Liebe führt, wie zu erwarten, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 13: Unergründliches Rot ------------------------------- "Ich find's ätzend, dass du mit Kinomiya über uns geredet hast." Verwundert sah Rei von seinem Buch auf und blickte zu dem Jungen, der so wie immer über ihm auf einem Ast saß. Es war der Samstag nach dem Nachmittag in der Stadt. Seitdem hatten sie nicht mehr wirklich miteinander geredet. In der Schule sprachen sie nie über wirklich Persönliches und nachmittags trafen sie sich unter der Woche wirklich nur sehr sehr selten. Es hatte ihn gewundert, dass Kai so einfach ja zu Takao gesagt hatte, aber das zeigte wohl nur, dass der Nerv den der Japaner getroffen hatte, umso empfindlicher gewesen war. Offensichtlich hatte Takao aber nicht nur einen Nerv getroffen, sondern Kai auch erzählt, dass sie über dieses empfindliche Thema geredet hatten. "Ich brauchte wen zum Reden.", war die einzige Antwort, die er darauf gab und er würde auch nicht weiter ins Detail gehen. Er war wütend gewesen, Kai hatte Mist gebaut und Takao war vertrauenswürdig genug, dass man es ihm nicht zum Vorwurf machen konnte, dass er sich ihn als Vertrauten gewählt hatte. Er musste sich nicht vor Kai rechtfertigen. "Aber ausgerechnet mit ihm? Ist das wirklich dein Ernst? Der Kerl hat den IQ einer Tütensuppe." Rei richtete seinen Blick wieder auf das Buch: "Sagt der, der sich von der Tütensuppe hat provozieren lassen." "Haben Schwuchteln für so was nicht immer eine beste Freundin, die sie damit zuschwallen können?" Rei lachte trocken auf bei dieser vollkommen absurden Bemerkung: "Keine Ahnung, sag du's mir." Eigentlich war die Situation gar nicht witzig, aber mit Humor ließ sich das Ganze am Besten ausstehen. Kai ließ öfter solche merkwürdigen Begriffe fallen, die eindeutig zeigten, dass er Homophob war. Das war bedenklich, aber er hatte sich dazu entschlossen nicht offen mit ihm darüber zu sprechen. Natürlich war der Kerl homophob. Seine sexuelle Ausrichtung brachte ihm nichts als Probleme und Rei hatte schon öfter gehört, dass gerade Russland ganz extrem gegen Schwule war. Er würde ihn nicht davon überzeugen können, dass es im Grunde kein Problem war, zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlte, also sparte er sich den Atem und versuchte solche Aussagen einfach mit Humor zu nehmen. Kai schnaubte nur und antwortete nicht mehr. Keine Reaktion die sonderlich überraschend kam. "Ich denke nicht, dass es noch einmal geschehen wird, dass ich mit Takao über uns beide rede. Aber ich will es nicht versprechen. Wer weiß was du in den nächsten Monaten noch so anstellst." "Ist das etwa eine Drohung?" Die Stimme von Kai klang herausfordernd und spöttisch, doch Rei ließ sich davon sicherlich nicht beeindrucken: "Ja! Wenn du wieder Mist baust brauche ich jemanden zum Reden. Ich werde das sicherlich nicht sein lassen, nur weil du Takao nicht magst. Ich kann dir nur versprechen, dass ich nicht einfach so mit irgendwem über uns spreche. Also reg dich nicht auf." "Hm." Damit war das Gespräch dann wohl erst einmal beendet. Es kehrte wieder Ruhe in dem kleinen Park ein, doch statt sich wieder auf sein Buch zu konzentrieren, wandte Rei seinen Blick zum Himmel. Es war kein Wunder, dass es so ruhig war. Es war ziemlich kalt und die Wolken hingen schwer und grau am Himmel. Niemand normales verirrte sich an so einem Tag in einen Park. Heute würde es wahrscheinlich noch nicht schneien, aber spätestens morgen wäre es sicherlich so weit. Der erste Schnee des Jahres. "Es wird langsam echt zu ungemütlich um sich weiter hier zu treffen. Was machen wir, wenn es noch kälter wird?" Vielleicht könnten sie sich ja bei ihm treffen oder bei Kai zu