Film Noir von MadameFleurie (Don't fear the reaper... (Bakura x Ryou)) ================================================================================ Kapitel 1: Eine Begegnung von Bedeutung. Teil1. ----------------------------------------------- All our times have come Here, but now there, gone Seasons don't fear the reaper Nor do the wind, the sun or the rain (We can be like they are)   Come on baby (Don't fear the reaper) Baby take my hand (Don't fear the reaper) We'll be able to fly ... (Blue Öyster Cult - Don't fear the reaper)   Es war der 5. November 1991. Immer wieder sog Ryou die bitterkalte Luft in die Lungen. Langsam, kontrolliert und gefasst. Ein. Aus. Ein. Aus. Er hatte sich unter Kontrolle. Komm schon, alter Knabe, gleich hast du es geschafft. Verlier jetzt nicht die Nerven, hörst du? Es war kalt geworden in den letzten zwei Tagen. Die Temperatur war um fast fünzehn Grad gefallen und lag nun tief unter null. Der Winter war eingebrochen über Domino-Shi, und laut der Prognose der Meteorologen schien es ein langer zu werden. Ryou zog den dunkelblauen Schal, den seine Großmutter einst für ihn gestrickt hatte, ein wenig höher und zupfte die gleichfarbige Mütze tiefer ins Gesicht. Bei jedem Schritt stieg sein Atem in Form winziger Wölkchen vor ihm auf. Sie hingen ein wenig in der Luft, bevor sie sich lautlos in rabenschwarzes Nichts auflösten. An den Stellen, wo sie den Schal berührten, überlebten sie in Form eisiger Kristalle, die im Schein der Lampe unscheinbar funkelten, wie ein Diamant, den man zu schleifen vergessen hatte. Mit schnellen Schritten, ohne sich umzusehen, durchquerte er die menschenleeren Straßen, so tief in seine Jacke versunken, wie es nur irgendwie möglich war. Ein wenig schneller nur, und er würde rennen. Ryou wirkte wie ein Getriebener auf der Flucht vor einem unsichtbaren Jäger. Er seufzte leise und fuhr sich mit dem Handrücken durch das Gesicht. Dicke, weiße Schneeflocken fielen aus dem großen, dunklen Himmel gen Boden, brachen sich im grellen Licht der Straßenlampen und verfingen sich in seinen farblosen, langen Haaren, die funkelten wie die gefrorenen Stellen seines Schals. Während sie schmolzen, brannten sie auf den rosa angelaufenen Wangen, ganz so, als würden sie es nicht ertragen, klanglos von dieser Erde zu verschwinden, so kurz ihre Existenz auch angedauert haben mochte. Gedankenverloren wischte er sie fort. Dann vergrub er die in Fäustlinge gepackten Hände noch tiefer in die gefütterten Taschen seines Parkas. Abrupt kam er zum Stehen, die haselnussbraunen Augen vor lauter Wachsamkeit ganz groß. Angespannt hielt er die Luft an. Hatte da etwas geknackt? War da jemand? Unsicher schielte er aus den Augenwinkeln in alle Richtungen. Das Herz hämmerte wie wild in seiner Brust. Verlier jetzt bloß nicht die Nerven, hörst du? Eine weiche, helle Stimme flüsterte in seinen Gedanken. Es war seine eigene. Langsam wandte er sich um und zuckte zusammen. Auf dem Fensterbrett eines wenige Meter entfernten Kiosks saß eine dürre, schwarze Katze und blitzte ihn aus grellen Augen an. Als sie registrierte, dass Ryou sie bemerkt hatte, verharrte sie für einige Sekunden, dann sprang sie lautlos davon. Ein kleiner Metallnapf, in dem ihr irgendwer ein wenig Milch bereitgestellt hatte, fiel klirrend zu Boden. Entnervt schloss Ryou die Augen. Wie hasste er den nächtlichen Weg von der städtischen Bibliothek zurück zum väterlichen Haus. Seit Beginn der Wirtschaftskrise war dies keine Gegend mehr, die man bei Nacht unbedingt passieren sollte. Zwielichtige Gestalten kreuzten die Gassen, Drogendealer, Alkoholiker. Oder aber Menschen, die normal wirkten, die aber, wenn Ryou seinem Bauchgefühl Glauben schenken durfte, ihr Geld mit Mitteln verdienten, von denen er lieber nichts wissen wollte. Wenn sein Vater wüsste, wie es hier inzwischen zuging - er hätte sicherlich längst verlangt, fortzuziehen. Aber es war ihr Zuhause, sein Vater war ständig auf Reisen, und das Haus die letzte verbliebene Erinnerung an eine glücklichere Vergangenheit. Leer, wie es war, wirkte es bei Nacht fast gespenstisch, aber Ryou hatte sich längst daran gewöhnt. Nur dieser elend lange Weg von der Endstation der Straßenbahn zurück zur Haustür setzte ihm zu. Die Stimme in seinem Kopf meldete sich zurück. Diesmal klang sie vorwurfsvoll. Stell dich nicht so an, flüsterte sie. Hättest du die Aufnahmeprüfung für die Universität damals nicht versemmelt, dann müsstest du nicht durch Schnee und Eis nach Hause stapfen. Du müsstest nicht jeden Tag in der Bibliothek sitzen und dir Dinge in den Schädel prügeln, die du längst beherrschst. Sein Schritt verlangsamte sich und er ließ den Blick über den Boden streifen. In seinem Magen hatte sich ein schwerer Kloß gebildet. Niemand konnte erklären, woran es damals gelegen hatte, am wenigsten er selbst. Er war immer derjenige mit den exzellenten Noten gewesen, hatte seinen Mitschülern morgens vor der ersten Stunde die Hausaufgaben in die Hand gedrückt, wenn diese sie aus mangelndem Wissen oder Faulheit nicht selbst erledigt hatten. Nun war er nichts weiter als ein Rounin, jemand, der ein weiteres Jahr lernen und dann die Aufnahmeprüfungen noch einmal auf sich nehmen musste. Jemand, der hier im Schnee stand, allein und durchgefroren. Ein Versager auf ganzer Linie. Ryou nahm einen tiefen Atemzug und blieb stehen. Als das Knirschen seiner Schritte im Schnee verstummte, kroch die Stille in ihn hinein wie dicker, undurchsichtiger Nebel und offenbarte ihm ohne Scham seine eigene Schutzlosigkeit. Still ließ er den Blick umherschweifen und betrachtete das hölzerne Schild, dass sich vor ihm auftat. Friedenspark Domino. Eingang. Ballspielen verboten. Hunde müssen angeleint bleiben. Dahinter tat sich ein schwarzer Abgrund auf, hier und da von einigen Straßenlampen durchsetzt, die dumpfes, orangegelbes Licht spendeten. Seit einigen unerfreulichen Begegnungen auf seinem üblichen Nachhauseweg war er dazu übergegangen, den etwas längeren Weg durch den Park zu nehmen. Die Stille und die Dunkelheit setzten ihm zu, merkwürdigerweise war es dort jedoch meist menschenleer. Ryou schmunzelte schwach. Vermutlich war dieser Ort selbst den hartgesottensten Yakuza zu unheimlich. Er zog die Kapuze seines Parkas über die blaue Strickmütze und schloss die Jacke bis zum Anschlag. Dann schob er die Hände zurück in die Manteltaschen und betrat den Park. Den gefallenen Schnee des vergangenen Tages hatte noch niemand geräumt, und so sank Ryou knirschend ein paar Zentimeter ein. Schutzsuchend hob er die Schultern und vergrub sein Gesicht noch tiefer im Schal. Mit Betreten des Geländes schien es ihm augenblicklich einige Grad kälter geworden zu sein. Er fröstelte. Seine Lippen zitterten. Hatte Mutter nicht immer gesagt, warme Gedanken versüßten die kühlsten Augenblicke? Ein dünnes Lächeln schob sich auf Ryous Lippen, während er schnellen Schrittes dem schmalen Pfad folgte, der ihn nach Hause bringen sollte. Vielleicht sollte er ihr mal wieder schreiben. Ihr, oder seiner Schwester, Amane. Er hatte nichts mehr von sich hören lassen, seit er das Ergebnis seiner Prüfungen erhalten hatte, obschon er wusste, dass sie stets stolz auf ihn waren - dort, wo sie jetzt waren. Er hatte sich zu sehr geschämt, um sich ihnen seither wieder zu offenbaren. Schwer zog er die Luft in seine Lungen und verengte die Augen zu schmalen, müde wirkenden Schlitzen. Dies war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, sich in melancholischen Gedanken zu flüchten. Verlier nicht die Nerven, hörst du? Du bist fast da. Denk an etwas Schönes. Er schnaubte verächtlich. An etwas Schönes denken, klar. Dem Schein der Laternen folgend, bog er um eine der zahlreichen schmalen Hecken, die den Park in mehrere, einander nicht einsehbare Segmente unterteilten. Augenblicklich erstarrte er. Keine Zehn Meter vor ihm lag ein junger Mann ausgestreckt im Schnee. Er war jung und wirkte auf Ryou wie einer der Stricher, die er manchmal in diesem Viertel an der Straße stehen sah. Seine schwarze Lackhose war am linken Bein etwas hochgerutscht und entblößte die glänzenden Schnallen gleichfarbiger Lederstiefel. Unter einer Jacke aus weißem Plüsch schimmerte bleich eine farblose, unbehaarte Brust. Die Gliedmaßen lagen unnatürlich verdreht, eine mit Modeschmuck besetzte Hand deutete auf Ryou. Der Kopf war zur Seite gerutscht und ihm zugewandt. Dunkelblondes, von rostroten Stellen durchsetztes Haar rahmte ein schmales Gesicht ein, das wächsern und bleich wirkte wie das einer Maske. Die toten, grauen Augen glotzten starr durch ihn hindurch, während aus dem offen stehenden Mund ein schwaches Röcheln drang. An seinem Hals... Stumm vor Entsetzen stolperte Ryou einige Schritte zurück. An seinem Hals klaffte eine unwirkliche, etwa handlange Schnittwunde. Sie war tief, und durch das rosige Gewebe schimmerte das grelle Weiß der freigelegten Nackenwirbel. An den Seiten und unter dem Schädel befand sich eine dunkelrote, unfassbar große Lache frischen Blutes. Nach Luft ringend ließ Ryou den Blick einige Zentimeter nach oben gleiten. Sein Herz, dass wie wild pochte, schien für einige Schläge zu verstummen. Seine Augen weiteten sich vor Ungläubigkeit und Angst. Auf dem Brustkorb des Jungen kniete ein groß gewachsener, sehr schlanker Mann mit heller, milchiger Haut und langen, weißen Haaren, die ihm über die Schultern ins Gesicht fielen. Er trug ein weißes Hemd, dessen Ärmel er zuvor hastig hochgekrempelt haben musste. Markante, sehnige Hände hielten ein glitzerndes, rot triefendes Messer. Oberkörper und Gesicht waren mit dunkleren Spritzern benetzt. Von dem plötzlichem Erscheinen eines Dritten aus der Konzentration gerissen, saß er starr dort, den Kopf gesenkt, ein Paar dunkelbraune Augen auf Ryou gerichtet, den Mund zu einem überlegenen Grinsen verzogen. Ihre Blicke trafen sich. "Du...", flüsterte er, mit einer dunklen, weichen Stimme, die vor Selbstsicherheit und Überlegenheit nur so strotzte. Ryou starrte ihn an. Er konnte nicht denken. Das Adrenalin schoss durch seine Adern, mächtig, unnachgiebig. Langsam, und selbst diese minimale Bewegung kostete ihn das volle Maß an Selbstbeherrschung, wich er noch einen Schritt zurück, dann wandte er sich auf dem Absatz um, setzte zum Sprint an, stolperte über seine eigenen Beine und knallte der Länge nach in den frischen Schnee. Da war nichts. Kein Schmerz, nichts. Hinter ihm konnte er den Mann aufstehen hören, langsam und voller Ruhe. Atemlos kämpfte Ryou sich zurück auf die Beine. Sie fühlten sich an, als wären sie aus Pudding, waren ganz taub und weich. Als er stand, schwankte er ein wenig. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. Ryou fuhr herum. Wie konnte jemand so leise und schnell zugleich sein? Schweigend standen sie einander gegenüber und blickten sich an. Die Augen des anderen waren zu schmalen Schlitzen verengt, die dünnen Lippen zusammengepresst. Als Ryou zurückwich, packte er ihn grob an den Schultern. "Wer bist du?!", fauchte er und betrachtete ihn kalt und hartherzig. Stumm starrte Ryou zurück. Er hatte zu zittern begonnen, jedoch nicht vor Kälte. Was wollte dieser Mann von ihm? Er musste abhauen. Jetzt. Das hier wirkte nicht ungefährlich auf ihn und er hatte viel zu viel gesehen. Steif schnappte Ryou nach Luft, dann riss er sich los. Weg. Nur weg. Der Andere reagierte, und er reagierte schnell. Kaum das Ryou zwei Schritte getan hatte, zog es ihm die Beine weg. Er flog ein Stück und knallte auf den Boden, während der Angreifer auf seinen Rücken knallte. Diesmal spürte er den Schmerz. Es presste ihm die Luft aus den Lungen und die Tränen in die Augen. Ein weinerliches Stöhnen kam ihm über die Lippen, während er verzweifelt nach Atem rang. Alles verschwamm vor seinen Augen, während sich der Schmerz pulsierend von seinem Brustbein aus in den restlichen Körper verbreitete. Man drehte ihn auf den Rücken. Benommen nahm Ryou wahr, wie sich der Mann, langsam und konzentriert, auf seine Arme kniete. Links blockierte es den Nerv. Sein Unterarm wurde taub, dann begann er zu schmerzen. Schließlich fühlte er, wie sich zwei eiskalte Hände um seinen Hals schlossen und zudrückten. Ein leises Röcheln verließ seine Kehle, dann bekam er gar keine Luft mehr. Verzweifelt wand er sich hin und her, während die Augen des Anderen jede Regung von ihm wie ein Schwamm aufzusaugen schienen. Ihnen fehlte jedes Gefühl. Selbst in diesem Zustand fiel ihm auf, wie routiniert sein Gegenüber wirkte. Wie ähnlich er ihm sah. Für ihn schien das Alles nicht mehr zu sein, als ein Job, der schnell ausgeführt werden musste. Ryou zog und zerrte an seinen Gliedern. Der Druck in seinem Brustkorb, hervorgerufen durch den Sturz und den Mangel an Sauerstoff, wurde zunehmend unerträglich. Allmählich trübte sich sein Sichtfeld ein und die Panik begann zu schwinden. Wenn er das Bewusstsein verlor, dann würde er es nicht wiedererlangen. Nie wieder. Es wirkte zu grotesk, um wahr zu sein. Da war er extra in diesen Park ausgewichen, und nun so etwas. Wenn er gekonnt hätte, hätte er wohl laut losgelacht. Dann, mit einem Mal, bekam er den rechten Arm frei. Es gab keine Zeit, darüber zu triumphieren. Noch ehe er es selbst realisiert hatte, hatte er ihn ausgestreckt und dem Anderen einen Schlag ins Gesicht verpasst. Von der unerwarteten Heftigkeit des Aufpralls überrascht, rutschte dieser seitlich von ihm herunter und ließ ihn los. Wütend rieb er sich über die Wangen, leise fluchend, während Ryou panisch nach hinten kroch und gierig nach Luft schnappte. Jeder Atemzug brannte wie Feuer. Das war seine Chance. Zurück auf die Beine, und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden. Der junge Mann, der inzwischen seine Selbstbeherrschung zurückerlangt hatte, schnellte knurrend nach vorne und griff nach Ryous linkem Fuß. Dieser schreckte zurück, verpasste seinem Gegenüber mit all seiner verbliebenen Kraft einen Tritt gegen die Brust, rappelte sich auf und begann so schnell zu rennen, wie er nur konnte. Weg. Nur weg.   ~*~   Vor lauter Panik hätte er sein Haus beinahe verpasst. Stolpernd kam er zum Stehen, knallte mit dem verbliebenen Schwung gegen die Tür. In seinem Brustkorb tobte es, und er fühlte sich, als würde er jeden Moment die Besinnung verlieren. Hektisch wühlte er in den Taschen seiner Jacke nach dem Haustürschlüssel, fand ihn schließlich, und steckte ihn zitternd ins Schloss. Er brauchte drei Anläufe, bis er die Tür endlich aufgeschlossen hatte. Blitzschnell schob er sie auf, glitt hindurch und drückte sie hinter sich zu. Dann verriegelte er die Eingangstür, rannte durch das gesamte Erdgeschoss und tat selbiges bei den Fenstern. Sämtliche Rollläden ließ er herunter. Nachdem er sich verbarrikadiert hatte, rannte er die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort blieb er stehen, zittrig. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Den leeren, ausgelaugten Blick ins Nichts gerichtet, verblieb er dort, und schwankte vor Erschöpfung. Allmählich kehrten die Schmerzen zurück. Die Beine waren taub, die Knie fühlten sich geschwollen an. Sein Gesicht pulsierte, weil er mit ihm auf dem Boden aufgeschlagen war. Die Rippen stachen ihm so sehr ins Fleisch, dass er kaum noch atmen konnte. Ihm war übel von dem letzten, langen Sprint. Langsam taumelte er auf die gegenüberliegende Wand zu und sank zu Boden, ehe er sie mit den Fingerspitzen berühren konnte. Dort kroch er in eine der beiden Ecken und presste sich gegen den weißen Putz. Er war ganz kühl, aber Ryou nahm es kaum wahr. Mit den Fingerspitzen tastete er nach seiner Bettdecke, zog sie zu sich heran und dann hinauf bis zum Kinn. Einige Male schnaufte er heftig, dann, endlich, verließ ein langgezogenes Wimmern seine Kehle. Heiße Tränen liefen ihm über die noch immer eiskalten Wangen. Ihm tat alles weh. Sein Herz raste nach wie vor. Leise schluchzend zog er die Beine an den Körper und schlang die Arme darum. Dann vergrub er sein Gesicht in den Knien und weinte, bis er keine Tränen mehr hatte. Das seine Mütze fehlte, war ihm nicht aufgefallen. Kapitel 2: Eine Begegnung von Bedeutung. Teil 2. ------------------------------------------------ „I’ve been waiting for a guide to come and take me by the hand Could these sensations make me feel the pleasures of a normal man? New sensations bear the innocence, leave them for another day I've got the spirit, lose the feeling, take the shock away […] What means to you, what means to me and we will meet again I'm watching you, I watch it all, I take no pity from your friends Who is right, who can tell and who gives a damn right now? Until' the spirit, new sensation takes hold, then you know“ Joy Division - Disorder Ryou erwachte lautlos, lediglich das sanfte Auf und Ab seines Atems schenkte einen sanften, wogenden Rahmen leisen Geräuschs. Blinzelnd schlug er seine Augen auf, die so schwer waren, dass er alle Anstrengung aufwenden musste, um sie überhaupt offen zu halten. Was für ein merkwürdiges Erwachen – hatte er überhaupt geschlafen? Ohne sich zu regen blickte er sich um. Er befand sich in sein Zimmer, ja – aber er lag nicht in seinem Bett, wie es sonst immer der Fall war. Noch ganz benommen nahm er einen tiefen Atemzug und hob den Kopf sachte einige Zentimeter an. Langsam, während sich seine Gedanken stückweise aufklarten, keimte in ihm eine leise, stille Verwunderung. Es schien ihm unerklärlich, dass er hier unten auf dem Boden erwachte und nicht dick zugedeckt in seinem großen, weichen Bett. Normalerweise hätte er jetzt den Wecker pausiert und sich noch einmal für einige kostbare Minuten auf die andere Seite gerollt. Er saß noch immer in der gleichen Ecke, in der er sich nur Stunden zuvor verdreckt und vor Angst zitternd zusammengekauert hatte. Es schien, als sei er buchstäblich zur Salzsäule erstarrt – Ryou verharrte immer noch in der gleichen Pose wie in der Nacht zuvor, die Beine fest an den Oberkörper gepresst, den Kopf auf den Knien abgelegt. Die dünnen, kalkweißen Arme, die er um seine Beine geschlungen hatte, waren an den Unterschenkeln entlang hinuntergerutscht und lagen nun wie Fremdkörper aus Porzellan neben ihm, mit ihm verbunden, aber regungslos und ohne Gefühl. Erneut versuchte er, seinen Kopf einige Zentimeter anzuheben und stöhnte leise, als ein heftiger, stechender Schmerz durch seinen Oberkörper fuhr. Augenblicklich hielt er inne. Sein Nacken war ganz steif und unbeweglich geworden in der unbequemen Haltung, die er stundenlang durchgehalten hatte. Als Ryou seinen Kopf sachte etwas nach links drehen wollte, hielt er leise stöhnend immer wieder inne. Schließlich gab er auf. Das würde nicht einmal mehr eine heiße Dusche richten können, so viel stand fest. Wenn Tage schon derartig unangenehm begannen, konnte es nur noch bergab gehen. Vorsichtig setzte Ryou sich auf, zog die Arme zurück an seinen Körper und ballte die ausgekühlten Finger immer wieder behutsam zur Faust, während er verschlafen an sich herunterblickte und einige Momente benötigte, um sich daran zu erinnern, was in der vorigen Nacht geschehen war. Was ihn dazu veranlasst hatte, auf diesem unbequemen Holzboden zu nächtigen. Als die Erinnerungen aufstiegen, in blassen, abgehackten Bildern, keuchte er deutlich vernehmbar auf, fuhr sich mit den Fingern seiner linken Hand durch das zerzauste, weiße Haar, und vergrub sie darin, ehe er innehielt und still verharrte. Die Panik, die er gestern nach einer schieren Ewigkeit verdrängen konnte, schoss mit einem Schlag zurück in seine Venen, der Puls begann zu rasen. Angsterfüllt fasste Ryou sich an den Hals und schnappte wie ein Fisch an Land nach Luft, fest davon überzeugt, jeden Moment zu ersticken. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, die Bilder vor seinen Augen verwandelten sich in farblose, konturenarme Schatten. So blieb er sitzen, für einige Minuten, ehe die Panik abflaute und er sich wieder einigermaßen gesammelt hatte. Was nur so kurz angedauert hatte, schien ihm endlos anzuhalten. „Es war kein schlechter Traum“, flüsterte er atemlos, während stumm zwei einsame Tränen über seine leicht geröteten Wangen rannen. „Es war kein schlechter Traum. Es war kein schlechter Traum.“ Immer wieder drangen die Wörter über seine Lippen, geformt von einer zarten, zerbrechlich dünnen Stimme. Das konnte alles nicht wirklich passiert sein. Nein. Nicht ihm. Ihm passierte so etwas nicht. Anderen vielleicht, aber nicht ihm. Mit einem Schlag durchdrang brennende Übelkeit seine Magengegend. Apathisch presste Ryou die flache Hand darauf, tötete den Schmerz und mit ihm die aufsteigenden Tränen. Mit zusammengepressten Lippen schob er die Decke von sich fort. Wenn er hier sitzen blieb und darüber nachdachte, verlor er den Verstand. Es hatte keinen Zweck, er musste irgendetwas tun. Es brauchte einige Sekunden, bis er sich vollends aufgerappelt hatte, und es kostete ihn einiges, sich auf den Beinen zu halten. Tapsig machte er einige Schritte durch den Raum, dann verharrte er in der Bewegung. Mit der Angst, die allmählich auf einen erträglichen Pegel abzusinken schien, entfaltete der Schmerz der Verletzungen, die er sich letzte Nacht zugezogen hatte, erst sein volles Ausmaß. Leise schnaubend verschränkte Ryou die Arme vor der Brust, als könne er so die Seele von seinem Körper abtrennen. Dann, langsam und schleppend, schlurfte er Richtung Bad. Dabei ließ er den Blick immer wieder durch sein kleines, dunkles Zimmer gleiten. Es kam ihm merkwürdig unwirklich vor, fast so, als hätte er niemals dort gewohnt, geschlafen, gelernt und auf eine bessere Zukunft gehofft. Ein schmales Bett stand neben der Tür, das Kopfkissen unberührt, die Decke jedoch fehlend. Sie lag zerknittert hinter ihm auf dem Boden. Daran angrenzend fand sich ein hölzerner Schreibtisch, auf dem Bücher und Hefte verstreut lagen. Ryou ließ den Blick kurz an den alten Schulsachen hängen und legte den Kopf ein wenig schief, den aufkeimenden Schmerz bewusst ignorierend. Gehörten diese Dinge wirklich ihm? Das alles schien einem Leben anzugehören, dass er einmal vor unglaublich langer Zeit gelebt hatte. Dass er sich just gestern zum letzten Mal damit beschäftigt hatte, unvorstellbar. Einige der weißen Strähnen fielen ihm in die Stirn und rissen ihn aus seinen Gedanken. Unwirsch wischte er sie zur Seite, humpelte aus dem Zimmer, und zog die Tür hinter sich zu. Sie hatten ein großes Bad, mit weitläufigen, hoch angebrachten Fenstern, die direkt der Sonnenseite zugewandt waren. An der linken, längeren Wand, befanden sich zwei zusammenhängende Waschbecken. Platz, den sie früher einmal gebraucht hatten, der nun jedoch überflüssig war, da Ryou die meiste Zeit hier allein verbrachte. Man konnte genau sehen, welche Seite ihm gehörte. Die andere wirkte verwaist und leer. Ein Zahnputzbecher ohne Zahnbürste. Hygieneartikel in Probiergrößen. Unpersönlich und leer, wie in einem Hotel. Das portionierte Leben eines Vaters, der nicht einmal eine zweite Zahnbürste hatte, obschon er sich ständig auf Dienstreisen befand. Angrenzend daran befand sich ein großer, die gesamte Wand einnehmender Spiegel, der das Zimmer viel größer erscheinen ließ, als es das in Wirklichkeit war. Ryou warf nur einen flüchtigen Blick hinein, als er das Bad betrat, und erschrak heftig. Beherrscht schloss er, so leise es ging, die Tür hinter sich, trat in die Mitte des Raumes und betrachtete sich still. Im Spiegel stand ein junger, verstört wirkender, Mann, der ihn aus blutunterlaufenen Augen, groß, wie die eines Rehs, anstarrte. Die langen, weißen Haare fielen ihm ins Gesicht. Manche Hautpartien wiesen schorfige, rostrote Verkrustungen auf. Das linke Auge war angeschwollen und glühte rötlich – es war jene Stelle, mit der er auf den Boden aufgeschlagen war, just nachdem der Unbekannte ihm die Beine weggezogen hatte. Er trug immer noch die gleiche Kleidung, wie in der Nacht zuvor. Nicht einmal die Winterjacke und den Schal hatte er ausgezogen. Ganz langsam wanderte sein Blick von seinem Gesicht hinab zum Oberkörper. Ryou musste schlucken. Am liebsten wäre er vor sich selbst davongelaufen. Auf dem grünen Segeltuchstoff seiner Jacke leuchteten dunkelrote, verhärtete Flecken. Da waren kleine, unscheinbare Sprenkel, und ein großer, verwischter Abdruck direkt an seiner Brust. Einige Sekunden lang betrachtete er regungslos sein Spiegelbild, dann begann er, mit ungeahnter Heftigkeit, die Kleidungsstücke von seinem Leib zu zerren. Schicht für Schicht riss er herunter, warf alles zu Boden, bis er sich letztendlich nackt gegenüberstand. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so besudelt und schmutzig gefühlt. Er erhaschte einen kurzen Blick auf seinen nackten Oberkörper und ließ beschämt den Kopf sinken. An seinem Hals befanden sich dunkelrote Striemen. An ein paar Punkten schimmerten sie leuchtend rot. Vorsichtig streckte Ryou die Finger aus und tastete nach ihnen, machte ein paar Schritte auf den Spiegel zu und betrachtete sich ausgiebig, immer wieder leise, fast kläglich, stöhnend. Oh nein, flüsterte es in ihm, wie aus weiter Ferne. Oh nein. Oh verdammt, was hast du mit mir gemacht... An seinen Oberarmen befanden sich ebenfalls Prellungen, die in ihrem zarten Rosa aber weit hinter den Blessuren am Hals zurückblieben. Als er seine Hände näher betrachtete, fand er auch dort feine, dunkelrote Blutspritzer. Entsetzt wich er ein Stück zurück. In ihm rumorte es. Hitze und Kälte rollten mal abwechselnd, mal gleichzeitig über ihn hinweg. Wieder trat dünner, kalter Schweiß auf seine Stirn, während aufsteigende Übelkeit ihm die Kehle zuschnürte. Dann, wie vom Blitz getroffen, hechtete er zur Toilette, klappte den Deckel hoch, sank auf die Knie und übergab sich mehrfach und heftig, zuckend von den heftigen Kontraktionen, die ihn immer wieder durchfuhren. Seine Augen begannen zu tränen. Wenige Minuten später sank er vollkommen erschöpft in sich zusammen. Die Stirn lehnte er zaghaft gegen den hölzernen Toilettensitz, während er, benommen und zittrig, nach Atem rang. Wieso nur war das alles ausgerechnet ihm passiert? Er wollte nicht. Er wollte dieses Schicksal nicht, und er wollte nicht Zeuge des Todes einer Person sein, die er nicht kannte, und die trotzdem vor seinen Augen ausblutete, wie ein schlecht geschlachtetes Tier. Er konnte ihn regelrecht fühlen, diesen Schmutz auf seiner Haut, wie er überall an seinem Körper anhaftete. Selbst der Geruch des Blutes klebte ihm noch in der Nase, süß und metallisch. Nur bei dem Gedanken daran stieg die Übelkeit wieder in ihm auf. Laut prasselnd knallte der Strahl der Dusche auf den gefliesten Badezimmerboden. Ryou drehte die Temperatur so hoch, wie er sie nur eben noch ertragen konnte. Dann kauerte er sich auf den kleinen Schemel, der an die Wand gelehnt auf seine nächste Nutzung gewartet hatte. Wenn er diesen Dreck jetzt nicht los wurde, würde er ihn wohl für immer mit sich herumtragen müssen. Es war, als klebten Teile dieses furchtbaren Leichnams an ihm, als wolle ihn der Tote stets daran erinnern, unter welchen unwürdigen Bedingungen er umgekommen war. Fahrig griff Ryou nach dem kleinen Schwamm, der in einer Nische immer bereit lag, und benetzte ihn mit so viel Duschgel, wie er in einem Rutsch aus der Tube pressen konnte. Anschließend begann er, seinen Körper systematisch abzuschrubben. Er startete bei den Füßen und arbeitete sich stückweise zum Hals hoch. Von einer Stelle ließ er erst ab, wenn sie so brannte, dass er sie unmöglich weiter abschrubben konnte. Dabei biss er sich auf die Unterlippe, die irgendwann so taub war, dass er sie kaum noch als solche bemerkte. Seine Haare und das Gesicht wusch er fünf Mal. Danach blieb er noch eine Weile unter dem Wasserstrahl des Duschkopfs sitzen, die leere Shampoopackung fest umklammert. Schließlich, als das Brennen seiner Haut nachgelassen hatte, stellte er die Dusche ab und richtete sich auf. Dann beugte er sich über die Badewanne, in der aufgeheiztes Wasser immer bereit stand, und glitt hinein. Früher hatte er immer nach der Schule gebadet. Irgendwie hatte ihn das ganze immer beruhigt, hatte ihn die soziale Kälte und die blöden Sprüche vergessen lassen, so, dass er sich mit den Hausaufgaben befassen konnte, und seine Gedanken nicht stets auf jene Dinge gerichtet hielt, die ihn tief im Innersten belasteten. Hatte diese Taktik sonst immer funktioniert, war er da heute nicht ganz so zuversichtlich. Regungslos verharrte er im Wasser, die haselnussbraunen Augen lethargisch ins Nichts gerichtet, physisch anwesend, innerlich weit entrückt. Immer, wenn ihm das Wasser subjektiv zu kalt erschien, drehte er den Regler des Thermostats ein paar Grad weiter nach oben. So verblieb er, einer Puppe gleich, stumm und starr. Immer wieder zuckten Bilder des Geschehens in ihm auf, so, wie ein Blitz am Himmel für kurze Zeit die schwarze Nacht erleuchtete, ehe alles wieder in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt wurde. Wenn es geschah, schloss er die Augen und betete, dass es vorbei ging. Wie gerne hätte er sich einfach vollends ins Becken gleiten lassen, tief eingeatmet und gewartet, bis alles vorüber war. Er hatte einst gelesen, dass es nicht mehr brannte, wenn sich die Lungen erst vollends mit Wasser gefüllt hatten, aber wer wusste das schon so genau. Ohnehin fehlte ihm für solche Dinge der Mut. Da konnte er sich nun so ausgelaugt und schuldig fühlen, wie er wollte. Das änderte nichts. In seinem Kern war und blieb er ein widerlicher kleiner Feigling. Erst, als seine Finger aussahen wie alte Rosinen, verließ er das Wasser. Obschon er sauber hineingestiegen war, zog er den Stöpsel und betrachtete regungslos, wie die Flüssigkeit in einem kleinen, zirkulierenden Strudel verschwand. Er würde die Wanne schrubben müssen, schoss es ihm durch den Kopf. Die Wanne und die Dusche. Und den gefliesten Boden. Was eben noch an ihm geklebt hatte, klebte nun im ganzen Badezimmer. Am liebsten hätte er alles kurz und klein geschlagen. Stattdessen stand er verloren wirkend in der Mitte des Raumes, ein weißes, flauschiges Handtuch in der Hand. Er hatte es gestern Nachmittag erst aus dem Trockner geholt. Die Feuchtigkeit des vorangegangenen Bades rann stumm an seinen Beinen hinab, bildete eine farblose, klare Lache um ihn herum. Als er sein Gegenüber im Spiegel erblickte, und er konnte beim besten Willen nicht sagen, warum, füllten sich seine Augen mit Tränen. Rüde, als wolle er, was gerade geschah, nicht wahrhaben, wischte er sie mit dem linken Unterarm fort, wickelte das Handtuch hastig um seine Hüfte und eilte zurück in sein Zimmer, ohne sich selbst eines weiteren Blickes zu würdigen. ~*~ Stumm lag Ryou auf seinem Bett. Die gesteppte Decke hatte er bis zum Kinn hochgezogen. Darunter trug er noch die Kleidung des letzten Tages, ein hellblaues Paar Jeans und ein weißes Hemd, dass inzwischen formlos und verknittert war. Das Wochenende war an ihm vorüber gezogen, ohne, dass er sich wirklich erinnern konnte, womit er seine Zeit verbracht hatte. Die Stunden und Minuten