Maybe von Ayalaana (Geschichte einer Ersten Liebe) ================================================================================ Kapitel 5: Absturz ------------------ Kapitel 5 Absturz Wenn man so behütet aufgewachsen war ich, fernab von allem vermeintlich Schlechten, könnte man meinen, dass meine Eltern damit alles richtig gemacht hatten. Doch vielleicht wären ein paar Erfahrungen mit den weniger schönen Seiten des Lebens ganz gut gewesen, denn dann hätte ich gewusst, wie ich mit der Reihe von Abstürzen hätte umgehen sollen, die mich an mir selbst zweifeln ließen. Es war inzwischen Ende September und in den vergangenen Wochen hatte sich das Verhältnis zwischen Robin und mir deutlich abgekühlt. Er hatte das Gästezimmer, welches direkt an mein Zimmer grenzte, bezogen und obwohl wir nun quasi Nachbarn waren, hatte ich ihn kaum mehr zu Gesicht bekommen. Unsere Begegnungen beschränkten sich darin, sich am Morgen im Bad die Klinke in die Hand zu geben, beim Frühstück ein paar Minuten zusammen zu sitzen und sich am Abend maximal eine gute Nacht zu wünschen. Natürlich wusste ich, dass ihn sein Studium sehr in Anspruch nahm, er durch Satoshi viele neue Bekanntschaften gemacht hatte und sicherlich nicht den Drang verspürte, seine wenige freie Zeit ausgerechnet mit dem kleinen Bruder seines, inzwischen sehr guten, Freundes zu verbringen. Dennoch musste ich mir selbst zugestehen, dass mir die gemeinsame Zeit mit Robin fehlte. Die Neckereien, die stillen Stunden in meinem Zimmer, genauso wie das ausgelassene herumalbern. Und ich fragte ich mich, wann sich der Graben zwischen uns gebildet hatte. In der ersten Woche noch begegnete er mir mit viel Freundlichkeit und gab mir das Gefühl, ihm wichtig zu sein. Er hatte mich um eine Stadtführung gebeten, fragte manchmal, ob ich mit ihm einkaufen ging, oder kam unangemeldet in mein Zimmer, um in meinen Büchern zu stöbern. Inzwischen, eineinhalb Monate nach seiner Ankunft, beschränkte sich unsere Konversation auf guten Morgen, schönen Tag, gute Nacht. Nur einmal hatte Robin, als ich mir die Noten für „Farytales gone bad“ von „Sunrise Ave“ heruntergeladen hatte, um sie auf der Gitarre einzustudieren und den Text vor mich hin sang, an meine Zimmertür geklopft. Es muss so gegen neunzehn Uhr gewesen sein und ich eigentlich dachte, die Wohnung für mich allein zu haben. Ich war vor Schreck zusammengefahren, gewehrte aber Einlass. Als es Robin war, der die Tür geöffnet hatte, war ich überrascht. „Was machst ´n du da?“, hatte er ohne Umschweife gefragt. „Gitarre spielen“, war meine plausible Antwort. „Das mein ich nicht.“ „Was sonst? Singen?“ „Singen ist gut, wenn du es damit mal versuchen würdest. Aber lass dieses Gequake, ich versuche nebenan zu lernen.“ Wumm. Tür wieder zu. Ich war mir sicher gewesen, dass mein Gesicht die Farbe eines Feuerlöschers angenommen hatte. „Die Saiten kannst du weiter zupfen“, war seine Stimme dann durch die geschlossene Tür gedrungen. „Das ist gar nicht so schlecht.“ Ich hatte es ganz bleiben lassen. Das lag allerdings nicht daran, dass ich Angst hatte, ihn zu stören, oder weil er sich über meinen Gesang lustig gemacht hatte, sondern daran, dass ich schlicht und ergreifend nicht vor anderen spielte. Schon in der Band überkam mich das Lampenfieber, auch wenn wir unter uns waren, und auch vor Frau Dehler hatte ich nie so befreit spielen können wie ich es tat, wenn ich mit mir alleine war. Warum das so war, konnte ich mir selbst nicht erklären. Vielleicht daran, dass ich keine Angst haben musste, wenn ich einen falschen Ton traf, oder weil es niemanden gab, der mich zu verbessern versuchte und mich damit unter Druck setzte, doch mal dieses und jenes zu spielen. Gitarre zu spielen war meine eigene kleine Welt, in der nur ich und meine Musik zählten und in diese sollte und durfte mir niemand hineinreden. Selbst Raik hatte ich nie daran teilhaben lassen. Einige Tage später, es war Samstagmorgen, passierte etwas, womit ich am wenigsten gerechnet hatte. Außer meinen Eltern, Satoshi und Robin saßen dazu noch zwei Mädchen, oder vielmehr Frauen, am Frühstückstisch. Eine von ihnen kannte ich. Es war eine langjährige gute Freundin von Satoshi. Ihr Name war Lina und sie arbeitete in einem Fachhandel für Musikerbedarf, den ich regelmäßig aufsuchte. Die andere war mir allerdings kein Begriff. Lina hatte mich freundlich begrüßt, während mir die andere nur einen abfälligen Blick zuwarf und Robin die eine Hälfte eines Brötchens auf den Teller legte und die andere auf ihrem eigenen landete. Hatte ich irgendwas nicht mitgekriegt? Ich warf ein nichtssagendes Guten Morgen in die Rund und stellte fest, dass kein Stuhl am Tisch mehr frei war. Noch bevor ich mir einen Stuhl aus dem Wohnzimmer holen konnte, nahm meine Mutter mir schon den Wind aus den Segeln. „Wir sind sowieso gleich fertig“, flötete sie, aber ich erkannte, dass sie mir sagen wollte: Quetsch dich jetzt nicht dazwischen. Natürlich nicht. „Keine Hektik“, entgegnete ich und versuchte, ganz beiläufig zu klingen. „Bin sowieso verabredet.