Maybe von Ayalaana (Geschichte einer Ersten Liebe) ================================================================================ Kapitel 3: Brüder ----------------- Sechs Monate und der atlantische Ozean lagen zwischen mir und meinem Bruder und in dieser Zeit hatten wir weder miteinander gesprochen, noch per Mail oder Post Kontakt zueinander gehabt. Es war eine Zeit der Befreiung, in der ich nicht jeden Tag der Perfektion meines Bruders ausgesetzt gewesen war. In der ich mich nicht ständig mit ihm vergleichen lassen musste und die mich nicht stets erkennen ließ, wie weit wir uns tatsächlich voneinander entfernt hatten. Mit jedem Jahr das verging, seit meiner Kindheit, wurde mir von meinen Eltern vor Augen gehalten, wie meisterlich Satoshi sein Leben bestritt. Wie er sein Leben auf die Erfolgsspur brachte und welch große Zukunft vor ihm lag. Von mir hatte man stets dasselbe erwartet und als sich andeutete, dass mein Leben andere Wendungen nahm, als es mir vorherbestimmt schien, wurde die Kluft stätig größer. Mit Satoshi und meinen Eltern auf der einen, und mir auf der anderen Seite. Angefangen damit, dass ich nicht, wie Satoshi mit sechs, sondern mit sieben Jahren eingeschult worden war, über das Pensum für das Gymnasium, dass ich nicht erfüllte, bis hin zum Abschluss der Realschule der mir bevor stand und nicht drei weitere Jahre in der Schule, bis hin zum Abitur. Aber nicht nur der schulische Werdegang unterschied mich von Satoshi. Er war überall beliebt, hatte Unmengen an Freunden und war bis zur Uni im Basketballverein. Ich dagegen hatte nur zwei Freunde zu bieten, war eigentlich mehr akzeptiert als beliebt unter meinen Mitschülern und hatte es als Kind nicht einmal geschafft, in einer Band bestehen zu bleiben. Inzwischen war es fünf vor halb vier und ich musste nur noch an der Bowlinghalle vorbei, die direkt an den Hauptbahnhof grenzte. Es waren kaum mehr hundert Meter zum Bahnhof und je näher ich kam, desto langsamer wurde ich. Schlussendlich stieg ich von meinem Fahrrad ab und ging die restlichen Meter zu Fuß. Rechts neben mir fuhren die Autos in Richtung Innenstadt und ich spielte kurz mit dem Gedanken, mich einfach wieder auf mein Fahrrad zu schwingen und es ihnen gleich zu tun. Schwer atmend von der Anstrengung der Fahrt, aber auch aus Angst vor dem nun Kommenden, schloss ich mein Rad an den Fahrradständer vor dem Bahnhof und ging hinein. Schon auf den Stufen zur Wartehalle kamen mir Menschenströme entgegen und ich musste einen Moment warten, bis ich passieren konnte. Das Gemurmel von dutzenden Stimmen drang mir entgegen, als ich die Wartehalle durchquerte und einen kleinen Slalom zwischen einer Gruppe Kindern vollführen musste, die sich, ohne nach vorn zu sehen, mit ihren kleinen Koffern, ein Fangspiel lieferten. Zu meiner Linken hatte sich eine kleine Schlange vor dem DB-Schalter gebildet und auf der anderen Seite wuselten die Menschen durch ein Zeitschriftengeschäft, das neben Zeitungen und Magazinen auch gut mit Büchern sortiert war. Ich erinnerte mich, dass auch ich mir hier mal ein Buch gekauft hatte. Einige Schritte später betrat ich den Bahnsteig, der die ersten fünfzehn Meter völlig überdacht war, zu den Gleisen hin aber nur noch teilweise. Ich überlegte, wie lange ich schon nicht mehr hier gewesen war. Einiges hatte sich verändert. Es hatte Modernisierungen gegeben und es war längst nicht mehr so dreckig, wie ich es in Erinnerung hatte. Ein verführerischer Duft von Kaffee und Bratwurst schlug mir aus einem Imbiss entgegen, der kleine, beschirmte Tische vor dem Geschäft aufgestellt hatte. Fast hätte ich dem Drang nachgegeben, einfach dort zu bleiben und die ganze folgende Situation auszusitzen. Getrieben von meiner Vernunft ging ich weiter zu den Gleisen, bis mir klar wurde, dass ich keine Ahnung hatte, mit welchem Zug Satoshi ankommen würde. Doch gerade, als ich einen Bahnmitarbeiter ansprechen wollte, kam über die Lautsprecher eine Ansage. >Wehrte Fahrgäste. An Gleis 2b Ankunft des ICE aus Hamburg nach Sassnitz-Hauptbahnhof. Der Zug wird uns in kürze erreichen. Geplante Ankunft: fünfzehn Uhr dreißig. Bitte Vorsicht am Bahnsteig.