Hause. Oder sich als Gastgeber abwechseln. Aber irgendwas mussten sie seiner Meinung nach tun, denn schon heute war es wirklich unangenehm kalt. Er selbst konnte nur hier herum sitzen, weil er sich eine große Thermoskanne voll Tee mitgebracht hatte. "Hm? Warum sollte das ein Problem sein?" Typisch. Natürlich empfand der Russe es nicht als kalt. In seinem Land war es um diese Jahreszeit sicherlich viel kälter und der harte Hund fror natürlich nicht! Rei seufzte. "Ja schon klar. Ein Kai Hiwatari friert nicht. Wie konnte ich das nur annehmen?" Reis Stimme triefte vor Sarkasmus. "Jedenfalls ist mir jetzt schon ziemlich kalt und ich habe kein Interesse daran mir hier irgendwann den Tod zu holen." "Tze. Weichei." "Wa...? Hey! Hör auf mich zu beleidigen!" Das war ja wohl die Höhe! Plötzlich landete Kai neben ihm, was ihn erschreckt zusammenzucken ließ. Noch ehe er reagieren konnte, hatte sich der Russe über ihn gebeugt und war ihm so nahe gekommen, dass er dessen Atem in seinem Gesicht spüren konnte. "Ich könnte dich ja auch einfach den Winter über warm halten." Diese Worte und der Blick in diese unergründlichen, roten Tiefen ließen Rei leicht erschauern. Für einen Augenblick überlegte er, seine Vorsätze einfach über Bord zu werfen und Kai zu küssen, entschied sich aber letztendlich dafür, ihn von sich weg zu drücken. "Hör auf so einen Unsinn zu reden! Das ist auch keine Lösung!" Auch wenn er zugeben musste, dass es eine schöne Vorstellung war, hier, unter dem Baum, an Kais Körper gelehnt zu sitzen und dessen Wärme zu genießen. "Selbst dafür wird es zu kalt und vor allem zu nass sein!" Kai schnaubte nur und schien etwas angefressen zu sein. Irgendwie war das ja niedlich, auch wenn es vorrangig ein wenig nervig war, dass er so schnell eingeschnappt war. Aber es war immerhin Kai. Würde Rei mit so etwas nicht klar kommen, dann hätte er sich sicherlich nicht so darum bemüht, sich mit ihm anzufreunden. "Du weißt, dass es nicht gut wäre, wenn wir uns so nahe kommen.", meinte er versöhnlich um seinen Freund ein wenig zu beruhigen. "Warum nicht? Wo ist das Problem? Es ist ja nicht gleich wieder Sex." Für einen Moment überkam Rei ein kalter Schauer und er blickte sich in dem Park kurz um. Natürlich war hier niemand der das hätte hören können. Dennoch war es ihm unangenehm, wenn Kai so offen darüber sprach und dabei ging es nicht einmal im Speziellen darum, dass er mit einem Kerl geschlafen hatte. Er redete im Allgemeinen nicht gerne in der Öffentlichkeit über so etwas. Da kam eindeutig seine konservative Erziehung durch, mal davon abgesehen, dass sein Liebesleben nun wirklich niemanden etwas anging. "Du weißt genau warum. Ich bin immerhin nicht der gewesen, der so viel Angst vor der bevorstehenden räumlichen Trennung hatte, dass er versucht hat mich mit allen Mitteln von sich fern zu halten!" Klang das nur in seinem Kopf so wirr oder war es das tatsächlich gewesen? "Was ändert sich denn? Weg gehst du so oder so. Ich habe mich dazu entschieden dich nicht weg zu schieben, warum dann nicht noch einen Schritt weiter gehen?" Rei seufzte genervt, klappte sein Buch zu und stand auf um Kai anständig in die Augen sehen zu können. "Was sich ändert?", fragte er ärgerlich und mit Nachdruck. "Denk doch mal nach! Wenn wir eine...", er stockte und sah sich noch einmal um. Gott, warum fiel ihm das plötzlich so schwer? Er hatte schon oft über Beziehungen gesprochen und auch in der Öffentlichkeit, aber gerade bekam er das kaum über die Lippen. "Wenn wir eine Beziehung hätten... dann würde die zu Bruch gehen sobald ich weg bin und das will ich dir nicht auch noch antun. Es ist schwer genug Freundschaften über solche Distanzen aufrecht zu erhalten. Eine