Shee von Pfeffersosse (Teil 1) ================================================================================ Kapitel 1: Ein ganz normaler Tag? --------------------------------- Die Sonne schien über die saftig grünen Wiesen und Täler. Sie schimmerten silbern vom Schein des warmen Sommerregens. Das Wetter war von einem Moment auf den anderen umgeschlagen und so verscheuchte der warme Stern nun die Nässe der vorherigen Stunden und zauberte einen wunderschönen Regenbogen auf den Himmel. Viele Iuteraner begutachteten dieses außergewöhnlich seltene Spektakel und hielten es in ihren Herzen fest. Einige standen sogar da und hatte ihre Aufnahmegeräte bereitgehalten, welches dieses Spektakel für sie immer festhielt. Doch andere schliefen noch tief und fest und konnten deswegen dieses Ereignis nicht fest in ihre Gedanken brennen. Denn es war noch recht früh und es waren die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages, dennoch begangen einige Iuteraner jetzt schon ihren Morgenritus. In einer der abgelegenen Nachbarschaften klopfte der schwarzhaarige, groß gewachsene, junge Mann währenddessen etwas grob an die Haustür seiner besten Freundin. Seine Haare glänzten bläulich in der Sonne und schienen nicht von dieser Welt zu sein. Doch jeder der Anwohner liebte sie und hinterfragte deshalb nicht die spezielle Färbung. Seine tiefe Stimme hallte ein wenig in der frühen Stunde und man konnte vernehmen: „Shee! Wach endlich auf, du verpennst sonst noch den ganzen Tag.“ Die Nachbarn, die vorbeigingen mussten kichern, weil Nimko – der Name des jungen Mannes – meist den Weckdienst der jungen Shee übernehmen musste. Ein Poltern im Inneren des Hauses zeigte dem jungen Mann deswegen, dass er sicherlich auch heute die Höhle des Löwen wieder einmal betreten würde. Denn wenn Shee etwas nicht mochte, dann war es das ungewollt frühe Wecken am Morgen. Weswegen hatte sie denn sonst Wecker im Haus stehen, wenn diese doch nicht klingeln oder piepen mussten – da Nimko ihnen immer zuvorkommt. Die Tür wurde aufgerissen und der arg zerzauste Kopf von Shee blickte durch den Spalt. „Ich hoffe es ist wichtig, wenn du mich schon so früh aus dem Bett schmeißt.“ Shees verschlafener Blick und ihre leicht zugeschwollenen Augen waren Kund genug, dass sie entweder nicht genug Schlaf abbekommen oder einfach nur falsch auf dem Bett gelegen hatte. Doch Nimko kümmerte es nicht. Er hatte heute wieder einiges mit seiner besten Freundin vor und da war es nun mal wichtig, dass sie auch früh genug aus den Federn kam. Nimko lächelte Shee deshalb freundlich an und hielt ihr ein kleines Päckchen hin und sagte: „Du scheinst wirklich noch halb zu schlafen, aber du hast mir versprochen zu helfen. Hier ist Frühstück für dich drin, damit dein Tag auch gut anfängt.“ Er ging einfach an ihr vorbei in das Haus und ließ sich auf den nächstbesten Sessel fallen. Shee blieb wie erstarrt da stehen und drehte sich nur langsam zu ihrem besten Freund um. Wenn sie eines nicht mochte – und das müsste er ja wissen – dann war es ungebetener Zutritt zu ihrer Wohnung, zumal sie gerade erst aus dem Bett gefallen war. „Schläfst du immer halb nackt?“ Sein nichtssagender Blick glitt langsam über ihren Körper und trieb Shee die Schamesröte ins Gesicht. Sie knallte die Tür zu und gab ihm einen festen Schlag gegen die Schulter. Dann hetzte sie an ihm vorbei und rief noch: „Du bist so ein Idiot! Ich schlaf nun mal nur mit einem Shirt. Wo liegt dein Problem?!“ Shee wollte einfach nicht, dass Nimko sie so sah. Sonst war er doch auch nie in ihre Wohnung eingedrungen, warum also ausgerechnet heute? Sie hatte zwar nichts dagegen, dass er mal bei ihr war, aber es störte sie dennoch wenn er sie so anschaute. Was erwartete er denn von ihr? Es war warm und Shee liebte es halt nun mal halbnackt zu schlafen. Es störte sie nur, weil er etwas gesagt und sie so angeschaut hatte. Es war ja nicht so, als sei sie wirklich nackt unter dem Shirt. Mitnichten, aber das Thema war nun für sie abgehakt und sie stand kurze Zeit später in voller Montur vor ihm. „Du hättest wenigstens ein wenig warten können, ehe du reingestürmt kommst wie ein Tornado. Immerhin stört man das Morgenritual einer Lady nicht.“ Shee war noch immer etwas mürrisch, aber das würde sich sicherlich noch schnell genug legen. Immerhin konnte sie Nimko schnell verzeihen, auch wenn sie nicht genau wusste woran das lag. Vielleicht weil er für sie wie ein kleiner Bruder war und sie ihm deshalb nichts verübeln konnte? Obwohl er eher ihr großer Bruder sein müsste, immerhin war er zwei Jahre älter. Sie seufzte und strich sich über ihre Kleidung. Es dauerte nur etwas länger, da ihr etwas Gewisses fehlte: die zweite Hand. Sie brauchte generell ein wenig länger, aber diesem konnte sie meist gut ausweichen. Als sie jünger war – sie wusste zwar nicht mehr ganz genau wann – hatte sie eine Auseinandersetzung mit einem der ansässigen Tiere gehabt. Eines davon attackierte sie und zerfleischte ihren linken Unterarm. Da sie eine Kämpfernatur war, überlebte sie diese Attacke, lehnte aber strickt eine Prothese ab. Immerhin zeigte der Verlust ihr, wie hart die Natur sein konnte. Das konnte nur zu ihrem Vorteil sein. Shee war keine Memme, deshalb störte es sie auch nicht, wenn eine Aktion