem Satz voraus. „Mik will mit uns zu so einer Liveband…“ Mit uns? Per SMS hatte ich Mik diesen Vorschlag unterbreitet, nachdem ich auf die Anfrage des Lederjacken-Typen bloß „Uhhhm, weiß nicht, vielleicht“ geblökt hatte, etwas überrumpelt von seiner Anfrage, die so selbstbewusst daherkam. Mik hatte die Band auf Facebook gecheckt und sie für interessant befunden. Aber dass er noch David mit ins Boot holte - zumal er wusste, dass sie überhaupt nicht seinen Musikgeschmack traf?! „Bist du noch böse auf mich, David?“ „…Hör zu, treffen wir uns doch einfach im Piratennest, ich bin schon auf dem Weg dahin.“ ~ Die gemütliche Kneipe, unser Piratennest, hieß offiziell gar nicht so; der Spitzname aber machte der Inneneinrichtung alle Ehre. Alles war komplett aus Holz. Es war auf alt gemacht und optisch dem Innern eines alten Schiffes angepasst mit Bullaugen und allem was dazu gehörte. Ich schaute mich um, ließ meinen Blick über die Leute schweifen, hauptsächlich Studenten, und dann entdeckte ich David an einer Eckbank, wo eine kleine Schüssel Erdnüsse auf dem Tisch stand. Drüben in der Ecke spielte eine Gruppe lautstark Dart und erinnerte mich an unsere fröhlicheren gemeinsamen Tage. David schaute fasziniert rüber, verrenkte sich den Hals dabei und vergaß dabei ganz sein Handy, das er in seinen Händen hielt. Er ahnte nicht, wie sexy ich die Sehne fand, die dabei an seinem Hals hervortrat. Ich räusperte mich, woraufhin er sich sofort zu mir drehte. „Stör ich dich beim Googeln?“, neckte ich ihn und genoss es, wie er rot anlief und dann das Handy weg steckte. Um mir Platz zu machen, rückte er auf der Eckbank auf. „Ich hab diese Band gesucht, zu der Mik will. Also ich weiß nicht so recht…“ „Ich gehe hin.“, sagte ich fest entschlossen. „Ja? Okay. Vielleicht komme ich auch mit.“ Seine großen braunen Augen glänzten wie die frische Schokoladenglasur auf einem Kuchen, süß und verführerisch… „Du, Dominique? Weißt du noch, wie wir mit Mik hier waren als Karaoke war, und er dann Highway to Hell gesungen hat…?“ „Ja! Als wär‘ es gestern gewesen!“, erwiderte ich und schon beim Gedanken daran musste ich grinsen. Er war nicht nur betrunken gewesen, sondern auch erkältet, dementsprechend hatte er sehr nasal geklungen. „I´m on a haaaaiiighway tuh häll!“, ahmte ich seine Performance nach, so gut ich konnte. „Du hast mich angeschaut und ich wusste sofort, dass du dich für ihn fremdschämst.“ „Tatsächlich?“ Eigentlich hatte ich weniger daran gedacht, als vielmehr, wie attraktiv David war und wie schön sein Lachen, das mir unter die Haut ging, und dass ich genau dieses Lachen noch viel öfter hören wollte. An diesem Abend hatte Mik mir David vorgestellt. Die beiden hatten sich bei einer Erstsemesterveranstaltung kennen gelernt, aber trotz dass sie unterschiedliche Fächer studierten, war David Mik nicht mehr losgeworden, schließlich würden sie an der gleichen Uni studieren, und er könnte ihm die Stadt zeigen und seine Freunde vorstellen und ihm bei der Wohnungssuche helfen… und so hatte alles begonnen. Mik hatte ich letztendlich die Bekanntschaft mit David zu verdanken. Eine Bedienung kam und wir bestellten unsere Getränke. Dann herrschte Schweigen zwischen uns. Kein angenehmes Schweigen. Diese stumme Übereinkunft, uns gegenseitig totzuschweigen, behagte mir nicht. Ich räusperte mich, stellte die Frage, die mich interessierte: „Hast du eigentlich was von Marie gehört seitdem?