Liebesbeziehung zu erhalten ohne, dass man sich auch nur ansatzweise regelmäßig sehen kann, ist fast unmöglich und auch ziemlich utopisch. Das würde nicht gut gehen. Ich will dich nicht so sehr verletzen." Wieder war ein Schnauben zu hören. Der junge Chinese hatte während seiner Worte seinen Blick abgewandt und sah nun auf einen Punkt, der irgendwo in der Unendlichkeit lag. Erst Kais Worte rissen ihn wieder in die Wirklichkeit: "Das ist wohl meine Sache, oder? Wag es nicht Entscheidungen für mich zu treffen! Außerdem..." Die roten Augen glitten kurz musternd über Rei, ehe Kai fortfuhr: "Außerdem habe ich nicht das Gefühl, dass es hier um mich geht. Kann es nicht vielleicht sein, dass du es bist, der Angst vor dieser Trennung hat?" Kurz schluckte Rei. War das so? Nutzte er Kai nur als Ausrede, damit er selbst nicht zugeben musste, dass er furchtbare Angst vor dem Schmerz hatte? Vielleicht... "Ist das denn so verwunderlich!?" Er zuckte selbst vor seinen eigenen Worten zurück. Nicht nur, weil ihn der Inhalt selbst überraschte, sondern auch, weil die hohe Lautstärke vollkommen untypisch für ihn war. "Ehm..." Wo hatte er sich da jetzt nur reingeritten? Warum war er so nervös? Das kam so plötzlich, dass er nicht damit umgehen konnte. Wo war nur seine Ruhe geblieben? Vielleicht hatte er die letzte Zeit zu wenig meditiert, das sollte er nachholen. Kai sah ihn abwartend, aber ansonsten vollkommen ruhig an. Diese Gelassenheit stand so vollkommen im Kontrast zu seinen eigenen Gefühlen, dass es ihn nur noch nervöser machte. Konnte er nicht irgendwas sagen, statt einfach nur herum zu stehen und auf irgendwas zu warten? In seinem Kopf lief alles zu durcheinander um jetzt noch einmal den Mund auf zu machen. Überfordert wandte er den Blick wieder von seinem Gegenüber ab und versuchte sich zu sammeln. "Du hast schon zu viele zurück gelassen, nicht wahr? Du kennst den Schmerz zu gut. Ein gebranntes Kind, das nun Feuer scheut. Nein, natürlich ist das nicht verwunderlich." Rei atmete nach diesen Worten, die so gut ausdrückten, was er empfand, erleichtert aus. "Ja... ich denke schon." Wann hatte Kai eigentlich angefangen ihn so gut zu verstehen? Der stille Russe schien doch mehr vom Zwischenmenschlichen zu verstehen, als es den Anschein machte. Irgendwie war das aber nicht verwunderlich, wenn er jetzt so darüber nachdachte. Schließlich hatte sein Freund von Anfang an versucht, sein Wissen zu nutzen, um ihn möglichst weit von sich weg zu schieben. Verständnis von Zwischenmenschlichem konnte man eben auch anders herum benutzen. Er hob den Blick wieder und lächelte Kai an. Langsam wurde es in seinem Innern wieder etwas ruhiger. "Lass uns doch einfach sehen, wo es hin führt." Die vorige Entspannung schlug augenblicklich in Misstrauen um: "Wo kommt das auf einmal her? Vor ein paar Wochen hast du noch versucht mich loszuwerden!" "Und ich habe es nicht geschafft, warum es also weiter versuchen? Weh tun wird es so oder so wenn du weg bist. Da können wir versuchen so viel Kontakt zu halten wie wir wollen, es ändert nichts daran, dass alles, was wir uns aufbauen, dann nicht mehr da ist. Es bleibt nur eine Brieffreundschaft. Ob jetzt eine Beziehung oder eine Freundschaft in die Brüche geht... ist der Unterschied wirklich so anders?" Rei wusste nicht wirklich, was er sagen sollte. Da hatten sie so lange darüber diskutiert, wie sie Kontakt halten sollten, wie sie es schaffen würden ihre Freundschaft aufrecht zu erhalten und dann sagte er so etwas. Was sollte das? "Du denkst also wirklich, dass unsere Freundschaft zerbricht?" In Reis Hals bildete sich ein Kloß. Wo kamen die Gedanken seines Freundes plötzlich her? Er hatte immer so geredet, als glaube auch er