hatte er mechanisch durchlebt, mit den Gedanken in Sphären fernab jeder greifbaren Realität. Für einige Sekunden hatte er mit dem Gedanken gespielt, seinen Vater anzurufen, und ihm von der ganzen Misere zu erzählen, in der er sich jetzt befand. Aber was hätte das schon genützt? Sein Vater war niemand, der wegen derartiger Dinge ins Flugzeug stieg und nach Hause kam. Er hatte Ryou immer für seine Selbstständigkeit und Reife gelobt. Was sollte er denken, wenn Ryou jetzt anrief? Er wollte ihn nicht damit belästigen – sein Vater hatte in seinem Leben schon viel zu viel durchmachen müssen. Und ändern konnte er ohnehin nichts. Ryous Augen starrten trübe aus dem Fenster, und folgten den winzigen Flocken, die vom himmelweiten Nichts der Wolken hinab auf die Erde tanzten. Während der vergangenen Tage hatte es immer wieder zu schneien begonnen, und ein Blick aus dem Fenster enthüllte ein Meer aus weiß gepuderten Dächern. Kinderlachen drang von außen durch die geschlossenen Fenster hinein. Vermutlich baute man draußen Schneemänner und lieferte sich die ersten Schneeballschlachten des Jahres. Ob sie noch lachen würden, wenn sie wüssten, was Freitagnacht im Park geschehen war? Eigentlich müsste er sich bei der Polizei melden. Wahrscheinlich suchte sie bereits nach Zeugen, Menschen wie ihm, die etwas gesehen hatten, und bei der Aufklärung dieser widerlichen Tat behilflich sein konnten. Ryou war sich darüber im Klaren, dass es seine Pflicht war, aber er fühlte sich zum aktuellen Zeitpunkt weder physisch noch psychisch dazu in der Lage, diese Geschichte zu erzählen, immer wieder, und wieder, und wieder, und wieder. Momentan gab es nichts, was er mehr wollte, als den Wolken beim vorüberziehen zuzuschauen und an nichts weiter zu denken als an die zarten weißen Schneeflocken, die unschuldig vom Himmel herabfielen, unwissend, dass sie hier unten der sichere Tod erwartete. Er hatte niemanden angerufen. Weder die Polizei, noch seinen Vater, noch sonst wen. Die Gesellschaft von Menschen würde ihn jetzt in den sicheren Wahnsinn treiben. Diese schlampig versteckte Teilnahmslosigkeit, das geheuchelte Mitgefühl, als das waren Dinge, die er jetzt unmöglich ertragen konnte. Ohnehin waren sie bis auf ihn alle zum Studieren fortgegangen. Es gab niemanden, den er anrufen konnte, selbst, wenn er gewollt hätte. Sie waren alle gegangen, und alle hatten sie ihn vergessen. Sein Magen knurrte leise. Müde rieb er sich über den Bauch, machte aber keine Anstalten, etwas dagegen zu unternehmen. Seine Kleidung, die er am frühen Samstagmorgen voller Wut auf den Boden des Badezimmers geworfen hatte, hatte er wenig später in den großen Mülleimer in der Küche gestopft, kurz nachdem er damit fertig wurde, das Badezimmer bis zur Erschöpfung zu putzen. Nun war der Mülleimer voll bis zum Rand und Ryou traute sich nicht länger zurück in die Küche. Allein das Blut am Ärmel der Winterjacke, der noch aus dem Eimer heraus lugte, reichte aus, um ihn an die Präsenz dieses unheimlichen, weißhaarigen Mannes zu erinnern. Sobald Ryou den Mülleimer betrachtete, verschwand sein Appetit und er begann, schneller zu atmen und unkontrolliert zu zittern. Das alles war nicht mehr als ein Albtraum, aus dem er nicht mehr erwachen konnte. Ryou seufzte leise und schloss die Augen. Zeitweise war es ihm, als habe man sein Herz in einen Schraubstock gespannt. Hin und wieder bequemte sich jemand und erhöhte die Spannung, und schmerzhafter Druck durchströmte Herz und Brust. Still zog er die Beine an den Oberkörper, die Decke mit einem nahezu lautlosen Schnaufen über das zerzauste Haar. Vielleicht würde er ja wieder einschlafen, wenn er es nur hartnäckig versuchte. Wenn er schlief, kamen die Gedanken in seinem Kopf endlich zum Stehen. Das Einzige, was von seinen Träumen blieb, war der kalte Schweiß an seinem Körper, jeden Morgen, wenn er erwachte. Dann duschte er sich ab, und die Zeit der traumlosen Ruhe war vorüber. Es klingelte an der Haustür. Überrascht hob Ryou den Kopf einige Zentimeter und spähte durch den schmalen Spalt zwischen Decke und Matratze an den Kalender, der an der gegenüberliegenden Wand über seinem Schreibtisch hing. Montag, 8. November 1993. Ryous Augen wanderten an der mit hellblauer Tapete bezogenen Wand einige Zentimeter nach unten, bis sie an der hölzernen Tischplatte hängen blieben, auf der eine große, antike Uhr stand, die sein Vater vor Jahren einmal aus Europa mitgebracht hatte. Es war kurz vor acht am Morgen. Stumm verharrte Ryou einige Sekunden, unschlüssig, wie er mit der Situation umgehen sollte. Dann schlug er die baumwollene Steppdecke zurück und setzte sich auf, ließ die Schultern hängen und fuhr sich mit den schlanken, langen Fingern durch das feine, weiße Haar. Der Zeitungsjunge, flüsterte die Stimme seiner Gedanken leise. Er kam jeden Morgen um diese Zeit, klingelte, damit Ryou die Zeitung persönlich entgegen nehmen konnte. Sie handhabten dies bereits seit einigen Jahren auf diese Weise, nachdem ein unbekannter Scherzkeks damit begonnen hatte, die Morgenausgabe der „Domino Daily“ in stiller Regelmäßigkeit aus Ryous Briefkasten zu klauen. Ryou hatte nie erfahren, wer sich diese Dreistigkeit erlaubt hatte – genau genommen wollte er es auch gar nicht wissen. Ihm war bewusst, dass ihn die blanke Wahrheit nur weiter resignieren lassen würde. Ein wenig schmerzfreier als am Morgen des vergangenen Samstages, kämpfte Ryou sich aus dem Bett und schlich, vor lauter Müdigkeit noch etwas instabil auf den Beinen, die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, dann in die Diele. An dem Beistelltischchen für das Telefon stieß er sich den großen Zeh. Zischend zog er die Luft durch die Zähne, dann schossen ihm Tränen in die Augen. Was für ein wunderbarer Start in den Tag. „Blöder Mist“, fluchte er, zog das Knie an den Oberkörper und sprang kurz auf der Stelle. Warum nur konnte ein so kleines Körperteil solche miesen Schmerzen verursachen? Der Tisch stand seit mehr als zehn Jahren an der gleichen Stelle, wie kam es bloß, dass er ausgerechnet heute derart ungeschickt war? Als der Schmerz abklang, setzte Ryou vorsichtig den Fuß zurück auf den Boden, und humpelte an dem kleinen Tischchen vorbei. Irgendetwas musste sich gegen ihn verschworen haben, da war er sich ganz sicher. Schließlich erreichte er die Haustür. Scheu spähte er durch den Spion, den man einst in das dunkelbraune, durchsichtig lackierte Holz eingelassen hatte. Da war niemand. Ryou runzelte die Stirn und presste sein Auge etwas dichter gegen das linsenartige Glas. Vermutlich hatte der Zeitungsjunge schon das Weite gesucht, nachdem Ryou ungefähr das Dreifache der üblichen Zeit in Anspruch genommen hatte, um ihm die Tür zu öffnen. Der Tag schien nicht sonderlich vielversprechender zu werden als die Tage zuvor. Vielleicht sollte er die Chance nutzen und heute zur Polizei gehen, dann hätte er alle unangenehmen Geschehnisse auf einen Tag gebündelt. Nächste Woche würden die Brückenkurse für die universitären Aufnahmeprüfungen beginnen, doch schon heute Nachmittag fand ein verbindlicher, einführender Termin statt, den Ryou schon seit Tagen mit Argwohn betrachtet hatte. Es war, als würde man ihn in die Schule zurückschicken. In eine Schule voller Versager, die sich nur mit ihm abgeben würden, um seine Hausaufgaben zu ergattern. Ihm schauderte beim bloßen Gedanken daran. Vorsichtig tastete Ryou nach dem Haustürschlüssel, den er gestern beim Aufräumen zurück ans Schlüsselbrett gehangen hatte. Ein Blick in die Zeitung würde nicht schaden – sicherlich hatten sie über das Unglück im Park unlängst einige Artikel veröffentlicht. Vielleicht konnte er daraus entnehmen, ob seine Aussage überhaupt noch benötigt wurde. Langsam schob er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Klackend sprang der Riegel auf. Vielleicht fand er Informationen über das Opfer. Oder den Täter. Über die äußeren Umstände. Er konnte sich nicht erklären, woher dieses innere Bedürfnis kam, mehr über das alles zu wissen. Hoffte er auf inneren Frieden? Auf Absolution? Und wenn ja, wofür? Nicht er war der Mörder. Ryou schloss die Hände um den kalten Metallgriff und drückte ihn hinab. Dann zog er die Tür einen Spalt auf. Noch ehe er reagieren konnte, flog ihm das braune Holz kraftvoll entgegen, als hätte man auf der anderen Seite nur darauf gewartet, dass Ryou die Tür öffnete. Vor lauter Schreck entwich ihm ein atemloses, hohes Keuchen, dann wandte er sich um, um Abstand zwischen sich selbst und dem Eindringling zu schaffen. Er kam nicht weit. Bevor er sich umdrehen konnte, drückte ihm der Angreifer die Hand auf den Mund, packte seinen Arm und presste ihn mit dem Oberkörper gegen die anliegende Wand. Das alles geschah so schnell, dass Ryou kaum begreifen konnte, was hier vor sich ging. Laut knallend fiel die Tür zurück ins Schloss. Mit großen, weit aufgerissenen Augen starrte Ryou gegen die Wand. Er konnte das Blut in seinen Adern rauschen hören, sein Herz trommelte laut dröhnend in seinem Kopf. Verängstigt ließ er den Kopf hängen und presste die Stirn gegen die die spröde, cremeweiße Tapete. „Zu schade, dass du deine Mütze im Park verloren hast, nicht wahr?“, flüsterte ihm eine weiche, markante Männerstimme ins Ohr. Ryou erkannte sie augenblicklich. Schreckensstarr spürte er den sanften Hauch eines fremden Atems in seinem Nacken. Hinter ihm ertönte ein Lachen, kurz und leise, voller Boshaftigkeit. „Allerdings hast du mir damit einige Unannehmlichkeiten erspart. Ich muss mich wohl bei dir bedanken, schätze ich.“  Ein hartes Keuchen kam über Ryous Lippen. Tatsächlich. Die Mütze war nicht unter jenen Dingen gewesen, die Ryou am Samstag weggeworfen hatte. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sie fehlte, geschweige denn, dass er sie an dem besagten Abend getragen hatte. Es musste diesem Mann ein leichtes gewesen sein, anhand des kleinen Einnähers, auf dem sein Name stand, seinen Wohnort herauszufinden. So viele Menschen mit seinem Namen und identischer Schreibweise würde es in Domino nicht geben. Wahrscheinlich hatte ein kurzer Blick ins Telefonbuch genügt, und er hatte alle Informationen gehabt, die er brauchte. Ryou hatte die ganze Zeit freiwillig in seiner eigenen Mäusefalle gesehen. Fassungslos wurde ihm klar, was für ein leichtes Opfer er abgegeben hatte. Voller Verzweiflung stemmte Ryou die freie Hand gegen die Wand und versuchte, sich mit aller Kraft aus dem Griff des Mannes zu befreien. Die Reaktion darauf war schlicht und effizient. Man presste ihm den rechten Arm auf den Rücken und drückte ihn mit einem Ruck nach oben. Es fühlte sich an, als würde man ihn jeden Moment in zwei Teile brechen. Ein spitzer, strahlender Schmerz schoss vom Ellenbogen in jeden Winkel seines fragilen Körpers. Ryous Widerstand erstarb augenblicklich, ein hoher Schmerzensschrei verließ seine Kehle, doch die Hand, die man immer noch fest auf seinen Mund gepresst hielt, erstickte diesen im Keim. Hinter ihm gluckste der Fremde amüsiert. „Mach‘ dir keine Mühe“, flüsterte er genussvoll, und Ryou bemerkte, dass ihm der andere so nah war, dass er die Wärme des fremden Körpers spüren konnte. Angewidert wandte er den Kopf ab. Der Andere schnaubte amüsiert. „Es ist besser für dich, wenn du dich nicht wehrst. Damit ersparst du uns beiden einiges an Ärger, hörst du?“ Etwas eiskaltes legte sich um eines von Ryous Handgelenken und rastete laut klickend ein. Dann bemerkte er auch am anderen diese metallische Kälte. Handschellen. Ryou spürte, wie das aufputschende Adrenalin allmählich einer ängstlichen Resignation wich. Dieser Mann schien ihm haushoch überlegen, nicht nur rein körperlich. Die stille Professionalität, die er ausstrahlte, schüchterte Ryou ein und verstärkte seine Angst um ein Vielfaches. Langsam vergrub der Andere eine Hand in Ryous Haaren, dann, ehe er reagieren konnte, knallte er mit der Stirn gegen die Wand. In seinen Ohren krachte es. Einen Moment lang wurde es ganz still und schwarz um ihn herum. Dann, als sich das Sichtfeld wieder aufzuklaren begann, explodierte der Schmerz in seinem Schädel, als hätte man eine Bombe direkt vor seiner Stirn gezündet. Alles, was er noch an Kraft und Gefühl in seinen Gliedern verblieben war, schwand augenblicklich, bunte Sterne tanzten vor seinem geistigen Auge. Endlich ließ man ihn los. Ryou stolperte einige Schritte zurück, versuchte zunächst schwankend, sich auf den Beinen zu halten, ehe seine Knie einknickten und er, ohne es tatsächlich wahrzunehmen, auf den dunkelroten, dicken Teppichboden des Flurs sank. Benommen wanderten seine Pupillen auf und ab, starrten gegen die dunklen Holzdielen an der Decke, doch er sah sie nicht wirklich. Schließlich nahm er verschwommen wahr, wie sich der Eindringling langsam und schemenhaft über ihn beugte. Mühevoll blinzelnd fokussierte er den sich bewegenden Schatten und versuchte angestrengt, scharf zu stellen, was er sah. Langsam, ganz allmählich, nahmen die Formen und Farben um ihn herum Gestalt an. Der Mann mit den weißen Haaren kniete neben ihm auf dem Boden. Ryou bemerkte, dass er die gleiche Kleidung trug wie am vergangenen Freitag, nur war sie dieses Mal nicht in Blut getränkt. Dunkle Hosen, ein weißes, frisch gestärktes Hemd. Ryou konnte den Veilchenduft des Waschmittels noch riechen. Die Ärmel hatte er wieder pragmatisch nach oben gekrempelt, und entblößte somit zwei sehnige, schlanke Unterarme. Konzentriert, fast mitfühlend wanderten die dunkelbraunen Augen über Ryous Gesicht. Dieser erkannte ihn kaum wieder, so gepflegt wirkte er. In dem schmalen, spitz zulaufenden Gesicht spannte sich die weiße, glatt rasierte Haut. Vereinzelte Strähnen dichten Haars fielen ihm in die Stirn. Er wirkte nicht mehr wütend, wie an dem Abend, an dem sie sich das erste Mal trafen, viel mehr wirkte er unglaublich ruhig und kontrolliert. Ryou erwiderte den Blick ohne das Gesicht zu verziehen und spürte, wie die Angst Stück für Stück aus ihm wich. Dann, ganz plötzlich, war nur noch Ruhe. „Was willst du von mir?“, flüsterte Ryou mit seiner weichen, für einen Mann ungewöhnlich hohen Stimme und musste blinzeln, als der Schmerz in seiner Stirn erneut aufzulodern begann. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. In seinen Ohren klang das rasselnde Heben und Senken des eigenen Brustkorbes. Kaum, dass Ryou den Satz beendet hatte, trat ein dünnes Schmunzeln auf die Lippen seines Gegenübers. Er wandte sich von Ryou ab und starrte in die Ferne, als müsse er sich angestrengt daran erinnern, was er hier eigentlich vorgehabt hatte. Schließlich sah er ihn wieder an, und in seinem Blick lag etwas spöttisches. „Ganz ruhig“, wisperte er, als wolle er ihn tadeln. Seine Augen blitzten, aufmerksam und wach, brennend vor Gier auf das, was jetzt kommen würde. „Wir machen einen kleinen Ausflug, du und ich.“ Das Schmunzeln auf seinen Lippen wurde breiter. „Ich denke, es wird dir gefallen.“ Sichtlich amüsiert beugte er sich ein Stück tiefer über Ryou und drückte ihm etwas klebriges, breites Auf die Lippen. Kraftlos versuchte Ryou, den Kopf abzuwenden, doch der Andere hielt ihn hartnäckig mit der freien Hand am Boden. Schließlich blitzten weiße Punkte an der von der winterlichen Morgensonne erleuchteten Dielendecke. Wie Löcher, die man in einen laufenden Farbfilm brennt, wurden sie kontinuierlich größer. Ryou blinzelte noch einmal. Und noch einmal. Dann verlor er das Bewusstsein. Kapitel 3: Der Lagerraum ------------------------ „This is how I ended up sucked in Over my dead body I’m gonna go to sleep And let this wash all over me“ Radiohead - Go to sleep Von irgendwoher kam Rockmusik. Nicht dieses brachiale, schnelle und laute, was die Jugendlichen heute so gerne hörten, nein. Es war der sanft plätschernde Rock der Siebziger, der sich, leicht und verspielt, so tief ins Gehirn brannte, dass man jene Klänge nie wieder vergessen konnte.  Ryou war sich ziemlich sicher, diesen Song bereits einmal irgendwo gehört zu haben, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann und wo dies der Fall gewesen war. Ohnehin hatte er das Gefühl, sein Kopf arbeitete langsamer als sonst. Vielleicht hatte sich jemand endlich dazu herabgelassen, und die Zeit angehalten, damit Ryou sich nicht länger mit all jenen Problemen befassen musste, die derzeit auf ihn einprasselten, und sein Leben binnen kürzester Zeit zur Hölle auf Erden hatten werden lassen. War es nicht sein Vater gewesen, der dieses Lied just zu Ryous Geburtstag vergangenen September aufgelegt hatte? Oder hatte Ryou dies etwa nur geträumt? Damals, in jenen Tagen, als er sich noch nicht in ständige Reisen flüchtete, hatte sein Vater eine Schallplattensammlung besessen, die in ihrem Stadtviertel ihresgleichen suchte. Selbst heute, wo er kaum noch das gemeinsame Haus betrat, hütete Ryou sie wie einen Schatz, was nicht an dem ideellen Wert lag, der durch die väterliche Bindung entstanden war, sondern vielmehr an der zeitlosen und geschmackvollen Auswahl der Interpreten, die Ryou in den vorangegangenen Jahren der Einsamkeit zunehmend wertzuschätzen gelernt hatte. Oh bitte, kannst du einen anderen Sender einschalten? Ich krieg‘ von dem Gitarrengejaule allmählich Kopfschmerzen… Untersteh’ dich. … Ernsthaft, ich warne dich! Vor ein paar Wochen hatte Ryou damit begonnen, jene Schallplatten, die ihm besonders ans Herz gewachsen waren, auf Kassette zu überspielen. Somit konnte er sie ebenfalls in seinem Zimmer hören, während er lernte, oder unterwegs über seinen Walkmen. Zudem ersparte es ihm, mehr Zeit als notwendig in dem großen, dunklen und viel zu leeren Wohnzimmer verbringen zu müssen. Er hatte oft schon darüber nachgedacht, ob es nicht einfacher sei, die komplette Musikanlage abzubauen, und in seinem Zimmer wieder aufzustellen, bislang hatte er es jedoch nicht gewagt, sie anzurühren. Sein Vater reagierte überaus empfindlich in diesen Dingen, und es gab nichts, was Ryou weniger wollte, als Streit mit ihm, wenn dieser es denn endlich mal nach Hause schaffte. Wenn Ryou das Klicken des Schlüssels im Schloss vernahm und sein Vater nach langer Abwesenheit das Haus betrat, war Ryou so erleichtert und froh, dass er beinahe alles getan hätte, um ihn nicht zu verärgern. Sein Vater verjagte die Gespenster aus den alten Wänden, die Ryou quälten, wenn er nicht hier war. Herrje, Bakura, wenn du nicht umschaltest, dann mach’ ich es eben selbst. Ich meine es ernst, lass die Finger von dem Radio, oder es passiert was. Marik! An Ryous Geburtstag jedenfalls hatte er das Lied nicht gespielt, da war er sich ziemlich sicher. Viel eher, dämmerte es ihm allmählich, befand es sich auf jenen Platten, die Ryou neulich zum ersten Mal gehört hatte. Er kannte die Lieder noch nicht so gut, und konnte sie keinem bestimmten Interpreten zuordnen, trotzdem hatte er die Klänge und Melodien nicht vergessen können. Wie betäubt hatte er vor dem Plattenspieler gesessen und stumm alles in sich aufgesogen, überwältigt von so viel subtiler, zerbrechlicher Schönheit. War es nicht genau dieser Song gewesen, der ihn damals so in seinen Bann gezogen hatte? Ryou wusste es nicht, und er würde auf diese Frage heute keine befriedigende Antwort mehr erhalten. Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, wäre es besser, die Gedanken auf das stumpfe Dröhnen in seinem Brustkorb zu richten, welches bei jedem Schlag seines Herzens anschwoll und ein intensives Kribbeln durch seine Glieder jagte, bis er das Gefühl hatte, er müsse sich jeden Moment in seine kleinsten Teilchen auflösen. Es war ein stumpfer, monotoner Schmerz, der langsam, beinahe zäh, getreu des vorgegebenen Taktes, durch seinen Körper wanderte. Letztendlich war er überall. …ja, ja, ja. Ist ja gut, reg dich ab, okay? Wir sind aber heute wieder ganz schön angespannt, was? Wärest du in meiner Situation auch, das versprech’ ich dir. Was passt du auch nicht besser auf… Aber he, schau’ ihn dir nur an. Du hast nicht gelogen, was sein Äußeres angeht. Er sieht… hm… ich finde das passende Wort nicht. Ramponiert aus? Du weißt genau, dass ich das nicht meine. Oh. Was? Ruhig. Schau mal, er bewegt sich. Ryous Zunge und Gaumen waren ganz trocken. Langsam, noch ganz benommen von dem traumlosen, dunklen Nichts, dass allmählich aus ihm wich, versuchte er zu schlucken, erkannte aber bald, dass das nicht einfach werden würde. Scheinbar hatte er die vergangenen Stunden lediglich durch den offen stehenden Mund geatmet. Er röchelte Leise, und fuhr sich mit der Zunge vorsichtig über die Lippen. Nichts geschah. Was würde er jetzt für ein Glas kalten Wassers geben. Widerwillig gab er ein leises Murren von sich, und versuchte, die Macht über seinen Körper zurück zu erlangen. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so schwer und betäubt gefühlt. Der pulsierende Schmerz derweil verfestigte sich zusehends auf einige Stellen, die er nach einigem Überlegen als seine Schultern und Stirn identifizieren konnte. Bei jedem Atemzug, jeder Bewegung, jedem Herzschlag fuhr ein warmes Dröhnen durch sein Fleisch. Er fühlte etwas hartes, festes, hier und dort, was sich unnachgiebig in seinen Körper bohrte. Still rutschte er ein wenig hin und her, doch das unangenehme Gefühl blieb bestehen.  Leise seufzend gab er auf, entspannte sich, ließ alles auf sich wirken und versuchte, das was er wahrnahm, einzuordnen. Man hatte ihn auf einen Stuhl gesetzt. Die Lehne, hart und kalt, wie aus Metall, verhinderte, dass er nach hinten fiel wie ein nasser Sack. Sein Kopf hing vornüber, während man die Arme auf seinem Rücken fixiert hatte. Er spürte das Kitzeln einzelner Strähnen im Gesicht, und das betäubende Ziehen in Schultern und Nacken. Als er, allmählich erwachend, hin und wieder mit den Gliedern zuckte, gab der kalte Stahl von Handschellen leise Geräusche von sich. Man hatte ihn an der Stuhllehne festgekettet. Ryou stöhnte leise. Irgendetwas sagte ihm, dass die Haltung, in der man ihn fixiert hatte, auf Dauer kaum von Vorteil sein konnte. Auf einmal, ohne jede Vorwarnung, brannte es leuchtend hell in seinen Augen. Das tiefe, samtene Schwarz, dass ihn die letzten Stunden in einer Art illusorischer Sicherheit gewogen hatte, wandelte sich augenblicklich in dunkles, organisches Blutrot. Ein zarter Laut schläfrigen Protests entwich seiner Kehle, ehe er blinzelnd die Augen öffnete, nur, um sie kurz darauf zu winzigen Schlitzen zusammen zu kneifen. Irritiert hob er den Kopf einige Zentimeter, war aber noch zu schwach, ihn eigenständig zu halten, so, dass er zur Seite wegsackte. Sein bleiches, farbloses Haar fiel ihm kraftlos über die Schultern, und reflektierte stumm die einfallende Helligkeit. Jemand hatte etwas weißes, fast schmerzhaft grelles direkt auf ihn gerichtet. Ryou konnte jemanden genervt im Schein des Lichtes seufzen hören „Bakura, muss das sein mit der Lampe?“ „Ich will nicht, dass er wieder einschläft. He!“ Jemand schlug mit der flachen Hand auf den leichten Aluminiumtisch, der sich direkt vor Ryou befand. Er konnte es regelrecht scheppern hören. Metall auf Metall, für einen kurzen Moment ohrenbetäubend. Verschreckt zuckte er auf seinem Stuhl zusammen, und brachte den Kopf mit aller Anstrengung in eine anständige, nahezu aufrechte Position. In seinem Brustkorb setzte das Herz für einige Schläge aus, ehe es wieder regelmäßig zu pumpen begann. Trotz des gleissenden Lichtes öffnete er die Augen, blinzelte mehrfach, und starrte aus den Augenwinkeln in die weniger grellen Ecken. Als hätte er damit zur Genüge unter Beweis gestellt, dass er nun wieder bei Bewusstsein war, streckte jemand den Arm aus und drehte die Lichtquelle zur Seite. Wie gnädig, schoss es Ryou genervt durch den Kopf, was ihn, angesichts seiner aktuellen Situation, selbst noch am meisten überraschte. Nach den Strapazen der letzten Tage, den Schlägen, der Angst und dem Schlafmangel, war derartige Schikane direkt nach dem Aufwachen so ungefähr das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Noch ein paar Male blinzelnd, ließ Ryou fahrig, voll innerer Unsicherheit, den Blick durch jenen Raum gleiten, in den man ihn gebracht hatte. Er erkannte nichts, doch allmählich bildeten sich dunkle Schemen vor seinen überlasteten Augen, die mit jeder Sekunde mehr an Form gewannen. Stück für Stück wich die impulsive, von Stress und Müdigkeit verursachte Aggression, stiller, benommener Verwunderung. Da war immer noch ein heißes, schmerzhaftes Ziehen in der Mitte seiner Stirn, genau an jener Stelle, wo er vor unbestimmter Zeit mit der Wand zusammen geprallt war. Unter dem Einfluss des beissenden Lichtes hatte sich der Schmerz wieder verstärkt, so, dass Ryou nun das Gefühl hatte, man drücke ihm ein glühendes Eisen in die dünne, weiche Haut. Als er erkannt hatte, in welcher Gesellschaft er sich befand, verdüsterte sich seine Miene voll stummer Enttäuschung. Beherrscht holte er Luft und ließ den Blick durch die Runde schweifen. Er befand sich in einem winzigen Zimmer von nicht einmal fünfzehn Quadratmetern. Fenster fehlten, stattdessen fanden sich unverputzte, graue und feuchte Wände. Überall standen fleckige Holzkisten und Unrat herum, Schrott, von dem Ryou sich nicht erklären konnte, wofür man ihn noch gebrauchen sollte. Die Luft stand, dick, nass und kalt, und jagte ihm einen fröstelnden Schauer über den mageren Rücken. Rechts von ihm, auf einer großen, alten Holzkiste, saß ein junger Mann, kaum älter als Ryou selbst, und betrachtete ihn aus vergnügten, wachen Augen. Er war sehr schlank, die Haut von einem satten Bronzeton, den kein Solarium künstlich erzeugen konnte. Cremefarbenes, stufiges Haar fiel ihm auf die Schultern, während auf seinem herzförmigen, ebenmäßigen Gesicht ein breites Lächeln thronte. Hin und wieder warf er einen Blick in Richtung einer Person, die Ryou aus diesem Blickwinkel nicht sehen konnte, und ließ das obere der übereinander geschlagenen Beine leichtfüßig auf und ab wippen. Er trug diverse Ringe und Armreifen, um den Hals ein schwarzes Halsband mit silbernem Ring. Zu enge, lederne Hosen und halbhohe, gleichfarbige Boots ließen ihn noch schlanker erscheinen, als er es augenscheinlich war. Bis auf ein ebenso enges, gleichfarbiges Tanktop, trug er kaum etwas am Oberkörper. Stumm starrte Ryou ihn mit offenem Mund an. Er hatte noch nie Jugendliche seines Alters gesehen, die sich derart kleideten. Offensichtlich erheitert von Ryous verwirrtem Gesichtsausdruck, wandte er sich an die dritte Person im Raum. „Na bitte, Bakura“, schmunzelte er mit gespielter Langeweile und fuhr sich mit einer  Hand durch das feine Haar. Dabei warf er dem Anderen einen lockeren, offen lasziven Blick zu, der nicht eindeutiger hätte sein können. „Jetzt hast du, was du wolltest. Er ist wach. Wunderbar.“ „War auch längst überfällig“, erwiderte der Angesprochene düster, ohne auf den schäkernden Tonfall des Jungen einzugehen. Vom Klang der Stimme unangenehm an jemanden erinnert, drehte Ryou den Kopf zur Seite und keuchte, kaum hatte er deren Urheber erblickt, hörbar auf. Natürlich. Wie hatte er ihn bloß vergessen können. An der Marik gegenüberliegenden Wand lehnte der dünne Mann mit dem langen, weißen Haar, der Ryou von seiner äußeren Erscheinung bemerkenswert ähnelte. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, zwischen den Fingern seiner linken Hand brannte ungenutzt eine Zigarette. Im Gegensatz zu Marik trug er einen anthrazitfarbenen, wollenen Mantel, der Ryou dunkel an jene Trenchcoats erinnerte, mit denen die Männer in den alten, amerikanischen Spielfilmen immer herumzulaufen pflegten. Der Name dieses Mannes war also Bakura. Ryou schluckte leise, und sank etwas auf dem schmalen, unbequemen Stuhl zusammen. Jetzt, wo Ryou dessen Identität kannte, wirkte er auf ihn nur umso mehr bedrohlich. Schweigend nahm Bakura einen letzten Zug, dann warf er den Zigarettenstummel auf den Boden, trat sie mit der Spitze seines matt glänzenden Lederschuhs aus, und löste sich von der Wand, die Hände nun tief in die Taschen seines Mantels geschoben. Langsam, voll stillschweigender, selbstgefälliger Ruhe, machte er ein paar Schritte durch den Raum auf Ryou zu und stützte sich, als er angekommen war, mit den Händen auf dem Tisch ab. Ohne etwas zu sagen, ließ er die Pupillen über Ryous Gesicht wandern, tastete es Stück für Stück ab, analysierend, als wolle er jede Regung seines Gegenübers in sich aufnehmen. „So“, murmelte er leise, nach einer schieren Ewigkeit, presste anschließend die ohnehin schon schmalen Lippen noch fester zusammen und starrte ihn aus ernsten, bitterkalten Augen an. Ryou wagte es kaum, den Blick zu erwidern, traute sich aber auch nicht, auf den Boden zu starren. Er konnte spüren, wie sein Herz allmählich schneller schlug, doch die panische Angst, von der er die letzten Tage stets verfolgt wurde, wollte nicht wiederkommen. Es war paradox, dachte er, aber vielleicht stumpfte er allmählich ab. Schweigend sahen sie einander an. „Was willst du von mir?“ Ryous Stimme klang wesentlich feiner und trockener, als er erwartet hattet. Er hasste es, wenn sie so hoch wurde, dass sie ihn an seine Schwester erinnerte, und in ihm dieses schale Gefühl von Einsamkeit hinterließ. Bitter verzog er seine Lippen zu einem schmalen Strich. Auf der Kiste lachte jemand laut auf. Marik hatte sich, Bakura nacheifernd, eine Zigarette angesteckt, und lehnte nun mit dem Rücken an der kalten Betonwand. „Wie Recht du hattest“, grinste er und nahm genüsslich noch einen weiteren Zug. Heiter lehnte er sich ein wenig nach vorne, stützte sich mit der freien Hand auf der Kiste ab und sah aufgeregt zwischen den Beiden hin und her. „Der Boss wird erfreut sein.“ Dabei schnippte er die Asche gleichgültig auf den Boden. „Wie machen wir jetzt weiter? Darf ich ihn auch etwas fragen?“ „Nein.“ „Komm schon. Sei nicht so.“ Marik beugte sich weiter nach vorn, die Stirn jetzt in Falten gelegt, das Grinsen aus dem Gesicht gewischt. Sein Ton wurde ernster, die Stimme dunkler. „Du weißt, was der Boss gesagt hat“, murmelte er düster und schob sich die Zigarette zurück zwischen die schmalen, dunklen Lippen. Irritiert hob Ryou die Augenbrauen. Er konnte es nicht leiden, wenn man über ihn sprach, als sei er gar nicht anwesend. Es erinnerte ihn immer an die endlosen Pausen seiner Schulzeit. Wie ein Stück Vieh auf dem Markt war er sich vorgekommen, über das man verhandelte, mit dem man aber nicht persönlich sprach, weil seine Meinung nichts galt. Bakura schloss die Augen, als benötigte es seine gesamte Selbstbeherrschung, nicht die Fassung zu verlieren. Angespannt atmete er ein, ehe er sie wieder öffnete, und Marik aus schlecht gelaunten, zusammengekniffenen Augen anfunkelte. „Schieb’ deinen Arsch nach draußen und halte Wache. Du weißt ganz genau, was der Boss gesagt hat. Das hier geht dich nichts an.