place for us von Ur (we can see the future and the dreams it's made of) ================================================================================ Kapitel 1: Plötzlicher Aufbruch ------------------------------- »Alter, das kann doch nicht dein Ernst sein!« »Seh ich aus, als würde ich scherzen?« »Nein. Du siehst nie aus, als würdest du scherzen.« »Dann frag nicht so dumm!« Es ist nicht so, als hätte ich nicht schon immer gewusst, dass Moritz ein elender, humorloser, stocksteifer Besen ist, aber dass er mir in solch einer Situation auch noch vorwirft, dumm zu sein, das ist jawohl die Höhe! Ich hab schließlich nicht aus dem Nichts heraus die wahnwitzige Vermutung angestellt, dass sein Zwillingsbruder Manuel – mein bester Freund seit Sandkastenzeiten – entführt wurde. Was lächerlich ist. Manuel ist viel zu nett, als dass irgendwer ihn entführen würde. Ein rationaler Teil meines Gehirns sagt mir, dass das für gewöhnlich kein Ausschlusskriterium für Entführer darstellt, aber hey, wenn man am Rande des Hyperventilierens steht, weil man seinen besten Freund seit zwei Tagen nicht erreichen kann, dann sind die Gedankengänge eben nicht allzu eloquent. »Ich hoffe, du wirst nicht ohnmächtig. Ich warte nicht drauf, bis du wieder wach bist«, sagt Moritz und ich würde ihm am liebsten die bescheuerte, gerahmte Brille von der Nase schlagen. So ein Hornochse. Ich atme tief durch und straffe meine Schultern. Moritz sieht genauso aus wie Manuel, mit Ausnahme zweier Leberflecken, die Moritz auf der rechten Wange hat. Aber seine schwarzen Haare, die unglaublich hellen Augen, die gerade Nase und die hohen Wangenknochen, selbst die Lücke zwischen den Schneidezähnen und die leicht abstehenden Ohren, das alles sieht vollkommen identisch aus. Als Kind hab ich immer gedacht, dass die beiden Superhelden-Doppelgänger sind. Gut, ganz falsch ist das nicht, aber ich hab mich zumindest schnell von der Idee distanziert, dass Moritz es irgendwann mal zu etwas Heroischem bringen würde. Mit vier Jahren habe ich beschlossen, dass ich ihn nicht mochte, weil er mir auf den Kopf zusagte, dass mein Kaninchen Löffel – und hey, mit vier darf man seine Hasen bescheuert nennen – wahrscheinlich bald tot sein würde. Daraufhin hab ich geweint und meine Mama hat Moritz‘ Mama angerufen und seitdem durfte er nicht mehr bei mir zu Hause spielen, sondern nur noch Manuel. Moritz war immer schon komisch, verschlossen, still, ja, richtiggehend creepy manchmal. Ich konnte nie wirklich feststellen, woran das lag, aber seine Gegenwart ist mir immer noch oft unangenehm. Manuel hingegen ist nett, aufgeschlossen, witzig… und der beste Lügner aller Zeiten. Mit acht musste er mir versprechen, dass er mich niemals anlügen würde und wir haben es mit einer Blutsbruderschaft besiegelt. Also, eigentlich war es eine Traubensaftbruderschaft aus bunten Plastikbechern, aber die Bedeutung war dieselbe. Wenn ich sage, dass er ein guter Lügner ist, dann meine ich nicht einfach nur gut. Dann meine ich, er kann Leuten erzählen, dass der Himmel eigentlich grün ist und sie würden ihm glauben. Es ist eine Art Superheldenkraft und sie hat uns schon oft den Arsch gerettet. Wir haben endlose Schulstunden geschwänzt, ganz ohne in Schwierigkeiten zu kommen, weil Manuel immer eine Geschichte parat hatte. »Oliver wäre fast ertrunken.« »Eine Meute wilder Hunde hat uns quer durchs Industriegebiet gejagt.« »Mein Vater hat sich in einen Werwolf verwandelt und uns als Geiseln gehalten, wir konnten entkommen und deswegen ist er jetzt auf der Flucht.