daran, dass sie Freunde blieben. War das wirklich sein Ernst? "Du verstehst das falsch!" "Was gibt es da schon falsch zu verstehen? Ich dachte wir wären uns einig, was das Thema angeht! Ich dachte wirklich..." ... dass er einer der Personen sein würde, mit dem er auch in Jahren noch befreundet sein würde. Am liebsten wäre er jetzt einfach davon gelaufen. Das durfte doch nicht wahr sein! Wofür gab er sich denn all die Mühe? Nur, damit auch dieser Kontakt einschlafen würde? Warum nur war er fast niemandem diese Arbeit wert? "Du bist was das Thema angeht viel zu empfindlich. Hör mir wenigstens zu, damit du weißt, warum du am Ende sauer abziehst." Sauer abziehen klang nach einem guten Plan. Das sollte er vielleicht wirklich tun. Dennoch blieb er. Denn seine allseits vorhandene Vernunft warnte ihn, dass es der falsche Weg wäre. So blieb er da und hörte sich an, was Kai noch zu sagen hatte, auch wenn ein gewisser Teil in ihm Angst vor der Antwort hatte. Die letzten Wochen waren so schön gewesen, dass er wirklich geglaubt hatte, dass alles in Ordnung sei. Hatte er sich wirklich so getäuscht? "Du wirst nicht mehr da sein.", fuhr Kai dann fort und wandte sich etwas von ihm ab um in den Park zu sehen. Die Geste wirkte nicht wirklich abwehrend, eher konfrontationsvermeidend. Dennoch tat es irgendwie weh, dass er ihm die kalte Schulter zeigte. "Egal wie viel Kontakt wir haben: Wenn du weg bist, ist alles wie vorher. Ich werde dann nur einen neuen Brieffreund haben. Mein Freund ist dann weg." Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Es schien Kai wirklich viel auszumachen ihn wieder zu verlieren. Aber war das denn wirklich so verwunderlich? Er wusste doch selbst nur zu gut, wie es war, Freunde auf diese Weise zu verlieren. Er konnte ihn verstehen, wirklich. Manchmal vergaß er, dass es auch für die schwer war, die er verließ. "Tut mir leid. Du hast recht. Für dich ist dann im Prinzip alles wie vorher." Vielleicht hätte er ihn doch in Ruhe lassen sollen. Gerade hatte er wirklich das Gefühl genau das getan zu haben, was er hatte vermeiden wollen. Ja, er hatte sich mit Kai anfreunden wollen, aber er hatte ihm nie weh tun wollen. Und genau das tat er wohl gerade. Andererseits... war es wohl längst zu spät um das noch rückgängig zu machen. "Und was jetzt? Wie geht es weiter? Sagst du mir jetzt, dass wir es lieber jetzt schon bleiben lassen sollen, damit es am Ende nicht noch mehr weh tut?" "Schwachkopf!" Verwirrt hob Rei wieder den Blick und besah sich das Profil seines Gegenübers. Kai sah ihn nicht an, sah nur stur gerade aus. "Hast du mir nicht zugehört? Ich habe dir gerade noch angeboten das zwischen uns sogar noch zu vertiefen. Warum kommst du Dummkopf jetzt also auf die Idee, dass ich die Freundschaft auflösen will?" Rei fiel ein ganzer Steinbruch vom Herzen. Er hatte wirklich einfach nur überreagiert. Es war alles in Ordnung. Nun ja, zumindest so weit in Ordnung, wie es eben sein konnte. Sie wussten beide, dass sie traurig sein würden, sobald seine Eltern wieder umzogen. "Ich bin mir dennoch nicht sicher, ob eine Beziehung so eine gute Idee ist. Das macht es am Ende doch nur noch schlimmer." "Müsstest du nicht am Besten wissen, dass der Schmerz irgendwann wieder verschwindet und nur die guten Erinnerungen bleiben? Warum willst du dich so sehr darauf festlegen? Lass uns sehen, was wird." Rei musst schmunzeln, auch wenn ihm dazu noch nicht richtig zu Mute war. "Das sagt ausgerechnet der, der am Liebsten schon einen detaillierten Plan für sein ganzes Leben hätte? Seit wann so spontan?" "Hm." Huh, das war es dann also wieder mit der Gesprächigkeit. Auch egal, es war nicht wichtig. "Wir können uns den Winter über bei mir treffen, wenn