“ Marik verharrte einen Augenblick, als müsse er die ganze Bandbreite von Bakuras Worten erst begreifen, dann ließ er schmollend die Schultern hängen und seufzte. Stumm nahm er einen letzten Zug, schnippte die Zigarette in die Ecke und sprang von der Kiste herunter. Dort streckte er sich ausgiebig, das aufgeweckte Lächeln nach wie vor auf den Lippen. Es wirkte spöttisch. „Wie du meinst, Ou-sama“, grinste er zuckersüß, die Augen voll frechem Spott und offener Aufmüpfigkeit, ehe er Ryou zum Abschied freundlich aus den Augenwinkeln zuzwinkerte. „Viel Spaß euch beiden.“ Dann schob er sich durch die breite Stahltür an der angrenzenden Wand. Der Blick des Anderen folgte ihm düster, genervt und voll stiller Aggression. Ryou blickte ihm staunend hinterher. Niemals hätte er erwartet, dass sich jemand trauen würde, in einem solchen Ton mit dieser Person zu sprechen. Wusste er denn nicht, dass Blut an den Händen dieses Mannes klebte? „Verdammter Mistkerl“, zischte Bakura abfällig und Ryou zuckte, aus seinen Gedanken gerissen, zusammen. Als er erkannte, dass die Aussage nicht ihm gegolten hatte, ließ er erschöpft den Kopf sinken. Die letzten zwei Tage waren die merkwürdigsten seines Lebens gewesen, und ein Ende war bei weitem noch nicht in Sicht. Wäre er doch bloß durch das schäbige Viertel nach Hause gegangen, so, wie er es in seiner Mittelstufenzeit immer getan hatte. Kaum, dass Marik den Raum verlassen hatte, wirkte Bakura um einiges gefasster und konzentrierter. Es war offensichtlich, dass ihm die Zusammenarbeit mit dem Jungen zuwider war - womit auch immer die beiden ihr Geld verdienen mochten. Er holte noch einmal tief Luft, räusperte sich leise, dann zog er einen der an der Wand lehnenden Klappstühle zu sich heran und nahm Ryou gegenüber Platz. Anschließend griff er mit der Hand hinter seinen Rücken, zog etwas aus seinem Gürtel, und legte es, langsam und voll neu gewonnener Ruhe, vor Ryou auf den Tisch. Dabei sprach er kein Wort. Der schwere und metallische Klang des Gegenstandes brachte Ryou dazu, den Blick von seinem Gegenüber abzuwenden, und das, was nun direkt vor ihm lag, still zu mustern. Als er erkannte, worum es sich dabei handelte, keuchte er laut hörbar auf. Vor ihm lag eine große, makellose Pistole. Sie war schwarz, an der Spitze befand sich ein schmaler, länglicher Schalldämpfer. Schelmisch glänzte sie ihn an, sah düster und todbringend zugleich aus.  „Wir müssen reden“, kam es knurrend von Bakura. Seine Stimme klang kalt und ernst. Ryou schluckte leise und rutschte, so weit es ihm möglich war, auf seinem Stuhl zurück, bis er gegen die kalte Lehne stieß. Trotz der Ruhe, die in den vergangenen Minuten noch in ihm gewesen war, spürte er Tränen in sich aufsteigen. Gefasst rang er nach Atem, und zwang sich selbst die letzte Selbstbeherrschung auf, die er entbehren konnte. Dabei sah er Bakura direkt in die Augen. Ein bitteres, fassungsloses Lächeln erschien auf Ryous Lippen. „Du willst mich aus dem Weg schaffen, weil ich gesehen habe, wie du diesen Stricher ermordet hast“, flüsterte Ryou düster, als sei ihm just in diesem Moment klar geworden, was sein Aufenthalt hier zu bedeuten hatte. Der Andere schmunzelte anerkennend und neigte den Kopf zur Seite. „Man wird nach mir suchen.“ Die Worte kamen tonlos und mechanisch über seine Lippen, als glaubte er selbst nicht daran, Bakura damit einschüchtern zu können. Die Anerkennung wich aus dessen Gesicht; stattdessen erschien ein breites, boshaftes Grinsen. „Klar wird man das“, flüsterte er zynisch und hob das Kinn ein Stück, so, dass er Ryou von oben herab betrachten konnte. „Wer wird uns wohl zuerst die Polizei auf den Hals hetzen, hm? Dein Vater in Ägypten, deine tote Mutter oder deine imaginären Freunde? Wohl eher die Bibliothekarin, wenn sie bemerkt, dass du die ganzen Bücher nicht rechtzeitig zurück gebracht hast. Sag mir, wie lange ist das noch hin, hm? Knapp drei Wochen, oder?“ Einen Moment lang sah er Ryou ruhig an, dann, mit einer schnellen Bewegung, schnellte er nach vorne über den Tisch und schlug die schwarz lackierte Tischlampe zu Boden. Laut krachend knallte sie auf dem Beton auf und erlosch. Vor lauter Schreck kam Ryou ein leises, weinerliches Wimmern über die Lippen. Unvermittelt stand Bakura auf, eilte mit zwei kräftigen Schritten um den Tisch herum und packte den Jüngeren mit der rechten Hand am Kragen, während die linke zum Schlag ausholte. So weit er konnte zog er Ryou in die Luft, bis die Handschellen, die nach wie vor mit der Lehne des Stuhls verbunden waren, ihn in die Schranken wiesen. Ein leises Stöhnen drang aus Ryous Kehle, als das Metall hart in seine Handgelenke schnitt. Lautlos sah er Bakura, dessen Gesicht sich nur wenige Zentimeter vor dem seinen Befand, aus großen, ängstlichen Augen an. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, und der aufgebrachte, unruhige Atem des Anderen legte sich wie ein dünner Schleier über Ryous Wangen. Ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken. „Versuch’ nicht, mich zu verarschen, klar?!“ Einige Sekunden noch starrten sie einander an, ehe Ryou nachgab und sich unterordnete. Eingeschüchtert wandte er den Kopf ab, Strähnen weißen, feinen Haares fielen ihm in die Stirn.  Schließlich ließ Bakura ihn los. Schwer und kraftlos fiel Ryou zurück auf den leichten, unbequemen Aluminiumstuhl, der von irgendjemandem einst aus unerfindlichen Gründen im Boden verankert worden war. Offensichtlich war er nicht der Erste, der hier saß. Verschreckt und gedemütigt ließ er den Kopf sinken, spürte, wie die Augen sich wieder mit Tränen füllten, bis schließlich eine einzige lautlos über die heiße, rötlich schimmernde Wange ran und auf die matte Tischplatte tropfte. Apathisch biss er sich auf die Unterlippe. Wenn er schon so machtlos war, wollte er wenigstens nicht noch Heulen wie ein kleines Kind. Selbst, wenn man es ihm nicht zutraute, auch er hatte seinen Stolz. Er hatte ihn in all den Jahren nicht verloren, war das Einzige, was ihm stets geblieben war. Langsam hob Ryou den Kopf und sah seinen Gegenüber an. Er stand immer noch an der gleichen Stelle und fixierte ihn mit ernsten, ruhigen Augen, die Hand, mit der er eben noch zum Schlag ausgeholt hatte, reglos an seinem Körper herabhängend. Wie konnte es bloß sein, dass ein Mensch binnen weniger Sekunden in so unterschiedliche Stimmungen geraten konnte? Von der Rage, in der er eben noch gewesen war, fand sich nun mehr keine Spur. Hätte Ryou es nicht besser gewusst, hätte er den ernsten, regungslosen Gesichtsausdruck als stummen Widerwillen gedeutet, so aber machte er sich da keinerlei Hoffnung mehr. Dieser Mann genoss, was er tat, da war Ryou sich ganz sicher. Und er hatte Recht. Stumm sog Ryou die Luft in seine Lungen und presste die Lippen aufeinander. Niemand würde nach ihm suchen.  Niemand. Natürlich nicht. Wie hatte er nur so naiv sein können. „Wir machen unsere Hausaufgaben“, kam es ruhig von dem Anderen. Seine Stimme zitterte leicht, bedingt durch das verbliebene Adrenalin, dass während seines Wutausbruchs in seine Adern geschossen sein musste. „Mit deinem Namen in der Mütze hätte ich mich noch am gleichen Abend um dich kümmern können, aber ich bin kein Vollidiot. Noch so eine clevere Aktion und es wird wirklich unangenehm für dich, hörst du?“ Wie paralysiert starrte Ryou auf den Tisch. Kein Vollidiot, ja. Wenn es hier einen Vollidioten gab, dann war das wohl er selbst. Er hätte noch am gleichen Abend abhauen müssen. Stattdessen hatte er sich daheim verkrochen, genau wie der Feigling, der er war. Es gab niemandem, zu dem er hätte gehen können. Das alles war ein großer, verdammt lustiger Witz auf seine Kosten, nichts weiter. Stumm ballte er die Hände zur Faust, und verzog das Gesicht, als die Handschnellen tief in die wunde Haut schnitten. Er spürte Bakuras Blick im Nacken, der immer noch darauf zu warten schien, dass er antwortete. Als er weiterhin still am Tisch saß, beugte sich dieser mit einem Mal zu ihm herab, vergrub die Finger in seinem feinen Haar, und zwang Ryou, ihn anzusehen. Seine Stimme klang gefasster, strotzte aber nur so vor stiller Verachtung und Kälte. „Haben wir uns verstanden?“, flüsterte er, fast lautlos. Nach einem Moment rang Ryou sich zu einem zaghaften Nicken durch. Dann, endlich, ließ Bakura ihn los. Während Ryou wieder in sich zusammensank, hin und her gerissen zwischen Lethargie, Angst und Selbstmitleid, schlenderte Bakura um den Tisch herum und nahm erneut auf dem Stuhl Platz, den er eben von der Wand weggenommen hatte. Mit verschränkten Armen lehnte er sich zurück. Er schwieg eine Weile, offensichtlich darüber sinnierend, wie es nun weitergehen sollte, dann, nach ein paar Minuten, räusperte er sich und setzte sich etwas lockerer hin. Ryou ließ er dabei für keine Sekunde aus den Augen. „Wem hast du davon erzählt?“, fragte er. Ryou horchte auf. „Was?“, murmelte er irritiert. „Wem du davon erzählt hast.“ Bakura hob die Augenbrauen, als hätte er mit einer derartig überraschten Reaktion nicht gerechnet. „Niemandem“, antwortete Ryou tonlos. „Ich habe das Haus danach nicht mehr verlassen.“ Resigniert ließ er den Blick sinken, die Hände hinter seinem Rücken immer noch angespannt zur Faust geballt. Bakura schnaubte amüsiert. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dir das abkaufe“, murmelte er und hob zweifelnd die Augenbrauen, das schmale Gesicht voll stillschweigender Überheblichkeit, die Arme immer noch fest vor der Brust verschränkt. Betroffen biss Ryou sich auf die Unterlippe, zitternd, und so fest er konnte, bis sich der bittere Geschmack von Eisen in seinem Mund ausbreitete. Sein Kopf dröhnte, die Kehle war so trocken, dass er kaum sprechen konnte. Vor lauter Müdigkeit konnte er kaum einen klaren Gedanken fassen. Mit einem Mal flammte Wut in ihm auf. „Hast du mir nicht eben noch erzählt, niemand würde nach mir suchen?“, brach es bissig aus ihm hervor, mit einer Lautstärke, die er sogleich bereute. Vor lauter Heftigkeit rutschten im die Haare ins Gesicht, und die braunen, sonst sanften Augen verengten sich blitzend. Sein Herz klopfte etwas schneller in seiner Brust. „Wem bitte hätte ich da bescheid sagen sollen?!“ Es hätte doch ohnehin niemanden interessiert, dachte er. Geschweige denn, dass man ihm geglaubt hätte. Wie oft erfanden Menschen Geschichten, nur, um sich wichtig zu machen? In den Augen der Anderen wäre er nur wieder ein abstruser, gemiedener Sonderling, der sich selbst in den Mittelpunkt spielen wollte. Der nach Aufmerksamkeit gierte, weil er sonst keine bekam. Ryou hatte nie verstanden, wie man auf solche Gedanken kommen konnte - Intrigen und Lügen waren ihm schon immer zuwider gewesen. Er war anderen gegenüber stets freundlich und offen. Dies machte ihn verletzlich, und die Anderen hatten dies gewittert, wie der Wolf seine Beute witterte. Nachdem Ryou geendet hatte, schnappte er nach Luft und sank ein Stück in sich zusammen, den Blick noch einige Sekunden auf Bakura gerichtet, ehe er ihn, nachdem der Zorn verflogen war, resigniert sinken ließ.  „Wenn du mir nur eine Kugel in den Kopf jagen willst“, flüsterte er bitter. „Nur zu. Vielleicht ist es sogar besser so. Aber spar’ dir diese blöden Spielchen für jemanden auf, den es interessiert, okay?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein dünnes, hohes Flüstern und hatte seine Heftigkeit innerhalb von wenigen Sekunden vollkommen eingebüßt. Bakura, der Ryou still beobachtet hatte, runzelte für einen Moment die Stirn und ließ die Arme sinken. Die Verhaltensmuster des Jungen passten so rein gar nicht in das Schema, das er kannte. Gerade diejenigen mit der größten Klappe bettelten und winselten am nachdrücklichsten um ihr mickriges, wertloses Leben, kauten ihm ein Ohr ab und vergossen eine Träne nach der Anderen. Bei diesen Menschen war er froh, wenn er endlich mit ihnen abschließen konnte. Nun saß dieser Junge hier, kaum zwanzig Jahre alt, und nahm den Gedanken, dass er gleich sterben sollte, so selbstverständlich und gleichgültig hin, als habe er all das über einen langen Zeitraum kommen sehen. Bakura schnaubte leise, ehe sich seine Mundwinkel zu einer Grimasse stiller Verachtung verzogen. Das war doch lächerlich. „Warst du bei der Polizei?“, fragte er ruhig. „Nein.“ „Beim Arzt?“ „Nein.“ Stille. Apathisch hatte Ryou die Augen lose auf die matte Tischplatte geheftet, verharrte regungslos auf dem leichten Aluminiumstuhl. Nur ab und zu hoben sich seine Schultern, wenn er etwas tiefer einatmete als sonst. „Du willst mir also erzählen, es sei dir egal?“, kam es abfällig vom Älteren. Ryou reagierte nicht. Lange Sekunden verblieb er so, ehe er sich zu einer Antwort durchringen konnte. „Was weißt du schon“, murmelte er schließlich, und hob den Blick langsam. Die langen, weißen Haare waren ihm über die Schultern gerutscht, und hingen ihm nun wie ein dünner, feiner Vorhang ins Gesicht. Ryous Hände waren kalt und feucht, von der tiefsitzenden Anspannung, die seinen ganzen Körper auf Trab hielt. Mit jeder Minute, die er dort verbrachte, schwand noch etwas mehr Gefühl aus ihnen. Lautlos bewegte er die Finger, aber durch den ständigen Druck der Handschellen waren sie ganz taub geworden. Bakura taxierte ihn schweigend, das schmale Gesicht nicht mehr als eine regungslose, ernste Maske. Schließlich beugte er sich ein Stück nach vorn, nahm die Waffe vom Tisch, verstellte etwas an ihr und richtete sie schließlich mit langem Arm auf Ryou. Das alles geschah so schnell, dass Ryou erst realisierte, was der Andere tat, als er bereits in den dunklen, schwarzen Lauf der Mündung blickte. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und Irritation, während sich in seinem Bauch jenes ziehende, kribbelnde Gefühl ausbreitete, welches er sonst nur vom Achterbahnfahren kannte. Gerade, als er den Mund öffnete, um etwas einzuwenden, löste sich ein Schuss. Augenblicklich fuhr Ryou zusammen, wandte sich ab, wie jemand, der sich für einen harten Schlag wappnete. In den rauschenden Ohren konnte er seinen eigenen, angsterfüllten Schrei hören, ehe dieser plötzlich verklang, und eine stumpfe, geräuschlose Leere hinterließ. Nur das Klimpern der Munitionshülse dröhnte durch den Raum, langsam und nahezu unerträglich laut. Mit zusammengekniffenen Augen verharrte er und wartete. Wartete darauf, dass sich etwas veränderte, dass sich Schmerzen in seinem Körper ausbreiteten oder er das Bewusstsein verlor. Stumm saß er da und lauerte, jede Muskelfaser zum Zerreißen gespannt. Aber da war nichts. Kein Druck, kein Blut, kein feuchtes, heißes Pochen.  Blinzelnd öffnete er die Augen und sah sich langsam und verunsichert um, den Körper so vollgepumpt mit Adrenalin, dass er ihn kaum wahrnahm. Es war, als säße er auf Wolken, und alles passierte, auf eine eigenartige, betäubende Art, unendlich langsam, als hätte jemand die Fließgeschwindigkeit der Zeit gedrosselt - warum auch immer. Am Ende des Tisches saß Bakura, die Waffe nach wie vor in seiner knochigen, weißen Hand. Jedoch zielte sie nicht mehr auf Ryous Gesicht, sondern war einige Zentimeter nach rechts verrückt, so, dass sie nun auf die Wand deutete, die sich hinter Ryous Rücken befand. Aus der schwarzen Mündung stieg feiner, schwarzer Rauch auf, der sich, nur wenige Zentimeter über dem glatten Metall, in Luft auflöste. Ganz langsam drehte Ryou den Kopf nach hinten, und erblickte ein kleines, dunkles Einschussloch unweit seines Kopfes.  Man hatte nicht auf ihn geschossen. Das alles war nichts weiter als ein großer, grausamer Bluff. Ein Witz auf seine Kosten. Das Auditorium lachte, und er schwieg. Als er begriff, schwand alle Selbstbeherrschung und vorgeschobene Melancholie aus seinen Gedanken. Ein feines, unsichtbares Seil schnürte ihm die Kehle zu und drückte die Luft aus seinen Lungen. Was hatte er bloß getan, um in dieser grauenhaft grotesken Situation zu landen. Von Schock und Müdigkeit überrumpelt, überwältigten ihn nun all jene Emotionen, welche er die vergangenen Tage über aufgestaut und nicht weiter zugelassen hatte.  Verzweifelt brach er in Tränen aus. Langsam, fast kraftlos, ließ er den Kopf sinken, während seine Schultern unter heftigen Schluchzern erzitterten und klare, heiße Tränen über seine Wangen auf die Tischplatte tropften. Von seinem eigenen Körper regelrecht entmachtet, ließ Ryou alles über sich ergehen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ja - verdammt, es war ihm nicht egal. Nein, er wollte nicht sterben. Nicht hier, nicht so, nicht jetzt. Nicht durch die Hand dieses Mannes. Er wollte nach Hause. Er wollte die Tür aufschließen, und von seinen Eltern und seiner Schwester begrüßt und umarmt werden. Sie hätten ihn in ihre Mitte genommen, fest an sich gedrückt und ihm so oft er es wollte beteuert, dass ihm in ihrer Nähe nichts zustoßen konnte. Sie wären sein Hafen, seine Festung, seine Zuflucht. In diesem Moment hätte er alles gegeben, um bei ihnen zu sein. Stattdessen saß er in diesem winzigen, stinkenden Raum, grün und blau geschlagen, übermüdet und in Tränen aufgelöst, nervlich am Ende. Wütend und verzweifelt biss er sich auf die Unterlippe, die Augen fest zusammengekniffen. Er hatte aufgegeben, gegen seine Gefühle anzukämpfen. Es hatte keinen Zweck. „Hast du jemandem etwas erzählt?“, fragte Bakura nach einer Periode unruhigen Schweigens. Langsam, mit einem Mal unendlich müde, schüttelte Ryou den Kopf. Die herunterhängenden, weißen Haare schwankten langsam hin und her, wie die Äste einer Weide im Wind. Die folgenden Minuten verbrachten sie stumm, nur Ryous Schluchzen durchbrach sporadisch die Stille, leise und weich. Er konnte nicht sagen, worum er denn eigentlich weinte. Sicherlich mehr um sich selbst als um seinen Vater, der nun ganz allein zurückbleiben würde, wenn Ryou nicht mehr da war.  Womöglich tat er ihm damit gar einen Gefallen, schenkte ihm die Freiheit und nahm das schlechte Gewissen, dass ihn immer heimsuchte, wenn er wieder einmal wochenlang auf Reisen war. Stumm schloss Ryou die Augen, und wartete darauf, dass Bakura zu Ende brachte, was er angefangen hatte. Er konnte fühlen, wie seine Hände zitterten, und die dünnen, bleichen Handgelenke immer wieder gegen das kalte Metall der Lehne stießen, lauschte schweigend dem Atem und dem Herzschlag in seinen Ohren, spürte selbst den dünnen Schweißfilm, der sich auf seiner Stirn gebildet hatte. Ryou holte tief Luft und wartete. Ja, dies war das Ende… „Du wirst heute nicht sterben.“ Unwillkürlich musste Ryou blinzeln. Atem und Puls stockten für einen Moment, die Tränen versiegten. Was hatte er da gesagt? Langsam hob er den Kopf und betrachtete den Anderen aus ungläubigen, blutunterlaufenen Augen. Dieser griff indessen nach der schwarzen Pistole, sicherte sie und verstaute sie ruhig, als sei gar nichts vorgefallen, dort, wo er sie vor nicht einmal einer halben Stunde hervorgezogen hatte. „Was?“, flüsterte Ryou leise. „Du wirst mit uns mitkommen“, antwortete Bakura und stand auf. Routiniert warf er einen Blick auf eine lederne Armbanduhr, die er am linken Handgelenk trug, und schob die Hände zurück in den tiefen Manteltaschen. Kurzzeitig kramte er nach etwas bestimmten, dann zog er eine schlanke Schachtel hervor, aus der er stumm eine Zigarette fischte und sich ansteckte. „Der Boss will, dass du deine Schulden bei uns abarbeitest. Du hast unglaublich viel Ärger gemacht, er ist stinksauer.“ Offensichtlich amüsiert richtete er den Blick auf Ryou, der gerade nicht fassen konnte, was hier geschah. Ein dünnes, tiefsinniges Schmunzeln trat auf sein Gesicht, während er einen weiteren Zug nahm und die überschüssige Asche abklopfte. „Das du allein bist auf dieser Welt hat dir das Leben gerettet. Das nennt man wohl Ironie des Schicksals.“  Ungläubig schüttelte Ryou den Kopf. Ja, flüsterte eine leise, fragile Stimme in seinem Kopf. Wer hätte damit gerechnet. Vor ein paar Sekunden war er noch fest davon ausgegangen, von Metall durchbohrt zu werden, und nun so etwas. „Glaub mir“, murmelte Bakura schließlich, und wirkte mit einem Mal sehr zufrieden mit der Gesamtsituation. „Wenn ich herausfinde, dass du hier gelogen hast, schieße ich nicht mehr daneben.“ Ryou starrte ihn an, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Mund stand offen, und für einige Sekunden vergaß er sogar den schneidenden Schmerz in seinen Handgelenken. Diese ganze Tortur, die letzten Stunden, nur, um herauszufinden, ob er etwas ausgeplaudert hatte? Er hatte kaum noch die Kraft, aufrecht zu sitzen, alles tat ihm weh. Selbst sein Kopf schien so schwer, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Man ließ ihn nicht sterben, aber seine Freiheit gab man ihm nicht zurück. Es brauchte einige Sekunden, bis Ryou sich dazu durchringen konnte, das Wort noch einmal zu erheben. „Was soll das heißen?“, flüsterte er verunsichert. Gleichgültig ließ Bakura die aufgerauchte Zigarette zu Boden fallen und trat sie aus. Dann beugte er sich zu Ryou herunter, stützte die Hände auf dem Tisch ab und betrachtete ihn mit einem breiten, fast freudigen Grinsen. „Das bedeutet“, begann er bedeutsam, mit seiner rauen, aber trotz allem weichen Stimme, die Ryou einen Schauer über den Rücken jagte. In ihm zog sich alles zusammen. „Das bedeutet, dass dein Leben, wie du es kanntest, jetzt vorbei ist.“ Kapitel 4: Die Ankunft ---------------------- „Who’s that girl there? I wonder what went wrong So that she had to roam the streets She dun do major credit cards I doubt she does receipts It’s all not quite legitimate And what a scummy man Just give him half a chance I bet he’ll rob you if he can Can see it in his eyes, Yeah, that he’s got a driving ban Amongst some other offences […] He must be up to something What are the chances sure it’s more than likely I’ve got a feeling in my stomach I start to wonder what his story might be They said it changes when the sun goes down Around here“ Arctic Monkeys - When the sun goes down Ryou stockte, und richtete seine haselnussbraunen Augen auf Bakura, starrte ihn regelrecht an. Seine Tränen waren versiegt, ohne, dass er es selbst bemerkt hätte, obschon sein Gesicht nach wie vor feucht und aufgequollen wirkte. Die langen, weißen Haare fielen ihm strähnig und platt über die Schultern, während Arme und Handgelenke, die nach wie vor mit Handschellen hinter seinem Rücken fixiert wurden, mittlerweile höllisch schmerzten. „Ich soll was?“, flüsterte er mechanisch, als sei ihm der Sinn dessen, was Bakura erst vor wenigen Sekunden zu ihm gesagt hatte, vollends entgangen.  „Du wirst für uns arbeiten.“ Bakura nahm einen tiefen Zug von einer Zigarette, die bislang ungenutzt zwischen seinen langen, schlanken Fingern abgebrannt war, und hielt kurz inne, ehe er den Rauch beiläufig durch die Lippen ausstieß. Selbstzufrieden lehnte er sich zurück, und betrachtete Ryou schweigend, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, während die Fingerspitzen mit dem weißen Zigarettenpapier spielten. Hinter ihnen ertönte ein kaltes, metallisches Geräusch. Irritiert hob Ryou den Kopf an, während Bakura sich umwandte. Die schwere Stahltür wurde aufgezogen, und Marik, der bislang draußen auf sie gewartet hatte, schob seinen Kopf herein. Er wirkte unsicher, und auf den feinen Gesichtszügen zeichnete sich kritische Sorge ab. Als er Ryou bemerkte, warf er Bakura einen verwunderten Blick zu. „Ich will ja nicht stören, aber es ist schon nach zehn. Der Boss wird sauer, wenn wir nicht bald zurückkommen.“ Er ließ die Augen einige Male zwischen Bakura und Ryou hin und her wandern. „Ist nicht eben ein Schuss gefallen?“ Ohne Mariks Frage irgendeine Form von Aufmerksamkeit zu schenken, schnippte Bakura den Stummel seiner Zigarette in eine der feuchten Ecken und stand auf. Ryou würdigte er dabei keines Blickes. „Wir sind hier fertig“, antwortete er knapp, wie jemand, der soeben ein vielversprechendes Geschäft abgeschlossen hatte. „Mach‘ ihn los.“ ~*~ Es war bereits dunkel, als sie aus dem Auto stiegen. Dicke, runde Schneeflocken, nur erhellt durch das gelbliche Licht der vereinzelten Straßenlaternen, fielen lautlos vom Himmel und fügten sich in die dicke, weiße Schneedecke ein, die sich auf dem Gehweg gebildet hatte. Immerhin hatte man die Straße geräumt. Kaum, dass Ryou seine Füße auf den knirschenden Schnee gesetzt hatte, erfasste ihn ein Windstoß, der ihn bis auf die Kochen frösteln ließ. Zitternd schlang er die Arme um seinen schmalen, mageren Körper, und wandte den Blick um zu Bakura und Marik, die bereits ausgestiegen waren und sich schweigend umblickten. Ryou hatte keine Jacke. Alles, was er besaß, befand sich noch in seinem Haus. Hemd und Jeans, die Dinge, die er noch am Leib trug, boten kaum Schutz vor dem beißenden, kalten Wind, der durch Dominos nächtliche Gassen pfiff. Aus den Augenwinkeln warf er Bakura einen flüchtigen Blick zu. Dieser stand unmittelbar neben ihm, einem Wachhund gleich, nicht gewillt, ihm auch nur die geringste Chance zur Flucht zu gönnen. Wenigstens die Handschellen hatte man ihm abgenommen. Jetzt, wo Blut und Gefühl in seine Hände zurückgekehrt waren, dominierte sie ein stechender Schmerz, der in den nächsten Tagen hoffentlich verschwand. Gedankenverloren hob Ryou die Unterarme und betrachtete die blutigen, roten Striemen an den beiden schmalen Handgelenken. Sie würden bleiben, für immer, da war er sich sicher. Selbst der kleinste Kratzer hinterließ bei ihm schon feine Narben. „Home, sweet Home“, seufzte Marik erleichtert und unterbrach die unangenehme, angespannte Stille. Auf seinen Lippen stand ein zartes Lächeln, die violetten Augen leuchteten zufrieden. Still ließ er die behandschuhten Hände zurück in die Taschen einer weißen Plüschjacke gleiten. Neugierig folgte Ryou Mariks Blick, der auf ein im Schatten liegendes, schmuckloses Gebäude gerichtet war. Sie waren etwas mehr als eine Dreiviertelstunde gefahren, ehe sie hier angekommen waren. Ryou hatte das letzte bisschen Orientierung längst eingebüßt. Hier war er noch nie gewesen. Es musste sich um einen dieser industriell geprägten Vororte handeln, in denen jeder bekam, was er wollte, wenn er nur die richtige Person fragte. Die Straßen waren in einem schlechten Zustand, aufgerissen und voller Schlaglöcher, alles war höchstens dürftig ausgebessert. An einer der größeren Straßen, nur wenige Minuten von hier, hatte Ryou Mädchen stehen sehen, blutjung und aufreizend knapp bekleidet. Beschämt und eingeschüchtert war er in seinem Sitz zusammengesunken, hatte die Augen geschlossen und sich auf den zarten Lederduft der Sitzpolster konzentriert. Hier und da fand sich die ein oder andere ranzige Kneipe, Stundenhotels und leer stehende Lagerhäuser. Von den Wohnhäusern blätterte der Putz, an den Wänden fanden sich ein ums andere Graffitis unterschiedlichster Art. Die letzte Bushaltestelle, an die Ryou sich erinnern konnte, lag bestimmt zehn Minuten mit dem Auto von hier entfernt, Straßenbahnen hatte er keine bemerkt. Vielleicht befanden sie sich nicht einmal mehr in Domino. Die unterschwellige Nervosität, die ihm die letzten Tage über verfolgt hatte, meldete sich zurück und biss sich in seinen Eingeweiden fest. Unruhig tänzelte er von einem Fuß auf den anderen. Hinter ihm fiel die Autotür lautstark ins Schloss. Er zuckte heftig zusammen, wandte sich aber nicht um. Vor ihnen befand sich ein breites, von außen baufällig wirkendes Gebäude, das aussah, wie ein etwas zu groß geratenes Izakaya, eine der traditionellen japanischen Kneipen, die man an jeder Straßenecke fand. Der Putz, einst weiß, wirkte im Licht der Straßenlampen und im Kontrast zum frischen Schnee schmutzig und grau. Die wenigen Fenster, die zur Straßenseite zeigten, waren mit Jalousien verschlossen. Durch ein kleines Tor, welches man abgesperrt hatte, führte ein schmaler Pfad in einen verwilderten Garten. Auf einer großen, aus dunklem Holz gefertigten Eingangstür, neben der eine rote Papierlaterne hing, sah man Macken und diverse Aufkleber, die Ryou von seinem Standpunkt aus nur schemenhaft erkannte. Daran angrenzend, auf einem großen Schild, leuchtete in dunkelroten, geschwungenen Lettern der Name dieses Ortes. Film Noir Stumm folgte Ryou den beiden in Richtung einer schmalen, schlichten Treppe, die vom Eingang hinab in den frischen Schnee führte. Trotz seinen Bemühungen, mit ihnen Schritt zu halten, fiel er bald etwas zurück, die großen, unsicheren Augen auf alles geheftet, was ihm neu und unbekannt zu sein schien. Das ungeduldige Schnipsen menschlicher Finger holte ihn schließlich zurück in die Realität. Verblüfft warf er Bakura einen Blick zu, der ihn ungeduldig musterte. „Trödel nicht herum, komm“, knurrte er wortkarg, griff nach einem silbernen Knauf und schob die Tür ohne weiteres auf. Ryou nickte knapp, und folgte ihnen hinein in das düstere, heruntergekommene Gebäude. Kaum, dass die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, durchströmte ihn eine pappige, samtweiche Wärme. Sofort jagte ihm eine Gänsehaut über Arme und Beine. Stumm schüttelte er sich die Strähnen, die ihm durch den Wind ins Gesicht gerutscht waren, aus der Stirn, und drückte sich an Bakura vorbei in den kleinen Schankraum. Es handelte sich um einen rechteckigen, engen Ort, der wohl vor zehn Jahren einmal recht liebevoll eingerichtet, seither jedoch sich selbst überlassen worden war. Die Decke war niedrig, an den Wänden fand sich eine dunkelbraune Holzvertäfelung, die Ryou etwa bis zur Hüfte reichte, darüber hatte man den Putz dunkelrot angestrichen. Direkt neben ihm, unweit der Eingangstür, befand sich ein schlichter, langgezogener Tresen, hinter dem ein etwa zwei Meter hohes, aus Holz gefertigtes Regal stand. In dessen Mitte hatte man einen großen, den Raum optisch vergrößernden Spiegel eingelassen, links und rechts davon befanden sich ordentlich aufgereiht allerlei Spirituosen. Kleine Holztäfelchen, mit Namen beschriftet, baumelten an einer angrenzenden Wand, und kündeten von jenen Stammgästen, die hier noch eine Flasche Sake offen hatten. Gegenüber, im restlichen Raum verteilt, standen dicht an dicht kleine Tische mit groben, hölzernen Stühlen, die an der angrenzenden Wand in feste Sitzgruppen übergingen. Alles war auf kleinsten Raum gepresst, und die Luft erstarrte vor feuchten und fremden Aromen. Es roch nach dem herbsüßen Schweiß betrunkener Männer, nach verschüttetem Bier, altem Zigarettenrauch und schwerem Parfum. Ein wenig versteckt, in einer der entlegeneren Ecken, führte eine schmale, hölzerne Wendeltreppe hinauf in den zweiten Stock. Aus kräftigen Lautsprechern ertönte seichter, melodiöser Rock. Ryou wandte sich um. Die in schwarz und weiß gehaltenen Fliesen klebten unter seinen Schuhen, und der Zigarettenqualm brannte in seinen Augen. Was für eine heruntergekommene, billige Spelunke dieser Ort war. Aus den Augenwinkeln nahm er war, wie Marik Bakura noch einmal beherzt auf die Schulter klopfte, ihm ein kurzes, kennendes Lächeln schenkte, und schließlich in der Menge verschwand. Kaum, dass er gegangen war, lehnte Bakura sich über den Tresen und klopfte unauffällig mit den Knöcheln der rechten Hand auf die Oberfläche. Dabei nickte er Ryou flüchtig zu, pfiff ihn zurück. Ryou folgte, blieb neben ihm stehen, und ließ seinen Blick alles andere als begeistert durch den Raum wandern. Bakura klopfte noch mehrmals, dann, als ihm die Geduld ausging, schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „He!