« Ja, ich meine diese Art von Lügen. Diese Lügen, die kein Lehrer jemals einem Schüler glauben würde, weil sie natürlich großer Schwachsinn sind. Aber Manuel kann jeden alles glauben machen. Nun ja, fast jeden. Moritz nicht. Vielleicht fand ich ihn deswegen immer schon komisch, weil er sich nicht von Manuel um den Finger wickeln lässt. Niemals. Er durchschaut alle seine Lügen und zieht dann immer nur eine Augenbraue hinter seinen Brillengläsern hoch, wenn Manuel es doch mal versucht. »Es macht mit dir einfach keinen Spaß, Mo!«, hat er dann immer lachend gesagt und Moritz auf die Schulter geklopft. Moritz hat nie gelächelt oder mit gelacht, wenn das vorkam. Ich glaub, ich hab ihn noch nie lächeln sehen. Er hat nicht mal triumphierend gelächelt, als seine Vorhersage mit meinem Kaninchen tatsächlich wahr geworden ist. Komischer Typ. »–liver? Oliver!« Ich werde unsanft geschüttelt und so aus meinen Gedanken gerissen. Ungnädig sehe ich den ernsten jungen Mann vor mir an und frage mich, womit ich so einen Stress verdient habe. Es reicht ja nicht, dass ich momentan total in der Luft hänge, weil ich nicht weiß, was ich mit meiner Zukunft anstellen soll, oder dass meine Freundin vor zwei Wochen mit mir Schluss gemacht hat, nein. Jetzt muss ich mich auch noch mit Moritz rumschlagen und es ist nicht völlig unwahrscheinlich, dass Manu entführt wurde. Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße. »Schrei nicht so!« »Ich hab nicht geschrien! Aber du warst in Gedanken scheinbar auf dem Mond.« »Ja, weil ich ein armes Würstchen bin!« Moritz sieht mich so eisig an, dass ich unweigerlich das Gefühl habe, ein paar Zentimeter zu schrumpfen. Diese hellgrauen Augen sind aber auch gruselig. Die von Manu fand ich einfach immer beeindruckend, aber wenn Moritz mich so anschaut, dann sieht es aus, als würde er in meinen Kopf reingucken und das gefällt mir gar nicht. Der Typ ist einfach nicht normal. »Ich fahre. Mach, was du willst«, verkündet Moritz und dreht sich auf dem Absatz um, um einfach davon zu rauschen. Ich brauche ein paar Sekunden, bis mein Gehirn aufholt, dann sprinte ich ihm hinterher, die Treppe des Hausflurs hinunter, die zu Moritz‘ und Manuels kleiner Wohnung führt. Die beiden wohnen zusammen. Ich werd nie begreifen, wie Manu es mit so einem Mitbewohner aushält, aber da die beiden mittlerweile die einzige Familie sind, die sie noch haben, kann ich es auch ein wenig nachvollziehen. Wenn es nach mir ginge, würde ich auch gern bei meinen Eltern ausziehen, aber dazu braucht man eben Geld. Das ich nicht habe. Weil ich nichts tue mit meinem Leben. Was ich mir auch jeden Tag ungefähr viermal anhören darf, weswegen ich dringend ausziehen will. Man kann sehen, dass es ein Teufelskreis ist. Und die Sache mit dem armen Würstchen war nicht übertrieben! Wenn auch eventuell etwas unangemessen angesichts der Tatsache, dass Manu vielleicht entführt wurde und ich andere Sorgen haben sollte als meine eigenen. »Fahren? Wohin denn?«, rufe ich ihm hinterher, aber ich kriege keine Antwort und eigentlich brauche ich auch keine. Wenn man seit der Kindergartenzeit mit jemandem befreundet ist, der eine Art Superheldenkraft hat, dann gewöhnt man sich an einiges. Auch daran, dass der beste Freund und sein Zwillingsbruder telepathisch miteinander kommunizieren können. Da ich so gut wie nie mit beiden in einem Raum bin, kriege ich davon nur wenig mit. Manu lässt es auch nicht wirklich raushängen, wenn wir miteinander Playstation zocken oder auf dem Bolzplatz sind oder ins Kino gehen. Er sitzt nicht da und sieht plötzlich abwesend aus und verkündet mir dann, was Moritz grad denkt. Er ist so