“ An mir war ein Schauspieler verloren gegangen. Verärgert verließ ich die Wohnung. An Raik gab es etwas, das mich verblüffte. Er war einfach immer erreichbar. Ob morgens um fünf oder nachts um halb eins, er hatte einfach immer Zeit. So auch an diesem Samstag. Sofort, nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, rief ich ihn an. „Hast du Zeit?“ „Stress zu Hause?“ „So ähnlich.“ „Komm vorbei.“ So unkompliziert war das mit Raik und ich weiß nicht, ob ich es ihm schon einmal gesagt hatte, aber ich war ihm unendlich dankbar dafür. Bei Raik war ich immer gerne, allerdings nicht bei ihm zu Hause. Seine Eltern mochten mich nicht besonders, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich sah sie zwar nur selten, aber wenn es mal zu einem Treffen kam, musterten sie mich herablassend und ließen Kommentare fallen wie >das reiche Söhnchen auch mal wieder da< oder, als ich Raik mal meine neueste Errungenschaft, einen MP3 Player präsentiert hatte >Einige Leute müssen dafür lange arbeiten. Deine Eltern wissen gar nicht, was das ist.< Seit dem standen Herr und Frau Berger und ich quasi auf Kriegsfuß miteinander. Wenn sie nicht so gemein zu mir wären, hätte ich für ihre Situation mehr Verständnis gehabt. Raik hatte mir irgendwann einmal erzählt, dass seine Eltern nur Minijobs hatten und sie sich alles vom Munde absparten. Raik hatte darunter genauso zu leiden, wie seine Eltern selbst. Er verdiente sich etwas mit Aushilfsjobs dazu, ging auch mal von seinem Geld einkaufen und versuchte die Familie zu unterstützen, wo es ging. Doch genau das war der Grund, warum das Verhältnis zwischen ihm und seinen Eltern so zerrüttet war. Sie wollten sich vom eigenen Sohn keine Almosen geben lassen und er wollte nicht akzeptieren, warum es ihnen so viel schlechter gehen sollte, als anderen Familien. Dazu kam noch, dass Raik mit seinem Aussehen und Auftreten, nicht gerade der Vorzeigenachwuchs war, der die Eltern stolz machte. Aber das war er. Sie wollten es nur nicht erkennen. Die Fronten waren verhärtet. Familie Berger bewohnte eine kleine Wohnung in einem Wohnblock unweit meines Stadtteils. Als ich den Treppenaufgang betrat, bot sich mir ein heruntergekommenes Bild. Die Wände voller Graffitis, die Stufen mit Dreck und Unrat übersät. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie dicht Hui und Pfui in Stralsund beieinander lagen. Ich musste nur eine Etage nach oben, wo links im Flur schon die Tür offen stand. Ich klopfte trotzdem an den Türrahmen, trat ein und zog die Tür hinter mir ins Schloss. Die Schuhe zog man in dieser Wohnung lieber nicht aus, also ging ich geradewegs durch die kleine Diele in Raiks Zimmer, wo ich ihn bäuchlings auf dem Bett liegend vorfand, noch mit einem Teller vor sich, auf dem ein angebissene Scheibe Brot lag. „Hi.“ „Hi.“ Raiks Zimmer war, im Gegensatz zum Rest der Wohnung, eine kleine Oase. Sauber, aufgeräumt und mit all möglichem Schnickschnack versehen. Diverse Poster von Rock- und Gothicbands hingen an den Wänden, beklebt mit kleinen Gedichten und Texten, die Raik so im Kopf herum schwirrten. Vor dem Fenster hing kein Vorhang, sondern ein Tuch in Neonfarben und, auch wenn das schon eine Weile out war, hatte er sich zwei Schwarzlichtröhren an die Decke montiert, die angeschaltet, alles Weiße leuchten ließen. Seine Zimmereinrichtung erfüllte ihren Zweck und war dennoch individuell. So hatte sich der Kleiderschrank, wenn man ihn öffnete, durch farbige Lampen an den Innenwänden der Türen, zu einer kleinen Bühne verwandelt und dass Bett war eigentlich ein Podest aus Speerholz, ausstaffiert mit unzähligen Decken und Kissen. Ich liebte dieses Zimmer. Rücklings ließ ich mich zu Raik aufs Bett fallen und bettete meinen Kopf in seinen Kniekehlen. Ohne mich anzusehen schob er den Teller mit dem Brot zu mir herüber. „Haste Hunger?“ Wortlos nahm ich einen Happs. Natürlich hatte ich Hunger und Raik wusste das. Ich hatte die Angewohnheit, nie vor neun Uhr etwas zu Essen, und da ich ihn vor neun angerufen hatte… Er kannte mich einfach viel zu gut. „Willste ne Runde zocken?“, fragte er und warf mir im selben Moment den Controller seiner Spielekonsole zu. „Wieso nicht.“ Ich spielte gern mal eine Runde, um mich abzulenken, aber da meine Mutter streng gegen solche Art von Unterhaltung war, besaß ich keine eigene Konsole. Daran, dass Raik trotz seiner mäßigen Liquidität eine Spielekonsole besaß, war ich allerdings nicht ganz unschuldig. Das ein ums andere Mal hatte ich versucht, ihn zu unterstützen. Doch egal ob ich für ihn im Kiosk etwas mitkaufen wollte, ihm die Kinokarten spendieren wollte, oder beim Shoppen das ein oder andere Teil für ihn bezahlen wollte, er hatte immer abgelehnt. Dann jedoch kam meine Chance. Zu Raiks sechzehntem Geburtstag beschloss ich, mein Bankkonto mal wieder zu inspizieren. Meine Eltern überwiesen mir jeden Monat etwa siebzig Euro, da ich aber auch so alles von ihnen bezahlt bekam was ich brauchte, oder auch nicht brauchte, hatte sich inzwischen ein schönes Sümmchen angehäuft. Da hatte ich also vor Raik gestanden, mit einem großen Paket und er hatte mich angestarrt, als hätte ich mich in der Tür geirrt. Und als er das Paket dann geöffnet hatte, schien aller Glaube von ihm abzufallen. >Spinnst du?!