“ Ein junger Mann, der offensichtlich für den Ausschank verantwortlich war, wandte sich von einem Gast ab, mit dem er sich zuvor angeregt unterhalten hatte, und sah auf. Er war sehr jung, groß gewachsen und bemerkenswert dünn. Struppiges, blondiertes Haar fiel ihm in die Stirn und auf die Schultern, während sich das schmale, glatt rasierte Gesicht in stiller Verwunderung verzog. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt und ein grünes, gemustertes Flanellhemd. Darüber schützte ihn eine weiße Schürze vor Verunreinigungen jeder Art. Er sagte noch etwas zu dem Gast – Ryou konnte es im Lärm der Menge nicht verstehen – stellte ihm eine kleine Schale Edamame hin, drehte sich weg und kam auf sie zu. Er wirkte wach, munter, die Augen leuchteten regelrecht, obschon sich dünne, lila Schatten darunter befanden. Als er Ryou erblickte, trat ein breites, ehrlich wirkendes Grinsen auf sein Gesicht. Als er vor ihnen stand, stützte er sich mit den Ellenbogen auf dem Tresen ab, in der freien Hand ein fleckiges Spültuch, und sah sie gut gelaunt an. „Was gibt’s?“, fragte er, stellte sich gerade hin und griff nach einem der noch feuchten Gläser, die neben der Spüle standen. Erwartungsvoll dreinblickend bearbeitete er es mit dem Handtuch, während Ryou sich irritiert fragte, ob er das Glas damit nicht eher wieder schmutzig machte. „Wo ist Malik?“ Bakura schenkte ihm einen abfälligen, düsteren Blick, augenscheinlich alles andere als erfreut über die überschäumende, euphorische Laune des Anderen. „Drüben“, antwortete er grinsend. Der Junge wirkte unruhig, als säße er auf glühenden Kohlen. Während er abtrocknete, wippte er auf seinen Füßen auf und ab. „Buchhaltung. He, Bakura, wen hast du da eigentlich im Schlepptau?“ Stumm leckte Bakura sich über die Lippen und richtete sich auf, die Arme fest vor der Brust verschränkt. Abweisend legte er den Kopf schief und sah ihn von oben herab an. „Neuzugang“, murrte er. „Malik will ihn sehen.“ Kaum, dass er geendet hatte, wurde das Grinsen des Blonden noch ein Stück breiter. Er stellte das Glas zurück auf die Spüle, wischte sich die Hände grob an der weißen Schürze ab, und streckte Ryou quer über den Tresen seine rechte Hand entgegen. „Cool. Jonouchi Katsuya. Endlich wieder frischer Wind im Haus.“ Verwundert betrachtete Ryou die Hand, die man ihm entgegenhielt, perplex von solch bedingungsloser Offenheit. Nach einigen Sekunden des Zögerns konnte Ryou sich schließlich dazu durchringen, den Händedruck zaghaft zu erwidern. „Ryou Bakura“, murmelte er leise und sah den Blonden introvertiert aus den Augenwinkeln an. Dieser zwinkerte ihm noch einmal freundlich zu, dann löste er den Griff und wandte sich an einen neuen Gast, der darauf wartete, dass Jonouchi ihm seine Aufmerksamkeit schenkte. Unbeholfen blieb Ryou stehen, und zuckte merklich zusammen, als er registrierte, dass Bakura seinen Blick immer noch auf ihn gerichtet hatte. Er wirkte sichtlich genervt. „Komm jetzt“, knurrte er, offenbar von jeder Faser des Barkeepers zutiefst angewidert. Er packte Ryou sanft, aber bestimmend, am Oberarm und zog ihn an Tischen und Gästen vorbei quer durch den Schankraum. Durch seinen ausgelaugten Zustand noch immer wacklig auf den Beinen, stolperte Ryou ihm hinterher. „Was für ein junger Barkeeper“, murmelte Ryou gedankenverloren und warf einen letzten Blick über die Schulter zurück zum Tresen. „Vielleicht ein Student, der hier jobbt...“ Bakura schnaubte verächtlich und warf Ryou über die Schulter einen amüsierten Blick zu. „Negativ“, antwortete er trocken und wandte sich wieder um. „Bei der Menge an Koks, die der Junge braucht, um über die Runden zu kommen, wundert’s mich, dass er seinen Namen noch schreiben kann.“ Ryou spürte, wie sich in seinem Innersten alles zusammenzog. Noch ein letztes Mal sah er zurück, mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Augenbrauen. Wie merkwürdig das alles doch war. Dabei war er so nett gewesen. Ein wenig überdreht vielleicht. Trotz allem nett. Plötzlich kamen sie zum Stehen. Nicht viel fehlte, und Ryou wäre, gedankenverloren und übermüdet, gegen Bakura geprallt. Schwankend sah er sich um, und bemerkte eine große, dunkle Stahltür direkt vor ihnen. Bakura öffnete sie lautlos, schob Ryou hindurch und folgte ihm. Dann zog er sie klackend hinter sich ins Schloss. Die Musik verstummte augenblicklich. Nur noch leise und unterschwellig vernahm Ryou den dröhnenden Bass, der sich, brachial und stur, durch Beton und Stahl fraß. Hier war es kühler als im Schankraum. Ryou begann zu frösteln, und drückte schutzsuchend die Arme an seinen Oberkörper, die er nicht verschränken konnte, da Bakura ihn immer noch fest hielt. Vor ihnen lag ein schmaler, dunkler Flur, mit weißen Wänden, die ohne jeden Schmuck auskamen, und von denen der Putz abbröckelte. Eine einzelne Leuchtstoffröhre brannte an der Decke, ganz am Ende schälte sich eine weitere Tür aus dem Schatten. Es gab keine Fenster. In jenen Ecken, die von der Lampe nicht weiter erreicht wurden, herrschte immerwährende, tiefschwarze Nacht. „Was nun?“, fragte Ryou leise. Seine Stimme war, wie immer, wenn Nervosität in ihm aufstieg, einige Nuancen nach oben gerutscht. Er konnte spüren, wie sich der Griff des Anderen lockerte, und man ihn nachdrücklich etwas tiefer in den Flur schob. Neben ihm konnte er Bakura leise aufatmen hören. Seine Schultern, die er zuvor straff aufrecht gehalten hatte, sanken ein, und der Gesichtsausdruck entspannte sich. Er wirkte erleichtert, trotzdem jedoch ernst und gefasst. „Wir stellen dich dem Boss vor“, antwortete er leise, ohne Ryou anzublicken. Dann verfiel er in Schweigen. Neugierig betrachtete Ryou das schmale Gesicht, versuchte, anhand seiner Miene abzulesen, ob das, was nun kam, gut oder schlecht war, musste jedoch bald begreifen, dass dies zum Scheitern verurteilt war. Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten, klopfte Bakura heftig mit der Faust gegen die Tür. Für einige Sekunden herrschte Stille, dann wurde sie ein paar Zentimeter aufgeschoben, und ein herzförmiges, braungebranntes Gesicht erschien. Marik. Als er die beiden erkannte, schmunzelte er freudlos und wandte sich um. Im Gegensatz zu ihrem ersten Aufeinandertreffen erkannte Ryou eine resignierte Traurigkeit in den violetten Augen, kaum vorhanden und so subtil, dass man sie nur erahnen konnte. „Es ist Bakura“, sagte er sanft zu jemandem, den Ryou nicht sehen konnte. Die Koketterie, die er vor wenigen Stunden noch ausgestrahlt hatte, war vollkommen verschwunden. Eine dunkle, selbstbewusste Stimme antwortete, dann ließ Marik sie ein. Eingeschüchtert folgte Ryou Bakura in den schummrigen, kleinen Raum, und versuchte, so weit wie möglich hinter ihm zu bleiben, damit er keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ihm war unbehaglich zumute. Augenscheinlich handelte es sich bei dieser Örtlichkeit um einen ehemaligen Waschraum, den man zu einem provisorischen Büro umgebaut hatte. Ein wenig verwundert bemerkte Ryou die glatten, rutschigen Fliesen unter seinen Schuhen, die sich ebenfalls an Wand und Decke wieder fanden. In der Mitte des Raumes war ein Abfluss in den Boden eingelassen, alles wirkte eng und bedrückend. An der angrenzenden Wand stand ein großer, verwaister Schreibtisch, auf dem Papier und Stifte verstreut lagen. Ein Stück versetzt fand sich eine protzige, ausladende Sitzgruppe aus rotem Kunstleder, während orangegelbe Neonröhren alles in ein helles, weiches Licht tauchten. Licht, dass trotz allem jedoch nicht über die durch die Fliesen verursachte, kalte Atmosphäre hinwegtäuschen konnte. Eingeschüchtert tastete Ryou sich einen Schritt zurück, bis er mit den Schultern gegen die Tür stieß. Bakura wandte sich um und schenkte ihm einen warnenden Blick, sagte aber nichts. „Wen hast du uns denn da mitgebracht, Bakura?“, ertönte die tiefe, fast höhnische Stimme des Mannes, der sie eben herein befohlen hatte. Als hätte er nur auf dieses Stichwort gewartet, packte Bakura Ryou unsanft im Nacken, und schleuderte ihn mit unnachgiebiger Härte in die Mitte des Raumes. Nicht viel hätte gefehlt, und Ryou wäre vor allen Anwesenden auf den Boden gestürzt. Es brauchte einige Sekunden, bis er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, und sicher war, dass die weichen Knie seinen Körper auch weiterhin tragen würden. Als er schließlich bemerkte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren, erstarrte er und hielt die Luft an. Langsam hob er den Kopf. Vor ihm saß ein großer, schlanker Mann von etwa dreißig Jahren. Er sah Marik zum Verwechseln ähnlich, doch die Gesichtszüge wirkten bitter und hart. Die dunklen Augen bohrten sich regelrecht durch Ryous zarten Körper, wache, intelligente Augen, die bereits alles gesehen zu haben schienen. Dicke Strähnen sandblonden Haares fielen ihm in die Stirn und verdunkelten das im Schatten liegende Gesicht um wenige Nuancen. Seine Kleidung wirkte klassisch, Hemd, Anzug und Lederschuhe. Einige wenige Goldringe saßen an seinen Fingern. Alles war edel und hochwertig, wirkte an ihm jedoch abgebrüht und schmierig. Er erinnerte Ryou unwirklich an jene zwielichtigen Gestalten, die er immer auf dem Nachhauseweg gesehen hatte. Auf dem Boden, nur wenige Zentimeter von Ryou entfernt, kauerte ein schmal gebauter, in sich zusammengesunkener Junge, dessen bunt gefärbtes Haar in alle erdenklichen Richtungen abstand. Ryou hatte ihn anfangs nicht bemerkt, und nun, wo er ihn zum ersten Mal wirklich wahrnahm, wich er einen Schritt zurück. Der Blick des Jungen war apathisch auf den Boden gerichtet, und er zitterte unkontrolliert. Auf der Ryou zugewandten, tränennassen Wange prangte ein roter Abdruck, während das dazugehörige Auge langsam aber sicher zu schwoll. Ryou stockte der Atem, während sein Herz kurzfristig aussetzte. Da war sie wieder, diese Angst, sein neuer, aber treuer Weggefährte. Ryou hatte gehofft, er sei gegangen und würde nicht wiederkehren. Offensichtlich hatte er sich geirrt. Zaghaft machte er einen weiteren Schritt nach hinten, ließ die Augen unsicher hin und her wandern. Schließlich sah er aus den Augenwinkeln hinüber zu Bakura und Marik. Marik stand an der Wand, den Blick unangenehm berührt auf den Boden gerichtet. Sein linker Fuß wippte nervös auf und ab. Bakura hingegen starrte sie unverwandt an, die Arme gelassen vor der Brust verschränkt. Er hatte sich des langen, wollenen Mantels bereits entledigt, und Ryou bemerkte ein Paar schwarzer Hosenträger, die sich über den sauberen Stoff des weißen Hemdes spannten. Im Lagerraum waren sie ihm gar nicht aufgefallen. Der unheimliche Mann, der Marik auf den ersten Blick so ähnlich gesehen hatte, stand langsam und selbstgefällig auf, beugte sich zu dem Jungen herab und packte ihn am Kragen. Unsanft zerrte er ihn zurück auf die Beine, wobei er den Griff eisern am Kragen hielt, und funkelte ihn kaltblütig an. Ryou, der sich an die Szene im Lagerraum erinnert fühlte, ließ den Kopf sinken und ballte die Hände stumm zu Fäusten. „Yuugi“, knurrte er Mann abfällig, und Ryou vernahm deutlich das leise, aber klägliche Winseln des schmächtigen Jungens. „Wenn wir dich noch ein einziges Mal bei so etwas erwischen, wird dich deine eigene Mutter nicht wieder erkennen, das verspreche ich dir. Den Schaden ersetzt du uns.“ Der Mann lachte laut auf. Es war jene Sorte kalten Gelächters, die jede Existenz von Mitgefühl kategorisch ausschloss. Dieser Mensch kannte seine Stellung innerhalb dieses Mikrokosmos, und schien nicht davor zurückzuschrecken, davon regen Gebrauch zu machen. „Was erzähle ich dir das eigentlich“, knurrte er an Yuugi gewandt und gab Marik ein kurzes, aber unverständliches Handzeichen. „Du verstehst eh nichts von dem, was ich dir erzähle... Marik, schaff‘ ihn zurück auf sein Zimmer, bevor ich es mir anders überlege.“ Aus den Augenwinkeln nahm Ryou wahr, wie Marik sich von der Wand, an der er eben noch gelehnt hatte, ablöste und langsam zum Sofa ging. Der Mann, der nun offensichtlich genug davon hatte, sich weiter mit dem Jungen zu befassen, löste seinen Griff von dessen Kragen und ließ ihn fallen. Er wäre um ein Haar auf dem kalten Fliesenboden aufgeschlagen, wäre Marik nicht schnell genug gewesen, um dessen Sturz abzubremsen. Rasch schlang er einen Arm um den dürren Körper, fing ihn auf und zog ihn zurück auf die wackligen Beine. „Komm, Yuugi“, flüsterte er mit ungeahnt sanfter Stimme und gequälter Miene. Dann führte er den Jungen langsam aus dem Raum.  Schweigend verfolgte Ryou die merkwürdige Szenerie, verstörend und grotesk zugleich, während sich ein drückendes, unbehagliches Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. Als die Tür zuschlug, dämmerte ihm, dass sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden nun vollends auf ihn richten würde. „Malik, war ist hier los?“, ertönte es hinter ihm. Bakura klang ernsthaft verwundert, wenn auch nicht betroffen, über das Bild, dass sich ihm hier soeben geboten hatte. „Dieser Mistkerl hat sich an dem Reservoir mit Green vergriffen. Marik hat ihn total zugedröhnt in seinem Zimmer gefunden, kurz bevor ihr weg seid“, kam es kurz angebunden von Malik. Bakura lachte überrascht und amüsiert zugleich auf. Er blickte einige Male zwischen beiden hin und her, dann verwandelte sich das zarte Lächeln auf seinen Lippen in ein gewinnendes Schmunzeln. „So viel kriminelle Energie hätte ich ihm gar nicht zugetraut“, murmelte er provokant. Der Andere schnaubte abfällig. „Wenn ich denjenigen erwische, der ihm den Schlüssel gegeben hat...“, begann er gedankenverloren, unterbrach sich jedoch in der Mitte des Satzes und wandte sich an Ryou, ein dünnes, kaltes Grinsen auf den Lippen. „Das ist der Junge?“, fragte er ernst und warf Bakura einen flüchtigen Blick zu, ehe er die Augen über Ryous Körper gleiten ließ, wie ein Händler, der seine Ware vor dem Kauf ein letztes mal begutachtete. Beschämt ließ Ryou den Kopf sinken, spürte, wie sich alles in ihm anzuspannen schien. „Sein Name ist Ryou“, antwortete Bakura hinter ihm an seiner Stelle. Das dünne Schmunzeln, welches auf Maliks Lippen gelegen hatte, verwandelte sich in eine höhnische, amüsierte Fratze. Wie gerne hätte Ryou sich jetzt auf dem Absatz herumgedreht und wäre aus dem Raum gerannt. Nur weg, weg von hier und diesem abstoßenden Mann. „Du bist also hier um deine Schulden abzuarbeiten?“, fragte Malik sichtlich amüsiert, die Augen nach wie vor zusammen gekniffen. Sichtlich angetan griff er nach Ryous weißem Haar, und zwirbelte einige dünne Strähnen genüsslich zwischen seinen Fingern. Ein kalter Schauer jagte über Ryous Rücken. „Du hast Recht, der Junge ist ganz nach meinem Geschmack. Die Kunden werden ihn lieben.“ Maliks Grinsen wurde breiter, und er beugte sich so dicht über Ryou, dass dieser den Geruch seines Aftershaves wahrnehmen konnte. Unangenehm berührt drehte Ryou den Kopf ein Stück zur Seite, hielt den Blick gesenkt, spürte jedoch plötzlich, wie Malik fest nach seinem Gesicht griff und ihn dazu zwang, ihn anzusehen. Ryou voll unverhohlener Faszination musternd, strich Malik ihm mit dem Daumen unsanft über die zarten, weichen Wangen. Widerwillig blickte Ryou zur Seite, während zarte Schamesröte in sein Gesicht stieg. „Nicht auf diese Art“, ertönte es in ernstem Tonfall hinter ihnen. Maliks Grinsen gefror augenblicklich zu einer eisernen Maske. Seine Augen, die bisher gierig jeden von Ryous Gesichtszügen aufgesogen hatten, verengten sich zu schmalen, gereizten Schlitzen. Er ließ Ryou los, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich um. „Was?“, fragte er ungläubig und hob eine der schmalen Augenbrauen. Die Stimme war kaum mehr als ein dunkles, provokantes Knurren. „Warum schleppst du ihn an, wenn du ihn nicht arbeiten lassen möchtest?“ Bakura legte den Kopf ein wenig schief, auf den Lippen ein dünnes, siegessicheres Lächeln. Er nahm die Hände, die er zuvor tief in den Taschen vergraben hatte, heraus, ging ein paar Schritte auf den Anderen zu und legte diesem einen Arm um die Schultern. Gleichzeitig zog er ihn etwas an sich heran und ein paar Schritte von Ryou fort. Dabei wirkte er, wie ein Schuljunge, der etwas ausgeheckt hatte, und nun auf der Suche nach einem Komplizen war. Malik folgte ihm, wenn auch widerwillig, offensichtlich voller Zweifel und Abneigung. Als sie, Ryou den Rücken zugewandt, stehenblieben, senkte Bakura den Kopf ein wenig, ganz, als sprächen sie über wichtige Geschäfte. „Er ist zu zart besaitet für Mariks Job“, begann er leise, anscheinend im Glauben, Ryou könne sie aus dieser Distanz nicht hören. „Zwei Wochen, und er hängt in den Seilen wie Yuugi.“ „Und?“ Malik runzelte die Stirn, ganz offensichtlich noch nicht von Bakuras Standpunkt überzeugt. Dieser senkte seine Stimme noch etwas, und ab diesem Punkt verstand Ryou gar nichts mehr. Dafür beobachtete er, wie Malik hin und wieder schwach nickte, während die Miene sich nach und nach aufhellte. Schließlich hob er den Kopf und schob Bakura ein Stück von sich weg. „Das wäre natürlich eine durchaus lukrative Lösung“, murmelte er gedankenverloren und warf Ryou über die Schulter einen flüchtigen Blick zu. Schließlich erschien ein dünnes Lächeln in Bakuras Gesicht. Dann klopfte er Malik mehrere Male auf die Schulter und ließ ihn los. „Gut“, grinste er und verschränkte die Arme zufrieden vor der Brust. „Dann halten wir es so.“ Langsam ging Malik zurück zu Ryou. Dabei faltete er still die Hände, und drückte sie kraftvoll nach außen, bis die Gelenke so geräuschvoll knackten, als bräche man Reisig entzwei. Stumm beugte er sich zu ihm herab, so weit, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Auf seinen Lippen thronte ein gewinnendes Grinsen. Eingeschüchtert stolperte Ryou einen Schritt zurück, hielt den Blick krampfhaft zu Boden gesenkt. Es war ihm unerträglich, diesen Mann direkt anzuschauen. Alles an ihm - seine Bewegungen, seine Mimik, seine Stimme - verursachte ein Gefühl blanken Horrors in Ryous Brust. Die Schultern schützend ein wenig hochgezogen, vernahm er ein leises, genervtes Schnauben. Schließlich konnte er spüren, dass Malik ihm in die Haare griff, und ihn wieder dazu zwang, den Blickkontakt aufrecht zu erhalten. Sofort verkrampfte sich alles in ihm. Selten hatte Ryou ein so überzeugtes und hartherziges Gesicht erlebt, die Lippen schmal, die Augen durchdringend und forschend auf ihn gerichtet. Ohne, dass Ryou etwas dagegen tun konnte, überrascht von der unverhohlenen Gewalt und dem spitzen Schmerz, der nun durch seinen Körper schoss, verließ ein zartes, klägliches Wimmern seine Kehle. Hinter sich hörte er Bakuras leises, amüsiertes Lachen, und das dünne Lächeln, dass auf Maliks Lippen gelegen hatte, verwandelte sich in eine hartherzige, höhnische Fratze. Ein zartes Rosa schoss in Ryous Wangen. „Das ist ja herzzerreißend“, grinste Malik voller Sarkasmus, und warf Bakura aus den Augenwinkeln einen flüchtigen Blick zu. „Sieht danach aus, als hätten wir mit dir einen guten Fang gemacht.“ Kaum, dass er den Satz zu Ende gesprochen hatte, verschwand alle Heiterkeit aus seinem Gesicht. Seine Züge verhärteten sich, wurden wächsern und leblos, während sich in die Kälte seiner Augen nun ebenfalls mahnender Ernst mischte. Der Griff, mit dem er Ryous Haar noch immer umklammert hielt, wurde fester.  „Nur damit wir uns verstehen, Kleiner“, knurrte er leise. Derweil waren sie sich so nah, dass Ryou den flüchtigen Hauch Maliks Atems auf seiner Haut fühlen konnte. Ein angsterfülltes Ziehen breitete sich in seinen Eingeweiden aus. Mucksmäuschenstill lauschte er, die Augen weit aufgerissen, nicht wagend, auch nur das kleinste Geräusch von sich zu geben. „Du wirst hier arbeiten, essen und schlafen. Du wirst genau das tun, was wir dir sagen. Du wirst das Haus nicht verlassen und keine Widerworte geben. Wenn du Mist baust, oder versuchst, abzuhauen, werden wir dafür sorgen, dass sie dich ein paar Wochen später aus dem Hafenbecken ziehen. Dein Leben, wie du es kanntest, ist vorbei. Ab jetzt bist du mein alleiniges Eigentum. Mein Wort ist dein Gesetz. Haben wir uns verstanden?“ Ryou zögerte einen Moment, bevor er nickte. In seinen Ohren konnte er das Blut rauschen hören und ihm war, als geschehe alles in Zeitlupe, als offenbarten Maliks Worte nur langsam ihre wahre Bedeutung. Seine Knie wurden ganz weich, als er realisierte, wo er hier hineingeraten war. Er hatte die Kontrolle verloren. Augenblicklich schnürte es ihm die Kehle zu, und die Augen füllten sich wider seines Willens mit Tränen. Stumm ließ er den Blick sinken. „Ich habe verstanden“, wisperte er leise, die Stimme gebrochen. „Bitte lassen Sie mich los.“ Er konnte regelrecht fühlen, wie Maliks abschätziger Blick noch einige Sekunden auf ihm ruhte, dann jedoch tat er Ryou den Gefallen, wandte sich ab und ließ ihn los, als habe er mit seiner höflichen, weichen Art augenblicklich jeden Reiz für ihn verloren. Erschöpft und mit den Nerven am Ende, sank Ryou ein Stück in sich zusammen, wischte sich mit dem Handrücken rüde die aufsteigenden Tränen aus dem Gesicht. Sein langes, weißes Haar hatte derweil seinen letzten Glanz eingebüßt, und hing in stumpfen, staubigen Strähnen an ihm herab, rutschte ihm in die Stirn und verhinderte somit, dass die Anderen mehr von seiner Schwäche wahrnahmen, als unbedingt notwendig. Selten hatte er sich schwächer und erbärmlicher gefühlt. Plötzlich legte ihm jemand eine Hand auf die Schulter. Verängstigt fuhr Ryou herum und blickte in ein bleiches, schmales Gesicht. Es war Bakura, dessen Augen ruhig und gefasst auf ihm lagen. „Komm“, wies er ihn an, mit einer Stimme, die kaum lauter als notwendig, aber ungemein nachdrücklich klang. Ryou nickte stumm, den Kopf noch immer gesenkt, und zusammen verließen sie das kleine Büro. Als sie schweigend den Gang hinunterschritten, über den sie vor weniger als einer Stunde hergekommen waren, war es Bakura, der mit seiner Stimme die Stille zerriss. „Du solltest mit der ständigen Heulerei aufhören“, sagte er knapp. „Dadurch wird sich nichts ändern.“ Von der subtilen Härte der Worte getroffen, blieb Ryou stehen und hob den Kopf. In seinen Augen lag stumme Empörung und ernsthafter Zweifel. Besaß dieser Mensch tatsächlich derart wenig Empathie? War er schon so lange in dieser Welt von persönlichen Abgründen und Gewalt gefangen, dass er nicht einmal mehr nachempfinden konnte, wie sich jemand fühlen musste, der mit den Gepflogenheiten hier nicht vertraut, aber dazu verurteilt war, sein ganzes, zukünftiges Leben hier verbringen zu müssen? „Wo hast du mich hingebracht?“, flüsterte Ryou mit erstickter Stimme, und warf dem stillen, kühlen Mann von einschüchternder Größe einen verhaltenen Blick zu, der jedoch nicht erwidert wurde. Die Hände wieder in den Manteltaschen vergraben, ging dieser schweigend weiter. Anscheinend ging er davon aus, dass Ryou ihm folgte, wenn er ihn nur ausgiebig genug ignorierte. Unverhohlene Bitterkeit stieg in Ryou auf, die stille Gewissheit, dass sein Leben beendet zu sein schien, noch bevor es richtig begonnen hatte. All seine Hoffnungen und Träume für die Zukunft, zerschlagen binnen weniger Stunden. „Hättest du mir gesagt“, begann Ryou knapp und räusperte sich, als er bemerkte, wie dünn seine Stimme wieder geworden war. „Hättest du mir gesagt, wo du mich hinbringst, dann - “ „Was dann, hm?“, unterbrach Bakura ihn, bevor Ryou den Satz beenden konnte. In seiner Stimme lag ein leichtes, gereiztes Knurren. Als er Ryou letztlich wieder ansah, lag unverhohlene Verachtung in seinen Augen. „Hättest du dann darauf bestanden, dass ich dich umlege?“, zischte er und verzog den Mund. „Sei nicht so verdammt dramatisch.“ Ryou verstummte. Eingeschnappt presste er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und wandte sich von dem Größeren ab. Es war wie sonst auch. Es war egal, was in ihm vorging, er war auf sich allein gestellt. Wie hatte er, wenn auch unbewusst, nur davon ausgehen können, dass es an diesem Ort anders werden würde? Still erreichten sie das Ende des Ganges, wo sie, durch eine dicke Stahltür, ein schmales, graues Treppenhaus erreichten. Es wirkte baufällig und war nicht beheizt, und so kondensierte ihr Atem in winzigen Wölkchen vor ihren Lippen. Im dritten Stock schließlich betraten sie einen schwach beleuchteten, heruntergekommenen Flur, der Ryou an jene Appartementblocks erinnerte, in denen Singles, Studenten und alleinstehende Damen für günstiges Geld unterkommen konnten. Immer wieder zweigten graue Türen nach links und rechts ab. Bakura zog die Hand aus seiner Manteltasche, einen dicken, glänzenden Schlüsselbund in der Hand. Er klimperte leise und metallisch zwischen seinen Fingern. Wortlos suchte er den passenden Schlüssel heraus, schob in ins Schloss, und die Tür sprang klackend auf. „Das ist dein Zimmer“, kommentierte er nüchtern, jedoch vollkommen überflüssig, denn Ryou hatte bereits mit derlei gerechnet. Bakura legte die Hand auf das dunkelbraune Holz und schob die Tür sachte auf. Anschließend tastete er nach dem Lichtschalter, und nur wenige Sekunden später erfüllte gelbes, warmes Licht den Raum. Unsicher spähte Ryou hinein. Das Zimmer war winzig, hatte keine zehn Quadratmeter. Ein schmales Bett, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch standen darin, ansonsten war es, bis auf den dunkelroten Teppichboden, leer und schmucklos. „Du bleibst erst einmal hier“, begann Bakura schließlich, und lehnte lässig mit der Schulter an dem hölzernen Türrahmen. An manchen Stellen blätterte bereits der durchsichtige Überlack ab. „Du solltest schlafen. Es gibt viel zu tun morgen.“ Widerwillig biss Ryou sich auf die Unterlippe. Für Bakura schien das alles absolut alltäglich zu sein, während Ryou am liebsten laut losgeschrien hätte. In seiner Brust tobte ein Sturm der Emotionen, und er war kurz davor, unter dessen Druck zusammen zu brechen. Während er noch zögerte, warf Bakura einen kurzen Blick auf eine dunkle, lederne Uhr, die er am Handgelenk trug. Gedankenverloren runzelte er die Stirn. Langsam betrat Ryou den kleinen Raum, der mehr einer Zelle glich als einem zukünftigen Zuhause. Als er in der Mitte angekommen war, zwischen all den beengend beieinander stehenden Möbeln, wandte er sich um und ließ den Blick unschlüssig umherwandern. Verwundert bemerkte er, dass ihm das Herz wieder bis zum Hals schlug. „Bakura?“, fragte er schließlich, ein wenig zögerlich, die Stimme hoch und weich. Die Arme hatte er nach wie vor um seinen schmalen Oberkörper geschlungen, als könne er sich damit vor den Übeln, welche ihn zur Zeit heimsuchten, schützen. Der Andere hob den Blick von der Uhr und blickte Ryou stumm an. „Was?“, murmelte er leise. Ryou atmete tief ein und rang mit sich selbst, suchte nach den richtigen Worten. Es fiel ihm schwer, zu formulieren, was ihm auf der Seele brannte. „Warum hast du das getan?“, fragte er schließlich leise und räusperte sich anschließend. „Warum hast du diesen Jungen umgebracht?“ Bakuras Augen verengten sich leicht, während er die Stirn kritisch in Falten legte. Ryou rechnete bereits damit, dass er ihn anschreien oder schlagen würde, aber er musste es wissen. Er musste wissen, wofür er hier gelandet war. Er musste wissen, welcher schäbige Grund in so kurzer Zeit sein Leben in einen Trümmerhaufen verwandelt hatte. Für einen unendlich kurzen Moment schwieg der Andere. Seine Augen wanderten nachdenklich über Ryous Gesicht. So oft schien man ihm diese Frage nicht zu stellen, und obschon man ihm ansah, dass sie ihm nicht gefiel, so blieb er doch ruhig. Schließlich verzog er die Mundwinkel zu einem abweisenden Lächeln, und schnaubte leise auf. Dann, ohne zu antworten, wandte er sich ab, zog die Tür hinter sich zu und ließ Ryou mit seinen Gefühlen und aufgewühlten Gedanken allein zurück. Es klickte metallisch, als er von außen abschloss. Dann, mit einem Mal, herrschte absolute Stille. Unsicher starrte Ryou noch einige Sekunden auf die Tür, um sich zu vergewissern, ob der Andere tatsächlich gegangen war, dann seufzte er leise, als die Last und die Anspannung, welche zuvor auf seinen Schultern gelegen hatten, von ihm abfielen. Stumm sank er in sich zusammen, mehrmals tief durchatmend, die zarten, feinen Hände zu Fäusten geballt. Das alles wirkte so abwegig, so kafkaesk, dass er noch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, jeden Moment in seinem Bett aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein bitterböser Traum gewesen war. Er würde tief Luft holen, und darüber lachen, dass er sich von so einem dummen Gedankengespinst so hatte ängstigen lassen. Im wirklichen Leben jedoch passierten solche Dinge nie, und er würde, das wusste er, mit Sicherheit nicht in einer besseren Realität erwachen. Dies hier war alles, was er hatte, und je früher er das begriff, desto besser. Kapitel 5: Der Pass ------------------- „...and I miss home, and I miss the closets, the windows, the hallways And when we are gone, who will keep up the garden?  Like a mother calling her boy, I am, I am so unsafe (…) I remember. You were covered in powdered sugar from the donuts you were eating I've always loved watching you smile Do you remember the mornings when we woke up early to ride bicycles to on the board walk or the night before my first homecoming when you taught me how to dance? Yes I remember. I hope she appreciated all my hard work I wish I had a different story to tell I seem I have drifted fairly far away from what you taught me  You were always the (indecipherable) I'll admit there hasn't been much to smile about since, since you left I didn't leave, I fought for five years to stay at your side What do you remember about that night?