< Das war dann wohl meiner. Ich wusste, dass Satoshi bis Hamburg geflogen war. Ich überflog die Schilder an den Gleisen und hatte das für mich richtige schnell ausgemacht. Es dauerte einen Moment, doch dann entdeckte ich zwischen den wartenden Fahrgästen meine Eltern, die beide etwas nervös wirkten und sich dauernd umsahen. Ich nahm an, dass sie nach mir Ausschau hielten. Noch etwas entmutigter ging ich auf sie zu und winkte meiner Mutter, damit sie mich sah. Die Erleichterung in ihrem Gesicht war deutlich zu erkennen, als auch sie mich sah, und mir dann deutlich signalisierte, dass ich mich gefälligst zu beeilen hatte. Einige Vorwürfe über mein zu spätes Erscheinen und ein beiläufig grüßendes Nicken meines Vaters später, fuhr der ICE in den Bahnhof ein. Ich hatte nicht gedacht, dass es mir dabei so schlimm gehen würde. Während meine Eltern in freudiger Erwartung durch jedes Fenster eines vorbeiziehenden Zugabteils spähten, meine Mutter als Japanerin sehr klein und deshalb auf Zehenspitzen, schlug mir mein Herz aus einem anderen Grund bis zum Hals. Ich kam nicht umhin, jeden Menschen, der nun aus dem Zug stieg genau anzusehen, auf der Suche nach dem einen, der mein Leben so bestimmte, und den ich eigentlich nicht so schnell hatte wiedersehen wollen. Dutzende strömten nun an uns vorbei und so sehr ich auch versuchte die Gesichter festzuhalten, keines blieb länger als ein paar Sekunden in meinem Blickfeld hängen. Scheinbar unendliche Sekunden des Wartens verstrichen, bis meine Mutter unweit neben mir aufschrie. „Satoshi!“, klang ihre helle Stimme über den Bahnsteig und sofort blickte ich in die Richtung, in die nun meine Eltern starrten. Meine Mutter hatte sich schon laufenden Schrittes in Bewegung gesetzt und auch wenn mein Vater sie ermahnte, nicht so überschwänglich zu sein, hielt sie nichts mehr zurück. Und dann sah ich ihn. Satoshi zog einen riesigen Koffer hinter sich her und eine weitere Reisetasche hatte er sich über die Schultern gelegt. Als er meine Mutter auf sich zukommen sah, ließ er beides fallen und breitete die Arme herzlich aus. Ein Strahlen lag auf seinem Gesicht, wie ich es schon so oft gesehen hatte, wenn er wirklich glücklich war und er schloss meine Mutter in die Arme, als hätten sie sich Jahrzehnte lang nicht gesehen. Als sie sich voneinander lösten, küsste meine Mutter Satoshi links und rechts auf die Wangen, tätschelte ihm das Gesicht, als wolle sie prüfen, ob er noch der selbe war. Mir versetzte dieses Schauspiel einen Stich ins Herz. Wenn das Mutterliebe war, wo war sie dann bei mir all die Jahre gewesen? Ich beobachtete, wie nun auch mein Vater Satoshi kräftig umarmte, ihm auf den Rücken klopfte und ihn von oben bis unten musterte. Sein Blick voll Stolz für den heimgekehrten Sohn. So sehr ich es wollte, ich konnte den Blick nicht abwenden, von diesem Schauspiel. Wohlwissend, dass ich es mir insgeheim für mich selbst wünschte. Was hatte Satoshi nur an sich, dass ihn für mich unerreichbar machte und dem meine Eltern so viel mehr Bedeutung zukommen ließen, als mir? Ich konnte es nicht hören, aber ich sah, wie meine Mutter auf meinen Bruder einredete, ihn vermutlich mit Fragen überhäufte, und obwohl Satoshi bereitwillig zu antworten schien, schweifte sein Blick doch immer wieder ab und er sah nun besorgt aus. Suchte er nach jemandem? Er blickte meine Mutter wieder an, sagte etwas und die machte plötzlich einen etwas irritierten Eindruck. Sie wandte sich um, deutete mit der Hand unmerklich in meine Richtung und als Satoshi aufsah, hellte sich dessen Blick sofort wieder auf. Sanft nahm er meine Mutter zur Seite, lächelte meinem Vater noch einmal zu und setzte sich eiligen Schrittes in Bewegung. Oh Gott, schoss es mir durch den Kopf. Satoshi musste unsere Mutter nach mir gefragt haben und nun kam er direkt auf mich zu. Dutzende Gefühle drängten in meiner Brust. Von Angst und Hilflosigkeit bis hin zu Zorn und Eifersucht. Einen Moment dachte ich an Flucht, aber da Satoshi nur noch ein paar Meter entfernt war, war dies wohl keine Option. Mein Atem ging schnell, meine Knie zitterten und ich war fast sicher, dass sich mein Sprachzentrum auch verabschiedet hatte. Ohne es zu wollen, wich ich einige Schritte zurück. Oder war es voran? Ich konnte mich nicht kontrollieren und hasste mich für meine fehlende Selbstbeherrschung. Tausend Mal hatte ich das Szenario unseres Wiedersehens in meinem Kopf durchgespielt, hatte mir Worte zurechtgelegt und war fest entschlossen gewesen, ihm weder feindlich noch freundlich gegenüber zu treten. Alles hatte ich mir vorgestellt, nur nicht das. „Yun-chan!“ Satoshi hatte einen letzten großen Schritt gemacht und schon im nächsten Augenblick lag ich an seiner Brust. Er herzte mich, schmiegte seine Wange gegen meinen Kopf und gab mir einen leichten Kuss auf mein Haar. Wie gelähmt stand ich da, umschlungen von den Armen meines so übermächtigen Bruders und ich konnte den dezenten Duft seines Parfüm riechen, dass er schon so viele Jahre über benutzte. Etwas Vertrautes. „Schön dich zu sehen“, sagte er und gab mich wieder frei. Seine blauen Augen, denen meinen so ähnlich waren, leuchteten mich an. Und, bildete ich mir das nur ein, oder waren sie tatsächlich etwas verschwommen? „Hast nen ganz schönen Satz gemach im letzten halben Jahr“, stellte Satoshi fest und begutachtete mich von oben bis unten. „Und etwas zugelegt hast du auch. Aus dir wird langsam ein richtiger junger Mann.“ Er griente mich an und in mir viel alles zusammen, wie ein Kartenhaus. >Hör auf damit!< Hätte ich ihm am liebsten entgegengeschrien.