bei ihr etwas länger dauerte. Sie öffnete auch langsam den kleinen Karton, den ihr Nimko mitgebracht hatte und lugte kurze Zeit später hinein. Ihre Augen glänzten, denn sie liebte diese kleinen Schnittchen, die darin lagen, abgöttisch. Vielleicht sollte sie Nimko zu ihrem Nahrungslieferanten machen, dieser schien ja genau zu wissen, was sie wann zu essen brauchte. Sie fischte sich eines der Schnittchen heraus und legte es auf einen Teller. Ihre Laune hatte sich vom Anblick des Essens alleine schon etwas gehoben und so war es auch nicht verwerflich, dass sie mit Genuss einen Bissen nach dem anderen verschlang. Sie konzentrierte sich nur noch darauf und blendete dafür die Außenwelt einige Zeit aus. Nimko ließ ihr auch diesen Moment der Ruhe und gönnte sich auch eines der kleinen Schnittchen. Doch die Ruhe hielt nicht sehr lange an, denn eine sanfte Melodie kündigte den täglichen Morgengruß an und Shee fand sich schnell wieder im Hier und Jetzt. Sie seufzte deswegen etwas genervt. Sie wollte und konnte der Frauenstimme einfach keinen Glauben schenken, denn zu viel konnte passieren, wenn man das tat was die Stimme verlangte. Aber jeder in Iutera wusste, genauer noch im Bezirk D5-3F, was jetzt auf einen zukommen würde. Denn dieser tägliche Morgengruß hatte zur Folge, dass man einige Stunden regungslos in der eigenen Wohnung – sei es nun auf einem bequemen Sofa oder im Bett – verbringen würde, ohne wirklich viel mehr tun zu können. Bewegungslose Körper würde man dann in den Häusern vorfinden und nur sehr wenige auf der Straße, die sich nicht auf dieses Ritual einließen. Eine freundliche Frauenstimme fing an zu reden: „Guten Morgen liebe Iuteraner. Wir schreiben heute den 23. Martikus im Jahre 2114. Ich wünsche Jedem eine erholsame Zeit in der jeweiligen ViWo, in die Ihr versinken könnt. Ich bitte Euch nun um 9 Punkt 45 die dazu vorgesehen Visiere aufzusetzen und Euch dann zu entspannen. Es gibt wie immer keine Risiken und Nebenwirkungen und die Benutzung ist Jedem frei überlassen. The Brain wünscht Euch schöne Stunden in Eurer eigenen Traumwelt.“ Mit einem Kriseln verschwand die Stimme und sanfte Musikklänge schallten durch die Luft. Shee lachte auf und stopfte sich die nächste volle Gabel mit Schnittchen in den Mund: „Von wegen es ist Jedem ‚frei überlassen‘. Man muss diese scheiß Teile ja erst einmal manipulieren, um überhaupt ‚frei‘ zu sein, um daraus flüchten zu können.“ Angewidert blickte sie auf das Visier und schaute es sich noch einmal genau an. Es legte sich perfekt über die Augen und Ohren und man konnte von außen keine Geräusche wahrnehmen. Solange man unter dem Visier lag, war die Realität wie weggewischt und man hing in der virtuellen Welt fest. Shee würde es ja gerne nutzen, aber ihr wurde bis jetzt jedes Mal schlecht und sie konnte nicht länger als 15 Minuten darunter bleiben. Woran es genau lag war ihr unklar, aber sie wollte die Sache eh nicht wirklich und da war es ihr eigentlich ziemlich egal, was da jetzt für sie gezeigt wurde oder nicht. Immerhin liebte sie ihre Freiheit und sie wollte sich nicht von der virtuellen Realität blenden lassen. „Ich frage mich ja immer noch, wie es kommt, dass du diese Teile so problemlos manipulieren und hacken kannst. Immerhin wurden sie von The Brain persönlich hergestellt und eingerichtet. Du musst mir das mal genauer erklären und beibringen.“ Shee grinste ihren Freund an und legte das Visier wieder hin. Dann wurde sie wieder ernster und hakte nach: „Wieso bist du heute überhaupt hier? Oder besser gefragt, wieso bist du ‚schon‘ jetzt hier. Wir hätten uns ja eh nachher um 9 Punkt 45 gesehen, also. Raus mit der Sprache.“ Sie beugte sich zu ihm herüber und wartete gespannt auf eine Antwort. Obwohl sie sicherlich keine genaue bekommen würde, so war Nimko einfach. Nimko ließ sich wieder einmal nicht aus der Ruhe bringen und lächelte Shee einfach nur an: „Du bist wirklich manchmal ziemlich ungeduldig. Darf ich etwa keine Zeit mit dir verbringen? Du weißt so gut wie ich, dass ich dieses Visier genau so wenig vertrage wie du. Ich denke, da ist es doch nicht verwerflich, wenn ich ein wenig früher bei dir vorbeischauen möchte und dir Frühstück mitbringe? Immerhin ist der Bezirk nachher wie leergefegt und die Geschäfte haben dann geschlossen. Du willst doch sicherlich nicht hungrig die ViWo-freie Zeit verbringen?“ Er stand auf und suchte nach zwei Tassen, drückte dann einen Knopf und kam mit zwei dampfenden Tassen wieder zurück. Der Stand der Technologie ermöglichte es, dass die einzelnen Behälter sofort mit der gewünschten Flüssigkeit gefüllt wurden. Dies erleichterte Vieles und so konnte man sich besser auf das Wesentliche konzentrieren. Shee mochte diese Art von Technologie eigentlich nicht so sehr, weil sie so einen großen Eingriff in ihr Privatleben hatte. Immerhin konnte der Apparat, alleine durch einen Knopfdruck, ermitteln, was man trinken wollte. Wie dies genau funktionierte, war ihr zwar ein kleines Rätsel, aber Nimko würde sicherlich eine Antwort darauf wissen. Er hatte sie schon so viel gelehrt, da würde sicherlich ein wenig von seinem Fachchinesisch Klarheit schaffen. Denn wenn Shee eines war, dann war es lernfähig. Alleine durch die Beschreibungen und Führungen, die ihr Nimko gab, konnte