“ (Pianos Become The Teeth - Houses We Die In) Er hatte kaum geschlafen. Nachdem Bakura ihn gestern eingeschlossen hatte, war Ryou ruhelos umhergewandert, hatte jeden Fleck des Zimmers inspiziert. Er hatte einsehen müssen, dass es aus diesem Raum keinen Ausweg gab. Nicht nur die Möbel waren im Boden verankert, auch die Fenster hatte man abgeschlossen und den Hebel entfernt. Ryou hatte in die Schränke geschaut und den kleinen Fernseher bemerkt, welcher auf dem ansonsten leeren Schreibtisch stand. Es war ein altes, mehrfach geflicktes und mit Klebeband zusammengehaltenes Gerät, das seine besten Tage lange hinter sich gelassen hatte. Immerhin funktionierte es. Durch eine dem Bett gegenüberliegende Tür erreichte man ein winziges Badezimmer. Es war modrig und feucht, in den Fugen sammelte sich der Schimmel. Die Belüftung selbst funktionierte nicht, und die einzige Lichtquelle war eine nackte Glühbirne, die an einem Kabel einsam von der Decke baumelte. Zu seiner Überraschung fand Ryou jedoch ein paar Handtücher, die man ihm bereit gelegt hatte. Letztlich jedoch musste er feststellen, dass es aus diesem Zimmer keinen Ausweg gab. Nicht nur die Möbel waren im Boden verankert, auch die Fenster hatte man abgeschlossen und den Hebel entfernt. Später war er, vollkommen erschöpft und zerschlagen, auf dem Bett zusammengesunken, ohne die Ruhe zu finden, nach der sein Körper bereits seit Stunden dürstete. Getrieben von dem harschen Klang seiner heiser flüsternden Gedanken, als auch dem lauten Ticken der analogen Wanduhr, war er immer wieder aufgestanden und umhergeschlichen. Nach Abschnitten augenscheinlicher Gefasstheit fand er sich an Fenster oder Tür, verzweifelt am Griff rüttelnd, der nicht nachgeben, gegen die Scheibe hämmernd, die nicht bersten wollte. Nachdem er mehrmals auf diese Art die Fassung verloren hatte, hatte er sich, tränenlos, doch schluchzend, auf dem Bett zusammengesunken und war am frühen Morgen eingedöst. Dabei lag er halb auf der Matratze, halb auf dem Boden, angekleidet und ohne den Schutz einer Decke. ~*~ Es war nach vier am Nachmittag. Um elf hatte ihn das Ticken der Uhr aus dem leichten Dämmerschlaf gerissen, in den er nach einem zähem Kampf gefallen war. Er hatte geduscht, die Zähne geputzt, und verharrte seither auf dem Bett, die Fernbedienung des Fernsehers fest umklammert, unschlüssig, was er mit sich anfangen sollte. Seine Augen starrten müde auf die Mattscheibe. Da war nichts als Leere in seiner Brust, hervorgerufen durch Angst und Gewalt der vergangenen Nächte. Still schob er sich eine der weißen Strähnen hinter das Ohr. Dann warf er einen Blick auf die nackten Unterarme, betrachtete die roten Striemen und verkrusteten Kratzer, die sich grell in seine bleiche Haut gefressen hatten.  Seit er sich gewaschen hatte, brannten sie nur umso mehr. In seinen Gedanken tobte ein wahrer Sturm. Bald würde es dunkel werden, noch hatte niemand nach ihm gesehen. Vielleicht hatten sie ihre Meinung geändert. Möglicherweise erschien es ihnen nun doch sicherer, sich seiner zu entledigen. Sie würden ihn hier verhungern lassen, und seine Leiche beseitigen. Das war ihre Rache für sein Verhalten. Er hasste sich für diesen Fehler, den er unwissentlich begangen hatte. Hätte er nur kehrt gemacht, und den Park nicht betreten. Zitternd griff Ryou an seinen Hals, an dem nach wie vor die blauroten Würgemale schimmerten, und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Der bloße Gedanke daran schnürte ihm die Kehle zu und verscheuchte jedes Gefühl aus seinen Fingern. Da war sie wieder, die Angst, die seinen Körper und sein Denken seit Tagen zu dominieren schien. Er musste stark sein. Verlor er jetzt die Fassung, verlor er den Verstand. Schwer atmend umklammerte er die Fernbedienung, und schaltete, viel zu schnell, durch das staatliche Fernsehprogramm. Sternchen tanzten vor seinen Augen. Seine Lungen fühlten sich leer an und brannten als müsste er jeden Moment ersticken. Er saß auf dem Bett, und drückte auf der Fernbedienung herum, bis das Gefühl letztlich in seine Finger zurückkehrte. Die Angst ließ nach, und zog sich in sein Herz zurück, wo sie sich, dumpf und kaum zu spüren, vor einigen Tagen eingenistet hatte, willens, ihn nie wieder zu verlassen. Sie war ihm ein ungebetener, doch treuer Gefährte geworden. Plötzlich ertönte das Klicken eines Schlüssels im Schloss. Ryou erstarrte, augenblicklich hellwach. Die Fernbedienung glitt ihm aus der Hand und knallte wenige Sekunden später scheppernd zu Boden. Mit aufgerissenen Augen, stocksteif, flach atmend und mit pochendem Herzen, hatte Ryou den Blick auf die Zimmertür gerichtet. Diese wurde, nachdem das Geräusch des Schlüssels verklungen war, aufgeschoben, und Bakura betrat den Raum. Seine Kleidung ähnelte der des Vortages, ein hochgeklappter Mantelkragen als auch ein breiter, lilafarbener Schal verhüllten sein Gesicht bis zur Nasenspitze. Hände, von Lederhandschuhen umgeben, hielten eine kleine Plastiktüte, die das Logo einer großen Supermarktkette trug. Sofort schoss Ryou Adrenalin in die Venen, und sein Puls beschleunigte sich. Er atmete auf, wischte die Hände, feucht vor Nervosität, an den Oberschenkeln ab und schenkte Bakura ein flüchtiges, verlegenes Lächeln. Ryou freute sich fast, ihn zu sehen. Sie hatten ihn weder vergessen, noch wollten sie ihn töten. Bakura zog, kaum, dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte, den Schal herab, und entblößte ein angespanntes, ernstes Gesicht. Er machte einen abgekämpften und müden Eindruck, und war blasser als am Tag zuvor. Zarte Schatten lagen unter seinen Augen. Ohne etwas zu sagen, hing er die Jacke an einen aus der Wand ragenden Nagel, und drückte er Ryou die weiße Plastiktüte in die Hand. Anschließend setzte er sich breitbeinig auf den einzigen Stuhl im Raum. Dabei seufzte er leise, wie jemand, der seit Stunden auf den Beinen war. Ryou musterte den Neuankömmling kurz, bevor er einen Blick in die Tüte warf und ein dünnes, erfreutes Lächeln auf seinen Lippen erschien. Er griff hinein und zog eine Dose mit grünem Tee, als auch eine Lunchbox aus Kunststoff hervor, auf deren Deckel Wegwerfstäbchen aus Holz befestigt waren. Es handelte sich um Reis, gebratenen Lachs und mehrere, unterschiedlich zubereitete Gemüsebeilagen. Schweigend riss Ryou den Deckel herunter, öffnete die Getränkedose und begann, überrascht von der zuvor unbemerkten Heftigkeit seines Hungers, zu essen. Wenig später bemerkte er etwas aus den Augenwinkeln, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Bakura starrte ihn regelrecht an, die dunklen, braunen Augen stets auf ihn geheftet. Aufmerksam, beinahe begierig verfolgten sie jede von Ryous Bewegungen. Unangenehm berührt ließ Ryou den Blick sinken, schob sich einen Bissen nach dem anderen in den Mund, und versuchte angestrengt, sich auf den Geschmack seines Essens zu konzentrieren. Dabei ignorierte er die brennende Wärme, die sich langsam auf seinen Wangen ausbreitete.  Er hasste es, beim Essen beobachtet zu werden. Erst, als er die Schachtel vollständig geleert, und die Reste mit Tee heruntergespült hatte, wagte er es, Bakuras Blick zu erwidern. Dieser saß vornübergebeugt, die Unterarme auf den Knien abgestützt. Sein Haar, das sich farblich kaum vom hellen Ton des Hemdes abhob, fiel ihm über die Schultern ins Gesicht. So verblieben sie schweigend. Bakuras offensive und rüde Art, das stille Selbstbewusstsein, das kaum gespielt sein konnte, machten Ryou nervös. Was brauchte es, um einen Menschen derart zu formen? „Wieso…“ Ryou räusperte sich, als er feststellte, wie heiser seine Stimme durch den langen Nichtgebrauch klang. Stumm nahm er einen Schluck Tee. „Wieso bist du erst so spät gekommen?“, fragte er mit kaum verborgenem Misstrauen, doch nicht ganz ohne Schüchternheit. Als er geendet hatte, rutschte er auf dem Bett zurück, bis sein Rücken gegen die Wand stieß, und ließ den Blick eingeschnappt sinken. „Ich dachte schon, ihr lasst mich hier oben verrotten.“ „Es gab viel zu tun.“ Bakura musterte ihn aufmerksam. Auf Ryous Anschuldigung ging er nicht ein.  „Wir arbeiten die ganze Nacht. Vor Mittag ist hier niemand auf den Beinen. Bist du fertig?“ Überrascht hob Ryou den Kopf. „Fertig?“ Auf Bakuras Lippen erschein müdes Schmunzeln. „Wir haben noch etwas zu erledigen. Heute Abend dann fängst du hier an.“ In Ryous Brust zog sich alles zusammen. Ihm graute vor dem, was auf ihn zukommen mochte. Alles, was er hier bis jetzt gesehen hatte, die Menschen die hier arbeiteten, der Ort und der Zustand seiner… ‚Kollegen‘, all das war ihm zuwider. Kaum auszumalen, was aus ihm werden würde, wenn er hier arbeitete. Sein Herzschlag beschleunigte sich, seine Atemzüge wurden tiefer. Zaghaft hob er den Kopf an und musterte Bakura aus großen, braunen Augen. Dieser konnte sich, nachdem er Ryous schreckensstarren Blick bemerkt hatte, ein Lachen nicht verkneifen. „Ich weiß nicht, was daran so lustig sein soll“, zischte Ryou getroffen und seufzte angespannt. Bakura verstummte, nach wie vor ein Schmunzeln auf den Lippen, welches langsam verblasste Dann stand er, ohne weiter auf Ryous Beschwerde einzugehen, auf, nahm den Mantel von der Wand und zog ihn an. „Komm jetzt“, knurrte er, und jede Freude in seiner Stimme war augenblicklich verschwunden. ~*~ „Dieser Mann gestern.“ Ryous Stimme zitterte. Er hatte die Arme fest vor der Brust verschränkt, und sprang fröstelnd von einem Fuß auf den anderen. Vor seinen Lippen bildeten sich trübe, weiße Wölkchen, die sich Sekunden später wieder aufgelöst hatten. „Wer war das?“ Sie waren zu dem Ort zurückgefahren, in dem Ryou sein bisheriges Leben verbracht hatte. Ein winziges, japanisches Einfamilienhaus, dass sich schmucklos in die dicht bebaute Häuserreihe fügte. Türen und Fenster waren verschlossen, und in der Einfahrt lag eine dicke Schicht unberührten Schnees. Nachdem sie das Gebäude einen Moment betrachtet hatten, waren sie schließlich ausgestiegen. „Sein Name ist Malik.“ Bakura nickte ihm ungeduldig zu, die Tür endlich aufzuschließen. Die Temperatur war während der vergangenen Nacht noch weiter gesunken und lag nun weit unter null Grad Celsius. Jeder Atemzug brannte in Nase und Lungen. Bakura hielt sich zurück. Er würde nichts berühren, nicht einmal die Tür öffnen. Selbst mit Lederhandschuhen war ihm das Risiko, Spuren zu hinterlassen, zu groß. Ryou bückte sich stillschweigend, und tastete mit den nackten Fingern im Schnee umher, bis er letztlich fand, wonach er suchte. Anschließend schob er den Schnee mit den Füßen zur Seite, bis eine dunkelrote, bestickte Fußmatte zum Vorschein kam. Diese hob er an, und entblößte einen kleinen, silbernen Schlüssel, der die vergangenen Jahre dort ungenutzt gelegen hatte. Ryou fischte ihn vom Boden und schloss auf. „Tu, was er dir sagt, und alles ist gut. Leg dich nicht mit ihm an. Ist in der Regel das Letzte, was Leute machen, wenn sie bei uns arbeiten.“ Ryou runzelte die Stirn und wandte sich zu dem Anderen um. „Wieso?“, murmelte er irritiert. „Was passiert dann mit ihnen?“ Stumm musterte Bakura Ryous Gesicht. Er sagte nichts, verzog keine Miene. Offensichtlich konnte er nicht fassen, dass Ryou dies soeben gesagt hatte. Zaghaft, beinahe fassungslos, schüttelte er den Kopf, überwältigt von so viel Naivität. Dann ging er wortlos an Ryou vorbei und betrat den Flur. Sichtlich verwirrt blickte Ryou ihm einige Sekunden lang hinterher, dann seufzte er leise und folgte ihm in das Innere des Gebäudes. Dort angekommen, ließ er den Blick langsam durch den dunklen Flur wandern. Allmählich fragte Ryou sich, ob in der vergangenen Nacht wohl irgendetwas besonderes geschehen war; Bakura wirkte seit der Autofahrt auf eine subtile Artso ruhig und gefasst, dass Ryou beinahe vergaß, dass er dessen Geisel war. Langsam schlenderte er durch den schmalen, holzverkleideten Flur in das weitläufige Wohnzimmer des leerstehenden Hauses. Seine Straßenschuhe hatte er, im Gegensatz zu Bakura, am Eingang abgelegt und gegen ein altes Paar Hausschuhe eingetauscht. Das hier war immer noch sein Zuhause, irgendwie. Bereits jetzt schien es ihm, als lägen Jahre zwischen damals und heute. Als er noch hier gewohnt hatte, war ihm dieser eigene Geruch, den Häuser mit der Zeit annahmen, nicht aufgefallen. Nun, da er zum ersten Mal einige Tage lang fort gewesen war, bemerkte er auf einmal den zarten Duft von Lavendel und Flieder, der überall in der Luft zu hängen schien. Es war der Geruch, der seiner Mutter stets angehaftet hatte, nur wesentlich schwächer. Ein dünnes, kaum merkliches Lächeln erschien auf Ryous Lippen und verschwand innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder. Wie merkwürdig. Es fühlte sich fast an, als sei sie immer noch hier. Gedankenverloren ließ Ryou die Fingerspitzen über die kalten, hölzernen Möbel gleiten und seufzte. Wie ihm dieser Ort fehlen würde, und mit ihm all die Menschen und Erinnerungen, die mit ihm verknüpft waren. Er versuchte den Kloß in seinem Hals zu ignorieren, und warf Bakura einen traurigen Blick zu. „Meine Tasche liegt oben“, flüsterte er mit erstickter Stimme, und ging, ohne auf den Anderen zu warten, die Treppe hinauf in den ersten Stock. Bakura folgte ihm schweigend, die Hände tief in den grauen Manteltaschen verborgen. Er hatte alles genau so vorgefunden, wie er es vor zwei Tagen zurückgelassen hatte. Ryou kniete vor dem großen, aus dunklem Holz gefertigten Kleiderschrank, und stopfte wahllos Kleidungsstücke in eine alte Sporttasche aus dunkelblauem Segeltuchstoff. Danach ging er ins Badezimmer, packte die nötigsten Utensilien zusammen, und legte sie dazu. Den verbliebenen Platz füllte er mit Zeitschriften und Büchern, die er, ohne auf den Titel zu schauen, aus dem Regal gezogen hatte. Für einen Moment kam ihm der Gedanke, was sein Vater wohl denken mochte, wenn er zurückkehrte, und feststellen musste, dass Ryou fehlte. Behutsam zog Ryou die Reißverschlüsse zu und richtete sich auf. Bakura, der die vergangenen Minuten wortlos durch das Zimmer geschlendert war, verharrte in seiner Bewegung und blickte auf. Er hatte hier und dort etwas näher betrachtet, Dinge berührt, umhergeschoben oder in ihnen herumgeblättert. In der Hand hielt er eines von jenen Büchern, die Ryou auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Es handelte sich um einen Auffrischungskurs für Kanji. „Was sind das für Bücher?“, fragte Bakura nach einigen Sekunden erwartungsvoller Stille und deutete auf den Schreibtisch. Ryou runzelte die Stirn und blickte Bakura für einige Sekunden schweigend an. Warum interessierte ihn das? „Das ist für die Aufnahmeprüfungen der Universitäten“, antwortete er schließlich. Bakura nickte schwach, sagte einige Zeit lang nichts, dann blickte er auf und legte das Buch zurück dorthin, wo es die letzten Tage gelegen hatte. „Ich wollte Grundschullehrer werden.“ Ryou machte ein paar Schritte durch den Raum und blickte sich flüchtig um, weniger, um sich zu vergewissern, ob er alles hatte. Er konnte Bakura nicht in die Augen sehen. „Der Zug ist wohl abgefahren.“ Ein gequältes Lächeln erschien in Ryous Gesicht, ehe er die Arme vor der Brust verschränkte und sich abwandte. Dabei rutschten ihm  Haarsträhnen ins Gesicht und verbargen seine Augen hinter einem weißen Schleier. Ryou verstand nicht, was diese Fragerei zu bedeuten hatte.  Er hob den Kopf und sah Bakura unverwandt an. Dieser wirkte abwesend, als beneide er Ryou um all die Möglichkeiten, die ihm bis vor wenigen Tagen offen gestanden hatten. Vielleicht realisierte er, worum er Ryou gebracht hatte. Schließlich verzog Bakura die Lippen zu einem dünnen Strich, und löste den Blick von dem vollgestellten Schreibtisch. „Ich brauche noch deinen Reisepass, Impfpass und die Geburtsurkunde.“ Irritiert ließ Ryou die Arme sinken, neigte den Kopf ein wenig und sah den Anderen fragend an.  „Warum…“, begann er, und deutete verwirrt auf die Treppe, die man von seinem Zimmer aus sehen konnte. „Sie sind unten in der Küche.“ „Hol’ sie. Und nimm die Tasche mit.“ Unsicher stand Ryou in dem großen, bogenförmigen Durchbruch, der den Eingang zur Küche markierte. Ihm war schlecht. Jede Farbe war aus den sonst rosigen Wangen gewichen. Der blutverschmierte Jackenärmel hing immer noch aus dem vollgestopften Mülleimer, kalt und leblos, selbst wie eine Leiche. Ryou, dessen Nerven aufs äußerste gespannt waren, schien es, als grinste es ihn höhnisch an. Hinter ihm stand, mit verschränkten Armen, Bakura und wartete. Er wirkte ungeduldig. Seit Minuten standen sie hier, und aus einem für ihn nicht ersichtlichen Grund rührte sich der Junge nicht von der Stelle. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte genervt. Es war bereits kurz vor sieben. „Worauf wartest du?“, fragte er plötzlich und klang verärgert. Unversehens aus den Gedanken gerissen, blickte Ryou auf. Kaum wahrnehmbare Angst stand in seinen Augen. Mit den Fingern seiner linken Hand hielt er sich krampfhaft am Türrahmen fest. Es brauchte nur einen Schritt in diese Küche, und er würde sich übergeben. Da war Ryou sich sicher. „Es ist nichts“, flüsterte er atemlos, und wich einige Zentimeter zurück, bis er gegen Bakuras Oberkörper stieß. „Dann mach jetzt.“ Ungeduldig wandte Bakura sich von Ryou ab und lehnte sich mit der Schulter gegen die weiß verputzte Wand. Sodann griff er in seine Tasche, holte ein Feuerzeug hervor und zündete sich eine Zigarette an. Augenblicklich verengten sich Ryous Augen. „Das hier ist ein Nichtraucherhaushalt“, murmelte er genervt, mehr aus einer Gewohnheit heraus, und begann zu husten, als Bakura ihm als Antwort den Rauch ins Gesicht blies. „Lass das mal meine Sorge sein.“ Anschließend nickte er mit dem Kopf in Richtung Küche. Die wachen, kalten Augen ruhten weiterhin auf Ryou, dem in diesem Moment kalter Schweiß auf die Stirn trat. Ihm behagte es nicht, diesem Kleidungsstück näher zu kommen als zwingend notwendig. Allein bei dem Gedanken daran fühlte er den Schmutz und die Scham, die er, so oft er es auch versuchte, nie vollständig abwaschen konnte.  Ryou schloss die Augen und atmete tief ein. Die rechte Hand legte er auf seinen rumorenden Bauch. „Na los“, knurrte es hinter ihm. Bakura klang zunehmend gereizt. Auf einmal spürte Ryou eine Hand auf seiner Schulter, und ehe er sich versah, drückte man ihn gegen seinen Willen über die Türschwelle hinaus in die Küche. Schwankend kam er zum Stehen, und warf einen unsicheren Blick hinüber zu dem Mann, der ohne mit der Wimper zu zucken weiße Zigarettenasche auf den dunklen Parkettboden rieseln ließ. Bakura lehnte nach wie vor an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt, während sich der beißende Zigarettenqualm mit dem zarten Duft von Flieder und Lavendel vermischte. Zögerlich setzte Ryou einen Fuß vor den anderen. Sein Herz schlug schneller, und in seinem Magen breitete sich ein unangenehmes, treibendes Kribbeln aus. Langsam schob er sich am Mülleimer vorbei, und ließ ihn dabei für keine Sekunde aus den Augen. Als er den Kühlschrank erreicht hatte, öffnete er zaghaft eine der Schubladen des benachbarten Küchenschränkchens. Hektisch schob er seine Hand hinein, tastete  suchend umher, und hielt nach wenigen Augenblicken die Unterlagen in der Hand. Vorsichtig schob er die Schublade zu und ging, beherrscht langsam und stocksteif, seinen Reisepass fest umklammernd, zu Bakura zurück. Dort angekommen, atmete er erleichtert auf und ließ den Kopf sinken, so, dass ihm weiße Strähnen ins Gesicht rutschten. Aus den Augenwinkeln registrierte er eine blasse, geöffnete Hand, die fordernd ausgestreckt vor seinem Gesicht erschien. Irritiert blickte Ryou auf. „Gib mir die Papiere“, forderte Bakura, der die Zigarette, die zwischen seinen Fingern abbrannte, in einer kleinen Metallbox ausdrückte, die er zuvor aus seiner Manteltasche gezogen hatte. Ryou spürte, wie sich seine Finger fester um das weiche Plastik schlossen. „Wofür braucht ihr die?“ Seine Stimme war nicht ohne Misstrauen. Die Papiere unnachgiebig gegen die Brust drückend, wich er einen Schritt von Bakura zurück und biss sich nervös auf die Unterlippe. Er ahnte bereits, was der Grund für Bakuras Verhalten. Bakura löste sich von der Wand, das Gesicht todernst, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Schließlich erschien ein kaltes Grinsen auf seinen Lippen. „Um sicherzustellen, dass du morgen nicht gleich zur Polizei rennst und alles auffliegen lässt“, murmelte er, und machte einen Schritt auf ihn zu. Ryou keuchte auf und wich ein Stück zurück. Er verstand. Also doch. „Ihr nehmt mir meine Identität?“, wisperte er atemlos und starrte Bakura aus weit aufgerissenen, erschrockenen Augen an. Dieser nickte, und das Grinsen verblasste. „Zwing mich nicht dazu, sie mir holen zu müssen“, flüsterte er voll Bitterkeit. Dabei ließ er den Blick für einen Moment sinken, als erinnerte ihn diese Szene an etwas, dass ihm vor langer Zeit einmal widerfahren war. Nach wenigen Sekunden atmete er durch und straffte seine Haltung. Er hob den Kopf und taxierte Ryou aus unnachgiebigen, entschlossenen Augen. Unsicher ließ Ryou den Blick zwischen Bakuras Hand und dessen Gesicht hin und her wandern, dann, allmählich, streckte er den Arm aus und ließ die Unterlagen in die Handflächen seines Entführers gleiten. Kaum, dass dieser sie in den Händen hielt, zog er sie an sich und packte sie schweigend in seine Manteltasche. „Du brauchst diese Dinge jetzt nicht mehr“, murmelte er mit einer gewissen Schwere in der Stimme und trat näher, bis sie einander gegenüber standen. Nachdenklich sah er auf den Jüngeren herab, musterte ihn, bis Ryou den Kopf hob und seinen Blick erwiderte. Augenblicklich wandte er sich ab und vergrub die Hände so tief wie möglich in den Manteltaschen. „Hol’ deine Sachen“, knurrte er. Wir gehen.“ Kapitel 6: Eintauchen in den Mikrokosmos ---------------------------------------- „Der Tag ist zehn Minuten älter und trotzdem noch nicht besser die Fesseln an den Füßen machen’s auch nicht leichter irgendetwas war da noch doch er hat’s vergessen das Haus sieht aus wie ausgekotzt […] Dein Herzschlag hinter Gittern schlägt gegen deinen Brustkorb selbst für ein Dach über den Kopf verkauft ihr euer Gewissen und ich reiß mir selbst den Kopf ab damit ich nicht an euch ersticke pump mir die Ohren mit Beton voll denn eure Worte sind wie Messer […] Du fragst dich immer noch warum sich alle so angeschlagen durch’s Leben schleifen. Schau doch doch mal um! Das ist doch kein Zustand! […] Wie kannst du damit leben? Willst du nicht frei sein?“ Willy Fog - Gunther Grau Als sie die Bar erreichten, war bereits die Nacht über Domino hereingebrochen. Sie waren spät dran; Ryou hatte kaum Zeit, seine Habseligkeiten zu verstauen, und sich für die anstehende Nacht zurecht zu machen. Als er schließlich, nachdem er sich mehrfach umgezogen hatte, das Zimmer verließ, verzog Bakura, der draußen ungeduldig auf ihn gewartet hatte, missbilligend das Gesicht. „Das ist ein Scherz, oder?“, kommentierte er Ryous Erscheinung trocken, als dieser ratlos an sich herab blickte. Er trug ein Paar Sneaker aus weißem Segeltuchstoff, eine enge, frisch gewaschene Jeans in einem dunklen Grau, und ein dünnes, durchscheinendes Hemd aus leichtem Leinen. An seinen Handgelenken baumelten lose einige, zu einem Armband verknüpfte Lederschnüre. „Was ist los?“, fragte er verunsichert, und verschränkte, wie zum Schutz, aber wenig überzeugend, die Arme vor der schmalen Brust. Auf Bakuras Lippen erschien ein überlegenes Schmunzeln. „Wir sind hier nicht im Kloster“, grinste er. „So vergraulst du uns die Kundschaft.“ Er trat näher an Ryou heran, und deutete auf dessen Unterarm. „Dein Zopfgummi. Bind’ dir die Haare zusammen.“ Ryou nickte knapp, streifte eines von seinen Handgelenken und bündelte, ohne etwas zu sagen, die langen, dicken Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz. Das Pony und einige kürzere Strähnen verblieben unangetastet und rahmten sein Gesicht sanft ein. Er seufzte leise und betrachtete sich kritisch in einem Spiegel, der neben seiner Zimmertüre hing. Als er bemerkte, wie jemand an seiner Kleidung nestelte, versteifte er sich und riss die Augen auf. Bakura, der nach dem langen Tag die Geduld verloren hatte, knüpfte Ryous Hemd Stück für Stück von unten auf. „W-was machst du da?!“ Empört hob Ryou die Hände zur Abwehr, und wollte schon einen Schritt nach hinten wagen, da brachte Bakura ihn mit einem verärgerten Blick zum Schweigen. „Halt die Klappe“, knurrte er gebückt, ohne von seiner Tätigkeit abzulassen. Ein zartes, beschämtes Rosa erschien auf Ryous Wangen, der schließlich, um es nicht weiter mit ansehen zu müssen, den Blick resigniert sinken ließ und sich auf den Schlag seines Herzens konzentrierte, das wieder schneller pochte als in den Stunden zuvor. Als Bakura die Knopfleiste zur Hälfte geöffnet hatte, knotetet er die beiden Enden des Hemdes zusammen und trat einen Schritt zurück. Dabei musterte er Ryou kritisch, einem Maler gleich, der letzte, prüfende Blicke auf ein vielversprechendes Kunstwerk warf. „Besser“, stellte er wortkarg fest, und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Ryou warf erneut einen Blick in den Spiegel, und verzog empört das Gesicht. „Ich sehe aus wie ein Mädchen“, murmelte er und sah zurück zu Bakura. Dieser zuckte wortlos mit den Schultern, als sei dieser Fakt fester Teil von Ryous Persönlichkeit. Offensichtlich und nicht weiter erwähnenswert. Eine Selbstverständlichkeit. Wieder trieb es Ryou die Röte ins Gesicht. Verlegen strich er sich mit den Fingern einige Haarsträhnen aus der Stirn, dann wandte er sich ab. Hinter ihm schloss Bakura die Tür, und nickte anschließend mit dem Kopf in Richtung Treppenhaus. Zusammen machten sie sich auf den Weg in den Schankraum. „Du wirst heute Abend mit Jonouchi arbeiten.“ Ryou nickte schwach und atmete tief ein. Immerhin. In seinem Inneren breitete sich eine Woge der Erleichterung aus. Wenn es einen Menschen in diesem Laden gab, der ihm auf Anhieb sympathisch gewesen war, dann Jonouchi. Und so sehr, wie dieser Mann sich über den angeblichen ‚frischen Wind‘ gefreut hatte, den Ryou ins Haus bringen würde, hatte dieser Abend das Potenzial, einer der ersten Lichtblicke seit Tagen zu werden. „Wenn dir jemand blöd kommt…“ Bakura schob sich, während sie zusammen die Treppe hinabstiegen, eine der schmalen Zigaretten, die er immer mit sich herumzutragen pflegte, zwischen die Lippen und zündete sie an. „…ist das mein Zuständigkeitsbereich. Gib mir bescheid und ich schmeiße die Typen raus.“ Ryou nickte stumm. „Ich werde mich bemühen“, antwortete er floskelhaft, und packte das Geländer, an dem er sich beim Gehen festhielt, unwillkürlich ein wenig fester. So schwiegen sie, während der Klang ihrer Schritte von den Wänden widerhallte. Hin und wieder warf Ryou dem Anderen aus den Augenwinkeln verstohlene Blicke zu, hielt diesen jedoch nie länger als einige Sekunden aufrecht, aus Angst, Bakura bemerkte sein Starren. Dieser hatte wieder jenen ernsten, nichts sagenden Gesichtsausdruck aufgesetzt, der es Ryou unmöglich machte, zu bestimmen, was in ihm vorgehen mochte. Ryou seufzte still, und schloss für einen Moment die Augen. Wenn dieser Abend nur schon vorüber wäre… Es war zu früh für das große Geschäft, doch der Laden war bereits voller, als Ryou erwartet hatte. Kaum, dass sie den Schankraum betreten hatten, erfüllte der Geruch von Bier, heißem Sake und Zigarettenqualm Ryous Nase, zweifellos Überbleibsel vergangener Nächte. Ein Geruch, der, allgegenwärtig und charakteristisch, jeden Abend aufs Neue aufgefrischt wurde. Aromen, die sich in Wandverkleidung und Sitzpolster eingefressen hatten und nie verschwanden - ganz gleich, wie oft man lüftete. Ryou schob die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans, und folgte Bakura an den bereits anwesenden Kunden vorbei in Richtung Bar. Dabei ließ er unsicher den Blick über die Menge schweifen. Im Hintergrund verbreiteten an den Decken angebrachte Lautsprecher laute Jazzmusik, und ließ alles freundlicher wirken, als Ryou es am Vortag wahrgenommen hatte. „Na?“ Jonouchis aufmüpfige, leicht gepresst klingende Stimme begrüßte sie, bevor Ryou ihn wirklich sehen konnte. Dieser lehnte an der Theke, eines der weißen Putztücher lose in die dunkelrote Schürze gestopft. Er trug andere Kleidung als am Vortrag, etwas, was Ryou bei dem jetzt schon hohen Gehalt an Zigarettenqualm in der Luft durchaus nachvollziehen konnte. Es handelte sich um ein grünes, kariertes Hemd, dessen Ärmel er bis über die Ellenbogen hochgekrempelt hatte, ein dunkles paar Jeans, dessen Farbe Ryou im schummrigen Licht nicht erkennen konnte und Turnschuhe. Die Arme hatte er fest vor der Brust verschränkt, der Blick kreiste aufmerksam über der Kundschaft, willens, jeden Wunsch und jedes leere Getränk sofort zu bemerken. Alles in allem wirkte er wesentlich legerer als Bakura, dessen Hang zu konservativer Kleidung ihm stets etwas strenges gab. Kaum, dass Jonouchi sie in der Menge ausgemacht hatte, trat ein breites, aufgewecktes Grinsen auf seine Lippen. Sichtlich nervös, blieb Ryou eingeschüchtert hinter Bakura stehen, halb verdeckt von dessen großer, schlanker Gestalt. Man hatte ihm immer noch nicht mitgeteilt, worin genau seine Arbeit bestehen würde, und so war Ryous innere Unruhe während der vergangenen Stunden und Minuten zunehmend stärker geworden. Selbst beim Abendessen, einer Lunchbox aus einem der umliegenden Convinience Stores, hatte Ryou kaum einen Bissen hinunter bekommen. Alles an diesem Ort wirkte unseriös und zwielichtig. Hätte man ihn hier nicht hineingezwungen, freiwillig hätte Ryou keinen Fuß an diesen Ort gesetzt. Weit vor der Eingangstüre hätte er kehrt gemacht, wäre dorthin zurückgegangen, wo er eigentlich hingehörte. Konnte der erste Eindruck noch darüber hinwegtäuschen, so wirkte bereits beim zweiten Hinsehen alles schmierig und heruntergekommen, als habe man sich bei der Einrichtung, die zweifelsohne bereits einige Dekaden miterlebt haben musste, Mühe gegeben, diese seither jedoch absolut vernachlässigt. Von einer inneren Rastlosigkeit ergriffen, trat Ryou einige Schritte nähe an die Theke, und fuhr mit den Fingerspitzen immer wieder über das dunkelbraune, dick lackierte Holz. Indessen griff Bakura in die Tasche seines Mantels, und zog silbernes Zigarettenetui hervor. Hinter vorgehaltener Hand zündete er eine an. Ryou betrachtete ihn verblüfft. Es war ihm schleierhaft, wie ein Mensch so viel rauchen konnte. Kurz darauf nickte Bakura Jonouchi kühl über die Theke hinweg zu. „Du arbeitest ihn ein.“ Sein Tonfall vermittelte deutlich, wer von ihnen in der Hierarchie weiter oben stand. Er duldete keine Widerrede, so viel hatte Ryou inzwischen begriffen. Während Bakura sprach, spielten seine Finger mit der zwischenzeitlich ungenutzten Zigarette, betasteten das Papier, und drückten etwas Asche in einen der umliegenden Aschenbecher. Als er geendet hatte, nahm er einen Zug und atmete, nachdem er ihn genommen hatte, noch einmal ein, um die Wirkung des Rauches zu verstärken. Jonouchis Gesicht nahm einen überraschten Zug an. Er löste sich von der Bar und ging zu ihnen. Dabei warf er das Handtuch, mit dem er zuvor herumgespielt hatte, locker über die linke Schulter. „Arbeitet er nicht hinten mit Yuugi und Marik?“, fragte er ehrlich überrascht und blickte irritiert zwischen den beiden hin und her. „Nein.“ Schlecht gelaunt blies Bakura Jonouchi den Rauch ins Gesicht. Jonouchi, augenscheinlich einer von impulsiverem Gemüt, wedelte diesen zur Seite, kniff die Augen zusammen und öffnete den Mund - beherrschte sich jedoch im letzten Moment. Stattdessen ballte er die Hände, die auf Höhe seiner Hüfte ruhten, zu Fäusten. „Warum nicht?“, fragte er beherrscht, seine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut. Aus den Augenwinkeln ließ Jonouchi den Blick auf Ryous Gestalt ruhen, ehe er Bakura mit zusammengekniffenen Augen anstarrte. Es war bemerkenswert, wie Jonouchis Laune sich zu verschlechtern schien, wenn Bakura in der Nähe war. Verlegen presste Ryou die Lippen zusammen, und schob die Hände noch etwas tiefer in die Hosentaschen, zwischenzeitlich immer wieder unruhig auf und ab wippend. Auf Jonouchis Frage hob Bakura den Kopf, und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Seine ganze Körperhaltung zeugte von absoluter Feindseligkeit. „Vielleicht“, knurrte er, unterbrach sich dann jedoch selbst, und nahm einen weiteren Zug von der Zigarette. „Vielleicht, weil der Boss nicht mehr hören konnte, wie du dich permanent über mangelndes Thekenpersonal beschwerst.