< war seine erste Reaktion gewesen, als er die weiße Konsole mit dem X im Schriftzug in den Händen gehalten hatte. Natürlich hatte er gesagt, dass er so etwas nie annehmen könne, ich aber mit dem Geburtstagsgeschenk-Argument konterte. Nicht überzeugt, aber überredet hatte er mein Geschenk schließlich angenommen. Für mich war es die beste Investition gewesen, die ich hätte machen können. Nicht, weil ich nun Gelegenheit bekommen hatte, selbst zu spielen, sondern weil ich Raik damit einen Herzenswunsch erfüllen konnte. Er selbst hatte mir schon so viel gegeben. Nicht materiell, aber emotional und dies konnte nicht die teuerste Konsole der Welt aufwiegen. Auch wenn ich wusste, dass er ab diesem Tag das Gefühl hatte, in meiner Schuld zu stehen. Spüren ließ ich es ihn nie und wir verloren nie wieder ein Wort darüber. „Also, was war los?“, fragte mich Raik etwa eine halbe Stunde und drei Level unseres Lieblingsgames später. Er besaß genug Feingefühl, mich nicht gleich sofort auszuquetschen, zeigte mit seiner Nachfrage aber doch Interesse. Unmotiviert zuckte ich die Achseln. Eigentlich wollte ich nicht über den Morgen reden. Ich war nicht einmal mehr verärgert über die Abfuhr meiner Mutter. Vielmehr verursachte mir das Bild am Frühstückstisch ein unruhiges Gefühl in der Magengegend. „Na komm“, bohrte Raik nun weiter, als ich nicht antwortete. „Irg´ndwas muss doch gewesen sein.“ Mit starrem Blick auf den TV-Bildschirm, auf dem sich meine Spielfigur einen erbitterten Kampf mit einem Alien gab, antwortete ich ihm. „Wir hatten heute Damenbesuch.“ Raik stoppte das Spiel. „Wie jetz´?“ Ich merkte, wie sein Blick auf mir ruhte. „Heute Morgen waren Lina und irgendeine andere Frau bei uns zum Frühstück. Das Lina zu Satoshi gehört, ist jawohl klar. Die beiden suchen sich ja schon ewig, aber kriegen es nicht auf die Reihe sich zu finden. Die Andere kannte ich nicht, aber ich bin mir sicher…“, ich mochte den Satz nicht zu ende sprechen. Warum nur fiel mir das so schwer? Vielleicht weil es der kleine Moment gewesen war, als die Unbekannte Robin die zweite Hälfte ihres Brötchens auf den Teller gelegt hatte, der mich so wütend machte. Wer war Sie denn, sich in meiner Küche auf meinem Stuhl breit zu machen? „Er hat se bestimmt geknallt. Also ich mein Robin die andere.“ Raiks Vermutung drückte einen Moment die Luft aus meinen Lungen. Ungläubig starrte ich ihn an. „Quatsch“, wehrte ich sofort ab. „Doch nicht in der Wohnung seiner Gasteltern. Und bestimmt nicht so schnell.“ „Ich bitte dich“, argumentierte Raik weiter. „Der Typ is wie alt? Dreiundzwanzig? Er und Satoshi werden gestern noch unterwegs gewes´n sein und damit Robin sich zwischen Lina und Satoshi nich so einsam fühlen sollte, ham se ihm ne Olle angelacht. Is doch klar. Ihm wird egal gewes´n sein, dasser bei euch nur zu Besuch is. Kerle in dem Alter sind doch alle gleich. Selbst in unserm Alter.“ War das wirklich so? Hatte ich die Nacht so tief geschlafen, dass ich nicht mitbekommen hatte, was sich nebenan abgespielt hatte? Bitte, lieber Gott, lass es nicht so sein. „Ich versteh´ echt nich, warum de dich deshalb ufregst.“ „Mach ich ja nicht“, gab ich zurück und blickte wieder auf den Bildschirm. Es hatte keinesfalls so rüberkommen sollen und außerdem verstand ich es selber nicht. „Erzähl ma lieber, was mit Deiner Ollen is“, fragte Raik nun plötzlich und griente mich an. Er verstand es wirklich das Thema zu wechseln. „Du sollst sie nicht so nennen. Außerdem ist da noch gar nichts“, entgegnete ich ihm, merkte aber, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Raik sprach von Mia, dem Mädchen, das uns am ersten Schultag nach dem Busfahrplan gefragt hatte und die nur aufgrund meiner japanischen Abstammung an mir interessiert war. Nun, sie hatte ihr Vorhaben mich kennenzulernen nicht aufgegeben und war seit jener ersten Begegnung jeden Tag in der Pause zu mir gekommen, um mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ihre Hartnäckigkeit hatte mich zugegebenermaßen beeindruckt und da auch Raik und Nicky auf mich eingeredet hatten, hatten Mia und ich schließlich unsere Handynummern getauscht. Ein Fehler, wie ich noch am gleichen Tag erkennen musste. Andauernd bekam ich von ihr kleine süße Textnachrichten. Noch vor dem Aufstehen ein >Guten Morgen< und nach dem Zubettgehen ein >Gute Nacht und süße Träume<. Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt, von so viel Aufmerksamkeit. Aber wollte ich das? Wie konnte ich mir sicher sein, dass Mia tatsächlich doch irgendwie an mir interessiert war und nicht nur an dem Japaner in mir? Etwas Sicherheit hatte ich dann gestern in Form von Mias älterer Schwester bekommen. Sie war noch vor der ersten Stunde an mich herangetreten und bat mich, Mia doch wenigstens eine Chance zu geben. Ihr war durchaus bewusst, dass ihre kleine Schwester etwas eigen war, aber versicherte mir auch, dass Mia mich wirklich mochte und ich doch versuchen sollte, sie besser kennenzulernen. Hin und her gerissen zwischen Verstand und Neugierde entschied ich mich letztendlich, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Mia war das erste Mädchen, dass überhaupt Interesse an mir als männliches Wesen gezeigt hatte und deshalb hatte ich beschlossen, sie noch in der ersten Pause um ein Date zu bitten. Da ich keinerlei Erfahrung in solchen Dingen hatte, stellte ich mich natürlich etwas dumm an. Stammelte was von verabreden und Samstag und kam mir ganz und gar vor, wie ein Idiot. Doch Mias große braune Augen, die mich anstrahlten und jedes Wort von meinen Lippen ablasen, entschädigten für alle Peinlichkeit, die ich in diesem Moment empfunden hatte. Somit also hatte ich am heutigen Tag mein erstes Date. Warum nur, war ich nicht aufgeregt? Warum nur tobte stattdessen diese Missgunst in mir, die ich gegenüber der fremden Frau an unserem Frühstückstisch empfand? Raik holte mich aus meinen Gedanken. „Also was jetz´?“ „Hatte ich dir doch erzählt“, antwortete ich. „Ich treffe mich heute um fünf mit ihr am Kino.“ „Bro…“ „Bro?“ „Ja Bro. So nenn´ sich beste Freunde unter´nander. Kommt von Brother.“ „So hast du mich aber noch nie genannt.“ „Dann fang ich eben jetz damit an. Hast ´n Problem damit?“ „Nein aber…“, ich musste lachen. „Aber bitte Bro, lass mich dich Raik nennen. So nenne ich nämlich meinen besten Freund.“ Raik musste einfach immer versuchen, alle Trends der coolen Kids mitzunehmen. „Mir egal“, meinte er schließlich. „Was ich eigentlich sagen wollte is, verpatz es heut Abend nich.“ Er sah mich prüfend an und je mehr wir von dem Date sprachen, desto nervöser wurde ich. „Komm doch mit Nicky mit“, schlug ich vor. Etwas Unterstützung konnte nicht schaden. „Alter…“, Raik verdrehte die Augen. „Genauso verpatzt du´s. Da haste ´n süßes Mädel anner Hand und willst euer erstes Treff´n mit ´m Doppeldate versauen?“ Raik hatte Recht. Jetzt, wo Mia so lange für diesen Abend gekämpft hatte, konnte ich ihr das nicht antun. Da gab es nur ein Problem… „Ich weiß doch gar nicht, wie das geht, mit so ´nem Date.“ Vielleicht war das mein größtes Problem. Ich hatte Schiss, etwas falsch zu machen. Mich dumm anzustellen oder, viel schlimmer, mich wie ein totaler Trottel zu benehmen. Ich fühlte mich wie ein Häufchen Elend. Ich war siebzehn, verdammt noch mal. Andere Jungs hatten in dem Alter schon ganz andere Dinge hinter sich. Raik schlang mir einen Arm um die Schulter, seine Stirn an meiner lehnend. „Bro“, sagte er, „wir kriegen das schon hin.“ Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr, als ich mit Nicky und Raik in der Bar, die neben dem Kino lag, saß und ihnen von meinem Date mit Mia erzählte. Ich hatte die beiden sofort, nachdem ich mich von Mia verabschiedet hatte, angerufen und keiner von ihnen wollte es sich nehmen lassen, was ich zu berichten hatte. Irgendwann am Nachmittag war ich von Raik nach Hause aufgebrochen und hatte eine leere Wohnung vorgefunden. Sind unterwegs, stand auf einem Zettel, der auf der Anrichte lag. Sollte mir Recht sein. Ich hatte sowieso niemanden von ihnen sehen wollen. Je näher der kleine Zeiger der Uhr an die Fünf heranrückte, desto flaue wurde mir im Magen. Die typischen Erstes-Date-Symptome traten auf. Was sollte ich anziehen? Welcher Duft? Frisur? Nach einem nicht enden wollenden Marathon aus verschiedenen Kombinationen, hatte ich mich letztendlich für eine verwaschene Slim-Jeanshose, ein dunkelblaukariertes Hemd und braune Timberland-Boots entschieden. Mein schwarzes Haar versteckte ich unter einem graublauen Hut, den ich mit einem grauen Tuch um den Hals kombinierte. Ich war viel zu früh dran, als ich die Wohnung wieder verließ, wusste aber dort nichts mehr mit mir anzufangen und so war ich schon um circa halb fünf am verabredeten Ort. Zu meiner Überraschung hatte sich Mia auch bereits dort eingefunden. Ich entdeckte sie auf einer Bank im Fourier, mit den Füßen auf den Boden tippelnd. Offenbar war ich nicht der einzige der nervös war. Diese Tatsache hatte mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert und meine Nervosität hatte spürbar nachgelassen. Wir hatten uns freundlich, aber zurückhaltend begrüßt, die Karten gekauft und die restliche Wartezeit damit verbracht, über ihre und meine Lebensgeschichte zu plaudern. So erfuhr ich, dass sie im Volleyballverein war und gern zeichnete. Hatten wir am Anfang des Films noch stocksteif nebeneinander gesessen, so lockerte sich die Stimmung mit jeder Szene, über die wir lachen mussten und mit jedem spannenden Moment, den wir gebannt verfolgten, merklich auf. Ab und zu hatte ich zu ihr hinüber gesehen, ihr weichen Gesichtszüge bewundert und schmunzeln müssen, wenn sie sich vor Schreck die Augen zugehalten hatte. In jedem Film jedoch gibt es einen Moment, in dem es ruhig wird im Saal, sich die Freundin an den Partner kuschelt und man gespannt darauf wartet, das der Held die Gerettete küsst. Und so war es auch in diesem. Ich hatte nicht gewagt, Mia anzusehen, als es ganz still um uns herum wurde, jedoch deutlich dieses Knistern bemerkt, das in der Luft lag. Und dann, ganz vorsichtig, hatte Mia ihre Hand auf meine Hand