sie im Alleingang Sachen hacken und aus der Ferne abschätzen, wie lange sie wohl dafür brauchen würde. Dies hatte ihr schon einige Male den Hintern gerettet. Der Tee dampfte und Shee blickte einige Zeit hinein. Er war etwas trüb und dem Geruch nach zu urteilen, handelte es sich wohl um einen Schwarztee. Nimko wusste schon lange, was Shee mochte und was nicht. So war es auch nicht mehr komisch für sie, dass sie auch immer das Richtige von ihm bekam. Bis jetzt hatte er nur einige Male danebengegriffen und ihr etwas serviert, das sie absolut nicht mochte. Sie blickte wieder hoch und hoffte, dass sie nun aus diesem Gedankenwirrwarr befreit war und sagte: „Ich denke nie daran, dass auch die Geschäfte schließen, wenn die Iuteraner in der ViWo sind. Es ist halt nur komisch, dass du mich heute auch wirklich aus dem Bett klingelst. Meist bin ich schon wach, ehe du hier bist. Du musst mich wohl heute wirklich auf einem falschen Fuß erwischt haben.“ Sie schüttelte kurz den Kopf und trank einen Schluck. ViWo war die Kurzform für – wer hätte es gedacht – Virtual World. Iuteraner, die nicht darin versinken wollten, hatten einen zweiten Namen dafür erfunden, der da lautete: Virtual Torture. Shee benutzte ViTo meistens auch, aber sie fand, dass es auch mal an der Zeit war die Sachen beim Namen zu nennen. Immerhin befand sie sich auch selbst manchmal in der ViWo, auch wenn sie es nicht lange darin ertrug. Nostalgie war der Grund dafür, denn sie wusste nicht warum, aber die ViWo hatte immer genau die richtigen Erinnerungen parat, die einen für den Rest des Tages aufbauten oder traurig machten. So verbrachte sie schöne Minuten mit verstorbenen Familienangehörigen oder spielte mit sich selbst als Kind am Strand. So schön die Erinnerungen auch waren, einen bitteren Nachgeschmack hatten sie trotzdem. Immerhin sah sie nur ein Abbild der Vergangenheit und Verstorbene konnte man damit auch nicht wieder zurückbringen. Viele ihrer Freunde und Nachbarn waren besessen davon in die ViWo zu gehen, denn es gab sogar welche, die das Visier keinen Moment abnahmen, weil sie so sehnsüchtig auf den Moment warteten, auf den sie stundenlang ausharrten. Dies führte natürlich letztlich dazu, dass sie völlig erschöpft waren und den Moment dann meist nicht genießen konnten. Denn, soviel stand fest, die ViWo funktionierte besser bei ausgeschlafenen und fitten Iuteranern. Die Dauer eines Besuches in der ViWo war auch gesetzlich festgelegt worden. Sanktionen gab es zwar keine, aber dennoch existierten sie im Geheimen. Shee hatte zwar schon einmal miterlebt, wie einer ihrer Nachbarn das Visier abgenommen bekam und eine Sperre erhielt, aber dies war eher ein Einzelfall. Unsittliche Sachen waren nämlich verboten in der ViWo, auch wenn es keine wirkliche Regel dafür gab. Für The Brain schien eine Regel etwas Unfreies zu sein, etwas das nicht sein sollte. Dennoch schienen Regeln zu existieren, sonst würden keine – wenn auch ‚nicht-existente‘ – Sanktionen verhängt. Denn besagter Nachbar wurde dabei erwischt, wie er – während der Zeit in der ViWo – schlafgewandelt war und eine Nachbarin vergewaltigt hatte. Leider hatte der Nachbar die Schmach nicht ertragen können und sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben genommen. Aber mitnichten wegen der Gräueltat, die er der wehrlosen Frau angetan hatte, sondern eher wegen der Sperre, die über ihn verhängt worden war. Leider musste Bezirk D5-3F einige solcher tödlichen Zwischenfälle notieren und deshalb war die Dauer eines Aufenthalts für Witwer und Witwen – denn dieser Nachbar hatte erst kürzlich seine Ehefrau verloren – um einiges verkürzt worden. Weshalb Shee dies wusste? Mit Nimko zusammen hatte sie es geschafft, wichtige Daten und verschlüsselte Regelungen an sich zu bringen. Leider konnten sie nicht viel damit anfangen, da ihnen eh keiner glauben würde. Dennoch konnten so die unter den Teppich gekehrten Vorfälle vorgelegt werden, auch wenn es keinem helfen würde. „…e? Shee? Hörst du mich?“ Eine Hand wedelte vor Shees Augen und sie musste einige Male blinzeln. War sie so in ihren Gedanken gefangen gewesen, dass sie nicht einmal mitbekommen hatte, dass Nimko etwas gesagt hatte? Ihre Wangen wurden etwas wärmer und sie räusperte sich kurz. Sie hatte das Gefühl im Moment nicht sie selbst zu sein. „Verzeihung, ich war nur in Gedanken. Hast du etwas gesagt?“ Sie stellte ihre Tasse nieder und blickte in Nimkos grüne Augen. Sie hätte darin versinken können, so wundervoll und stechend waren sie. Wenn sie die Augenfarbe beschreiben müsste, dann würde sie sicherlich die Bezeichnung ‚flüssiges Gift‘ dafür benutzen. Dieser Glanz und diese Farbe machten es ihr immer schwerer sich nicht zu tief hineinziehen zu lassen. Sie hatte das Bedürfnis darin schwimmen zu wollen, aber dies würde sie nie tun. Deswegen riss sie sich schnell wieder los und hoffte, dass sie nicht wieder abwesend war und so die Antwort von Nimko verpasst hatte. „Ich wollte nur sagen, dass es nur noch wenige Minuten bis zum Showdown sind. Willst du hier noch etwas machen oder können wir los?