“ Genervt beugte er sich nach vorne und versenkte noch etwas Asche in dem silbernen Aschenbecher. „Du sollst nicht fragen, sondern arbeiten. Ryou bleibt hier bei dir. Zeig ihm alles. Zeig ihm auch die Hinterzimmer. Er soll ruhig wissen, was ihm blüht, wenn er’s verbockt.“ Damit drückte er die Zigarette, die er in beachtlicher Geschwindigkeit aufgeraucht hatte, endgültig aus. Sofort stieg Ryou der schwindelerregende Geruch von Teer und Nikotin in die Nase. „Ich habe ein Auge auf dich, Jonouchi“, knurrte Bakura, und taxierte seinen Gegenüber aus mürrischen, wachen Augen. Nach Sekunden angespannter Stille wandte er sich ab. Ryou betrachtete ihn, unschlüssig darüber, was er davon halten sollte, dass dieser nun ging, und zuckte zusammen, als Bakura ihm noch einmal die Hand auf die Schulter legte. „Auf dich auch“, flüsterte er, gerade so laut, dass Ryou ihn verstehen konnte, drohend, aber doch weniger feindselig als Jonouchi gegenüber. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren verschwand er in einer Traube hereinkommender Gäste, einer Gruppe anzutragender Geschäftsmänner mittleren Alters. Stumm blickte Ryou ihm hinterher und biss sich zaghaft auf die von den gestrigen Schlägen immer noch aufgerissene Unterlippe. Mit einem Mal fühlte er sich einsamer und verlorener als zuvor. Er lockerte seinen Pferdeschwanz, damit er nicht mädchenhafter wirkte als notwendig, und drehte sich, um Fassung ringend, langsam um. Jonouchi hatte seine Aufmerksamkeit auf die ankommenden Gäste gerichtet, und schüttelte immer wieder genervt mit dem Kopf. Erst, als er bemerkte, dass Ryou ihn schweigend anstarrte, trat ein verschmitztes Grinsen auf sein Gesicht. „Mach dir nichts draus“, sagte er bezogen auf Bakuras vorangegangene Drohung und zuckte locker mit  den Schultern. „Der Typ ist immer so miesepetrig. Wahrscheinlich schon so geboren. Nichts zu machen.“ Er warf einen letzten Blick hinüber zu den Neuankömmlingen, wahrscheinlich, um sich zu vergewissern, ob Bakura auch tatsächlich gegangen war, dann atmete er tief durch und streckte sich ausgiebig. Anschließend winkte er Ryou energisch hinter die Theke. „Ich sag dir“, begann er und räumte dabei einige der frisch gespülten Gläser zurück in die Regale. „In all den Jahren, in denen ich hier arbeite, hat er nicht ein nettes Wort mir gegenüber verloren. Und das will was heißen.“ Jonouchi schien einfach munter drauf los zu plappern, während einige der neu eingetroffenen Gäste nach und nach an der Theke Platz nahmen. Nebenher griff er immer wieder nach sauberen Gläsern, räumte sie fort oder füllte sie mit Bier, ehe er sie jenen reichte, die nach ihnen verlangt hatten. Der Umgangston war rau, Höflichkeiten suchte man hier vergebens. Bei manchen konnte Ryou Tätowierungen an Hals und Händen ausmachen. Erschrocken schluckte er und stolperte einen Schritt zurück, ehe er gegen die holzvertäfelte Wand prallte. Ryou hatte von diesen Menschen immer nur in der Zeitung gelesen, aber noch nie einen im echten Leben gesehen. Yakuza. Nachdem Jonouchi alle versorgt hatte, wischte er sich die Hände am Spültuch ab und ging zurück zu Ryou, der immer noch in einer der Ecken herumstand und wartete. „Die sind erstmal versorgt“, tönte er sichtlich gut gelaunt und klopfte spielerisch die Hände auf der dunkelroten Schürze ab, die er in Höhe der Taille um den Körper gebunden hatte. Sodann griff er hinter seinen Rücken, löste den Knoten und trat noch näher an Ryou heran, wo er sie letztlich an einem kleinen Haken, den man in die Wand geschraubt hatte, aufging. Nach den vergangenen Tagen, die gewirkt hatten, wie ein Traum, aus dem man nicht erwachen konnte, fühlte es sich fremd und ungewohnt an, von jemandem ohne ersichtlichen Grund derart herzlich behandelt zu werden. Ryou schätzte Jonouchi nicht älter als 25, nur einige Jahre älter als er selbst. Er war groß gewachsen, doch kleiner als Bakura. Seine blondierten Haare, die ihm locker bis auf die Schultern fielen, sahen aus, als hätte man sie schon lange nicht mehr geschnitten. „Ich soll dich also einarbeiten…“ Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und betrachtete Ryou ausgiebig, als müsse er erst überlegen, was er mit ihm anfangen sollte. „Wahrscheinlich ist’s am einfachsten, wenn ich dir hier erst einmal eine kleine Führung gebe. Hat Bakura dir das Haus schon gezeigt?“ „Er hat mir gezeigt, wo ich schlafe“, antwortete Ryou leise. Verlegen ließ er den Blick durch den Raum wandern. Jonouchi nickte. „Alles klar…“ Nachdenklich verzog er das Gesicht, leckte sich flüchtig über die Lippen und klatschte schließlich in die Hände, als sei ihm ein Licht aufgegangen. Er schloss die Kasse ab, steckte den Schlüssel ein und klopfte Ryou breit grinsend so heftig auf die Schulter, dass dieser einen Schritt nach vorn stolperte. „Gut. Packen wir’s an.“ Jonouchi gab sich sichtlich Mühe. Ausführlich erklärte er Ryou, worauf er im Schankraum zu achten musste, zeigte ihm, wo er die passenden Gläser für die verschiedenen Getränke fand, und wie man Bier vom Fass zapfte. Anschließend führte er ihn in den Lagerraum und die Küche, in der allerlei Snacks für die Gäste vorbereitet wurden. Dort war es sauberer, als Ryou es vermutet hatte. Einige junge Männer, die Ryou nicht kannte, arbeiteten dort, still und heimlich, und waren außerhalb dieser Tätigkeit, so Jonouchi, nie im Film Noir zu sehen. Schließlich, nachdem Jonouchi ihm vor Ort alles gezeigt hatte, durchquerten sie zusammen den Schankraum und nahmen die Wendeltreppe, die in den ersten Stock führte. Ryous Knie zitterten, als er die einzelnen Stufen hinauf stieg. Er hatte versucht, keinem der Männer direkt ins Gesicht zu blicken, während Jonouchi ihn von einem Ort zum nächsten gescheucht hatte. Ihm war aufgefallen, dass sie ihn musterten wie einen Wolf seine Beute. Die Treppe mündete in einen schmalen, doch weitläufigen Flur, kaum breit genug, als dass zwei Männer aufrecht aneinander vorbei gehen konnten. Die Wände hatte man mit dunkelrotem Samt tapeziert, während sich auf dem Boden die gleichen schwarzweißen Fliesen fanden wie im Erdgeschoss. Die Holzverkleidung fehlte vollständig. An den Wänden fanden sich vergoldete Lampen mit roten Schirmen, die alles in ein warmes Licht tauchten. Auf beiden Seiten des Flurs gingen in regelmäßigen Abständen dunkelbraune Türen ab. Manche waren geöffnet, andere geschlossen. Vor jeder der Türen fand sich ein Hocker, ebenfalls aus dunklem Holz gefertigt. Auf den meisten saßen knapp bekleidete, junge Männer, keiner älter als dreißig, und warteten. Einige rauchten, andere zwinkerten Ryou zu, sobald sie ihn erblickt hatten. Manche wiederum beachteten sie erst gar nicht. Ganz am Ende des Ganges, vor der letzten Tür, saß Marik. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und betrachtete, mit einer Mischung aus Langeweile und Gleichgültigkeit, seine Fingernägel. Ryou und Jonouchi bemerkte er nicht. Ryou schnappte nach Luft. Mit aufgerissenen Augen taumelte er einen Schritt nach hinten, prallte schließlich gegen Jonouchi und wandte sich erschrocken um. „Was ist das hier?!“, flüsterte er heiser und packte den Blonden am Ärmel. Wenn er sich irgendwo jemals unwohl gefühlt hatte, dann hier. Aus den Augenwinkeln bemerkte Ryou einen großen, unscheinbaren Mann mit Hemd und Krawatte, der, ohne sie weiter zu beachten, an ihnen vorbei ging. Er hatte eine Glatze und trug eine Sonnenbrille, obschon die Verhältnisse hier keine erfordert hätten. Am Ende des Ganges, direkt vor Marik, blieb er stehen, nahm die Brille ab und beugte sich nach vorn, bis er Marik nah genug war, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Dabei legte er eine seiner Hände auf die Oberschenkel des braungebrannten Mannes, während auf Mariks Gesicht schließlich ein siegessicheres Schmunzeln erschien. Nur wenige Sekunden später glitt dieser von seinem Stuhl, griff den Unbekannten bei der Hand, und verschwand mit ihm durch die angrenzende Tür in den nächsten Raum. Ryou betrachtete alles mit offenem Mund, wandte sich schließlich wieder um und starrte Jonouchi aufgebracht an. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. „Wohin hat Bakura ich hier gebracht?!“ Der Blonde schmunzelte sanft, doch in seinen Augen standen Wut und Resignation. Er hob die Hand und legte sie Ryou sanft auf die Schulter, wo sie ihn mehrmals vorsichtig drückte. „Du würdest hier nicht arbeiten wollen“, war alles, was er auf Ryous Frage antwortete. Dabei klang seine Stimme leise, beinahe erstickt. „Bitte streng dich an.“ Er hatte geahnt, dass die Tätigkeiten, die man ihm hier zuteilte, kein glückliches Leben mit sich brachten, doch das, was er vor weniger als einer Stunde im ersten Stock gesehen hatte, hatte all seine Erwartungen übertroffen. Ryou war sprachlos und schockiert, mit der Situation absolut überfordert. Das war also, womit Marik sein Geld verdiente. Er verkaufte seinen Körper. Er verkaufte seinen Körper für Geld an Yakuza. Ryou konnte es nicht fassen. Allein der Gedanke daran jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken und sorgte dafür, dass das Tablett in seinen Händen zu zittern begann. War dies das Schicksal jener, die hier ihr Dasein fristen mussten? Ryou ahnte, dass er lediglich nicht dort oben arbeiten musste, weil Bakura ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte. Er begriff, dass dies jener geheimnisvolle Dialog gewesen war, den die beiden am Vortag in seiner Anwesenheit geführt hatten. Dass er hier an der Theke arbeiten durfte, war sein Privileg. Sein Gnadenbrot, weil er hier unverschuldet gelandet war. Trotz allem, oder aber gerade deswegen, fühlte er sich unwohl. Immer wieder hatte er sich die letzten Stunden gefragt, was Malik damit meinte, als er erwähnte, dass die Kunden ihn lieben würden. Nun verstand er. Permanent starrten sie ihn an. Kam er jemandem näher, so kniffen und berührten sie ihn ungefragt. Nur wenige Minuten zuvor hatte ihn einer der Männer am Arm gepackt und auf dessen Schoß gezwungen. Sie hatten in sein Gesicht gegriffen, ihn auf die Wange geküsst und ihm Dinge ins Ohr geflüstert, mit denen Ryou nichts zu tun haben wollte. Steif und stumm hatte er dort gesessen, bis sie ihn gehen ließen. Zum Abschied hatten sie ihm einen harten Klaps auf das Gesäß mitgegeben. Er hatte sich nach Bakura umgeschaut, ihn aber nirgends entdecken können. „Du siehst ziemlich mitgenommen aus.“ Jäh aus den Gedanken gerissen blickte Ryou auf. Er stand direkt vor der Theke, das Tablett, dass er, noch während er in Gedanken war, geistesabwesend geleert haben musste, so fest umklammert, dass die Gelenke seiner Finger farblos hervortraten. Jonouchi, der ein feuchtes Glas in der Hand hielt und es grob abtrocknete, warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu. Ryou erwiderte es schwach, und stellte das Tablett vorsichtig auf dem Tresen ab. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Ryou kellnerte, während Jonouchi sich hinter der Theke um alles weitere kümmerte. „Es ist nichts… Bloß…“ Ryous Stimme brach, und sein tapferes, künstlich aufgesetztes Lächeln verblasste. Er holte tief Luft, und unterdrückte die aufsteigenden Tränen der Müdigkeit und Überforderung, die sich ihren Weg nach draußen bahnen wollten. Gequält schloss er die Augen und ließ den Kopf sinken. „Du bist nicht freiwillig hier, oder?“, fragte Jonouchi mitfühlend und stellte das Glas zurück auf die Spüle. Seine haselnussbraunen Augen ruhten sanft auf Ryou. Dieser nickte zaghaft und strich sich eine der Strähnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten, zitternd zurück hinter das Ohr. Betroffen ließ Jonouchi den Blick sinken. „Hör zu“, begann er leise nach einigem Zögern und versuchte ein Lächeln. „Der erste Abend ist immer der härteste. Klingt abgedroschen, ist aber leider wahr. Ich weiß, wovon ich rede, ich bin seit über fünf Jahren hier.“ Er schenkte Ryou ein aufmunterndes Zwinkern. „Du glaubst gar nicht, wie viele Jungs seit meinem ersten Abend hier durchgerauscht sind. Dass sie dich nicht direkt nach oben geschickt haben, sagt schon einiges. Das ist ein gutes Zeichen.“ Langsam hob Ryou den Kopf und sah Jonouchi aus feuchten Augen an. „Meinst du?“, fragte er leise, die Stimme kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Der Blonde nickte, etwas eifriger, als es die Situation erfordert hätte. Dabei rutschten ihm einige Haarsträhnen ins Gesicht. Das Lächeln, nur zaghaft angedeutet, verwandelte sich in ein gewinnendes Grinsen. Plötzlich beugte er sich über die Theke, und legte Ryou fest die Hände auf die Schultern. „Glaub’ mir, so lange ich denen erzähle, dass ich dich einfach nicht entbehren kann, weil ich hier sonst in Arbeit ersticke, wird dir schon nichts passieren. Aber hör mal - “ Er beugte sich noch ein Stück weiter nach vorn, so, dass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Für einige Sekunden starrten sie einander an, Jonouchis Gesicht plötzlich todernst. „Halte dich von Bakura fern.“ Mit diesen Worten ließ er ihn los, und richtete sich so schnell auf, wie Ryou es kaum zuvor bei jemandem gesehen hatte. Jonouchi nahm ein weiteres Glas von der Spüle und begann, es abzutrocknen. Ryou verstand nicht genau, warum der Andere derartige Dinge sagte und legte fragend den Kopf schief. Bisher schien es ihm, als hätte gerade Bakura verhindert, dass ihm schlimmeres widerfahren war.  „Was ist mit ihm?“ Ryou beugte sich über die Theke und angelte vorsichtig einige der frisch gezapften Getränke von dem Metallgitter, auf das Jonouchi sie gestellt hatte. Anschließend platzierte Ryou sie vorsichtig auf dem Tablett. Der Blonde zuckte mit den Schultern, als fehlten ihm die passenden Worte. „Bakura ist so etwas wie Maliks Wachhund. Er gehört nicht zu uns, genauso wenig, wie er Malik gleichgestellt ist.“ Er stellte das abgetrocknete Glas ab, ging zum Zapfhahn rüber und begann, einige Gläser mit Bier zu füllen. „Er hängt irgendwo in der Mitte, und ich sage dir, dieser Kerl hat unfassbar viel Dreck am Stecken. Wo er rumhängt, da ist der Ärger nicht weit, glaub’ mir.“ Ryou nickte, nachdem er Jonouchis Worten aufmerksam gelauscht hatte und versuchte ein Lächeln. Es war das erste Mal seit Tagen, dass man ihm zugehört, oder gar versucht hatte, zu helfen. Ein warmes Gefühl breitete sich in seinem Brustkorb aus, so fragil, dass Ryou sich kaum daran erinnern konnte, es zuvor einmal empfunden zu haben. „Danke, Jonouchi“, murmelte er, gerade so laut, dass der Andere ihn hören konnte. Dann nahm Ryou das Tablett und verschwand wortlos in der Menge. Es war schon zwei Uhr, als Ryou zum ersten Mal bewusst auf die Uhr blickte. Seit Stunden war er auf den Beinen. Seine Füße schmerzten, und seine Augen brannten von Zigarettenrauch und Müdigkeit. Ein dünner Schweißfilm hatte sich über sein bleiches Gesicht gelegt, die Wangen glänzten rosa. Noch immer betraten Stunde um Stunde neue Gäste diesen Ort, eine Quelle, die nie zu versiegen schien, und redeten, tranken und verbrauchten den wenigen Sauerstoff, der diesem Raum noch geblieben war. Mit ihrer zusätzlichen Körperwärme stieg die Hitze ins Unermessliche. Ryou seufzte und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, auf dem sein Pony in feuchten Strähnen klebte. Dabei glitt sein Blick gedankenverloren über die schwarz gekleideten Menschenmassen. Nach wie vor versuchte er, den heimlichen Berührungen und dummen Sprüchen zu entgehen, die ihm begegneten, wann immer er Getränke an die unzähligen Tische brachte. Mittlerweile schimmerten einige Stellen an seinem Körper rot und brannten - manche Männer konnten es sich nicht nehmen lassen, ihn zu zwicken, wenn er vor ihnen stand. Dass ihnen der Sabber nicht ins Bier tropfte, war alles. Hatte Bakura nicht gedroht, er würde ein Auge auf ihn haben? Seit er Ryou bei Jonouchi zurückgelassen hatte, hatte Ryou ihn nicht mehr gesehen. Stumm stellte er das leere, von Kondenswasser und Getränkeresten feuchte Tablett auf der Theke ab, und trocknete seine Hände an der dunkelroten Schürze, die Jonouchi ihm einige Stunden zuvor in die Hand gedrückt hatte. Bei ihm wirkte alles so leicht und unbefangen. Wann immer Ryou zu ihm hinüberblickte, plauderte er mit den Gästen, scherzte und lachte. Während er Bier zapfte und Snacks verteilte, wich das breite Grinsen, dass er mit sich herumtrug, nie aus seinem Gesicht. Gelegentlich, wenn er etwas besonders komisch fand, hallte Jonouchis helles, offenherziges Lachen durch den Schankraum, und übertönte alle laufenden Gespräche. Es wirkte unwirklich. Er schien das warme, strahlende Licht innerhalb dieses dunklen Ortes zu sein, um das sich all jene, die am Abgrund wandelten, hoffnungsvoll versammelten. „He, was ist los?“ Es brauchte einige Sekunden, bis Ryou bemerkte, dass man mit ihm sprach. Irritiert hob er den Kopf, die Stirn in Falten gelegt. Jonouchi, dem das lange, blonde Haar verschwitzt ins Gesicht hing, hatte sich mit einem amüsierten Schmunzeln über die Theke gebeugt, und betrachtete ihn nun aus aufgeweckten, dunklen Augen. In der Hand hielt er ein bis zum Rand mit Cola gefülltes Glas, in dem still einige Eiswürfel schwammen. „Du wirst doch nicht etwa schon schlapp machen, oder?“, grinste er und überreichte Ryou das Getränk. „Wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen.“ Ryou, der bereits seit Stunden das Bett herbeisehnte, stöhnte ungläubig, nahm das Glas an sich und trank es in einem Zug halb leer. Dankbar nickte er Jonouchi zu, und stellte es zurück auf den Tisch. Die neu eintreffenden Gäste fanden kaum noch Sitzplätze vor, so überfüllt und laut war es inzwischen geworden. Manche standen bereits, hielten Gläser mit Bier in den Händen und unterhielten sich lautstark. Der Zigarettendunst hatte sich so verdichtet, dass er als wahrnehmbarer Nebel lautlos über ihren Köpfen schwebte. „Wenn mich noch einer anfasst, haue ich ihm eine runter“, murmelte Ryou genervt und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Den Schock, den er Stunden zuvor erlitten hatte, hatte er inzwischen etwas verdauen können. „Was für Mistkerle. Für wen halten die sich?!“ Jonouchi, dessen Schmunzeln augenblicklich breiter wurde, zwinkerte ihm gut gelaunt zu. „Immer mit der Ruhe. Früher oder später wirst du den Reiz des neuen schon verlieren. Dann lassen sie dich in Frieden.“ Ryou nickte und verzog missmutig die Lippen, ehe er Jonouchis Grinsen tapfer mit einem Lächeln erwiderte. Aus dem Nichts legte jemand den Arm um ihn, und drückte ihn sanft. „Na mein Lieber? Gefällt es dir hier unten?“ Ryou fuhr zusammen und wandte sich um. Diese Stimme, dieses Parfum, beides erkannte er sofort. Neben ihm stand Marik, und schenkte ihm ein kokettes Grinsen. Genau wie Ryou, so hatte auch er sich einige Stunden zuvor umgezogen. Seine Arbeitskleidung bestand aus einer knapp geschnittenen Weste aus weißem Plüsch, dunkelbraunen Hotpants aus echtem Leder und gleichfarbigen Boots aus dem gleichen Material, die ihm bis knapp über die Knöchel reichten. Er drückte Ryou noch einmal an sich, schenkte ihm ein kurzes Lächeln, dann wandte er sich an Jonouchi. „Stellt er sich gut an?“ „Selten einen talentierteren Kellner gesehen“, antwortete der Blonde überschwänglich, während er ein weiteres Bier zapfte, und lachte zugleich. Ryou lächelte tapfer, als er sah, dass Marik sogleich in dieses Lachen einstieg, und spürte, wie sein Herz schwerer wurde. Jonouchi grinste noch immer, als er das Getränk auf der Theke abstellte und Marik einen nur halb ernst gemeinten, spöttischen Blick zuwarf. „Ich hatte schon gehofft, ihr lasst euch heute gar nicht mehr blicken.“ Marik lachte, dann zog er einen freien Barhocker zu sich heran und nahm Platz. Dabei fuhr er sich mit den beringten Fingern der linken Hand durch das blondierte, stufige Haar. „Ach Herzchen“, murmelte er süß und stützte sich mit den Ellenbogen auf dem dunklen Thekenholz ab. „Wie könnten wir auch nur einen Abend überstehen, ohne dich zu besuchen, hm?“ Sein Lächeln wurde breiter, dann wandte er sich um und winkte jemanden herbei. Überrascht hielt Ryou inne, als er bemerkte, wie jemand an ihm vorbei ging, in langsamen, wackligen Schritten, und sich neben Marik hinsetzte. Es war Yuugi. Ryou stockte regelrecht der Atem, als er ihn sah. Er trug kaum etwas am Leib. Eine Weste und Shorts, beide sehr kurz und eng geschnitten, beide aus einem schwarzen, glänzenden Material, dass Ryou nicht kannte. An seiner Kehle funkelte ein Halsband aus Leder, an dessen Mitte ein großer Ring aus Stahl baumelte. An den Füßen, die unverhältnismäßig klein wirkten, fanden sich ein paar geschnürter Boots aus gleichem Material. Die bunt gefärbten Haare hatte er mit etwas Haargel zurück gekämmt, hier und dort jedoch standen einzelne Strähnen widerspenstig ab. Erst jetzt, da Ryou ihn halbnackt vor sich sah, bemerkte er, wie mager Yuugi war. Die Haut, durchscheinend und hauchzart, spannte sich wie Seide um die einzelnen Knochen und wirkte, als müsse sie jeden Moment reissen. Dunkle, stümperhaft überschminkte Schatten lagen unter einem Paar abwesender, violetter Augen. Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben, legte sich, einem Schleier gleich, über jede seiner Bewegungen. An den Oberarmen entdeckte Ryou blaue Flecken, die von ihrem ersten Treffen am Vortag stammen mussten. Yuugi trug ein schwaches, beinahe zerbrechliches Lächeln auf den Lippen, und hatte einen Blick, so entrückt, als schlafe er noch. Auf Mariks Aufforderung hin nahm er stumm Platz, und nickte Jonouchi, der Yuugi schon die ganze Zeit schweigend angestarrt hatte, freundschaftlich zu. Langsam trat Ryou näher an sie heran. Er war sich nicht sicher, wie er mit der Situation umgehen sollte, und fühlte sich als Aussenstehender. Achtsam, darauf bedacht, nicht anzuecken, setzte er sich neben Marik, und erntete von diesem dafür ein kurzes, aber anerkennendes Zwinkern. „Es ist Zeit für ihn, Jonouchi“, sagte Marik schließlich mit einem leichten, heiteren Singen in der Stimme, nachdem sie dem blonden Mann einige Sekunden lang beim Arbeiten zugesehen hatten. Marik griff, kaum, dass er geendet hatte, in die Hosentasche und legte kurz darauf ein schmales, silbernes Etui mit Prägung auf die Theke, aus dem er eine selbstgerechte Zigarette nahm. Verwundert runzelte Ryou die Stirn. Das Etui sah Bakuras nicht unähnlich. „Was sagt der Boss dazu?“, antwortete Jonouchi kurz angebunden, dessen Gesichtsausdruck abkühlte. Marik hatte inzwischen die Zigarette angezündet, nahm einen Zug und zögerte mit der Antwort, bis er den Rauch wieder ausgestoßen hatte. Dabei starrte Ryou ihn mit großen Augen an. Jemandem wie Marik war er bisher noch nicht begegnet. Und auch, wenn dieser Ort das Spielzimmer merkwürdiger Charaktere und gesellschaftlicher Außenseiter war, so stach Marik noch einmal aus der Masse all jener hervor. Da war diese subtile, feminine Aura, die er bei allem, was er tat, ausstrahlte, die Ryou so bislang noch bei niemandem wahrgenommen hatte, und die ihm etwas warmes, mütterliches gab. Marik war schön, ohne dümmlich zu wirken, etwas, dass man in jenen Tagen nicht oft zu finden vermochte. Gut gelaunt und entspannt saß er zwischen ihnen, die Ellenbogen auf der Tischplatte abgestützt, hin und wieder einen Zug von der Zigarette nehmend, die ansonsten unscheinbar zwischen seinen schlanken, gepflegten Fingern abbrannte. Als Ryou ihn betrachtete, spürte er förmlich, wie sein Herzschlag an Schnelligkeit und Intensität zunahm. Marik wirkte so makellos, so exotisch, so freundlich und hell, dass Ryou, nur für einen Moment, sicherlich alles gegeben hätte, um diese braungebrannte, ebenmäßige Haut mit seinen Fingern berühren zu dürfen. Irgendwo, tief in seinem Herzen, verstand er, was Männer dazu veranlasste, Geld zu bezahlen, damit sie, wenn auch nur für kurze Zeit, eins mit ihm werden durften. Zugegeben hätte er es nie. „Der ist d’accord“, antwortete Marik knapp und riss Ryou jäh aus seinen Gedanken. Dabei warf er Yuugi aus den Augenwinkeln einen flüchtigen Blick zu, und strich ihm schließlich fast fürsorglich mit den Fingerspitzen über den Rücken. Jonouchi zögerte für einen Moment, sichtlich nicht begeistert von dem, was nun kommen würde. Nach einigen Sekunden widerwilligen Innehaltend stöhnte er genervt, warf das Spültuch, dass über seiner Schulter gelegen hatte, lustlos auf die Theke, und verschwand im Nebenraum, in dem sich das Lager befand. Wenige Sekunden später kam er zurück. In der Hand hielt er eine milchig weiße Flasche aus Plastik, in der eine künstlich grün leuchtende Flüssigkeit schwappte. Angewidert verzog Ryou das Gesicht und beugte sich ein wenig vor. Dieses - wenn man es so nennen mochte - Getränk wirkte künstlich, giftig, nicht wie etwas, dass man zu sich nehmen sollte. Es hatte die Farbe jener scharfen, chemischen Reiniger, mit der seine Mutter früher das Haus geputzt hatte. Stumm ließ Ryou die Augen zwischen den beiden Neuankömmlingen umher gleiten, ehe er den Kopf gedankenverloren sinken ließ, und still einen großen Schluck Cola nahm. Der plötzliche Umschwung in Jonouchis Stimmung, als auch Mariks offensichtliche Ungerührtheit diesbezüglich, hatten ihn verunsichert. Ab und an warf er Marik einen schüchtern Blick zu, starrte dann jedoch wieder auf die Tischplatte, unschlüssig, wie er sich am besten in diese verwirrende Figurenkonstellation einfügen sollte. Als Ryou das nächste Mal aufsah, hatte Jonouchi die grüne Flüssigkeit bereits umgefüllt. In Form eines großen Schnapsglases stand dieses nun vor Yuugi, und schwappte dünnflüssig umher. Im Schein der Schwarzlichtlampen fluoreszierten dort zarte Schlieren grellen Gelbs, die sich hauchdünn durch das giftige Grün des Getränks zogen. Augenblicklich erfüllte ein stechender, beißender Geruch die Luft, und Jonouchi, der bis vor wenigen Minuten gut gelaunt und entspannt gewirkt hatte, betrachtete Yuugi nun aus kalten, fast traurigen Augen. Yuugi, dem dies nicht aufzufallen schien, nahm das Glas an sich und stürzte den Inhalt binnen eines Augenblicks hinunter. Dabei bleib sein Gesicht vollkommen regungslos.  Nachdem er getrunken hatte, seufzte er erleichtert und wischte sich verbliebene, leicht grünliche Reste mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Anschließend stellte er das Glas zurück auf den Tisch, welches, kaum, dass dessen Boden die Theke berührt hatte, von Jonouchi ungeahnt heftig fortgenommen und mit angewiderter Miene in einem gesonderten Becken abgespült wurde. Während Ryou Jonouchi betrachtete, spürte er, wie sich alles in ihm zusammenzog. Auch der letzte Funke Freundlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen, so, dass er mit einem Mal um Jahre gealtert wirkte. Er vermied es, sie weiter anzusehen, wandte sich wortlos ab und zapfte, einige Meter entfernt, stumm ein Bier nach dem anderen, derart unachtsam, dass ihm der Schaum schon nach kurzer Zeit über die Finger rann. Wieder einmal ließ Ryou schweigend den Blick zwischen ihnen umherwandern, ehe ein leises, kaum hörbares Seufzen über seine Lippen drang. Die Anspannung, welche mit einem Mal zwischen ihnen in der Luft hing, war beinahe mit bloßen Händen zu greifen. „Was ist denn mit den beiden los?“, fragte er auf einmal, und blickte Marik schüchtern an. Dabei fuhr er mit den Fingerspitzen immer wieder nachdenklich über das dunkle, feuchte Holz der Theke. „Sie sind so feindselig…“ Marik zögerte, musterte Ryou kurz und schnaubte anschließend amüsiert auf, ehe er einen letzten Zug nahm und die Zigarette in einem der Aschenbecher ausdrückte. „Das sind sie nicht“, antwortete er ruhig, und sah Ryou derart unverwandt an, dass dieser nach kurzer Zeit verlegen den Blick sinken ließ. Dabei rutschten ihm einige der frei gewordenen, weißen Haarsträhnen ins Gesicht. Gedankenverloren strich Ryou sie zur Seite, dann sah er auf. Mariks Tonfall war freundlich gewesen, und doch verströmten seine Augen jene Melancholie, die ihnen bereits innegewohnt hatte, als Ryou Maliks Büro zum ersten Mal betreten hatte. „Weiß du“, murmelte dieser und zwinkerte Ryou aufmunternd zu, ehe er die Ellenbogen auf der Theke abstützte und das Gesicht in seine Hände schmiegte. Er starrte einige Momente gedankenverloren in die Luft, als suche er nach Worten, schüttelte schließlich jedoch den Kopf. „Die beiden kennen sich schon lange. Sehr lange. Sie haben viel zusammen erlebt.“ Marik hielt inne. „Vielleicht zu viel.“ Er holte tief Luft und fuhr sich mit den Fingern durch das helle, feine Haar. Immer noch hing ein dünnes Schmunzeln auf seinen Lippen. „Am besten gewöhnst du dich daran. Es ist jeden Abend das Gleiche mit den beiden.“ Stumm ließ er die Augen über Ryous Gesicht gleiten, und öffnete, nachdem er kurze Zeit mit sich gerungen hatte, ein weiteres Mal den Mund, wurde jedoch von Jonouchi unterbrochen. „Müsst ihr nicht wieder zurück?“, fragte dieser grob und stellte, ohne Ryou auch nur eines Blickes zu würdigen, ein mit Biergläsern vollgestelltes Tablett vor ihm ab. „So voll, wie der Schuppen heute ist, muss bei euch da oben doch die Hölle los sein. Die ganzen besoffenen Angestellten hier können es sicher kaum erwarten, ihr hart erarbeitetes Geld für dich aus dem Fenster zu werfen, Marik.“ Marik lachte laut auf. Er kniff Jonouchi, ungeachtet dessen schlechter Laune, freundschaftlich in den Oberarm, ehe er mit seinen künstlichen Fingernägeln gut gelaunt auf dem Tresen zu trommeln begann. „Mach dir um mich mal keine Sorgen, Jonouchi, hörst du?“ Ryou konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Im Gegensatz zu Yuugi schien Marik die Arbeit an diesem Ort nichts auszumachen. Mit seiner lockeren, koketten Art konnte er, wenn er auch nur mit den Fingern schnippte, sicherlich haben, was immer er wollte. Nur Bakura, schoss es ihm durch den Kopf, schien von Mariks Art nicht angetan zu sein. Und doch besaßen sie das gleiche Zigarettenetui. Ryou schnappte nach Luft, als er einen spitzen Stich bemerkte, der sich für einen Moment in seine Magengrube gebohrt hatte. Verblüfft legte er die flache Hand auf jene Stelle, und betrachtete Marik, der sich mit Jonouchi unterhielt, nachdenklich. Marik verkörperte alles, was Ryou nicht war - und, wenn er ehrlich war, auch nicht sein wollte. Dennoch verspürte er so etwas wie Neid in sich aufsteigen. Verwirrt fragte er sich, warum. „Es ist schon halb drei durch.“ Jonouchi warf einen Blick auf eine kleine, lederne Armbanduhr, die er so befestigt hatte, dass er auf seinen Puls schauen musste, um sie zu lesen, und hob kritisch die Augenbrauen. „Du weißt, der Boss sieht’s nicht gerne, wenn ihr hier länger rumhängt, als unbedingt nötig.“ „Ja, du hast Recht.“ Marik nickte und streckte sich kurz, so, als habe diese kurze Pause all jene Müdigkeit in ihm zum Vorschein gebracht, die sonst leicht durch Arbeit zu überdecken war. Dabei beugte er sich ein wenig nach links, wo Yuugi immer noch unbewegt auf dem hölzernen Barhocker saß. „Bist du fertig, Yuugi?