gelegt. Irgendwas in meinem Bauch tat einen Satz und ehe ich darüber nachdenken konnte, hatte ich meine Finger mit ihren verschränkt. Wir sahen uns an, lächelten zaghaft, mit dem Bewusstsein, dass wir einen kleinen Schritt in eine unbestimmte Richtung getan hatten. Es war fast halb zehn gewesen, als Mia und ich uns voneinander verabschiedeten. Sie stand vor mir, in ihrem bezaubernden Sommerkleid, und ich wusste, was sie jetzt von mir erwartete. Jedoch war ich nicht bereit dazu. Es war unser erstes Date und ich wäre mir schäbig vorgekommen, hätte ich ihre Schwärmerei für mich derartig ausgenutzt. Also hatte ich zum Abschied nur einen leichten Kuss auf ihr Haar gehaucht. Mit dem Versprechen, mich ganz bald bei ihr zu melden. Und das war es dann. Mia war gegangen, zufrieden mit sich und der Welt und ich hatte ihr nachgeblickt mit dem Gedanken, dass ich es nie hätte so weit kommen lassen dürfen. „WAS?!“ Sowohl Raik als auch Nicky blickten mich voller Unverständnis an. Nicky war die erste, die ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Aber was ist mit dem Knistern, mit dem Händchenhalten, mit dem Kuss?“ „Aufs Haar“, wand ich ein. „Scheiß egal wohin. Mia hat sich bestimmt total in dich verliebt. Sie ist doch erst fünfzehn und so ein Date…“ „Nur ein Jahr jünger als du.“ „Ja verdammt, und ich hätte mich verknallt!“ „Ich weiß…“ Ich wusste es wirklich. Es war nicht meine Absicht, Mia so in die Irre zu führen, aber es war alles so neu, so perfekt gewesen. Ich hatte nicht anders gekonnt. „Wenn du mich fragst, Bro. Alles richtig gemacht“, brachte sich nun auch Raik mit ein. „Das war ja klar“, protestiere Nicky sofort und warf Raik einen vernichtenden Blick zu. Dann sah sie mich eindringlich an. „Was hat denn nicht gestimmt?“, fragte sie mich sanft. „Mia ist süß und…“ Ich unterbrach sie energisch. „Das weiß ich auch! Sie ist süß, charmant, clever. Einfach toll aber…“, und ich konnte selbst nicht fassen, das ich das sagte, „… ich bin einfach nicht in sie verliebt. Klar hat es gekribbelt, aber es war ja auch alles ganz neu für mich. Wenn mich jemand fragen würde, ob ich mit ihr zusammen sein wollen würde, würde ich nein sagen.“ Ich sah Nicky bittend an. Sie sollte etwas sagen, was mich nicht noch mehr runterzog. Doch sie tat das Gegenteil. „Yun, ich bin mir fast einhundertprozentig sicher, dass Mia der festen Überzeugung ist, dass ihr jetzt zusammen seid. Du musst das klären.“ Das musste ich. Aber sicher nicht jetzt. Und auch nicht mehr heute. In meinem Kopf spielten die beiden Hirnhälften Hockey mit meinem Verstand und ich wollte einfach nur die Gedanken an Mia, aber vor allem den an die unbekannte Frau von heute Morgen vergessen, die noch immer zusammen mit dem Bild von Robin in meinem Kopf herumschwirrten. Also tat ich etwas, was ich noch nie zuvor getan hatte. Ich bestellte mir Alkohol. Der Rum-Cola kam binnen weniger Minuten und Nicky war entsetzt darüber, dass ich überhaupt harten Alkohol ausgeschenkt bekam. Trotzdem bestellten sie und Raik sich ebenfalls welchen. „Auf die Liebe“, hob Raik sein Glas. „Auf die Wahrheit“, stieß Nicky dazu. „Aufs Vergessen“, flüsterte ich. Wäre es bei einem Glas meinerseits geblieben, hätte mein Leben wohl einen anderen Verlauf genommen. Ich hätte niemals erfahren, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man betrunken ist und wie erbärmlich man sich vorkommt, wenn man nicht mehr im Stande ist, alleine geradeaus zu laufen. Schon nach vier Gläsern war ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Am Anfang hatte es sich noch gut angefühlt, dieses leicht neblige Gefühl im Kopf, was einen frei macht von allem, was man nicht denken will. Das einen aber auch mit jedem Tropfen mehr dazu bringt, abgeschottet im eigenen Ich, an Dinge zu denken, von denen man versucht hatte, sie zu verdrängen. Mit einem Mal fühlte ich mich unendlich traurig. Hatte Robin wirklich mit dieser Frau geschlafen? Warum war unser Kontakt so abgerissen? Hatte er in der ersten Woche, nachdem er bei uns eingezogen war, nur Anhang gesucht, ihn jetzt aber woanders gefunden? Dann hätte er aber nicht so unendlich liebenswert zu mir sein dürfen. Was war mit unserem Ausflug zur Küste? Er hatte nicht ja, aber auch nicht nein gesagt. Sondern nur… maybe. Maybe! Plötzlich hasste ich dieses Wort. Aber ich vermisste es auch. Vermisste, wie mich Robin angrinste, wenn er mich im Dunkeln tappen ließ. Vermisste… einfach ihn. Oh Gott, was dachte ich da? Was war das für Zeug in meinem Kopf? Konnte mich bitte jemand in die Realität zurückholen? Um mich herum war alles wie weggefegt und ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ich hörte nur in weiter Ferne das Gemurmel von Stimmen, das Schaben von Stuhlbeinen und auf einmal wurde es kalt. Ja, mir fröstelte. Warum? Was war los? „Yun?“ Was ist? „Yun, hey. Hörst du mich?“ „Jaaaa…“, hörte ich mich sagen. Aber, war das meine Stimme? Sie hörte sich merkwürdig leiernd an. „Kannst du gehen?“ „Na klar.“ Wieso hätte ich nicht einen Fuß vor den anderen setzten können sollen? Doch, Moment. Irgendwie wollten meine Füße nicht so wie ich. „Verdammt, jetzt reiß dich zusammen!