“, fragte er und stand wieder auf. Er schien heute Shee zur Hand gehen zu wollen und griff deswegen nach den Tassen und Tellern. Doch Shee hielt ihn auf und schüttelte den Kopf. Dann deutete sie auf den Stuhl und ermahnte ihn. Nimko hielt in seiner Bewegung inne und schaute seine beste Freundin fragend an. „Steh noch einmal auf, wenn es an mir ist den Tisch abzuräumen und du kannst hier einziehen und den Hausmann spielen.“ Shee motzte ihn leicht an und schüttelte dann den Kopf. Seufzend setzte sich Nimko wieder hin und wartete darauf, dass alles abgeräumt war und Shee die nötigen Utensilien für die ‚iuteranerfreien‘ Stunden hatte. Denn dies würden sie allemal werden. ~*~ „Es ist nun 9 Punkt 45. Entspannt Euch und genießt die Euch dargebotene Musik. The Brain wünscht Euch eine schöne Zeit in der ViWo und wir hören uns um 13 Punkt 00 wieder.“ Die sanfte Frauenstimme hatte die Zeit in der ViWo nun eingeläutet und Nimko und Shee vernahmen die sanften Töne der Musik. Iuteraner, die das Visier nicht benutzten, konnten die einschläfernde Wirkung davon nicht spüren, deshalb war es ungefährlich für jeden wachen Iuteraner frei im Bezirk D5-3F umherzulaufen. Man konnte ein wenig von dem Effekt wahrnehmen, aber die volle Dröhnung bekamen nur die zu spüren, die unter den Visieren lagen. Dennoch war es nicht ungefährlich einfach so herumzulaufen. Auch wenn es die Regel besagte, dass man ‚freiwillig‘ in die Traumwelt gehen konnte, so gab es Wärter, die durch die Straßen gingen und kontrollierten, ob auch Jeder unter dem Visier lag und den Erinnerungen frönte. In Shees Haus würde man jetzt während ihrer Abwesenheit eine eigens von Nimko konzipierte Erfindung vorfinden. Diese würde jeden Wärter weismachen, dass ein lebendiges Wesen mit dem Visier in seiner eigenen Traumwelt war. Dafür eigens hergestellte und positionierte Wärmesensoren zeigten den Scannern an, dass alles in Ordnung war. Denn die Wärter verließen sich auf die Technologie und die darauf befindliche Anzeige, wobei sie ihre eigenen Augen – die schnell durch das Fenster schauen könnten – dabei gekonnt ignorierten. Nur wenn eine Unannehmlichkeit auf dem Display zu erkennen war, wurde die visuelle Wahrnehmung benötigt. Immerhin konnte ja ‚nur‘ das Auge getrübt werden, denn Technologie, die von The Brain erschaffen wurde, war nicht auszutricksen. Wenn die wüssten… Nimko und Shee hatten sich auf den Boden neben ihrem Haus gepresst und warteten, dass die Kontrollen in der Straße vollzogen waren. Sie konnten nicht einfach an den Wärtern vorbeischleichen, dafür waren es einfach viel zu viele. Wärter wurde man, wenn The Brain einen dafür auserkoren hatte. Die Amtszeit betrug eine Woche und dann wurde wieder ausgewechselt. Man könnte sagen, dass Iuteraner, die nie negativ aufgefallen waren, in der Hitliste weit oben spielten. Shee erkannte auch diese Woche wieder einige bekannte Gesichter unter ihnen. Häuser, in denen während der Kontroll-Zeit keiner war, aber von einem der Wächter bewohnt wurde, bekamen eine spezielle Kennzeichnung, damit auch keine Verwechslungen geschahen. Immerhin sollte keine falsche Notiz genommen werden, nur weil der Besitzer nicht als Wärmebild in seinem Haus vorzufinden war. In der Straße, in der Shee wohnte, standen 20 Gebäude. In den meisten wohnte nur einer, da es sich dabei um einstöckige Single-Behausungen handelte. Es gab einige Ausnahmen, da man manchmal mehr als nur einen Iuteraner in der Wohnung vorfand, wenn der Besitzer beispielsweise Besuch hatte. Dies musste vorher abgeklärt werden, damit es keine Sanktionen dafür gab. Davon wurde dann eine Notiz gemacht, damit diese Veränderung in der Statistik wahrgenommen wurde, um Problemen aus dem Weg zu gehen. Immerhin dürfte eigentlich nur der Besitzer der Behausung auf den Geräten zu erkennen sein. „Ich glaube die Luft ist rein.“, flüsterte Nimko Shee zu und robbte langsam weiter. Wächter blickten nie zurück, denn sie hatten nur den Blick für das, was vor ihnen lag. Aber es war dennoch sicherer vorsichtiger zu sein, als erwischt zu werden. Das Rascheln im hohen Gras zeigte den beiden, dass sie wohl nicht die einzigen waren, die sich davonstahlen. Es könnte sich dabei natürlich auch nur um eine Katze oder ein anderes Tier handeln, das durch die Gräser strich. Aber für die beiden war es im Moment egal. Sie mussten die Straßenseite überqueren, um sich durch die dahinter befindenden Felder zu schleichen. Nimko wohnte etwas weiter weg und entging meistens den Kontrollen, weil sie ihn einfach vergaßen. Der Bezirk war einfach zu groß, um jede kleine Ecke davon in den fast vier Stunden zu kontrollieren. Es war ein glücklicher Zufall für sie beide, immerhin konnten sie dort in aller Ruhe ihren Hobbies nachgehen. Die Hobbies – wenn man dies überhaupt so nennen konnte – bestanden darin, dass Nimko Shee neue Hacker-Tricks beibrachte und sie sich überlegten, wie sie neue Iuteraner für die Zeit außerhalb der ViWo rekrutieren, respektive überzeugen konnten. Bis jetzt hatten sie es bei einer Handvoll geschafft, die wirklich freie Zeit schmackhaft zu machen und sie davon zu überzeugen, dass es nicht sehr gesund war unter dem Visier zu liegen und nicht zu wissen was wirklich mit einem geschah. Denn so weit waren Nimko und Shee in ihrer Überlegung schon gekommen: wenn es nichts Negatives an der ganzen Sache geben würde, so würden die Iuteraner sich danach wohl sicherlich nicht so ausgelaugt fühlen. Denn dies hatten sie