“ David schüttelte den Kopf, und seine Lockenfülle wippte mit. „Nein, wieso?“ Wieder Schweigen. Ich hätte dieses Thema nicht anschneiden dürfen. Die Bedienung brachte die Getränke. Aber…wenn das stimmte, was er über Marie sagte, drohte wenigstens aus dieser Richtung keine Gefahr mehr. Gefahr? Wie kam ich denn auf so etwas? Plötzlich merkte ich selbst, dass ich mich blöd anstellte, und dass ich so tat, als gäbe es mehr zu verlieren als in einer Schlacht. Aber zwischen uns stand viel mehr als Getränke und eine Schüssel Erdnüsse. Da war ein dicker Eisblock, für den man einen Bunsenbrenner bräuchte. „David, ich weiß, dass es eine blöde Idee war, ich hätte dich gar nicht erst überreden sollen mitzukommen, dann wäre nie passiert was nicht hätte passieren dürfen…das tut mir Leid. Und du hättest für die Uni lernen können.“ „Was tut dir leid?“, unterbrach er meine wirren Zugeständnisse. „Der Kuss oder was?“ Er hatte es ausgesprochen! Aus Nervosität trommelte ich mit den Nägeln gegen mein Glas. „Weißt du noch alles von diesem Abend?“ Meine schwitzenden Handflächen wischte ich an meiner Jeans ab. Davids Blick ruhte auf mir wie der eines Kindes auf seinem Märchenerzähler. „Natürlich. Ich habe ja nichts getrunken.“ Ich schaute zu den Dartspielern. Zwei davon gaben sich High Five und lachten siegessicher. Eine Handvoll Freunde, die richtig viel Spaß hatte. So, wie es zwischen David und mir jetzt nie mehr sein würde. Oder könnten wir es doch irgendwie wieder hinbiegen? Aber wollte ich das, mit ihm bloß befreundet sein? Nein! Ich wollte viel mehr…auch wenn ich es nicht bekommen würde. David ergriff das Wort. „Mich wundert es, ehrlich gesagt. Du sagst zu mir, du bist schwul – aber so kommst du mir irgendwie nicht vor. Das ergibt keinen Sinn. Weißt du denn, was du willst?“ „Wieso komme ich dir nicht so vor? Weil ich keine rosa Handtaschen trage?“, konterte ich. „Außerdem…du kommst mir auch nicht wie ein Theologiestudent vor! Weil du so normal bist!“ Ich amüsierte mich über seinen Gesichtsausdruck. „Aber genau das ist es. Weißt du, wieso ich bisher nicht gesagt habe? Um nicht darauf reduziert zu werden!“ Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch und hörte in meinem Kopf noch einmal Miks Stimme wiederhallen: Also ich hab ja nix gegen die, aber… Ich befahl ihm innerlich, die Klappe zu halten. „Es ist nicht meine Art, Menschen auf einzelne Eigenschaften zu reduzieren“, sagte David und stützte den Kopf mit einer Hand ab, um mich genauer zu betrachten. „Das tun andere Leute, aber nicht ich.“ „Ich weiß. Darum mag ich dich auch. Viel zu sehr.“ „Das habe ich bemerkt“, ging er auf meine Worte ein und ich senkte den Blick. David war auf der Eckbank dicht zu mir aufgerückt. Sein Bein berührte meinen Unterschenkel, was bereits heftigstes Kribbeln auslöste – Absicht von ihm, oder nicht? Ich rutschte ein Stück weg. „Du bist schon länger in mich verknallt, stimmt’s? Ich kniff die Lippen zusammen, nickte jedoch. Es hatte ja doch keinen Zweck zu leugnen. „Und ich hab überhaupt nichts bemerkt...“ „Das solltest du auch nicht. Aber… es ist mir oft schwer gefallen. Was…was glaubst du… wie oft ich schon… wie oft ich mich am Riemen reißen musste! Silvester zum Beispiel…“ War er heute? Der Tag, an dem absolut alles auf den Tisch kam? Ich hätte wissen müssen, dass irgendwann alles heraus kam. „Was war an Silvester?