dran gewöhnt doppelt so viele Gedanken im Kopf zu haben als ein normaler Mensch, dass es selten als Thema in Gesprächen aufkommt. Meist äußert sich das durch ein Augenverdrehen an einer komischen Stelle, oder an ein Lachen in einem merkwürdigen Moment. Die Vorstellung, wen anders in meinem Kopf zu haben, fand ich immer schon seltsam und beunruhigend, aber Manu hat mir mal erklärt, dass man die Verbindung auch problemlos schließen kann. Wenn er also mit jemandem ein Date hat und es zu gewissen Tätigkeiten kommt, dann wird Moritz einfach aus seinem Kopf ausgesperrt. Immerhin das. Jedenfalls ist es klar, dass ich ohne Moritz keine Chance habe, Manu zu finden. Und zur Polizei zu gehen und zu verkünden, dass sie doch bitte da und dort nach Manu suchen sollen, weil sein telepathisch mit ihm verbundener Zwillingsbruder weiß, dass er sich dort befindet, würde vermutlich nur dazu führen, dass jegliche Ermittlung eingestellt wird. »Ich weiß nicht, was los ist, ich krieg immer nur Fetzen«, murmelt Moritz vor sich hin, als ich ihn eingeholt habe und wir gemeinsam aus dem Treppenhaus hinaus in den bereits unangenehm kalten Herbst treten. Alles ist orange und gelb und rot vor grauem Hintergrund, der Wind pfeift gnadenlos zwischen Häusereinfahrten hindurch und es wird bereits viel zu früh dunkel für meinen Geschmack. Ich bin doch eher ein Sommerkind. Moritz macht keinerlei Anstalten, auf mich zu warten, als er auf den kleinen blauen Skoda zumarschiert, der ein paar Meter weiter die Straße runter parkt, und ich muss rennen, um ihn einzuholen und mich hastig auf den Beifahrersitz zu schwingen. Moritz sieht nicht begeistert aus, aber er widerspricht auch nicht oder wirft mich aus seinem Auto. Ich kann es nicht fassen, dass wir das wirklich tun. Einfach losfahren. »Was meinst du mit Fetzen?«, frage ich, während ich mich mit fahrigen Fingern anschnalle und Moritz den Wagen startet. Manu und Moritz teilen sich das Auto, aber ich hab Moritz noch nie damit fahren sehen. Mir war nicht klar, dass er es überhaupt kann. Aber gut, letztendlich weiß ich eigentlich gar nichts über Moritz, weil Manu nicht von ihm erzählt, da er ganz genau weiß, dass ich Moritz nicht leiden kann. »Gedankenfetzen«, entgegnet Moritz knapp ohne mich anzuschauen. Ich frage nicht weiter nach, da diese ganze Telepathiesache doch recht gruselig ist. Uns wehen dutzende Herbstblätter gegen die Windschutzscheibe, während es die Straße herunter geht. Drei Uhr nachmittags. Lange wird es nicht mehr hell bleiben und mir wird klar, dass wir nichts eingepackt haben. »Wir müssen noch mal bei mir anhalten! Ich muss Sachen packen!«, verkünde ich nach drei Biegungen und eisernem Schweigen. Moritz verdreht die Augen. »Ich hab keine Zeit für sowas«, verkündet er. »Ich hab mein ganzes Zeug im Auto.« Empört starre ich ihn von der Seite an. Er hat all seinen Scheiß bereits gepackt und wäre garantiert ohne mich losgefahren, wenn ich nicht bei ihm an der Tür geklingelt hätte, um zu sehen, wieso Manu sich seit zwei Tagen nicht gemeldet hat. Ich meine, ich weiß ja, dass er momentan total besessen von seiner neuen Flamme Lisanne ist, die er in einem Chatroom kennen gelernt hat, aber das ist doch kein Grund, auf keine einzige SMS zu antworten! »Aber wer weiß, wie lang wir unterwegs sind! Ich brauch eine Zahnbürste und was zum Wechseln!« »Wir können dir an irgendeiner Tanke eine Zahnbürste kaufen.