durch Gespräche mit Nachbarn herausfinden können. Da Beide nicht sehr lange in der ViWo verharrten, konnte sie dieses Phänomen am eigenen Leibe nicht spüren. Hinzu kommt der Fakt, dass Shees Nachbarin, Frau Tinja, bei der Nachfrage wie es denn gewesen sei ihren verstorbenen Ehemann zu sehen, darauf mit einem ‚wie meinen? ‘ geantwortet hatte. Es schien als würden vereinzelte Personen vergessen, was genau in der ViWo geschah. Und dies konnte Shee nicht akzeptieren, auch wenn es ihr eigentlich egal sein müsste. Immerhin handelte es sich dabei nicht um ihre eigenen Erinnerungen, die unwiderruflich verschwunden waren. Dennoch hatte sie schon immer die Befürchtung, dass hinter The Brain etwas anderes steckte, da bis jetzt noch keiner die wahre Erscheinung von The Brain mit eigenen Augen bezeugen konnte. Shee empfand es als störend, da viele der anderen Iuteraner nicht wussten, wie ihnen geschah. Sie selbst befand sich ja nie lange unter dem Visier, deshalb war die Angst irgendetwas Wichtiges zu vergessen nicht so hoch. Shee hatte daneben aber auch andere Hobbies, die darin bestanden Bücher der vergangenen Generationen zu lesen. Sie hatte diese in einem verlassenen Haus gefunden und musste – um überhaupt zu verstehen, was sie da gefunden hatte – zuerst einmal lesen lernen. In ihrer Welt war die Zahl der Analphabeten ziemlich hoch und Shee wollte deshalb mit dem guten Beispiel vorangehen und den anderen Iuteranern zeigen, dass es Spaß machte Buchstaben zu entziffern und in der Welt der bildlichen Schrift zu versinken. Sie konnte nicht mehr wirklich sagen, wann diese Unlust zu Lesen angefangen hatte. Für sie war es ein ziemliches Vergnügen die Schriften zu lesen, obwohl sie nicht immer alles verstand, aber das war ihr egal. Im Moment tat sie aber nichts dergleichen, denn Nimko und sie waren in der Zwischenzeit bei seinem Haus angekommen. Sie hätte lesen können, stand aber stattdessen vor Nimkos Spiegel und blickte an sich herunter. Zuhause hätte sie es auch machen können, aber sie fand die Lichtverhältnisse hier etwas besser. Auch wenn sie nicht wirklich mochte was sie sah, denn ihre Kleidung wirkte so steril, so langweilig. Jeder in Iutera hatte die gleiche Kleidung, die aus einem Oberteil mit 3/4-Ärmeln in einem sanften blau und einer Hose in der gleichen Farbe bestand. Das Ganze wurde von einem Schuhwerk vervollständigt, welches sich vom Oberteil und der Hose so dermaßen abhob, dass man hätte meinen können, dass sich derjenige, der sich dies überlegt hatte, im Geschmack verirrt hatte. Man konnte nicht wirklich ‚Schuh‘ dazu sagen, da es sich eher um ein sockenähnliches Etwas handelte. Die Sohle der Strümpfe – sie waren kniehoch – war ein wenig verstärkt, damit die Hitze oder die Kälte des Bodens nicht zu sehr darin eindrang. Die Farbe war so unbeschreiblich hässlich, dass Shee nicht einmal genau sagen konnte was es überhaupt war. Auf jeden Fall hätte sie sich manchmal festes Schuhwerk gewünscht, aber dies war ihnen nicht erlaubt. Obwohl der Rest der Kleidung in einem hellen Blau gehalten war, konnte man es nicht von den ‚Schuhen‘ sagen. Shee blickte tiefer herab und seufzte einmal kurz. Vielleicht wäre es ja wirklich mal eine gute Idee der Farbe einen Namen zu geben. Auf jeden Fall biss sie sich mit dem schönen Blauton des Oberteils und der Hose, da die Strümpfe nicht nur eine einzige Farbe besaßen, sondern mehrere. Nach einiger Überlegung fiel ihr ein Begriff aus ihren Büchern ein und deshalb murmelte sie leise ein ‚Schottenkaro‘ vor sich hin. Vielleicht fand sie auch nur, dass die beiden Farben sich bissen, aber sie war kein wirklich großer Freund davon. Ihr Blick glitt dann kurze Zeit später zu ihrer linken Seite und blieb bei ihrem linken Arm hängen. Sie hatte sich eigentlich daran gewöhnt, dennoch war es in manchen Situationen ein ziemliches Handicap. Wenn sie beispielsweise etwas in der rechten Hand hielt und angegriffen werden würde, so könnte sie sich nicht so gut wehren wie Jemand mit zwei gesunden Armen. Aber dies hielt sie nicht davon ab, sich manchmal in brenzlige Situationen zu bringen, in denen sie sich mit den Füssen zu wehren wusste. „Du bist so schweigsam heute Shee. Ist irgendetwas?" Shee zuckte zusammen, weil sie plötzlich die Stimme von Nimko neben sich hörte. Sie schaute ihn an, lächelte sanft und schüttelte dann leicht den Kopf. Es war ihr etwas peinlich, da sie gerade so etwas wie einen kleinen Blackout hatte und in ihren Gedanken gefangen gewesen war. Es war nicht das erste Mal, dass ihr so etwas passierte, dennoch fand sie es ziemlich seltsam. Denn auch wenn ihr dies manchmal wiederfuhr, so konnte sie eine solche Gefühlsregung bei Nimko nie erkennen. Dabei kannten sie sich schon seit sie Jugendliche waren. Ihre Erinnerungen an die Vergangenheit wirkten alles andere al verblasst, deshalb konnte sie sich genau daran erinnern wann ihre erste Begegnung war. Sie wusste mit Sicherheit, dass sie ihr Leben verändert hatte. Ihre Aufmerksamkeit hatte sie, in ihrer abwesenden Haltung, auf Nimkos Augen gelegt. Wieder einmal versank sie in dieses helle, giftige Grün. Jedes Mal schien sie tiefer hinein gesogen zu werden und es wurde zusehends schwerer den Blick abzuwenden und sich wieder im Hier und Jetzt wiederzufinden. Doch dieses