“ Der Angesprochene nickte schwach, ein dünnes, seliges Lächeln auf den Lippen. Erst, als Marik aufgestanden war, glitt auch er vom Stuhl. Er sah kurz zu Ryou herüber, der, kaum, dass er Yuugis Blick erwidert hatte, vor Überraschung in seiner Bewegung innehielt. Er wirkte frisch und ausgeschlafen. Die Schatten unter seinen Augen waren verschwunden, und seine Wangen zierte ein zartes, gesundes Rosa. Freundliche, wache Augen ruhten auf Ryou, der ein kurzes, schüchternes Grinsen erntete, nachdem er Yuugi zaghaft zugenickt hatte. Wie konnte das sein? Noch ehe er den Mund zum Abschied öffnen konnte, legte Marik einen Arm um Ryous Schultern und zog diesen, kurz, aber kräftig, an seine Brust. Sofort stieg Ryou der Geruch von Patchouli in die Nase. „Also dann“, grinste Marik, nachdem er Ryou wieder losgelassen hatte. „Glaub’ mir, am Anfang denkt man, man könne sich an all das hier nie gewöhnen, aber es geht schneller vorbei, als du jetzt denkst.“ Er zwinkerte kurz und vielsagend. „Wer weiß, vielleicht leistest du uns da oben bald einmal Gesellschaft?“ Ryou, der im Begriff war, das Tablett vom Tresen zu nehmen, hätte es um ein Haar fallen lassen. Verlegen schnappte er nach Luft, und sein Gesicht lief kirschrot an. „Ja, vielleicht“, stotterte er höflich, als er sich wieder gefangen hatte, und ließ beschämt den Kopf sinken. Seine Wangen fühlten sich heiß an, und glänzten rosig im fahlen Licht der zahlreichen Lampen. Im Hintergrund erklang Mariks glockenhelles Lachen. „Wie schüchtern er ist, Yuugi!“ Er klopfte Ryou noch einmal auf die Schulter, dann ließ er ihn vollständig los. Anschließend wandten sie sich zum Gehen. „Füll’ mir ja die Gäste gut ab!“, rief Marik bereits aus einigen Metern Entfernung. Dann verschluckten sie die Menschenmassen. Gedankenverloren blickte Ryou ihnen noch einige Sekunden nach, und zuckte zusammen, als Jonouchi lautstark ein zweites, mit Gläsern zugestelltes Tablett neben ihm abstellte. Er hatte sich wieder gefasst, das Gesicht einer Maske gleich, aus der ein Paar brauner Augen trübe auf das goldglänzende Bier starrten, welches er  für die nächste Runde zapfte. Stumm nahm Ryou das Tablett an sich und betrachtete den blond gefärbten, jungen Japaner schweigend. Es war bemerkenswert, wie sich die Ausstrahlung eines Menschen in so kurzer Zeit ändern konnte. Gerne hätte er gewusst, welche Verbindung zwischen den dreien bestand. Sie wirkten, als kannten sie sich seit Jahren - und doch schien es ihm, als schwebten viele nicht ausgesprochene Dinge in der Luft. Irgendwann, es waren kaum noch Gäste da, bemerkte Ryou bei einem flüchtigen Blick aus einem der wenigen, bunt verglasten Fenster, wie sich das tiefe Schwarz der Nacht allmählich aufhellte. „Jonouchi.“ Vorsichtig stellte Ryou das feuchte Tablett zurück auf den Tresen, und stützte sich, nachdem er die Hände an seiner Schürze abgewischt hatte, mit den Unterarmen auf dem dunklen Holz ab. Er so war müde, dass er kaum noch stehen konnte. Seine Füße brannten, seine Lendenwirbelsäule schmerzte und die Schultern waren hart und verspannt. Jonouchi, der, gedankenverloren, bereits die Einnahmen durchzählte, blickte überrascht auf. Kaum, dass er Ryou wahrgenommen hatte, schlug er sich mit der flachen Hand an den Kopf, woraufhin einige Münzen zwischen seinen Fingern hervor kullerten und zu Boden fielen. „Verdammt. Ryou, jetzt muss ich wieder von vorne anfangen.“ Verlegen biss Ryou sich auf die Unterlippe, und trat näher an den Anderen heran. „Entschuldige bitte. Jonouchi, brauchst du mich noch? Die Sonne geht auf. Ich hatte gehofft, ich könnte vielleicht hoch aufs Dach, bevor ich schlafen gehe…“ Der blonde, junge Mann, der die vergangenen Stunden kaum das Gesicht verzogen hatte, schmunzelte auf einmal und senkte den Blick. Dabei bildeten sich um seine Mundwinkel einige schwache Grübchen, die sich sanft in die feine, glatt rasierte Haut gruben. „Einen Blick auf den Sonnenaufgang werfen?“, fragte er schelmisch, und legte Ryou bedeutungsschwer die Hand auf die Schulter.  Ryou nickte schwach. „So etwas sieht man ja nicht so oft…“ Jonouchi lachte trocken. „Das wirst du noch oft genug, wenn du hier arbeitest“, schmunzelte er und zog einen kleinen Lederbeutel hervor, in das er schweigend das säuberlich gestapelte Geld schob. Er verschloss ihn sorgfältig und stopfte ihn in seine Hosentaschen. Dann hob er den Kopf, und tat empört, Ryou noch in seiner Nähe vorzufinden. „Na los, ab mir dir.“ Sofort hellte sich Ryous Gesicht auf. Schnell löste er den Knoten der Schürze und warf sie über die Theke. Mehr schlecht als recht fing der Andere sie auf. „Danke Jonouchi!“, rief Ryou noch, ehe er sich umwandte und den Schankraum in Richtung Treppenhaus verließ, vorbei an den Strichern und Trunkenbolden, hinaus in das kühle Grau des hereinbrechenden Morgens. Die erste Nacht war geschafft. So weit so gut. Da war ein unsäglicher Druck in seiner Brust, ja. Trotzdem schlug ihm das Herz bis zum Hals. Kapitel 7: Bakura. Erster Teil ------------------------------ „I don't want to be your friend I just want to be your lover No matter how it ends No matter how it starts Forget about your house of cards And I'll do mine Fall off the table, Get swept under Denial, denial“ Radiohead - House of Cards Er atmete tief durch und schloss für die Augen, ehe er sich mit den Fingern der rechten Hand über die Stirn rieb. Er würde ihn umbringen. Irgendwann, wenn der Chef einmal nicht da war, oder wenn sie einander in einer dunklen Ecke begegneten. Dieser Kerl machte ihn wahnsinnig. Und wenn der Typ jetzt nicht aufpasste, würde er die Beherrschung verlieren. Der Zorn lauerte stets an der nächsten Ecke. Bakura öffnete die Augen, beugte sich über die Theke, und verzog das Gesicht. Das lackierte Holz war jetzt schon matt und klebrig. Anscheinend hatte es Jonouchi am Vorabend mit dem Putzen wieder nicht so genau genommen. Er würde sich jetzt umziehen können. Auf dem gestärkten, weißen Hemd prangte ein brauner, feuchter Fleck. Genervt versenkte er etwas Asche im Aschenbecher, und versuchte, das Rauschen von Blut in seinen Ohren zu ignorieren, welches umso lauter dröhnte, je schneller sein Herz schlug. „Du sollst nicht fragen, sondern arbeiten.“ Er hatte die Zähne fest zusammen gepresst und betrachtete den blonden Barkeeper, der zwei Meter von ihm entfernt am Getränkeschrank lehnte, voll Abscheu. Er hasste diese Begriffsstutzigkeit, die dem Anderen innewohnte, seit sie sich zum ersten Mal begegnet waren; dieses hartnäckige Nichtverstehen der Betriebshierarchie. Diese war eindeutig, und selbst für Anfänger leicht zu durchschauen. Er, Bakura, stand oben. Alle anderen darunter. Nur Malik - der stand ganz woanders. Stumm nahm er einen Zug von der Zigarette, die, wie sonst auch, zwischen den Fingern seiner rechten Hand abbrannte. Sein Herz raste, und in seiner Brust zog sich alles zusammen. Nicht mehr lange, und erste Schweißperlen würden auf seiner Stirn erscheinen. Dies galt es zu vermeiden. „Ryou bleibt hier bei dir. Zeig ihm alles. Zeig ihm auch die Hinterzimmer.“ Ein selbstgefälliges Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Er soll ruhig wissen, was ihm blüht, wenn er’s verbockt.“ Mit diesen Worten drückte er die Zigarette, die, wie so oft, viel zu schnell zur Neige gegangen war, aus, und richtete sich auf. Dabei hob er den Arm und deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Blonden, der mit verschränkten Armen auf der anderen Seite der Theke stand und ihn gleichermaßen feindselig anstarrte. Wenn die Kunden seine saloppe Art nicht so lieben würden, er hätte ihn längst zurück auf die Straße getreten. Dorthin, wo dieser verdammte Hund hingehörte. „Ich hab ein Auge auf dich, Jonouchi.“ Bakura wandte sich ab, und legte Ryou, der die ganze Zeit hinter ihm gestanden hatte, eine Hand auf die Schulter. Der Junge, offensichtlich durcheinander von den Geschehnissen der vergangenen Tage, hatte, zu Bakuras Überraschung, dicht gedrängt, fast schutzsuchend, hinter ihm gestanden. Ryou, dessen Blick geistesabwesend wirkte, zuckte zusammen, als Bakura ihn berührte, und hob den Kopf. Dabei rutschten einige Haarsträhnen zur Seite und entblößten ein schmales, fein moduliertes Gesicht. „Auf dich auch“, murmelte Bakura, gerade so laut, dass der Andere ihn hören konnte. Dabei glitten seine Augen über das Antlitz des Jungen. Er wirkte wie eine Puppe, mit seiner schneeweißen und porzellanglatten Haut, und einer Statur, so fragil, dass Bakura im Lagerraum gefürchtet hatte, ihm versehentlich die Knochen zu brechen. Ein Paar rehbrauner Augen blickten ihn verschreckt an. Sie hatten seit jenem Abend, als er ihn geholt hatte, ihren Glanz eingebüßt, aber diese sanfte Wärme beibehalten. Ryous Blick war trotz allem, was in den vergangenen achtundvierzig Stunden geschehen war, achtsam, und zeugte von einer bemerkenswerten Intelligenz, etwas, was Bakura hier nur selten begegnet war. Der Junge faszinierte ihn. Bakura erwiderte Ryous Blick, bis er es nicht länger ertrug und wandte sch ab. Sodann machte er sich durch die anzugtragende Masse hindurch auf den Weg in Maliks Büro. Der Chef wollte ihn sprechen, warum, das hatte er nicht gesagt. Bakura, groß gewachsen und von einer beachtlichen Statur, brauchte nicht drängeln, denn die Menschen kannten ihn und wussten, was gut für sie war. Wortlos machten sie ihm Platz. Mit einem leisen Klicken glitt die Tür hinter ihm ins Schloss. Sämtliche Geräusche, die von außen in den gekachelten Raum gedrungen waren, erstarben sofort. Ein Seufzen drang über die Lippen des hellhaarigen Mannes, ehe dieser sich gegen das schwarz lackierte Metall der Eisentür lehnte. Binnen Sekunden hatte sich ihre Kehle in seine Haut gefressen, doch er störte sich nicht daran. Er schloss die Augen und verharrte regungslos. Lediglich seine Brust hob und senkte sich unter tiefen, regelmäßigen Atemzügen. Als sein Herzschlag sich beruhigt hatte, löste er den Kopf von der Tür. Kein Laut drang von draußen herein. Bakura schätzte die Ruhe, die man an diesem Ort lediglich in diesem kleinen, sterilen Büro fand. Wenn er das permanente Hintergrundrauschen nicht mehr ertrug, kam er hierher. Gedankenverloren fuhr er sich mit den Fingern durch das lange, weiße Haar, ehe er den Blick durch den Raum gleiten ließ. Er fand nicht, wonach er suchte, seufzte genervt und verschränkte die Arme vor der Brust. Malik war nicht da, obschon dieser vor kaum einer halben Stunde explizit nach ihm verlangt hatte. Lediglich einige auf dem Schreibtisch verstreute Papiere und ein nicht ganz ausgetrunkenes Whiskeyglas zeugten davon, dass der Chef vor kurzer Zeit hier gewesen sein musste. Das ähnelte ihm. Dieser Kerl tat, was ihm in den Sinn kam, und scherte sich einen Dreck um die Interessen anderer. Bakura war das nur recht - er hatte sei Tagen keinen ruhigen Moment mehr gehabt. Diese Sache im Park hatte für einigen Ärger gesorgt, und Malik war, das wusste Bakura, nach wie vor stinksauer auf ihn. Wer den Chef verärgerte, der bekam die Drecksarbeit. So war das all die Jahre gewesen, und würde sich wohl nie ändern. Mit einem tiefen Atemzug löste Bakura sich von der Tür, und schlenderte in die Mitte des Raumes. Dabei griff er in die Hosentasche und zog ein schmales Zigarettenetui hervor. Nachdenklich drehte er es zwischen den Fingern und betrachtete, aus einer Gewohnheit heraus, die feine Gravur, die sich verschnörkelt über die Oberfläche zog. Die Box war aus echtem Silber. Marik hatte sie ihm geschenkt, vor etwa einem Jahr. Er besaß die selbe, das Gegenstück. Zusammen bildeten sie ein Unikat. Auf eine merkwürdige, unkonventionelle Art liebte Marik ihn, das wusste er. Sie kannten einander lange und zu gut, als dass ihm das verborgen geblieben wäre. Dies zu wissen, war tröstlich und doch seltsam unbefriedigend, zumal er die Menschen, die er kannte, lieber auf Distanz wusste. Und doch - obschon er diese Gefühle nicht erwiderte, hatte er sich ihnen doch ausgeliefert. Marik hatte eine verruchte, laszive Art, bei allem, was er tat, über die er irgendwann nicht länger hatte hinweg sehen können. Er gestand sich dies nur ungern ein - aber dieser Stricher hatte sich in seinen Kopf geschlichen und wütete dort nun, da er sein Ziel erreicht hatte, ungestört vor sich hin. Es ging bereits zu lange so. Schweigend nahm er eine Zigarette aus der kleinen Silberbox heraus, schob sie zwischen seine Lippen und zündete sie an. Er wusste, dass er zu viel rauchte. Zwischen zwei Zigaretten vergingen kaum zehn Minuten und ein Päckchen begleitete ihn keinen Tag. Inzwischen drehte er selbst. Das hielt seine Finger beschäftigt, und hielt die Gedanken klar. Es wäre das Beste für ihn, aufzuhören, aber er war bequem und hatte sich über die vergangenen Jahre zu sehr daran gewöhnt, um dieses Verhalten einfach abzustellen. Die Zigaretten waren der Fixpunkt in seinem Alltag und brachten ihn auf den Boden der Tatsachen, wenn er sonst den Halt verlor. Er nahm einen Zug, sog die Luft in die letzten Winkel seiner Lunge und blickte sich um, ehe er den Qualm in Richtung Zimmerdecke blies. Seit zehn Jahren arbeitete er hier. Das klang nach mehr, als es war, und es erschien ihm unbegreiflich, wie die Zeit so zwischen seinen Fingern versickert sein konnte. Seit er hier angefangen hatte, hatte sich nichts verärgert. Selbst das Mobiliar, dass er damals zusammen mit Malik hereingetragen hatte, war das gleiche. Das hier, dieser Ort, war alles, was er kannte und über die Jahre gegen seinen Willen zu einer Art Zuhause geworden. Bakura kannte die Spielregeln, die hier herrschten und hielt sich daran. Zu seinem Glück spielte er gut. Es hatte dazu geführt, dass er in der Hierarchie weit genug oben stand, um nicht von Tag zu Tag leben zu müssen, aber doch ausreichend Abstand zur Chefposition hatte, um im Fall einer Razzia irgendwie unbeschadet aus der Sache herauskommen zu können. Er schlenderte hinüber zu dem roten, abgewetzten Ledersofa und nahm Platz. Anschließend klemmte er die Zigarette zwischen seine Lippen und öffnete vorsichtig die Manschetten seines linken Hemdsärmels. Achtsam, mit der Gelassenheit einer Person, die wusste, was ihn erwartete, schlug er den Stoff zurück und ließ den Arm sinken, den Blick dabei auf die weiße, straffe Haut gerichtet. Von der Mitte seines Oberarmes erstreckte sich eine dreißig Zentimeter lange Narbe über den Ellenbogen hinweg bis zum oberen Drittel seines Unterarmes. Sie war alt und verblasst; das grelle Pink, dass sie einst gehabt hatte, war mittlerweile so blass wie die umliegende Haut und doch erkannte man deutlich ihre ursprünglichen Konturen. Selbst die Einstichstellen, durch die man damals die Fäden gezogen hatte, waren zu sehen. Nachdenklich ließ er den Blick über die Wunde gleiten, ehe er sie sachte mit den Fingerspitzen berührte, und vorsichtig darüber strich. Er konnte nicht fassen, wie lange das alles zurück lag - und doch hatten sich jene Bilder so fest in sein Gedächtnis gebrannt, dass kaum eine nAcht verging, in der er nicht in das alte, zugige Haus zurückkehrte, in dem er einst mit seiner Mutter gelebt hatte Diese Narbe, und all die Erinnerungen, die mit ihr verbunden waren, begleiteten ihn schon sein ganzes Leben. Sie hatten ihn zu dem gemacht, was er war. Durch sie hatte er vor zehn Jahren seine Seele verkauft. Er hatte sie weggegeben und sich damit gerettet. An sein voriges Leben erinnerte er sich kaum, worüber er nicht sonderlich erbost war. Glücklicheren Zeiten nachzutrauern hatte noch niemandem geholfen. Und oft genug erschien es ihm, als habe er sein ganzes Leben in diesem schäbigen Bordell verbracht. Die Tür wurde so plötzlich aufgeschoben, das ihm kaum Zeit zum Reagieren blieb. Musik und menschliche Stimmen drangen herein und zerschnitten die heilsame Stille, die in diesem Raum zuvor geherrscht hatte. Die Geräusche verstummten, als die Tür, leise klackend, zurück ins Schloss fiel. Mit einer ruckartigen Bewegung zog er den Ärmel seines Hemdes hinab und hob den Kopf. Er konnte es nicht leiden, wenn Angestellte ungefragt im Büro auftauchten. Und da Malik diesen Ort immer über eine separate Hintertür betrat, war die Sache eindeutig. Wenige Meter von ihm entfernt, ein freundliches Lächeln auf den Lippen, stand Marik. Er trug bereits seine Arbeitskleidung, was im Wesentlichen bedeutete, dass er noch weniger anhatte, als sonst. „Wen haben wir denn da?“, schmunzelte der Ägypter, der mit seinen cremeblonden Haaren und den groß geschminkten Augen den Koalas von Harajuku in nichts nachstand. Obschon er erst seit einigen Jahren in Japan lebte, sprach er die Sprache nahezu akzentfrei. Bakura, der, sichtlich verärgert, noch damit beschäftigt war, seine Kleidung zu richten, schenkte ihm lediglich einen flüchtigen, desinteressierten Blick. „Was willst du hier? Du weißt genau, dass du hier nicht einfach reinplatzen kannst.“ Seine Stimme klang kalt, für seinen Geschmack jedoch nicht kalt genug. Da war er wieder - dieser Hauch innerer Wärme, der ihn überkam, sobald dieser Stricher den Raum betrat. Er registrierte, wie Marik näher an ihn herantrat, und sah auf. Gut gelaunte, sehr selbstbewusste Augen ruhten auf ihm, musterten ihn und erfassten jede Regung, die sein Gesicht durchzuckte. Marik hatte den Kopf zur Seite geneigt und machte, angesichts von Bakuras augenscheinlicher Begriffsstutzigkeit, einen belustigten Eindruck. „Als ob Dur das nicht wüsstest.“ Er strich Bakura mit der flachen Hand über das Haar. Dieser, der derlei Albernheiten verabscheute, drehte sich unter Marik weg, mit einer Heftigkeit, als habe ihn Mariks Berührung einen elektrischen Schlag versetzt. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Marik seufzte und strich sich eine der unzähligen Haarsträhnen hinter das Ohr. „Das Selbe könnte ich dich auch fragen“, antwortete er ruhig. Er schob die Hände in die Hosentaschen seiner ledernen Hotpants und blickte Bakura erwartungsvoll an. Das Kesse, was bislang in seinen Augen gelegen hatte, flaute ab und machte einer subtilen, kaum wahrnehmbaren Sehnsucht Platz. Bakura musterte seinen Gegenüber schweigend, ehe er den Arm auf den Rückenteil des Sofas legte und sich zurücklehnte. Er nahm den Umschwung in Mariks Stimmung nur zu deutlich wahr. Auch, wenn dieser es stets schaffte, im Alltag eine perfekt sitzende Maske zu tragen, so war auch er nur einer von jenen Jungs, die in Wahrheit nach Geborgenheit und Anerkennung suchten. Damit hatte er sich mit dem Film Noir den denkbar schlechtesten Ort ausgesucht. Marik trat einen Schritt heran und setzte ein schelmisches, kokettes Grinsen auf. Er hob die Arme zum Himmel und verschränkte sie hinter seinem Kopf. Dabei öffnete sich die aus weißem Plüsch gefertigte Weste und entblößte einen schlanken, gut gebauten Oberkörper. Etwas durchzuckte Bakura. Sekunden später stieg eine vertraute, aber unerwünschte Hitze in ihm auf. Er biss sich auf die Unterlippe und schlug, ohne den Anderen aus den Augen zu lassen, die Beine übereinander. „Musst du nicht aufpassen, dass der kleine Engel keine Kunden vergrault?“, fragte Marik schließlich, der nicht bemerkt zu haben schien, wie seine Bewegungen sich auf seinen Gesprächspartner auswirkten. Sein Grinsen wurde breiter, als er registrierte, wie sich Bakuras Gesicht in Folge seiner Frage verdüsterte. Dieser rieb sich mit der flachen Hand über die Brust und betrachtete den Jungen, ohne etwas zu sagen. Es war das gleiche Spiel, dass er immer spielte. Marik kannte seine Wirkung auf ihn undwusste, was er sagen musste, um ihn in Sekunden zur Weißglut zu bringen. Bakura konnte sich nicht erklären, was Marik daran reizte, aber seit sie sich kannten kam er immer wieder auf diese Gesprächsstruktur zurück. „Jonouchi sieht nach ihm.“ Bakura hob den Kopf und schenkte Marik ein gönnerhaftes, abfälliges Lächeln. „Was willst du hier?“ Marik nickte, wobei er Bakura mit hochgezogenen, gespielt erstaunt dreinblickenden Augen musterte. Auf dessen Frage ging er nicht ein. „So ist das also.“ Er streckte die Hand aus und nahm Bakura die Zigarette ab, welche die vergangenen Minuten ungenutzt zwischen seinen Fingern abgebrannt war. Genüsslich nahm er einen Zug und betrachtete den Weißhaarigen mit einem Gesichtsausdruck, der genau verriet, worauf er aus war. „Ich kann nicht arbeiten, ohne dich vorher gesehen zu haben“, fügte er nach Sekunden des Schweigens hinzu. Er sagte es, als sei dies eine bekannte Tatsache, und doch nahm seine Stimme auf einmal einen sehr ernsten Tonfall an. Das Lächeln in seinem runden, herzförmigen Gesicht verblasste. Er nahm noch einen Zug, dann drückte er die Zigarette in einem Aschenbecher aus Glas aus, der auf einem Beistelltisch neben dem Sofa stand. Bakura, dessen Aufmerksamkeit durch Mariks plötzlichen Umschwung erregt wurde, betrachtete den jungen Mann schweigend und nicht ohne den subtilen Ausdruck von Begierde in den Augen. Als er sich selbst dessen gewahr wurde, ließ er den Blick sinken und verfluchte sich selbst. „Mal ernsthaft, Bakura, du rauchst zu viel.“ Marik warf einen Blick in den Aschenbecher, der vor Zigarettenstummeln bereits überquoll und verzog das Gesicht. Dieser gab ein amüsiertes Schnauben von sich und begann, mit den Fingerspitzen auf dem Polster des Sofas zu trommeln. „Ist das so?“ In seiner Stimme lag unverkennbarer Sarkasmus. „Wie schön, dass du dich so um mich sorgst.“ Ein belustigtes Lächeln erschien auf Mariks Gesicht. Kokett nickte er ihm zu. „Wer, wenn nicht ich, hm?“ Er ließ die Arme, die er hinter dem Kopf verschränkt hatte, langsam sinken. „Weißt du“, begann er und setzte sich auf jene Sofalehne, die Bakura am nächsten war. Von oben herab blickte Marik ihn an. „Es ist eine Schande, dass du Ryou an Jonouchi verschwendest. Er hätte sich bei uns gut gemacht. Die Kunden stehen auf abgefahrene Phänotypen, weißt du?“ Bakura verzog die Mundwinkel zu einem kalten Schmunzeln und blickte auf. Er hasste es, wenn Marik versuchte, sich in das Management des Clubs einzumischen. Es hatte viele offensichtliche Gründe gegeben, die dagegen gesprochen hatten, und er hatte keine Lust, sich vor Marik zu rechtfertigen. „Zu fragil“, antwortete er knapp. „Zwei Wochen, und er ist wie Yuugi.“ Marik lachte auf. Es war ein helles, ungläubiges Lachen und Bakura glaubte, gar ein wenig Spott vernehmen zu können. Sofort verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen, und sein Puls schoss in die Höhe. „Der ganze Ärger, nur für einen neuen Kellner? Mach dich nicht lächerlich, Bakura…“ Der Ägypter schüttelte den Kopf. Sodann glitt er von der Lehne, kletterte auf das Sofa und setzte sich, noch ehe Bakura begriff, was geschah, rittlings auf dessen Schoß. Ein leises, aber heftiges Kuchen verließ Bakuras Lippen, doch der düstere, wütende Blick blieb. „Kümmer’ dich um deinen Kram“, knurrte er leise. Mariks Augen wanderten langsam über sein Gesicht. Der Stricher musterte ihn auf die gleiche Art, wie Bakura vor nicht einmal einer Stunde Ryou zum Abschied betrachtet hatte. Schließlich hob dieser die Hand und strich Bakura sanft über die Wange, was diesen dazu bewegte, den Blick des Ägypters zu erwidern.Erneut durchfuhr es ihn heiß und kalt zugleich, und wieder stieg nackte Wut in ihm auf - dieses Mal über sich selbst. „Sag mal…“ Vorsichtig strich Marik ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Seine Finger hinterließen an jenen Stellen, wo sie seine Haut berührten, ein leichtes Kribbeln. In seiner Brust baute sich ein zunehmender Druck auf, verstärkt durch das Pochen seines Herzens. Marik sah ihm noch einmal kurz, aber voll Nachdruck in die Augen, bevor er sich nach vorn beugte und Bakura ungefragt einen Kuss auf die Lippen drückte. Dieser schloss die Augen und wich ein Stück zurück, dachte an all das, was er mit Marik vorgehabt hatte und konnte förmlich zusehen, wie seine Vorsätze zum Beenden dieser Beziehung weggewaschen wurden. Deutlich spürte er, wie Marik seinen feingliedrigen, schlanken Körper gegen seinen drückte und das Blut, das infolge dessen in seinen Adern zu pulsieren begann. Ohne etwas zu sagen, beugte er sich vor, legte die Hände auf die Hüften des Anderen und zog diesen heftig an sich heran. Er vernahm das leise, triumphierende Lachen, das Marik von sich gab und ignorierte die Erkenntnis, dass er dem Einfluss dieses jungen Mannes einmal mehr unterlegen war, was er verärgert zur Kenntnis nahm, aber nicht bestreiten konnte. „Was ist?“ Sie ließen voneinander ab, um wieder zu Atem zu kommen. Er klang kurzatmig; mit glasigen Augen starrte er sein Gegenüber an, der selbstsicher und zufrieden auf seinem Schoß saß. Begierig ließ er die Finger über die warme, weiche Haut gleiten. Mariks Lippen standen offen und die Wangen glühten, trotz seines dunklen Teints in einem warmen Rosa. Er lächelte. Die langen, schlanken Finger spielten mit Bakuras Haar. Marik hauchte ihm einen Kuss auf die Halsschlagader und richtete sich auf. „Warum hast du ihn mitgebracht?“, fragte er und klang genau so atemlos wie Bakura. Eifersucht. Offensichtlicher konnte sie sich nicht äußern. Bakura versteifte sich und ein genervtes Stöhnen drang über seine Lippen. Er wich, wenig begeistert, zurück. Dabei ließ er Mariks Taille, die er bis eben umklammert hatte, los. Sein Herzschlag normalisierte sich binnen Sekunden. Wieder flackerte stille, aber heiße Wut in ihm auf. Gedanklich schob er sie zur Seite und verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. „Er bringt Geld“, antwortete er kurz angebunden. Schweigend blickten sie einander an. Er kannte Marik genug, um zu wissen, dass dieser seine Worte innerlich auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfte. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er den Anderen nicht einfach mi einem heftigen Stoß von sich herunter befördern sollte. Für einen Moment verblasste Mariks heitere und leichtfertige Art, was schnell durch jenes Lächeln ersetzt wurde, welches er trug, wenn ihn eine Situation verunsicherte. Er begann, Bakuras Hemd aufzuknöpfen, der es, indem er gegen die Sofalehne sank, geschehen ließ. Als MArik das nächste Mal den Mund öffnete, verspürte Bakura neben der Erregung, die von ihm Besitz ergriffen hatte, eine neue Woge blinden Zornes in sich aufsteigen. Das war genug. „Weißt du, was ich denke?“ Erneut hauchte marik ihm einen Kuss auf die Lippen und fuhr mit den Fingerspitzen über Bakuras Brust. Mit einer ungeahnten Heftigkeit griff Bakura nach dessen Handgelenk und zwang ihn, damit aufzuhören. „Was denkst du?“, knurrte er, wissend, dass ihm die nächste Äußerung des Strichers nicht gefallen würde. Wenn er hergekommen war, um über diesen Jungen zu reden, bitte, aber dann sollte er es dabei belassen. Wenn er hergekommen war, um ihn zu ficken, auch gut - aber dieses manipulative Nachbohren widerte ihn an. Marik, durch Bakuras Reaktion sichtlich irritiert, blickte ihn erschrocken an und öffnete in dem Moment den Mund zur Antwort, als Bakura entschloss, keine mehr abzuwarten. Aus einem inneren Impuls heraus richtete er sich auf, griff mit der linken Hand in Mariks Haar und verdrehte ihm mit der verbliebenen den Unterarm, auf eine Art, dass nur noch ein kurzes, schmerzerfülltes Stöhnen über Mariks Lippen dran.g Anschließend drückte er ihn mit gnadenloser Härte und dem Gesicht voran in das Polster, ehe er die Finger unter Mariks Hosenbund gleiten ließ und ihm die Shorts mit einer gezielten Handbewegung herunter riss. Das geschah binnen Sekunden; zu schnell für Marik, um zu begreifen, was vor sich ging. Als die Hose seine Kniekehlen erreichte, erstarrte sein Körper. Lediglich sein flaches Atmen war zu vernehmen. Ein gewinnendes, sympathieloses Lächeln erschien in Bakuras Gesicht. Er saß wieder am längeren Hebel. Gut. Stumm beugte er sich über den schlanken Körper, bis ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. „So“, knurrte er leise. „Du willst mich haben?“ Mit einem Ruck gab er Mariks Haare frei und öffnete mit wenigen Handgriffen den ledernen Gürtel seiner Hose. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete den penetranten, aber vertrauten Duft von Patchouli ein. Er hasste den Einfluss, den Marik mit seiner Art über die vergangenen Monate auf ihn ausgeübt hatte, diese merkwürdige Ohnmacht und gefühlte Unterlegenheit. Er wollte nicht mehr. Es würde das letzte Mal sein. In wenigen Minuten wäre alles anders zwischen ihnen. „Verbrenn dir nicht die Finger an mir, Marik“. Seine Stimme klang eiskalt. Bakura stand neben dem Sofa. Sein Kopf war gesenkt und vereinzelte, weiße Strähnen waren nach vorne gerutscht. Sie hingen ihm in die Stirn und verdeckten seine Augen. Seine Wangen glühten und ein dünner, kalter Schweißfilm stand auf seiner Stirn. Wenn er innehielt, vernahm er das schwache Zittern seiner Hände, die kalt und taub ihre Aufgabe verrichteten. Er hatte das Bedürfnis, sich zu übergeben. Ohne etwas zu sagen, zerrte er den Gürtel fest und schob das verbliebene Stück in die vorgesehenen Laschen seiner Hose. Marik beachtete er nicht. Er wagte es kaum, ihn anzusehen. Stattdessen fixierte er zwanghaft seine Hände. Er hatte die Kontrolle verloren. Marik hing, halb sitzend, halb liegend, auf dem Sofa, die Shorts noch in den Kniekehlen. Er wirkte angeschlagen. Zerzauste Strähnen blonden Haares fielen ihm in die geröteten Augen, wo er sie, mechanisch, immer wieder hinter die Ohren strich. Hatte er zu Beginn noch leise, keuchende Geräusche von sich gegeben, so war er nach wenigen Sekunden verstummt. Nur winzige, feuchte Stellen auf dem Leder, dort, wo sich sein Gesicht befunden hatte, zeugten davon, das in ihm vorgegangen sein mochte. Stumm zog er die Hose hoch, schloss sie und stand auf, das Gesicht blass, einer Maske gleich. Seine Bewegungen wirkten ungelenk und fahrig. Vereinzelte Tränen rannen über seine Wangen und wurden, noch ehe sie sein Kinn erreichten, rüde weggewischt. Ein Paar leerer, betäubt wirkender Augen starrten auf den weißen Kachelboden. So standen sie da und keiner wagte es, die Stille zu durchbrechen. Bakura konnte es spüren, das Unbehagen, den Schmerz und die Reste jener aggressiven Grundstimmung, die eben noch präsent gewesen war und sich  nun allmählich in Luft auflöste. Er war wie sein Vater. Da war die Genugtuung, die sich in seinem Körper ausbreitete und Selbsthass, der ihn umspülte, kaum, das er die Sache zu Ende gebracht hatte. Er atmete tief durch und schob so die Gefühle, die in ihm hochkochten, von sich fort. Das tat er immer. So funktionierte er. Nachdem er sich angezogen hatte, und die Stille für beide Seiten die Grenze der Unerträglichkeit erreicht hatte, warf Marik ihm einen langen Blick zu. „Ich wusste, dass du mich nicht liebst“, sagte er kalt und mit einer Ernsthaftigkeit, die Bakura klar machte, dass Marik die ganzen Monate hindurch mit dieser Erkenntnis gelebt haben musste. „Das hättest du nicht tun müssen.