“ Satoshi! Auf einmal war ich wieder da. Nicht wissend, jemals weggewesen zu sein. Auch wen um mich herum noch alles vernebelt war. Ich war draußen, auf dem Neuen Markt und Satoshi stützte mich. Ich lief ja! „Wo kommst du denn her?“, fragte ich, aber noch immer klang ich komisch. „Wo komm ich her…“ War Satoshi wütend? „Sag mir lieber, wo du eben warst.“ „Ich weiß nicht…“ Jedenfalls nicht da, wo ich sein wollte. Zu viele traurige Gedanken. „Geht´s wieder Yun?“ Nicky war ja auch noch da. „Man Bro… Du verträgst echt nichts.“ Und Raik auch? „Haltet die Klappe.“ Wessen Stimme war das? „Hättet ihr nicht auf ihn aufpassen können?“ Wow… das klang aber böse. Was war denn los? Was war denn mit mir? Angst überkam mich. Ich merkte, dass ich zitterte, wusste aber nicht warum und dann war da plötzlich Wärme. Ganz spürbar an meinem Gischt. Konzentrier dich Yun, sagte ich mir, durchbrich die Dunkelheit. Und für einen kurzen Moment sah ich sie direkt vor mir, cognacfarbene Augen. Fühlte eine Hand, eine wärmende Hand, an meiner Wange und hörte eine mir so vertraute Stimme. „Wir bringen dich nach Hause, Yun.“ Nach Hause? Nein, nicht jetzt! Geh nicht weg... bitte… Robin… Es wurde wieder neblig um mich herum. Ich wusste, dass meine Lippen sich bewegten, dass ich ihm etwas sagte, aber ich konnte mich nichts sagen hören. Plötzlich, völlige Dunkelheit. Ich erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Mein Schädel brummte ungeheuerlich und meine Zunge fühlte sich seltsam pelzig an. Licht drang durch meine geschlossenen Lider und es graute mir davor, meine Augen zu öffnen. Ich beschloss, noch etwas liegen zu bleiben, wälzte mich auf die Seite und ein Duft kroch mir in die Nase, der so gar nicht zu meinem Bett zu gehören schien. Erschrocken riss ich die Augen auf, hätte dies aber lieber bleiben lassen sollen. Das Sonnenlicht, das durch ein Fenster mir gegenüber, den Raum durchflutete stach mir in die Augen und in meinem Kopf begann es noch heftiger zu hämmern. Dann wurde mir etwas bewusst: Mein Fenster lag auf der anderen Seite des Zimmers, hätte also eigentlich hinter mir sein müssen. Schlussfolgernd, war das gar nicht mein Zimmer. Ich schreckte hoch. Und sofort überkam mich ein Gefühl der Übelkeit. Ich wusste nicht, ob ich mich darauf konzentrieren sollte, den Brechreiz zu unterdrücken, oder ob ich herausfinden sollte, wo ich eigentlich war. Ich entschied mich irgendwie für beides. Tief luftholend, sah ich mich im Zimmer um. Da stand ein Nachttisch, mit einem Eimer darauf, der nicht meiner war. Ich saß in einem Bett, das ich noch nie gesehen hatte und war mit einer Decke zugedeckt, die nicht zu mir gehörte. Wo zum Teufel war ich also?! Dann drangen Stimmen zu mir, die ich nicht zu unterscheiden vermochte und in meinen Ohren begann es zu rauschen. „Hallo?!“, versuchte ich mein Glück. Irgendwer musste hinter der Zimmertür sein. Meine Stimme klang etwas heiser, was mich stutzen ließ. Halsschmerzen hatte ich auch ein wenig. „Hallo?!“, versuchte ich es noch einmal und jetzt begann sich hinter der Tür etwas zu regen. Ich starrte gebannt auf die Türklinke, die sich nun bewegte und einen Moment später stand Satoshi im Rahmen. Ich war erleichtert. Satoshi schloss die Tür leise und kam mit ernstem, aber liebevollem Blick auf mich zu. „Na, endlich ausgeschlafen?“, fragte er und ließ sich zu mir auf die Bettkannte nieder. „Ich weiß nicht“, gab ich zur Antwort. „Wo bin ich denn hier? Und warum bin ich nicht zu Hause?“ Mein Gesicht musste ein einziges Fragezeichen sein. Satoshi lächelte, durchwuschelte mein Haar und begann zu erklären: „Es muss so gegen dreiundzwanzig Uhr gestern Abend gewesen sein, da klingelte mein Handy und am anderen Ende war ein völlig aufgewühlt und hilflos klingelnde Nicky. Sie hat mir erzählt wo ihr seid und das ich ganz schnell kommen sollte. Robin und ich waren am anderen Ende der Stadt unterwegs und deshalb dauerte es eine Weile, bis wir bei euch waren. Nicky hatte mir nur irgendwas von zu viel Rum-Cola erzählt und das du etwas daneben seist, aber als wir bei euch ankamen, fanden wir dich kaum ansprechbar vor.“ Ich sah Satoshi ungläubig an, aber langsam dämmerte es mir wieder. Ich konnte mich an das Date mit Mia erinnern und daran, dass wir uns Rum-Cola bestellt hatten, aber danach wurde es ziemlich finster. Satoshi erzählte weiter: „Robin und ich haben dich also aus der Bar geholt und…“ „Moment. Robin?“, unterbrach ich ihn. „Ja“, fuhr Satoshi fort. „Hab ich doch gerade erzählt. Man… du hättest sehen sollen, wie er den Barkeeper zusammengefaltet hat. Von wegen Alkohol an Minderjährige und so.“ Na toll. Nicht nur, das ich mir offenbar die Kante gegeben hatte, jetzt konnte ich auch in die Bar nie wieder einen Fuß setzen. Und Robin hatte auch noch alles mitbekommen. „Und weiter?“, fragte ich. „Nachdem wir dich aus der Bar raus hatten, kamst du langsam wieder zu dir. Du hast gezittert und konntest dich kaum auf den Beinen halten. Robin hatte versucht dich zu beruhigen, was ihm auch erstaunlich gut gelungen war.