Mal war etwas anderes, das sie wieder klar denken ließ. Ihr Blick hatte sie noch immer auf den grünen Augen, doch wie von Geisterhand hatten sie sich aus ihrem Blickfeld geschlichen. Shee blinzelte einige Male und versuchte zu verstehen, was sie gerade gesehen hatte. Sie drehte langsam ihren Kopf in Nimkos Richtung und musste feststellen, dass sich etwas in seinem Gesicht verändert hatte. Was genau konnte sie nicht sagen, aber es war ihr aufgefallen. Ihr Herz machte einen kleinen Aussetzer und sie musste sich an dem Tisch festhalten. „Wie... Was ist gerade passiert?" Ihre Stimme schien atemlos zu sein, doch sie hatte nichts gemacht, das sie hätte so nach Luft schnappen lassen. Erstaunen machte sich im Gesicht von Nimko breit und sie musste sich zusammenreißen nichts Falsches zu machen. Obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie etwas hätte falsch machen können. Ihr war nur nicht ganz klar, was sie vorhin bemerkt hatte, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie schreckhafter darauf hätte reagieren sollen. Es war nämlich nicht alltäglich, dass sich jemand bewegt, ohne dass man davon Kenntnis nehmen konnte. Denn sie war sich sicher, dass sie sich keinen Millimeter gerührt hatte und deswegen Nimko derjenige sein müsste, der sich von seinem ursprünglichen Platz bewegt hatte. Ihr Blick ruhte auf Nimko und sie konnte einen leicht enttäuschten Blick in seinem Gesicht feststellen. Er schüttelte dann langsam den Kopf und seufzte auf. Shee war sich nicht ganz sicher, ob es nun ein positives oder ein negatives Seufzen war. Immerhin könnte es sein, dass sie etwas gesehen hatte, das sie nicht hätte sehen sollen. Aber was hätte es sein können? Nimko war ein ganz normaler Iuteraner, daran war nun nichts Außergewöhnliches. Außer er hätte ein Geheimnis, das sie nicht kannte. Vielleicht machte sie sich auch nur zu viele unnütze Gedanken. Deshalb entspannte sie sich wieder etwas und wartete darauf, ob ihr Nimko darauf eine Antwort geben würde. "Ich hatte nicht vor dich in irgendeiner Weise zu erschrecken, tut mir Leid. Du hast so komisch reagiert, obwohl ich doch einfach nur aus deinem Blickwinkel gegangen bin. Oder war ich etwa zu schnell für dein Auge?" Er schmunzelte und schüttelte wieder den Kopf und redete weiter: "Du bist heute etwas seltsam drauf, hast du vielleicht nicht genug geschlafen?" Nimko ging, ohne auf eine direkte Antwort zu warten, wieder zurück zu seinem Tisch und Shee ließ sich langsam auf einem Stuhl nieder. Vielleicht hatte Nimko ja Recht und sie hatte schlecht oder nicht genug geschlafen. Sie bemerkte schlagartig, dass ihr Kopf so stark schmerzte, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Vielleicht würde dies ja einiges erklären, obwohl sie nicht sagen konnte woher der Schmerz auf einmal kam. Aber es war ein pochender und gleichzeitig stechender Schmerz, so als würde ihr Jemand mit einem spitzen Gegenstand durch den Schädel fahren. Das gleißende Licht, das sie plötzlich sah, führte dazu, dass sie ihre Augen zukniff. Doch der Schmerz in ihrem Schädel wurde immer stärker und sie versank schlussendlich in eine dumpfe Welt aus Schwärze und Geräuschlosigkeit. ~*~ Gedämpfte Geräusche drangen an ihre Ohren und sie fühlte sich, als wäre sie von einem zentnerschweren Tier überrannt worden. Die Gesprächsfetzen, die an ihre Ohren drangen, ergaben für sie absolut keinen Sinn. Sie konnte keinen wirklichen Zusammenhang der einzelnen Wörter finden und verstand nicht um was es ging. Alles war so schwer und so weit entfernt, dass sie nicht einmal mehr sagen konnte, wo sie sich überhaupt befand. War sie überhaupt noch existent? Es war so verwirrend, ihr Kopf dröhnte und schien fast zu bersten. Zwei männliche Stimmen unterhielten sich miteinander, soviel konnte sie aus ihrer Wattewelt wahrnahmen. ‚Dank‘, ‚Hilfe‘, ‚gut gemacht‘, dies waren nur einige der Wortfetzen, die versuchten einen Weg in ihr Gehirn zu finden. Langsam kurbelten sich ihre Gedankengänge wie von selbst an und ihr kam die Frage in den Sinn, ob die Stimmen vielleicht von ihr redeten. Es wäre logisch gewesen, immerhin schien sie nicht wach zu sein. Schlafen tat sie eigentlich auch nicht, von daher konnte es sich sicherlich nur um eine Ohnmacht handeln. Das ‚wieso‘ würde sich sicherlich nachher beantworten lassen. Vereinzelte Muskeln in ihrem Körper versuchten die Starre wieder zu lösen. Leichtes Unbehagen, welches sicherlich von dem dumpfen Gefühl in ihrem Schädel kam, machte sich über ihren ganzen Körper breit. Die Stimmen drangen langsam klarer an ihr Ohr und sie versuchte herauszufinden, während sie langsam wacher wurde, um wen es sich dabei handelte. Eine der Stimmen gehörte sicherlich Nimko, dessen war sie sich bewusst. Bei der zweiten Stimme war sie nicht ganz sicher, da sie ihre ganze Kraft aufbringen musste, die leicht zuckenden Finger unter Kontrolle zu bringen. Ihr Körper fühlte sich an, als hätte er unter einer Starre gelitten. Das Kribbeln, das sich kontinuierlich in ihr ausbreitete, machte ihr das umso klarer. „Ich glaube sie wacht langsam auf.