dir das Recht ist." Und damit gab Rei selbst das Einverständnis, einfach zu sehen wo es hin führte. Warum auch nicht? Irgendwann würde die schöne Erinnerung bleiben und vielleicht würde er ansonsten irgendwann bereuen, es nicht einfach versucht zu haben. Vielleicht würde auch gar nichts passieren und sie würden am Ende einfach nur normale Freunde sein. Ein vorfreudiges Kribbeln breitete sich in seinem Magen aus. Es würde spannend werden das heraus zu finden. Er freute sich darauf. Als eine Windböe aufkam, die ihn frösteln ließ, fiel Reis Blick einmal mehr auf den Schal, der stets um Kais Hals lag. Jetzt wo die Tage kälter geworden waren, trug er ihn sogar in der Schule. Einmal mehr fragte er sich, ob der weiße Stoff eine besondere Bewandtnis hatte. Er entschied, dass es an der Zeit war, das aufzuklären. Vielleicht hatte er ja Glück und er würde eine Antwort bekommen. "Sag mal, Kai... was hat es eigentlich mit dem Schal auf sich? Du trägst ihn ständig, sogar in Häusern." Erst jetzt wandte sich sein Gesprächspartner wieder ihm zu, berührte mit der Hand kurz den Stoff um seinen Hals und schwieg mit einem nachdenklichen Ausdruck in den Augen. So war es besser. Rei fühlte sich wohler in der Rolle des immer neugierigen Freundes, als selbst ausgefragt und unter die Lupe genommen zu werden. "Das hat mehrere Gründe.", kam es dann langsam von Kai. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob er das wirklich preisgeben wollte, aber aus der gesammelten Erfahrung heraus, wusste Rei, dass die Chancen recht gut standen, wenn er überhaupt schon angefangen hatte, darüber zu sprechen. So wartete er geduldig und genoss die erneute innerliche Ruhe und die gewohnte Neugier, die ihn dabei durchströmte. Es vergingen tatsächlich einige Minuten und Rei war schon kurz davor gewesen, noch einmal nachzufragen oder es aufzugeben, aber dann redete Kai tatsächlich weiter. Seine Hand ruhte dabei weiterhin auf dem Schal. "Ich kann mich an meine Eltern eigentlich gar nicht mehr erinnern. Ich habe bei meinem Großvater ein paar Bilder meiner Mutter gesehen, aber sie sagen mir nicht wirklich etwas. Dennoch bilde ich mir manchmal ein, mich zu erinnern, wie ich diesen Schal von ihr geschenkt bekommen habe. Vielleicht habe ich es auch nur geträumt, dennoch, kann ich ihn deshalb nicht wegwerfen." Rei blieben die Worte im Halse stecken, bei dieser Offenbarung. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Kai so rührselig zu sehen war so ungewohnt, dass er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Der nachdenkliche Blick seines Gegenübers verhärtete sich aber so schnell wieder, dass ihm keine weitere Zeit blieb, überhaupt noch darüber nachzudenken. Der Moment war so schnell vorbei gegangen, dass er nicht hatte reagieren können. Distanziert fuhr Kai fort: "Anfangs habe ich ihn gar nicht getragen, sondern ihn nur aufbewahrt. Aber per Zufall hat er sich als äußerst praktisch herausgestellt, da habe ich mir angewöhnt ihn zu tragen." "Praktisch?" Wie hatte er das denn zu verstehen? Natürlich war ein Schal praktisch, schließlich hielt er den Hals warm und schützte ihn vor Wind und Wetter, aber das konnte wohl unmöglich der Grund sein, zumal man das nicht durch Zufall herausfindet. "Ich zeig's dir." Kai kam auf ihn zu und zog sich in einer fließenden Bewegung den Schal vom Hals. Gespannt beobachtete er ihn und genoss das Gefühl, als er ihm den Stoff umlegte. Locker legte das Kleidungsstück sich um seinen Hals, es fühlte sich gut an. Der Schal war weich und angenehm und er roch eindeutig nach Kai. Einige Momente verstrichen, in denen er sich fragte, was jetzt der Nutzen dieser Aktion war, doch plötzlich schnellte Kais Hand vor. Nur seinen gut