« Moritz ist unerbittlich. Ich weiß nicht so richtig, worauf ich mich eingelassen habe, als ich in dieses Auto gestiegen bin, aber es ist auch absolut ausgeschlossen, dass ich nicht losfahre, um nach Manu zu suchen. Vielleicht ist es ja auch was ganz Harmloses. Er hat sich womöglich mit ein paar Freunden zum Pokern verabredet und ist irgendwie versumpft. Seit zwei Tagen. Kann ja mal passieren. Ich schließe die Augen, massiere mir die Schläfen und hoffe, dass die Sache mit der telepathischen Verbindung gut genug funktioniert, um Manu aufzuspüren. Als das Auto abrupt hält, blinzele ich verwirrt und sehe hoch zu dem Haus, in dem meine Eltern ihre Wohnung haben. »Ich hab’s mir anders überlegt. Du hast zehn Minuten, dann fahr ich«, erklärt Moritz mir und ich bin kurz verwirrt, dann sauer, dann falle ich beinahe aus dem Auto und sprinte die Treppen hoch in den zweiten Stock. Zweimal verfehle ich vor lauter Hektik das Schlüsselloch und ich bin sehr dankbar, dass meine Eltern beide berufstätig und deswegen mittags nicht zu Hause sind. Ich krakele einen vagen Zettel, auf dem ich Bescheid gebe, dass ich für ein paar Tage spontan unterwegs bin und eile dann in mein winziges Zimmer, um dort eine Reisetasche unter dem Bett hervor zu zerren und Dinge hinein zu schmeißen. Klamotten, Waschzeug, ein Handtuch, meine alte Taschenlampe und mein Handyladekabel. Außerdem entführe ich den Autoatlas meines Vaters, eine Wolldecke meiner Mutter, und plündere unsere Speisekammer, sodass ich letztendlich voll bepackt und schwer atmend mit einer ziemlich schweren Tasche wieder die Treppe hinunter stolpere. So schnell hab ich noch nie gepackt. Zum ersten Mal bin ich sicher, irgendwas vergessen zu haben. Kein Wunder. »Sieht aus, als hättest du einen mehrwöchigen Campingtrip geplant«, meint Moritz trocken, als ich mein Zeug auf der Rückbank verstaut habe und wieder neben ihm sitze. Ich betrachte ihn säuerlich von der Seite und verschränke die Arme. So ein Vollpfosten. Wenigstens bin ich auf alles vorbereitet. »Woher weißt du überhaupt wo ich wohne?«, frage ich bissig und krame nach meinem MP3-Player in meiner Hosentasche. Wenn ich schon auf so engem Raum mit Moritz hocken muss, kann ich wenigstens bemüht sein, mich in meinem Kopf in eine andere Welt zu katapultieren. Da er ohnehin nicht mit mir redet, ist es auch egal. Dann gibt es wenigstens kein anstrengendes Schweigen. Pah. Sein Problem. »Ich teil mir einen Kopf mit deinem besten Kumpel. Was glaubst du denn, was ich nicht über dich weiß?«, kommt die vor Sarkasmus triefende Antwort zurück und ich schnappe einen Augenblick nach Luft. So habe ich die Sache tatsächlich noch nie betrachtet. »Soll das heißen, dass alles, was ich Manu je erzählt hab, auch in deinem Kopf drin war?«, frage ich und meine Stimme ist eindeutig eine Oktave höher als sonst. Scheiße. Meine Gedanken rasen ziellos umher und ich denke daran, wie ich Manu gebeichtet hab, dass ich die ersten paar Male beim Sex mit Sonja damals immer viel zu früh gekommen bin. Solche Dinge sollte jemand, den ich nicht mag, wirklich nicht über mich wissen! »Ja, so gut wie alles«, erklärt Moritz nüchtern, als wäre es überhaupt keine große Sache. Ich starre ihn mehrere Sekunden lang an, aber er gibt mir nicht die Genugtuung, noch irgendwie weiter auf dieses Thema einzugehen, sondern blickt stur geradeaus und schaltet das Radio an. Ich verziehe das Gesicht und stopfe mir nun doch endlich die Stöpsel meines MP3-Players in die Ohren, um mich statt von Charts mit System of a Down beschallen zu lassen. Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Alles, was ich wollte, war bei Manu zu klopfen und ihn scherzhaft zu fragen, ob er sich schon vor Sehnsucht die Augen nach seiner neuen Flamme ausgeweint hat, weil sie so weit von ihm entfernt ist. Wo genau sie lebt, weiß ich nicht, aber Manu hat so ein Ding für… ausgefallenere Liebschaften. Er hat sich schon in eine Stripperin verknallt – es hat ganze drei Wochen gehalten –, in eine zwanzig Jahre ältere Nachbarin, die weggezogen ist, nachdem sie mit ihm geschlafen hat und dann doch beschloss, dass sie mit ihrem Mann glücklicher ist als mit Manu, und jetzt ist Lisanne seine neuste »Liebe«. Ob Lisanne sehnsüchtig auf seine nächste E-Mail oder die nächste Skype-Session wartet, vergebens, weil Manu seit zwei Tagen verschwunden ist? Ohne eine Nachricht zu hinterlassen? Ich wage einen Seitenblick auf Moritz. Seine Stirn ist gerunzelt und er stiert auf die Straße vor sich, als würde er erwarten, jeden Moment ein Reh vor sich zu sehen. Ich hab keine Ahnung, wo es hingeht, aber was soll ich machen? Ich will weder mit Moritz reden, noch kann ich leugnen, dass ich ohne ihn total hilflos wäre. Was echt bescheuert ist. Je länger ich ihn betrachte, desto klarer wird mir, dass er zuhört. Nicht dem Radio, nicht dem Wind, der draußen ums Auto pfeift und hin und wieder am Wagen rüttelt, nein. Manus Gedanken. Er lauscht auf Manus Gedanken in seinem Kopf. Wie ein Spürhund. Mir kriecht eine Gänsehaut die Arme hoch und ich schlucke, ehe ich den Blick abwende. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es ist, einen anderen Menschen mit in meinem Kopf zu haben. Aber ich nehme an, man gewöhnt sich irgendwann dran. Zumindest sagt Manu das immer. Er zuckt mit den Schultern und sagt, dass er es meistens vergisst, dass Mo – wie er seinen Bruder nennt – überhaupt da ist. Mo ist ein toller Spitzname, aber ich weigere mich, ihn zu verwenden. Spitznamen sind für Leute, die man gut leiden kann. Ich klappe den Sonnenschutz herunter, nur um irgendwas zu tun, und schaue in den kleinen Spiegel. Meine braunen Augen sehen müde aus. Ich sollte mir vielleicht mal wieder die Haare kürzer schneiden. Die übrigens auch braun sind. Genauso wie all die Leberflecken in meinem Gesicht und auf dem Rest meines Körpers. Ich sehe ziemlich langweilig aus, im Gegensatz zu Manu und – wie ich es ja nun mal bei eineiigen Zwillingen nicht weg reden kann – Moritz. Als ich merke, dass Moritz mich nun doch beobachtet, klappe ich den Spiegel wieder hoch und starre verlegen und mit roten Wangen nach vorn. Wir haben die Stadt mittlerweile verlassen und befinden uns auf der Autobahn. Es ist mitten in der Woche und Manu kann es sich mit seinen doch eher miesen Leistungen im Jurastudium nicht wirklich leisten, zu verschwinden. Also, so funktioniert es natürlich nicht, wenn man potentiell entführt wird. Aber gut. Je öfter ich darüber nachdenke, dass Manu entführt worden sein soll, desto ungläubiger werde ich darüber. Wieso sollte irgendwer Manu entführen? Er sieht gut aus und ist nett, ok. Aber es ist nicht so, als könnte man für ihn irgendwo ein Lösegeld verlangen. Die beiden haben von ihren Eltern zwar geerbt, aber das weiß eigentlich auch keiner und soweit ich informiert bin, waren es auch echt keine Unsummen an Knete, die die beiden bekommen haben. Sie haben die Wohnung geerbt und das Zweitauto – also das, mit dem sich seine Eltern nicht zu Tode gefahren haben – und jeder ein paar tausend Euro. Ich höre Moritz‘ gedämpfte Stimme durch die Klänge von »Chop Suey« hindurch und ziehe gnädigerweise meine Stöpsel aus den Ohren. Meine Musik wird von Adele ersetzt. »Ich sagte, du siehst aus, als hättest du dir das Gehirn verknotet«, informiert Moritz mich und ich grummele leise. »Ich denk nur drüber nach, was ein Grund wäre, Manu zu entführen«, gebe ich zurück und denke darüber nach, ob ich den MP3-Player ausschalten soll, wenn Moritz sich womöglich mit mir unterhalten will. »Und? Ist dir die zündende Idee gekommen?