“ Der erste Wörtermix, der einen Sinn ergab, drang in ihren Geist und verscheuchte langsam aber sicher die Ohnmacht. Die Regungslosigkeit ihrer Glieder löste sich langsam und sie versuchte ihre schweren Lider langsam zu öffnen. Doch es erwies sich als schwierig und so ließ sie es für den Moment sein. Die Stimme, die sie indirekt angesprochen hatte, sprach wieder: "Shee? Shee? Wenn du mich hören kannst, dann drück bitte meine Hand." Kühle, raue Finger griffen ihre Hand und sie musste ihre Muskeln anstrengen, um die fremde Hand zu drücken. Immerhin hatte sich das Kribbeln noch nicht vollständig gelöst. Die Stimme kam ihr immer bekannter vor und sie versuchte mit aller Kraft ihren Körper zum Funktionieren zu animieren. Es erwies sich als schwieriger als gedacht, doch sie bewegte mühevoll die starren Finger, um sie dann in die männliche Hand zu legen und zuzudrücken. Auch wenn ihr die Stimme bekannt vorkam, so konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, wer es sein sollte. Ihr Körper schien nämlich momentan auf Sparflamme zu arbeiten und so erwies es sich als schwierig die ganzen Synapsen im Hirn wieder anzukurbeln. Auch wenn sie schon einiges am Ton und Geruch erkennen konnte. Shee versuchte wieder vorsichtig andere Körperteile zu bewegen und legte dafür den Kopf langsam so hin, dass sie in die Richtung schaute, aus der sie die Stimme vermutete. Auch wenn ihre Augen momentan noch geschlossen waren, so konnte sie sich denken, dass die Blicke, die auf ihr lagen, sicherlich ziemlich besorgt waren. Die Dunkelheit hinter ihren Lidern lichtete sich nach und nach, weil sie versuchte wieder vollends wach zu werden. Dabei wurde ihr bewusst, wie hell es doch überhaupt war und so dauerte das Öffnen der Augen doch länger als sie gedacht hatte. Die Sonnenstrahlen blendete sie im ersten Moment, weshalb sie ein leises Murren von sich gab. Das Rascheln von Kleidungsstücken machte sie aufmerksam darauf, dass sich die beiden Männer auf sie zu bewegten, obwohl der eine sehr nahe zu sein schien. Immerhin hielt sie eine männliche Hand, welche sie wieder sanft drückte. Die Helligkeit schmerzte in ihren offenen Augen und so bewegte sie ihren Kopf auf die andere Seite, um wenigstens ein wenig im Schatten liegen zu können. "Was ist passiert?", wollte Shee wissen, immerhin wird einem nicht von dann auf gleich schlecht und kippte einfach um. Sie fragte sich, wie ihre körperliche Reaktion wohl auf Nimko gewirkt hatte. Ob er sie jetzt als Schwächling ansah oder ob es ihm gelinde gesagt scheißegal wäre. Shee hielt viel von der Meinung ihres besten Freundes, deshalb wollte sie nicht, dass er irgendetwas Komisches von ihr dachte. Sie wusste nicht wieso es ihr so viel ausmachte, dass sie vor ihm in Ohnmacht gefallen war. Es war schon so peinlich genug, da würde ein neckischer Unterton von Nimko die Sache sicherlich nicht verbessern. Er war es auch, der ihre Frage beantworten wollte und so in ihr Blickfeld trat. Der Blick in seinen grünen Augen war ziemlich besorgt und komischerweise erfreute es sie, denn dies zeigte ihr, dass sie ihm wohl doch wichtiger war als sie gedacht hatte. Aber wieso kam sie überhaupt auf den Gedanken, dass sie ihm nicht wichtig wäre? Sie hatte sich vielleicht den Kopf gestoßen und müsste zuerst einmal wieder ganz klar werden. "Du bist einfach umgekippt und in Ohnmacht gefallen. Du schienst starke Schmerzen gehabt zu haben, deshalb war ich ziemlich besorgt um dich. Ich habe versucht dich wieder wach zu bekommen, aber du wolltest nicht darauf reagieren. Deshalb habe ich Herrn Nico gefragt, ob er dich untersuchen könnte." "Genau, aber ich habe nicht wirklich etwas entdecken können, nur dass du ein wenig fiebrig warst, als ich ankam und du etwas von Kopfschmerzen gemurmelt hast. Ich habe dir deshalb eine Dosis Schmerzmittel gegeben, die wie es scheint auch schon angeschlagen hat. Dir müsste es also in Nu wieder besser gehen." Der ältere Herr stand auf und strich sich die einheitliche Kleidung glatt. Seine gräulich werdenden, blonden Haare standen wirr vom Kopf ab und er strich sich wie gewohnt dadurch. Dann hatte sie sich also vorhin doch nicht verhört und die Stimme richtig gedeutet, obwohl ihr komischerweise der Name nicht sofort eingefallen war. Aber es handelte sich bei Herrn Nico um einen der Nachbarn. Er drehte sich dann um und zeigte auf einige Utensilien – darunter auch die Tabletten –, die auf dem Tisch lagen. "Wenn du wieder so eine Schmerzattacke bekommst oder wie du es nun auch nennen magst, dann nimm es! Ohne Widerrede. Ich weiß, dass du Medikamente nicht wirklich ab kannst, aber tu es für uns, okay?" Der mahnende Finger von Herrn Nico hellte Shees Miene schon wieder etwas auf und deshalb schenkte sie ihm ein freundliches Lächeln und bedankte sich bei ihm. Sie mochte es eigentlich nicht, wenn sie etwas gegen Schmerzen nehmen musste, denn dies zeigte einem die Grenzen des Körpers auf. Auch wenn sie jetzt nicht selbstzerstörerisch war, so mochte sie es doch lieber nichts nehmen zu müssen, da jede Einnahme eine bestimmte Nebenwirkung mit sich bringen konnte. Das wusste neben Nimko und Herrn Nico auch fast jeder andere in der Straße. Herr Nico war so etwas wie ein Arzt und einer der Wenigen, der lesen und schreiben konnte. Hinzu kam, dass er von Shee und Nimko bekehrt worden war und nicht mehr in die ViWo ging - zumindest nicht mehr so oft wie sonst. Shee blieb noch einige Zeit liegen, ehe sie sich traute sich