trainierten Reflexe war es zu verdanken, dass er überhaupt reagierte, doch durch die Überraschung tat er das viel zu spät. Die Finger schlossen sich kräftig um seinen Hals und... rutschten wieder ab, als er weiter versuchte zurück zu wichen. Der Schal verhinderte, dass der Griff halt fand, stattdessen ballte sich die Faust jetzt um den vorderen Teil, berührte den Körper somit also gar nicht. Praktisch. Dennoch packte er die Hand und riss sie von sich weg. "Erschreck' mich doch nicht so!" Sein Herz schlug noch immer so stark, dass er es förmlich in seinen Ohren widerhallen hörte. Kai interessierte das aber scheinbar gar nicht. Er wirkte eher sogar unzufrieden. "Du musst schon stehen bleiben, sonst kann ich es dir nicht zeigen. Aber das ist natürlich auch einer der Vorteile." Verwirrt und schockiert blinzelte ihn Rei an. "Du... du trägst einen Schal, weil man dich dann nicht so gut Würgen kann?" "Der Druck verteilt sich anders, es tut weniger weh und es braucht mehr Kraft um einem die Luft abzudrücken." "Was... zum Teufel hat man mit dir gemacht?!" Er konnte es kaum fassen. Klar, die Narben deuteten schon auf eine üble Misshandlung hin, aber das setzte dem Ganzen wirklich die Krone auf. Der Schal drückte plötzlich bleiern und schwer auf seine Schultern. Er war eine Last, eine alte Angewohnheit, eine Erinnerung an eine Zeit, in der sich ein Junge davor zu schützen versuchte, erwürgt zu werden. Behutsam wurde ihm der Stoff wieder abgenommen und fand bald darauf wieder seinen Platz am Hals seines Besitzers, doch die Last auf seinen Schultern wollte nicht verschwinden. "Das ist nicht wichtig, es ist Vergangenheit." "Warum sagst du das? Natürlich ist das wichtig!" Doch von Kai kam erst einmal keine Reaktion mehr. Überfordert entspannte Rei seine Schultern wieder und musterte seinen Freund vorsichtig. "Willst du mir nicht endlich erzählen, was mit dir passiert ist?" Jetzt wandte sich Kai wieder ab, sah ihn nicht mehr an, schien aber eher nachdenklich als beleidigt oder abwehrend. "Warum ist dir das so wichtig? Es ist vorbei." "Weil es ein Teil von dir ist! Ein sehr wichtiger Teil, denn ohne das, was dir passiert ist, wärst du sicherlich nicht so, wie jetzt. Und ich würde gerne wissen, warum du so bist." Kai versteifte sich augenblicklich, sein Ausdruck wurde starr und steinern. "Warum? Bin ich nicht in Ordnung wie ich bin?" Da hatte er wohl einen wunden Punkt getroffen. Dachte Kai tatsächlich, dass er, so wie er war, nicht in Ordnung war? Kurz kam ihm wieder in den Sinn, dass sich der Russe selbst einmal als 'Straßenköter' bezeichnet hatte. In diesem Jungen musste eine ziemliche Portion Selbsthass stecken. "Nein. Du weißt, dass ich dich gut finde, wie du bist. Aber ich möchte dich gerne besser verstehen können." Dieser Tag heute war wirklich nervenaufreibend. Für beide von ihnen. Sonst redeten sie manchmal eine ganze Woche nicht miteinander und dann, an solchen Tagen wie heute, redeten sie so viel, dabei sollte man meinen, es wäre einfacher, solche Themen in kleinen Häppchen anzuschneiden. Aber dazu waren sie beide wohl einfach nicht der Typ. Sie fraßen beide gerne Dinge in sich hinein, schoben wichtige Gespräch auf und dann kam eben manchmal alles auf einmal hoch. "Es ist einfach nicht mehr wichtig für mich. Warum also darüber reden?" Das war dann wohl sein letztes Wort dazu gewesen. Rei seufzte. Er würde wohl nie erfahren, was mit seinem Freund passiert war. Ein kleines Stimmchen in seinem Kopf sagte ihm, dass es vielleicht besser so war. "Vielleicht, irgendwann.", sagte Kai dann aber plötzlich. "Vielleicht will ich irgendwann ja wieder darüber reden. Dann erzähle ich es dir." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)