“ Auch daran konnte ich mich erinnern. An Robins cognacfarbene Augen und an seine Hand an meiner Wange. Es war eine schöne Erinnerung. „Du hast andauernd >Bitte geh nicht weg< vor dich hin gemurmelt. Allerdings auf Japanisch.“ Satoshi lachte. „Wir wissen jetzt also, dass du dich im Suff deiner japanischen Hälfte näher fühlst, als der deutschen.“ „Das hab ich gesagt?“, fragte ich ungläubig. „Bitte geh nicht weg?“ „Ja. Immer wieder. Ich hab dir tausend Mal bestätigt, dass ich bei dir bleibe, aber darauf hast du gar nicht reagiert.“ Kein Wunder, sagte ich mir. Ich hatte auch nicht Satoshi darum gebeten, bei mir zu bleiben, sondern Robin. Also hatte ich doch etwas zu ihm gesagt. >Bitte geh nicht weg.< Jetzt erinnerte ich mich ganz deutlich. Peinlicher ging es kaum, dachte ich, bis mir Satoshi den Rest der Geschichte erzählte. „Robin und mir war sofort klar, dass du so nicht nach Hause konntest. Mama und Papa hätten dich gevierteilt. Also brachten wir dich hierher. Zu Marie.“ Wer war Marie? „Sie hat Gott sei Dank Verständnis, für siebzehnjährige Betrunkene“, witzelte Satoshi. Ich lächelte. „Als wir dich endlich in ihrer Wohnung hatten, hat die Wärme dir den Rest gegeben. Dir sackten die Beine weg, aber Robin hatte Gott sei Dank schnell genug reagiert und dich aufgefangen. Er hat dich ins Schlafzimmer getragen, während ich einen Eimer besorgte, dir die Klamotten ausgezogen und dich ins Bett gebracht. War echt groß von ihm. Vergiss nicht, dich später bei ihm zu bedanken, okay?“ Moment! Ich hatte keine Klamotten mehr an?! Tatsächlich. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich bis auf Unterhose und T-Shirt, das ich unter meinem Hemd getragen hatte, völlig entkleidet war. Satoshi lachte plötzlich auf. „Was ist so lustig?“, fragte ich leise, beschämt von der Geschichte, die er mir gerade über mich offenbart hatte. „Ich lach´ nicht über dich“, entgegnete er und zwinkerte mir zu. „Ich musste nur gerade daran denken, wie ich Robin und dich gesehen habe, als ich mit Marie nach nem Eimer suchte. Du hattest dich regelrecht an ihm festgekrallt, als du schon im Bett gelegen hast und unter Tränen gesagt >bitte geh nicht weg<. Als ich Robin das später übersetzt hatte, konnte er es gar nicht glauben.“ Als er es übersetzt hatte?! Bitte nicht. Ich hatte gehofft, dass Robin gar nicht gewusst hatte, was ich da die ganze Zeit gesagt hatte, weil ich es ja auf Japanisch gemurmelt hatte, aber jetzt… Wo bitte, war das Erdloch, in das ich mich verkriechen konnte? Das durfte doch alles nicht wahr sein. Ich ließ mich in die Kissen sinken und hoffte innständig, dass der Eimer leer war, den ich ganz am Rand meines Blickfeldes sehen konnte. „Hab ich mich sonst wenigstens benommen?“, fragte ich verunsichert und deutete auf den Eimer. Satoshi bejahte die Frage, offerierte mir aber, dass wir unterwegs zwei Mal hatten anhalten müssen. Das war der absolute Tiefpunkt meines Lebens. Nicht nur, dass ich mich Robin gegenüber verhalten hatte, wie ein Baby, sogar vor ihm geweint hatte, nein, er hatte mich auch noch kotzen sehen. Warum hatte ich eigentlich geweint? War ich so hilflos gewesen, so verzweifelt? Ich wusste mir keine Antwort. Allerdings brachte es auch nichts, jetzt darüber nachzudenken. Offenbar hatte es zwischen Robin und mir einen sehr intimen Moment gegeben, egal was der Auslöser dafür gewesen war. Er hatte sich um mich gekümmert, mir beigestanden und es verletzte mich zu sehr, nichts mehr davon zu wissen, dass ich nicht mehr daran denken wollte. Als ich mich angekleidet hatte, verließ ich unsicheren Schrittes das Schlafzimmer und betrat die Küche Als erstes sah ich Satoshi, der sich gerade an dem Wasserkocher auf der Arbeitsfläche zu schaffen machte. Und dann sah ich die Frau, die wohl Marie sein musste. Die selbe Frau, die ich noch tags zuvor in unserer Küche hatte sitzen sehen. Sie saß am Tisch einer Sitzecke und lächelte mir zu. „Frühstück hast du leider verpasst“, scherzte sie und nickte mit dem Kopf in Richtung einer Uhr, die rechts an der Wand neben der Sitzecke hing. Es war bereits elf Uhr vorbei. Ich brachte ein verschüchtertes Guten Morgen heraus. Was sollte ich jetzt machen? Einfach gehen? Mich zu ihr setzten? Satoshi half mir aus der Klemme und gebot mir, mich an den Tisch zu setzten. Er hatte mir bereits einen Tee aufgegossen. Zurückhaltend nahm ich einen Schluck, bereute es aber sofort, denn mein Magen war mit der Flüssigkeitszufuhr noch gar nicht einverstanden. Ich schob die Tasse von mir, ließ meinen Blick aber auf ihr haften. Mir war das alles unendlich peinlich und ich traute mich nicht, weder Satoshi, noch Marie anzusehen. „Also Bruderherz“, war es nun Satoshi, der das Thema ansprach über dass ich nicht reden wollte. „Dann erzähl doch mal, was da gestern mit dir los war.“ Es war spürbar, wie sein, aber auch Maries Blick auf mir ruhte und gerade als ich antworten wollte, hörte ich die Wohnungstür zufallen. Ich sah instinktiv in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. „Ist bestimmt Robin“, meinte Marie und ich sah, wie sich ihre Haltung straffte. Nicht auch noch Robin, dachte ich und leichte Verzweiflung kam in mir auf. Wie sollte ich ihm jetzt in die Augen sehen? Ich hörte Schritte, die näher kamen und schon ein paar Sekunden später stand er im Durchgang, der Küche und Flur voneinander trennte. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. „Wieder unter den Lebenden?“, vernahm ich seine Stimme, die amüsiert klang und im nächsten Moment landete eine Packung Ibuprofen vor mir auf dem Tisch. Dann setzte er sich mir gegenüber, neben Marie, auf die Sitzbank und drückte der hübschen, blonden Frau mit einem >hey< einen Kuss auf die Wange. Das Bild ertrug ich nur schwer. „Wolltest du uns nicht was erklären?“, fragte Satoshi. Seine Stimme hatte einen ernsten Tonfall angenommen. Von wollen konnte nicht die Rede sein. Und schon gar nicht mehr jetzt, wo Robin mir gegenüber saß und ich genau merkte, wie er mich beobachtete. Was sollte ich denn auch sagen? Dass ich mich hatte zulaufen lassen, weil meine Gefühle und Gedanken mit mir durchgegangen waren, und ich mir selbst nicht einmal erklären konnte, was mit mir los war? Das der Grund für meinen Totalausfall in dieser Sekunde direkt vor mir saß? „Yun!“, forderte mich Satoshi erneut auf, mich zu erklären. Lass mich in Ruhe! Was macht man, wenn man mit einer Situation überfordert ist? Wenn man sich bedrängt fühlt und keine Lösung auf einen Ausweg weiß? In den meisten Fällen flieht man. Und das tat ich auch. „Ich muss gehen“, brachte ich mit kräftigerer Stimme heraus, als ich erwartet hatte und stand auf. Mir konnte es plötzlich gar nicht schnell genug gehen, aus dieser Wohnung zu verschwinden. „Wo…?“ Hör auf Satoshi! „Danke für alles, Marie“, fuhr ich meinem Bruder über den Mund und nickte Marie zu. „Ich mach´s wieder gut. Versprochen. Okay?“ Sie zuckte nur mit den Achseln, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie wegen der Umstände nicht böse auf mich war. „Tut mir leid“, wandte ich mich nun an Satoshi. „Wir reden später.“ Ohne auf eine Reaktion von ihm zu warten, verließ ich eilig die Küche. Robin anzusehen hatte ich vermieden. Zu groß war die Scham und die Angst davor, er könnte in meinem Blick erkennen, dass ich vor ihm Reißaus genommen hatte. In dem kleinen Flur der Wohnung fand ich meine Schuhe, vergeudete keine Zeit damit, mir die Schnürsenkel zuzubinden und schlug schon im nächsten Moment die Tür hinter mir zu. Der etwas zu heftige Knall hallte durchs Treppenhaus, aber er war auch wie ein Befreiungsschlag gewesen. Ich lief die zwei Treppen zum Hauseingang hinunter, als ich hinter mir eine Stimme hörte. „Yun?!“ Nein, bitte! Ich musste nur noch durch die weiße Kunststofftür, die mich von der rettenden Außenwelt trennte. „Yun, warte!“ Mit der Türklinke in der Hand blieb ich stehen. Warum kam er mir nach? Mein Herz schlug einen Tackt schneller. Ich hörte die letzten Schritte, die Robin machte, überlaut in meinen Ohren. Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? „Dein Handy.“ Mein Handy? Ich drehte mich zu ihm um und er hielt mir mein Telefon entgegen. „Oh, danke“, sagte ich, nahm es entgegen und vermied dabei den Augenkontakt. „Es hat ein paar Mal geklingelt“, meinte Robin nun und versenkte seine Hände in den Hosentaschen. „Beim dritten Mal bin ich rangegangen. Eine Mia hat nach dir gefragt.“ Mia? Nun blickte ich doch zu ihm auf. Warum war er an mein Telefon gegangen? Hatte Mia etwas erwähnt, das auf unser gestriges Date hindeutete? Robins Blick war nichtssagend. „Du solltest sie bald anrufen“, fügte er nun hinzu. „Sie klang etwas nervös und verunsichert. Meinte, du hättest versprochen, dich bald bei ihr zu melden.“ Das hatte ich. Nur was ich Mia zu sagen hatte, würde ihr nicht gefallen. „Mach ich“, entgegne ich. Mehr wusste ich nicht zu sagen. Ich wollte nicht mehr an diesem Ort sein. Nicht mit Robin. „Ich muss los“, sagte ich schließlich und wandte mich zur Tür. „Und danke, dass du dich um mich gekümmert hast.“ Ich stand mit einem Fuß schon draußen, als ich eine Hand an meinem Arm spürte, die mich zwang, mich nochmals umzudrehen. Robin stand plötzlich so dicht vor mir, dass meine Nase fast seinen Pullover berührte. Der Duft seines Parfüms nah mir den Atem. „Mach so einen Quatsch nie wieder“, hörte ich seine mahnende, aber auch bittende Stimme sagen, wobei er mir seine andere Hand an den Hinterkopf legte, und mich ganz sanft, kaum spürbar gegen seine Brust drückte. „Das hat mir Angst gemacht.“ Seine Stimme war zuletzt nur noch ein Flüstern. Mein Herz tat einen Satz und ich unterdrückte das Verlangen, mich in seinem Pullover festzuklammern. Dieser Moment kam mir vor wie ein Wimpernschlag und wie eine Ewigkeit zugleich. Doch als er mich wieder freigab war es, als hätte es diesen Augenblick nie gegeben. Robin trat einen Schritt zurück, wandte sich um und mit den Worten >ruf Mia an<, lief er die Treppe wieder hinauf. Wie paralysiert blieb ich zurück. War das eben wirklich passiert? Und wenn ja, was hatte es zu bedeuten? Bedeutete es überhaupt etwas, oder war es nur die besorgte Bitte eines Freundes meines Bruders gewesen? Ratlos und verunsichert trat ich ins Freie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)