«, will er wissen. Ich schnaube. »Nein. Ich hab grad drüber nachgedacht, dass man bei euch auch nichts erpressen kann. Also… keine Ahnung.« Moritz zieht die Augenbraue hoch, die ich sehen kann. »Nichts erpressen?«, erkundigt er sich. Ich zucke mit den Schultern. »Naja, die Wohnung ist echt nicht so luxuriös und die paar tausend Euro, die ihr jeder gekriegt habt… scheint mir irgendwie unwahrscheinlich zu sein.« Moritz schweigt eine ziemlich lange Zeit und ich finde, er sollte es mir hoch anrechnen, dass ich nicht schon längst meine Stöpsel wieder reingesteckt habe. Immerhin halte ich das komplette Lied durch, das grad läuft! »Ein paar tausend, was?«, sagt er schließlich und schüttelt den Kopf. Ein flaues Gefühl beschleicht mich. »Hat er mir erzählt«, erkläre ich trotzig und verschränke wieder die Arme vor der Brust. Draußen fliegen andere Autos, Landschaft und Leitplanken an uns vorbei. In meinen Ohren pocht es dumpf. »Dann hat er gelogen«, ist Moritz‘ schlichte Antwort. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Das kann nicht sein. Manu würde mich nicht anlügen. Er hat es mir versprochen. Über einen Becher Traubensaft, verdammt! Das würde er doch nicht einfach über den Haufen schmeißen… »Hat er nicht«, gebe ich also zurück. Ich höre selber, wie kindisch das klingt. Aber trotzdem. Ich habe Manu immer vertraut und bin fest davon ausgegangen, dass er sich an das Versprechen von damals halten würde. »Wenn du das meinst«, meint Moritz leise und sagt dann einfach nichts mehr. Ich köchele stumm vor mich hin und ringe mit mir. Nach zwei Minuten Stille und nichtssagenden Radiogelaber gebe ich schließlich nach. »Also schön! Wie viel soll es denn angeblich sein?«, motze ich ungehalten. Moritz schweigt erneut eine recht lange Zeit. »Du weißt schon, was unsere Eltern so beruflich gemacht haben, oder?«, erkundigt er sich und sein herablassender Ton macht mich beinahe wahnsinnig. Klar, ich weiß alles über Manu! »Ich weiß, dass sie beide auch was mit Recht gemacht haben«, sage ich also so ruhig und gelassen wir möglich. Deswegen studiert Manu überhaupt Jura. Ich würde mich mit dem Mist ja nicht rumschlagen, aber er hat irgendwas erzählt von wegen in die Fußstapfen seiner Eltern treten. »Unsere Mutter war Bundesanwältin und unser Vater politischer Berater am Bundesgerichtshof… Wir haben beide mehrere Millionen geerbt.« Mir bleibt die Spucke weg. Wie konnte er mir das nicht… wieso zum Teufel…? »Falls es dich beruhigt, ich hab es auch niemandem erzählt«, sagt Moritz, als wäre es eine total triviale Information. Als hätte er mir nur gesagt, dass die Lieblingsfarbe meines besten Freundes eben nicht blau sondern rot wäre. Was zum Henker? »Du hast ja auch keine Freunde«, pampe ich ihn an und bereue es sofort. Am liebsten würde ich mir auf die Zunge beißen. Gut, ich kann den Kerl nicht leiden. Deswegen muss ich ja nicht gleich so unter die Gürtellinie gehen… Moritz‘ Gesichtsausdruck ist wie versteinert. »Das ist richtig«, sagt er leise und ich möchte gerne meinen Kopf aufs Armaturenbrett hauen. Mann, Oli! »Das hab ich nicht so gemeint«, knirsche ich reuevoll. Moritz wirft mir einen Blick zu. »Doch, hast du. Und es stimmt ja auch«, entgegnet er. Ich will ihm eigentlich gern sagen, dass es mir Leid tut, aber er dreht in diesem Moment das Radio auf volle Lautstärke und mir ist klar, dass unser Gespräch erst mal beendet ist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)