aufzustehen, immerhin war sie einige Zeit wie in Watte gepackt gewesen. Den Schwindel, den sie gerade noch spürte, ignorierte sie einfach und gesellte sich nach einiger Zeit zu Nimko. Herr Nico ging unterdessen zur Tür hinaus und verabschiedete sich von den Beiden. Shee bedankte sich auch noch freundlich bei ihm und ging dann mit schwankenden Beinen auf Nimko zu. Sie blickte auf die Arbeit, auf die sich Nimko sehr konzentrierte und seufzte einmal schwer. Dies tat ihrem Kopf leider nicht so gut und sie musste sich an der Tischkante festhalten, bis sie wieder etwas stabiler stand und sah auf das Profil von Nimko. Sie mochte seine Züge und war wieder ein wenig gefangen davon, doch dann kam ihr in den Sinn was sie machen sollte und sie riss sich wieder zusammen. Denn sie mochte es nicht in der Schuld anderer zu stehen, aber es war nun mal passiert. Sie hatte Nimko sicherlich schon viele Sorgen bereitet und deshalb beugte sie sich zu ihm herüber und gab ihm einen kleinen Schmatzer auf die Wange. Es war ein Zeichen ihres Dankes, da sie fand, dass ein einfaches ‚Danke‘ hier nicht ausreichte. "Weil du dich, naja, um mich gekümmert hast. Das hättest du nicht machen müssen Nimko." Shee zuckte mit den Achseln und lehnte sich an den Tisch an dem Nimko gerade arbeitete. Er schien eine neue Apparatur in Arbeit zu haben und Shee begutachtete sie mit einem kleinen Seitenblick. Es wirkte so kompliziert und gleichzeitig so logisch. Dennoch konnte sie nicht genau sagen, um was es sich denn handelte. Durch die Form würde sie auf einen neuen Hacker oder eine der Apparaturen tippen, die die Iuteraner benutzen konnten, um aus der ViWo zu fliehen. Da sie es aber nicht genau sagen konnte, drehte sie sich kurzerhand um und blickte auf den Tisch. Nimko hatte nichts auf den Kuss erwidert und schien es auch nicht tun zu wollen. Vielleicht hatte er es auch nicht wirklich bemerkt, denn so konzentriert wie er geschaut hatte, würde sie dies nicht wundern. Da Shee von ihm keine Antwort erhielt, fragte sie ihn kurzerhand: "Ein neuer Projektor?" Nimko blickte kurz auf und wiegte den Kopf kurz von einer Seite zur anderen: "Also es handelt sich schon um einen Projektor, aber dieser hier ist anders. Die Gründe möchte ich dir jetzt nicht erklären, aber es ist ein Spezialauftrag. Soviel kann und darf ich sagen." Er lächelte sie sanft an und hob das Teil hoch, betätigte dann einen Knopf und zeigte Shee das Innenleben. Ein wenig verstand sie, was sie da sah, aber dennoch erschien ihr alles zu kompliziert zu sein, als dass sie nun sagen könnte was genau dieser Draht nun leisten würde. Shee musste sicherlich noch viel lernen, um mit Nimko mithalten zu können. Immerhin schien er die Arbeit nun schon jahrelang zu machen und die paar Monate, die sich Shee nun intensiv damit beschäftigte, würden sicherlich nicht ausreichen, um ihr nun alle Fragen zu beantworten. Er erklärte ihr dennoch ein wenig, was sie da sah und sie nickte freundlich, obwohl sie nicht alles verstand. Sie liebte sein Fachchinesisch, deshalb ließ sie ihn auch ausreden. Denn wenn Nimko einmal anfing zu reden, dann war es schwer ihn wieder davon abzubringen, und das wollte Shee nun wirklich nicht. ~*~ Ein sanftes Rauschen ertönte und zeigte den Beiden, dass es schon 13 Punkt 00 war. Wie aufs Geheiß, fing die freundliche Frauenstimme auch an zu reden: „Guten Mittag, liebe Iuteraner. Ich hoffe Eure Zeit in der ViWo ist erfolgreich verlaufen und ihr konntet erholsame Stunden darin verbringen. Bleibt noch ein wenig liegen und geht dann Euren Pflichten wieder nach. The Brain freut es auch, Euch sagen zu können, dass es keine außergewöhnlichen Vorkommnisse gab und wünscht Euch alle noch einen schönen, sonnigen Tag. Bis morgen, meine lieben Iuteraner.“ Shee äffte The Brain nach und seufzte dann, da es nun schwieriger sein würde ungesehen nach Hause zu kommen. Sie stand auf und blickte auf Nimko. „Ich denke es wäre nun besser, wenn ich wieder nach Hause gehe, immerhin brauchen die Leute nur noch einige Minuten, ehe sie sich vollends aus der ViWo verabschiedet haben. Viel konnten wir leider heute nicht reißen, aber ich bin zuversichtlich, dass morgen deshalb umso erfolgreicher sein wird.“ Shee griff nach ihren Utensilien und ging dann lächelnd auf Nimko zu, umarmte ihn einmal kurz und ging dann zur Tür. Sie blieb dann noch einmal stehen und fügte noch hinzu: „Nächstes Mal, wenn ich wieder so abwesend bin, versuche mich einfach wieder ins Jetzt zu holen, egal mit welchen Mitteln. Verstanden?“ Sie blickte ihn ernst an und öffnete dann die Tür. Ihr war es nun egal, ob er noch etwas sagen wollte oder nicht. Sie musste so schnell wie möglich nach Hause, denn wenn sie jemand sehen sollte, so würde ihr sicherlich eine saftige Strafe drohen und dies war eines der Sachen, die sie nun wirklich nicht wollte. Denn Shees Gedanken kreisten wieder um The Brain, da ihr wieder einmal aufgefallen war, wie glücklich und befriedigt sich die Frauenstimme angehört hatte. Ein Ekelschauer lief über ihren Rücken und Shee schalt sich einen Idioten. Befriedigende Maschinen, wie weit gingen denn ihre Gedanken wieder?! Sie brauchte sicherlich nur Schlaf, denn dann würde alles sicherlich klarer sein. Hoffentlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)