“, hakte er nach in seiner ruhigen, wohltuenden David-Manier. Silvester. Wir feierten bei Mik zuhause, hatten sturmfrei, allzu viele Leute waren wir nicht; seine Cousins waren da mit ein paar Mädchen, einige gute Freunde und David– und Davids Schmeißfliege. „Ich hätte dich da schon fast geküsst. Als du mich umarmt und mir ein schönes Jahr gewünscht hast, über uns das Feuerwerk. Oh, Fuck!“ Ich presste meine Hände vors Gesicht und schluckte. „Ich sollte dich damit nicht belasten!“ Ich erhob mich von der Bank und wollte einfach nur noch Land gewinnen. Auf dem schnellsten Weg zur Haltestelle, rein in die Bahn und bloß nicht an morgen denken. „Dominique! Warte!“, rief David mir nach, doch ich wollte ihn nicht hören. Ich fühlte mich furchtbar. Die kühle Nachtluft tat gut. Tief atmete ich durch und blendete strikt jeden Gedanken aus. Stramm ging ich die Straße entlang zur Haltestelle. Nur noch über diesen Zebrastreifen da und dann war ich schon an der Haltestelle. Da hatte mich David auch schon eingeholt. „Schluss jetzt mit dem Davonlaufen. Mensch, wir sind erwachsen“, sagte er und kam auf mich zu, immer näher, und umarmte mich. Ich ließ es einfach geschehen. Das Auto, das vor dem Zebrastreifen anhalten wollte, fuhr wieder an. Von mir aus. Im Moment wollte ich sowieso nur bei David bleiben, für immer in dieser Umarmung. „Dominique.“ „Hmm?“ „Samstagabend, das war auch wie ein Feuerwerk, dein Kuss.“ „Was?“ Ich prüfte seinen Gesichtsausdruck, ob er sich auch keinen Scherz erlaubt hatte. David strich mir über die Wange, und plötzlich fand ich mich abermals in einem Kuss mit ihm wieder, der den letzten noch in den Schatten stellte. Nur, dass er jetzt von ihm ausging. Ich wollte nicht mehr aufhören. Und David hörte auch nicht mehr auf. Meine Fingerkuppen tasteten seinen Hals entlang zum Nacken und ich schloss meine Arme um seinen Körper und versank in seine Wärme. Weich gebettet auf seine Kusslippen, genoss ich den Moment, der mir immer noch surreal erschien, sogar jetzt, beim zweiten Mal. Und irgendwann löste er sich zaghaft von mir. Ein Augenpaar ergründete mich, fixierte pingpongmäßig mein eines, dann mein anderes Auge. Und ich sah seinem Gesicht den Gedanken regelrecht an: So hat mich Marie noch nie geküsst. Ich zitterte. Nicht vor Kälte, nicht vor Nervosität, sondern vor Erregung. Es war amüsant, Davids feuerrote Ohren anzusehen, wie angeklebt wirkten sie, weil sie farblich gar nicht zum Rest des Kopfes passen wollten. Wieso hatte er das getan? Was war denn bloß mit ihm los? „Wir könnten doch mal einen Film schauen“, schlug er vor, jetzt völlig aus dem Kontext gerissen. Manchmal war er drei Gedankensprünge weiter, damit musste man leben. „Und welchen?“ „Den Lieblingsfilm von dir und mir.“ „König der Löwen!“, kam es von mir wie aus der Pistole geschossen. „Ich habe ihn auf DVD. Komm morgen zu mir, und da schauen wir ihn.“ „Morgen?“ „Ja. Oder kannst du da nicht?“ „Doch. Aber warte mal…“ Ich zerrte ihn an der Jacke zurück und lächelte nervös. „Nur zum Verständnis. Du und ich? Wir…?“ Weiter konnte ich nicht sprechen – wie absurd war das denn? David erwiderte mein Lächeln. „Bis morgen, Dominique.“ Er haute mir liebevoll auf die Schulter, auf dass ich mich endlich von ihm löste. „Dein Ernst?!“, rief ich ihm hinterher, aber bekam keine andere Antwort als sein Winken. Mein mit Endorphinen überschwemmtes Gehirn ließ mich zehn Zentimeter über dem Boden schweben. Wow, das war gerade ein Wahnsinnsabgang von David, wie im Kino. Mein Leben war wie ein Kinofilm! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)