“ Seine Stimme klang leise und verstört. Auch, wenn er versuchte, die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, war da ein leichtes Zittern, das er nicht bannen konnte. Nichts von dem Eifer, der seiner Stimme noch vor kurzem inne gewohnt hatte, war verblieben. Das war der Junge hinter der Fassade. Bakura hob langsam den Kopf, sah zu ihm hinüber und erwiderte dessen Blick. Das mit ihnen hatte zu lange gedauert, ohne, dass sie je die Fronten geklärt hätten. „Die Sache ist durch“, antwortete er und erntete als Antwort lediglich ein zynisches Lachen, welches ihm durch Mark und Bein ging. „Natürlich ist es das“, zischte Marik und strich sich wieder eine Strähne hinter das Ohr. Der Ägypter schob die Hände in die Hosentaschen und musterte Bakura mit einer Mischung aus Schmerz und Verachtung. Bakura wusste, dass Marik in ihm las wie in einem offenen Buch. Das war ein nicht zu widerlegender Fakt, und an dem gab es nichts zu rütteln, auch, wenn Bakura sich wünschte, es wäre anders. „Mach dir nichts vor.“ In Mariks Gesicht erschien ein bitteres Lächeln. Er blickte zu Boden, und blinzelte heftig, als könne er so die aufsteigenden Tränen vertreiben. „Du weißt genau, warum du den Jungen angeschleppt hast.“ Er schnaubte leise. „Du machst dich so lächerlich.“ Er wandte sich zum Gehen. Seine Augen glänzten und zarte Schatten fanden sich unter ihnen. Binnen einer Stunde, wenn er die Fassung wiedererlangt hatte, seine Maske perfekt saß und er glücklich wirkte, würde niemand auf die Idee kommen, dass die Realität eine andere war. Marik war ein talentierter Schauspieler. Als er die Tür erreichte, wandte er sich um und sah Bakura ein letztes Mal direkt an. Es brauchte mehrere Anläufe, bevor er seine Stimme wieder fand. Seine Finger krallten sich in den kalten Stahl der Tür. „Lass ihn in Ruhe. Er hat genug durchgemacht, findest du nicht?“ Bakuras Augen verengten sich. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Marik schweigend. Es gab nichts, was er darauf antworten konnte. Marik wusste das und ging, ohne, dass sie ein weiteres Wort miteinander wechselten. Als die Tür zu fiel, schloss Bakura die Augen und nichts als betäubende, tiefschwarze Leere verblieb in ihm. Kapitel 8: Bakura. Zweiter Teil ------------------------------- „I feel so much sorrow on my skin, on my skin With everybody gone, don’t you get sick alone? I wish you were at home, I wish you’d never go I’ll wait till you wash my blood I feel so much sorrow on my skin.“ Dover - Angelus Stumm, mit regungslosen Augen und versteinertem Gesicht, blickte er dem Stricher nach, noch lange, nachdem dieser das Zimmer verlassen hatte. Bakuras Herz hatte, als Folge vorangegangener, erbarmungsloser Worte, wild zu schlagen begonnen. Ich mache mich also lächerlich, dachte er und schnaubte abfällig, ehe er die Verschränkung seiner Arme löste und die Hände in die Hosentaschen schob. So einen Mist hatte er lange nicht mehr gehört. Es war nicht mehr gewesen als eine Schutzbehauptung, mit der Marik sein gebrochenes Ego hatte wieder herstellen wollen. Hoffnungslose Zeitverschwendung. Wenn sich jemand lächerlich machte, dann war es dieser Stricher, in seinem tuntigen, vulgären Fummel. Bakura hatte Ryou hierher gebracht, damit dieser seine Schulden abarbeiten konnte. Es gab keinen anderen Grund. Ihn zu erschießen, wäre eine Verschwendung von Kapital - das sollte selbst Marik einleuchten, wenn er schon nicht der hellste Kopf war. Jemanden, der mit jeder Faser seines Körpers naive Unschuld ausstrahlte, wie Ryou es tat, badete in diesem Sündenpfuhl in einem noch viel helleren Glanz. Die Gäste begehrten ihn. Und so lange seine Schönheit noch nicht welk, sein Blick nicht gebrochen und der Körper nicht zu ausgemergelt war, würden sie ihn hier arbeiten lassen. Bakura fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, richtete dann den Blick auf die Fingerspitzen und hob, milde erstaunt, die Brauen. Noch immer zitterte er. „Miststück.“ Es geschah nicht oft, dass ihn jemand so provozierte, dass er die Fassung verlor, aber Marik… Marik verstand sich ausgezeichnet darauf. Binnen Sekunden konnte die schwache Sympathie, die Bakura ihm entgegen brachte, in hemmungslose Abneigung umschlagen. Was dann geschah, hatten sie eben beide gesehen. Da verliert man ein Mal die Beherrschung, und dann steht man hier und ist am Zittern, dachte er und biss sich auf die Unterlippe, nur kurz, unzufrieden mit seiner vorangegangenen Unbeherrschtheit. Nicht, dass er ein schlechtes Gewissen hätte. Aber er war ein Mann, der Kontrolle liebte, und die Selbstbeherrschung zu verlieren, derlei Dinge behagten ihm nicht. Wieso, schoss es ihm durch den Kopf und er musterte die Tür, durch die Marik soeben verschwunden war, ein weiteres Mal. Wieso konnte er sich nicht einfach benehmen wie alle anderen hier? Was war los mit diesem Kerl, dass er sich stets so mit ihm anlegte, dass Bakura ihn zurück in seine Schranken weisen musste? Er war brutal zu ihm gewesen und doch - Bakura wusste, wenn sich erst einmal Schorf über die Wunde gelegt hatte, würde Marik erneut seine Nähe suchen. Dieser Ägypter gierte geradezu nach Aufmerksamkeit, auf eine penetrante, nervige Art, die nicht einmal von Jonouchi übertroffen werden konnte. Sie hätten sich diesen Mist hier sparen können. Hinter ihm ertönte das leise Klicken einer sich öffnenden Tür. Bakura wandte sich um. Es war die Tür am anderen Ende des Büros, jene, die zum Hinterhof führte, wo sie die Autos parkten und von dem aus Malik seinen Arbeitsplatz zu betreten pflegte. Ohne etwas zu sagen, betrachtete Bakura den Mann, für den er seit mehr als zehn Jahren arbeitete, die Lippen zu einem schmalen Strich verzogen. Seiner Meinung nach wirkte Malik wie die teuflische Variante jenes ägyptischen Strichers, mit dem er sich stets herumschlagen musste, denn sie trugen das Haar gleich und hatten die gleiche glatte, braungebrannte Haut. Malik wirkte schlecht gelaunt. Das sonst sorgfältig gestaltete Haar hing ihm zerzaust ins Gesicht. Anscheinend war das Wetter draußen wieder einmal mehr als beschissen. „Wo warst du?“, fragte Bakura verärgert. Von dem schnellen Sex, den er sich eben geholt hatte, einmal abgesehen, hatte Malik ihn etwas mehr als eine Stunde hier warten lassen. „Es gab Ärger“, lautete die kurze, wenig erfreut klingende Antwort. Malik legte den silbernen Aktenkoffer, den er bei sich trug, auf den Schreibtisch, zog seinen Mantel aus und hing diesen an einen Nagel neben der Tür. Die obersten Knöpfe des dunkelroten Hemdes, welches er trug, hatte er offen gelassen; Bakura erkannte die Ansätze einer flachen, glatt rasierten Brust. „Natürlich gab es das“, murmelte Bakura zynisch. Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den Anderen aus kalten Augen. Derweil hatte seine Laune ihren Tiefpunkt erreicht. Die Leute denken, sie können mit mir umspringen, wie es ihnen passt, dachte er, was zur Folge hatte, dass sich sein Gesicht nur noch weiter verdüsterte. Ohne es zu merken, ballte er die Hände zu Fäusten. Gut, dachte er, wenn Malik Ärger will, den kann er haben. Anscheinend war es einmal mehr an der Zeit, als dass er seinen Standpunkt offenlegen musste. Derweil blickte Malik, der Bakuras genervte Art registriert hatte, auf und schnalzte verärgert mit der Zunge. „Was soll das?“ Maliks Stimme verdeutlichte sofort, dass er nicht zum Spielen aufgelegt war. Schlecht gelaunt knallte er den Schlüsselbund, den er noch immer in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch und baute sich mit abschätzigem Blick vor dem Anderen auf. „Ist dir klar, was du da gerade für einen Ton anschlägst?“ Bakura knurrte leise. „Ich schlage keinen Ton an“, entfuhr es ihm. Einer Sturzflut gleich durchzuckte ihn eine erneute Woge Ärger. Er wurde lauter, doch ihm war nicht danach, auf Maliks Ego Rücksicht zu nehmen. „Ständig rufst du mich zu dir und bist nicht da. Das ist Zeitverschwendung - und es nervt.“ Sein groß gewachsenes Gegenüber lachte verächtlich auf. Er hat keinen Respekt vor mir, eindeutig, schoss es durch Bakuras Kopf, der die Auge zu schmalen Schlitzen zusammen gekniffen hatte. Es brauchte Selbstbeherrschung, um keine Dinge zu sagen, die er hinterher bereuen könnte. Malik trat einen Schritt näher an ihn heran, das Gesicht voll stiller Überlegenheit. Er leckte sich über die Lippen, bevor er weiter sprach. Inzwischen waren sie sich so nah, dass es Bakura am liebsten einen Schritt nach hinten gemacht hätte. „Du arbeitest für mich, weißt du noch? Du bist gerade im Dienst. Und wenn ich dich hier verrotten lasse, ist das immer noch mein Problem und nicht deines.“ „Aha.“ Selbstverständlich hatte er besseres zu tun, aber Malik konnte das nicht wissen. Er war so gut wie nie im Haus. Dass Bakura Zeit brauchte, den Schuppen am Laufen zu halten, wenn Malik, der eigentlich dafür verantwortlich war, die meiste Zeit ausfiel, ernste nicht die Anerkennung, die dafür angemessen wäre. Stattdessen schubste man ihn von einem Hilfsjob zum nächsten. „Was ‚aha‘?“ Mit einem Mal erstarrte Maliks Gesicht zu einer regungslosen Maske, was im Gegenzug ein dünnes Schmunzeln auf Bakuras Lippen zauberte. Er wird langsam wütend, dachte er. Es passt ihm nicht, dass ich so mit ihm spreche, seine Position in Frage stelle. Bakura lachte leise auf. Der Kerl spürt meine Konkurrenz. Man konnte nicht sagen, wann die Stimmung endgültig umschlug. Es musste in Sekundenbruchteilen geschehen sein. Bakura konnte es in Maliks Augen sehen, deren wachsamer, intelligenter Ausdruck mit einem Mal kalter Wut wich. Es war der Moment, in dem Bakura doch einen Schritt zurücktrat, denn er wusste, was nun folgen würde. Mit Pupillen, so fein wie Stecknadelköpfe, schnellte Malik furchteinflößend auf Bakura zu und griff so heftig in dessen Haar, dass ein unterdrücktes Keuchen über seine Lippen kam, ehe er zu Malik herangezogen wurde. „Was ‚aha‘?!“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er nach Maliks Handgelenk, versuchte, dessen Griff zu lösen, scheiterte jedoch. Sodann hob er den Kopf und erwiderte den wütenden Blick seines Vorgesetzten mit Nachdruck, nicht gewillt, diesem eine zufrieden stellende Antwort zu geben. Schließlich reichte es dem Anderen. „Vergiss nicht, mit wem du hier sprichst“, fauchte Malik, der nun endgültig die Fassung verloren hatte und zog noch stärker an Bakuras Haar, der sich nun mit einem heftigen Ruck befreite und einige Schritte zurück trat. Wie gerne wäre er nun auf ihn losgegangen und hätte ihm gezeigt, wer hier der wahre Chef war, aber etwas hinderte ihn daran. Er hasste es, wenn Malik seinen Platz in der Hierarchie markierte, denn für ihn bedeutete es in jenen Momenten nichts als Schmerz und Erniedrigung. „Wie könnte ich das vergessen?“ Stumm strich er sich einige Strähnen über die Schulter und atmete durch. Sein Kopf dröhnte. Die Stellen, an denen Malik gezerrt hatte, beherbergten nun einen heißen, pulsierenden Schmerz. Stumm funkelten sie einander aus kalten Augen an, dann deutete Malik auf den freien Stuhl vor dessen Schreibtisch. Es war eine übertrieben einladende, karikierte Geste. Dieser Mistkerl musste einfach immer das letzte Wort haben. „Hör jetzt auf, den sterbenden Schwan zu spielen, verdammt und setz sich hin. Es gibt Arbeit für dich.“ Nach einigem Zögern trat Bakura näher heran und nahm Platz. Sein Herz galoppierte in seiner Brust und die Aggressionen, die sich in ihm aufgestaut hatten, verlangten nachdrücklich nach Befriedigung. Bakura seufzte lautlos. Er durfte nicht nachgeben.  Reiss dich zusammen, verdammt. Die meiste Zeit verstanden sie sich recht gut, wenn man zwei Menschen, die nur der Arbeit wegen zusammen lebten, so bezeichnen konnte. Bakura war, das wusste er, einer der fähigeren Mitarbeiter im Film Noir, er übernahm so manche Drecksarbeit, die niemand machen wollte. Es gab Bereiche, da konnte ihm niemand das Wasser reichen. Entsprechend viel Geld zahlte manches Syndikat, um seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Und doch behandelte Malik ihn noch immer wie den Jungen, der er einst gewesen war. Dabei stand er inzwischen weit über den Dingen und wusste, Malik hielt ihn bewusst so klein, wie er sie spüren konnte. Er spürte Bakuras Konkurrenz. Malik öffnete den Aktenkoffer und durchforstete ihn, offensichtlich etwas suchend. Dabei plapperte er vor sich hin, als sei zwischen ihnen nichts vorgefallen. „Ryou macht sich gut.“ Er legte einige Umschläge, die er aus einem Zwischenfach genommen hatte, auf den Tisch. „Marik ist angetan von ihm. Er will, dass er oben anfängt.“ „Wen interessiert schon, was dieser kleine Stricher will?“, murmelte Bakura schlecht gelaunt, ohne aufzublicken. „Er wollte auch, dass Yuugi oben anfängt.“ Zusammen lachten sie auf. Kurz, kalt. „Ja“, antwortete Malik, der immer noch am Suchen war. „Das war eine beschissene Idee. Aber bei den Schulden, die er hatte… Ist auch egal, der Junge baut ziemlich ab.“ „Kein Wunder.“ Bakura lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Es war ihm gleich, wie lange Malik brauchen würde, um die benötigten Unterlagen zu finden, helfen würde er ihm nicht. „Sein Gehirn ist total zerfressen von dem Zeug, dass wir in ihn reinpumpen. Wenn wir so weitermachen, ist er in ein paar Monaten durch.“ „Ja…“ Malik richtete sich auf und stöhnte genervt. Dabei stützte er sich mit den Händen in der Taille ab. Ihm war sicherlich nicht bewusst, dass er damit wirkte wie eine Hausfrau, die sich über ihren das Gehalt versaufenden Ehemann empörte, aber Bakura verzichtete bewusst darauf, ihn auf diesen Punkt hinzuweisen. „Ich hatte es hier irgendwo, verdammt“, murmelte der Andere und begann nun, allerlei Papier aus irgendwelchen Fächern auf den Tisch zu wuchten. „Was?“ „Frag nicht so blöd. Die Unterlagen für dich, was sonst.“ Genervt hob Bakura die Augenbrauen, verkniff sich allerdings die Antwort. Stattdessen zog er das silberne Etui aus der Hosentasche und steckte sich eine Zigarette an. Das betäubende Gefühl von Teer in seinen Lungen war genau das, was er jetzt brauchte. „Wenn wir die Dosis weiter hochschrauben, schafft er vielleicht noch ein halbes Jahr“, sagte er nuschelnd, die Kippe in den Mundwinkeln, während er das Streichholz ausschüttelte, doch Malik verzog nur das Gesicht. „Unökonomisch.“ Er war derweil dazu übergegangen, den gesamten Inhalt des Koffers auf den Tisch zu kippen. Es verblüffte Bakura immer wieder, wie sie den Laden bei alle dem Chaos am Laufen halten konnten. „Dann verbraucht er bald mehr an Drogen, als er uns an Geld einbringt. Wir sollten ihn zeitnah entsorgen, er macht sowieso nur noch Ärger.“ Kaum merklich schüttelte Bakura den Kopf. „Das wird Marik nicht hinnehmen.“ „Pech für ihn.“ Sie verfielen in Schweigen. Es war das Schweigen zweier Männer, die sich im Grunde ihres Herzens nicht viel zu sagen hatten. Für die Kommunikation ein Mittel zum Zweck war, nicht mehr. Bakura missfiel die Idee. Wenn man Yuugi tötete, blieb das sicherlich an ihm hängen. Es wäre eine überflüssige und unnötige Handlung, denn das Problem würde sich, wenn alles so blieb wie jetzt, ohnehin von selbst erledigen. Grimmig ließ Bakura den Blick durch den Raum gleiten und horchte auf, als Malik triumphierend eine schlichte Mappe aus dem Papierstapel zog. Ohne sich selbst zu erklären, öffnete er sie und breitete die Blätter, die darin zum Vorschein kamen, auf einer freien Ecke des Tisches aus. Bakura ahnte, was nun kommen musste. Stumm beugte er sich über die Unterlagen, ließ den Blick über Überschriften und Datensätze gleiten, die man eigens für diesen Auftrag zusammengetragen hatte. Es waren Zeitungsausschnitte, eine Art Steckbrief mit Tagesabläufen und das Foto einer Frau mittleren Alters. Sie war hübsch, auf eine schlichte, natürliche Art. „Yamada von den Kranichen hat angefragt“, begann Malik sogleich, der nun neben Bakura stand. „Ich schulde ihm noch einen Gefallen. Er will dich borgen.“ Bakura verzog das Gesicht. „Ist das so? Yamada aus der Oberstadt?“ Malik nickte schwach. Noch ein bisschen musterte Bakura die Frau, die ihm, er wusste nicht warum, bekannt vorkam. Die Gesichtszüge, so war er sich sicher, hatte er definitiv schon einmal gesehen. Wenn er nur wüsste, woher… „Wer ist die Frau auf dem Foto?“, fragte er schließlich. „Yamamoto Yukiko.“ „Die Staatsanwältin?“ „Ja.“ Gedankenverloren strich Bakura sich mit der Hand über Mund und Wangen, dann atmete er tief durch. Er kannte sie tatsächlich. „Ihr spinnt doch.“ Yamamoto war stadtbekannt. Sie ging gezielt gegen den ausufernden Drogenhandel der Stadt vor und war damit ziemlich erfolgreich. Sie war scharfsinnig und unbequem, hatte schon den ein oder anderen Dealer im großen Stil auffliegen lassen. Bakura kannte sie von Zeitungsfotos und Pressekonferenzen im Fernsehen. Offensichtlich entwickelte sie sich zu einer ernstzunehmenden Bedrohung. Kein Wunder, dass man sie loswerden wollte. Yamada hatte erst vor kurzem einige seiner Männer an sie verloren. Ohne etwas zu sagen, schob Malik ihm die Blätter etwas näher hin. „Er will den Besten, deswegen hat er mich gefragt.“ Wieder schüttelte Bakura den Kopf. „Ich hab’ kein gutes Gefühl bei der Sache.“ Erneut beugte er sich vor, betrachtete die Fotos genauer. Wenn jemand Hand an diese Frau legte, würde man Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Schuldigen - ihn - zu finden. Sie hatte mächtige Freunde, damit sollte man nicht spaßen. Ihm war die Sache zu heiß. Das alles bedeutete Ärger. „Reiss dich zusammen“, zischte Malik ungeduldig. Noch einmal schüttelte Bakura den Kopf, dieses Mal heftiger als zuvor. Langsam wurde er wütend. „Nein, ernsthaft“, begann er und sah auf. „Das bringt nur Ärger. Hast du eine Ahnung, was hier los sein wird, wenn wir diese Frau aus dem Weg räumen?!“ „Nicht wir, du“, antwortete Malik mit einem süffisanten Lächeln. Bakura lachte bitter auf und lehnte sich zurück. Dabei trommelten die Fingerspitzen seiner rechten Hand nervös auf der hölzernen Lehne des Stuhls. „Das mache ich nicht. Vergiss es.“ Für einen kurzen Moment herrschte beidseitiges Schweigen. Dann packte Malik ihn plötzlich am Kragen und zerrte ihn aus dem Stuhl zu sich heran. Beherrscht schloss Bakura die Augen, ehe er sie öffnete und den Anderen unnachgiebig anstarrte. Er ist cholerisch, dachte er, seine Laune neigt dazu, binnen weniger Sekunden umzuschlagen. Er keuchte leise, griff nach Maliks Hand und versuchte einmal mehr, diese zu Lösen, denn der Andere tat ihm weh. „Ich glaube nicht-„, knurrte dieser und versteifte seinen Griff. „Ich glaube nicht, dass du nach dem Desaster von neulich derjenige bist, der sich diesbezüglich eine freie Entscheidung erlauben kann.“ Er gab Bakura einen heftigen Stoß, so, dass dieser zurück in den Stuhl fiel. Dabei knallte er mit dem Rücken gegen die Lehne. Sofort schoss ein stechender Schmerz in seine Wirbel, der sich in seinem ganzen Körper verbreitete. Er spürte, wie Tränen in seine Augen schossen, blinzelte diese fort und stöhnte gequält auf, als er eine Position suchte, die seinen Körper entlasten würde. Irgendwann würde es sich rächen, dachte er im Stillen. Irgendwann, wenn der Andere nicht damit rechnete, würde er auf seine Kosten kommen, und er würde sich, wenn es soweit war, Zeit lassen. Viel Zeit. „Ich will morgen in der Zeitung lesen, dass man sie mit einer Kugel im Kopf in ihrer Wohnung gefunden hat“, polterte Malik, immer noch in Rage, mit blutunterlaufenen Augen, die er, wie im Wahn, auf Bakura gerichtet hatte. Seine Stimme klang fast schrill. „Haben wir uns verstanden?!“ Er erhielt keine Antwort, lediglich ein trotziges Schweigen. Wieder schoss Malik ein Stück nach vorn und für einen Moment rechnete Bakura damit, wieder am Kragen gepackt und durch die Luft geschleudert zu werden. „Antworte!“ Es brauchte einige Sekunden, bis Bakura so weit war, seinen Stolz herunterzuschlucken und sich zu einer Antwort aufzuraffen. Sie war kaum mehr als ein tonloses Flüstern, kalt und voller Feindseligkeit. „Ja.“ Malik, der nun bekommen hatte, was er wollte, grinste triumphierend. Er beugte sich nach vorn über, packte Bakuras Gesicht mit einer Hand und zwang diesen, ihn anzusehen. Dieser versuchte, sich Maliks Griff zu entziehen, scheiterte jedoch. Es war lange her, dass man ihn derart gedemütigt hatte. Er spürte, wie der Andere ihm mit dem Daumen über die Wange strich, und schloss beherrscht die Augen. „Pack deine Sachen zusammen und scher dich aus meinem Büro“, flüsterte Malik ihm leise ins Ohr. Sein Atem kribbelte auf Bakuras Haut. „Und wehe dir, wenn du mich dieses Mal enttäuschst.“ Kapitel 9: Sonnenaufgang ------------------------ „…“ Dale Cooper Quartet & The Dictaphones - Eux exquis acrostole Kaum, dass er im Begriff gewesen war, den Schankraum zu verlassen, hatte Jonouchi ihn noch einmal zurück gerufen und ihm den Schlüssel zum Dach in die Hand gedrückt. Ryou ahnte, dass es Ärger für den blonden Barkeeper bedeuten würde, erfuhr jemand von dieser Geste und so hatte er den Schlüssel eilig in die Hosentasche gesteckt und war davon gerannt. Mit langen Schritten hastete er die Treppen hinauf, nahm gelegentlich zwei Stufen auf einmal. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen. Nicht einmal das Licht hatte er eingeschaltet. Ihm genügten die grauen Strahlen der aufgehenden Sonne, spendeten sie gerade so viel Licht, dass er nicht über seine eigenen Beine stolperte. Mit jedem Schritt knallte das Geräusch seiner Sohlen auf dem Stahlbeton gegen die Wände und zu ihm zurück, dröhnte in Ryous Kopf. Noch nie in seinem Leben war er so müde gewesen. Seine Stirn fühlte sich taub an und ein schwaches Ziehen in den Schläfen kündete bereits jene Kopfschmerzen an, die ihm heimsuchen würden, wenn er nicht bald schlafen ging. Die Augen brannten, trocken und gerötet vom Zigarettenrauch, an den er sich erst noch gewöhnen musste. Ryou konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, überwältigt und überreizt von den Eindrücken der vergangenen Tage. Das man ihn jetzt aufs Dach ließ - alleine - erfüllte ihn mit einer merkwürdigen Zufriedenheit. Von dort würde man einen wunderbaren Blick auf den Sonnenaufgang haben. Zur Ruhe kommen könnte er jetzt ohnehin nicht. Die Gedanken in seinem Kopf rasten, schrieen die immer gleichen Phrasen gegen seine Schädeldecke, ließen die immer gleichen Bilder vor seinen Augen auftauchen. Noch immer spürte er die gierigen Finger seiner Kunden auf der Haut. Es war hoffnungslos, sich aufgekratzt, wie er war, ins Bett zu legen. Es würde ihm nur quälende, ruhelose Stunden bescheren. Was er jetzt brauchte, war Zeit. Allein, nur für sich. Wenigstens für einen Moment wollte er die Strahlen der Sonne auf seinem Gesicht spüren, bevor er zurück in sein Zimmer, seinen Käfig, ging. Ein dünnes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Noch nie zuvor hatte er einen Sonnenaufgang gesehen. Ryou war niemand gewesen, der an den Wochenenden so lange feierte, bis der nächste Tag anbrach. Wie sein Vater es von ihm erwartete, hatte er gelernt und sich mit ruhigen, aber kunstfertigen Hobbys die Zeit vertrieben. War er ein langweiliger Mensch? Ein ungläubiges Lachen verließ seine Kehle, verdeckt von dem atemlosen Keuchen, dass ihn mit jedem seiner Schritte ereilte. Kaum zu fassen, was für ein braves, ödes Leben er einmal geführt hatte. Es schien ihm endlos her zu sein, fühlte sich fremd und belanglos an. Die Treppe endete überraschend. Er war so schnell gelaufen, dass er bedrohlich schwankte, als er zum Stehen kam. Vor ihm befand sich eine massive, aus schwerem Stahl gefertigte Brandschutztür. Leise seufzend fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar, zog den schwarzen Haargummi heraus, den Bakura ihm Stunden zuvor gegeben hatte, und schüttelte den Kopf. Dabei wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, atmete durch, während sein Herz wie wild in seiner Brust pochte. Wortlos ließ er eine Hand in die Hosentasche gleiten und zog den Schlüssel hervor. Als er ihn ins Schloss stecken wollte, stockte er. „Nanu?“ Verwundert legte er den Kopf schief und musterte die Stelle, an der Tür und Rahmen zusammen trafen. Man hatte gar nicht abgeschlossen. Die Tür stand offen. So etwas war - das wusste er bereits nach dieser kurzen Zeit - ungewöhnlich. Alle Türen, die nicht unmittelbar den Kunden zugänglich waren, hielt man penibel verschlossen. Sie riegeln das Haus hermetisch ab, damit niemand türmt, schoss es ihm durch den Kopf. Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass die Zeiten, in denen er frei über seinen Aufenthaltsort entscheiden konnte, vorüber waren. Mit dieser ernüchternden Erkenntnis schloss er die Hand um den Türknauf und schob die Tür vorsichtig auf. Dabei gab sie ein leises Knarren von sich. Sofort schlug ihm der beißende Winterwind ins Gesicht, so heftig, dass er einen Schritt zurück machen musste, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Fröstelnd wandte er sich ab, griff nach der gefütterten Kapuze, die nutzlos über seinen Schultern hing und zog sie sich über. Erst dann fasste er sich ein Herz und betrat das Dach. Mit dem ersten Schritt sank er knirschend einige Zentimeter ein. Verwundert ließ Ryou den Blick sinken, und ein dünnes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als ihm klar wurde, dass es sich um das Geräusch frischen, makellosen Schnees handelte, der jeden Zentimeter dieses Ortes bedeckte. All das, der Wind, die frische Luft, selbst die Kälte - für einen Moment fühlte er sich schwerelos, fast - durfte er das denken? - frei. Ryou hob die Augenbrauen und runzelte die Stirn, ehe er den Kopf hob und erstarrte. Direkt vor seinen Füßen befanden sich frische Fußabdrücke im Schnee. ~*~ Es war kein Auftrag gewesen, den er so schnell vergessen würde. Sie hatte geschrien und gekämpft bis zum letzten Atemzug, dieses verdammte Miststück. Einige Kratzer und blaue Flecken würde er behalten und Bakura betete, dass dies keine Spuren hinterlassen hatte, die sie irgendwann zu ihm führen würden. Sie hatte nicht geweint, nicht um ihr Leben gebettelt und das rechnete er ihr hoch an. Mit starken, unnachgiebigen Augen hatte sie ihn angesehen. Dieser Ausdruck in ihren Pupillen war erst verblasst, als die Kugeln ihr Gehirn durchsiebt hatten. Bakura hatte gewonnen und doch war es kein Sieg, der ihn mit Freude erfüllte. Er atmete tief durch, ehe er sich eine Zigaretten zwischen die Lippen klemmte und einen langen, stummen Zug nahm. In solchen Nächten rauchte er mehr als gewöhnlich, präventiv und vorausschauend. Es waren diese Nächte, in denen das Zittern zurückkam, ihn überwältigte, wie einen kleinen Jungen. Dann konnte er keinen Stift mehr halten, war kaum in der Lage, zu arbeiten. Er hasste es, wenn das geschah. Das Rauchen hielt die Nerven ruhig, brachte sie zurück auf den Boden der Tatsachen, wenn sein Gehirn im Begriff war, sich selbstständig zu machen. Wenn er im Bett lag, zu müde, um sich zu bewegen, stürmten sie auf ihn ein, die kleinen, hartnäckigen Stimmen und erinnerten ihn an all die Dinge, die er glaubte, längst vergessen zu haben. So fand man keine Ruhe. Drei Mal hatte er auf sie schießen müssen, bevor ihr Kopf endlich leblos nach vorn geklappt war. Der letzte war ein aufgesetzter Kopfschuss gewesen. Dieses Biest. Nicht einmal Stahl war so zäh wie der Schädel dieser Frau. Bakura schüttelte den Kopf. Drei Mal. Verdammt. Er nahm einen weiteren Zug und atmete den Rauch aus, der sich, kaum sichtbar, mit einer kreuzenden Windböe vereinte. Es war weiter abgekühlt in dieser Nacht, der Wind pfiff heulend über die Dächer. Seine Finger und Füße waren bereits taub, doch er machte sich nichts daraus. Wenn er bemerkte, dass es ihm zu viel wurde, wenn er ins Grübeln verfiel, kam er hierher. Dann betrachtete er den Sonnenaufgang bevor er schlafen ging, rauchte etwas, genoss die Stille und versuchte, die Gedanken in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Er hatte sich an das Geländer gelehnt, die Arme verschränkt darauf abgelegt, den Blick in die Ferne gerichtet. Der Wind zerzauste sein Haar, aber wen kümmerte das. Als er hinter sich das leise Quietschen der Tür vernahm, rührte er sich nicht. Manchmal öffnete sie sich von selbst, denn sie war als und marode wie alles hier. Erst, als das Knirschen des Schnees hinzu kam, schloss er genervt die Augen. Ein lautloses, beherrschtes Seufzen drang über seine Lippen. Marik, sicherlich. Es musste Marik sein. Er konnte es nicht lassen, dieser verdammte Stricher, hatte ihm die Abreibung heute nicht gereicht? Konnte er ihm nicht einfach seinen verdammten Feierabend lassen? Bakura fuhr herum, das Gesicht zu einer grimmigen Maske verzogen, den Mund bereits geöffnet, um seinem Missgefallen Ausdruck zu verleihen, da hielt er auf einmal inne. Es war nicht Marik, der da im Schnee stand. Es war Ryou. Er trug noch immer die gleiche graue Jeans vom Vorabend. Dort, wo das Haargummi gesessen hatte, lag das weiße Haar in leichten Wellen. Wahrscheinlich kam er gerade von seiner Schicht. Er war dick eingepackt, trug den dunkelblauen Parka aus Canvas und hatte die mit Kunstpelz besetzte Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, noch jemanden vorzufinden und so taxierte Ryou ihn aus einem Paar brauner Augen, scheu und verschreckt wie die eines Rehs. Er sah müde aus. „Was willst du?“ Bakura war zu überrascht um unfreundlich zu klingen. Hatte er ihm überhaupt von diesem Dach erzählt? Oder war er von selbst auf diese Idee gekommen? An eine solche Unterhaltung konnte Bakura sich nicht erinnern. Der Junge zögerte. Unschlüssig stand er am Eingang, die Augen huschten abwechselnd zwischen dem Eingang und Bakura umher. Er ist eingeschüchtert, dachte Bakura und ein dünnes, amüsiertes Schmunzeln zuckte über sein Gesicht. Schließlich, als einige Sekunden verstrichen waren, zog Ryou die Tür heftig hinter sich ins Schloss und kam näher, jeder Schritt von einem leisen Knirschen begleitet. Als er neben Bakura zum Stehen kam, lehnte er sich gegen die Brüstung, schloss die Augen und atmete tief durch. Als er anschließend aufsah, blickte er Bakura unverwandt an, mit einem Ausdruck, dem nichts zu entnehmen war. Stumm hob Bakura die Augenbrauen und schwieg. Der Kleine sah so erschöpft aus, als könne er sich kaum mehr auf den Beinen halten. Selbst das Rot seiner Wangen war aus dem blassen Gesicht gewichen, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. „Ich will mir den Sonnenaufgang anschauen“, antwortete er nach kurzem Zögern und fügte, wohl um jeden potenziellen Konflikt im Keim zu ersticken, hinzu: „Jonouchi sagt, es ist in Ordnung. Er rechnet gerade ab.“ „Ist das so?“, kommentierte Bakura tonlos, ehe er den Blick abwandte und hinaus zur Stadt blickte. Jonouchi hatte das also erlaubt, so, so. Vielleicht sollte er sich mal wieder etwas eingehender mit ihm unterhalten, mit diesem Grenzen überschreitenden Barkeeper. Andererseits - wenn er ehrlich zu sich war, wusste er es - was sprach schon dagegen? Stumm verzog Bakura das Gesicht und richtete den Blick wieder auf Ryou, der nach wie vor unbewegt am Geländer stand und ihn mit großen, neugierigen Augen musterte. „Den Sonnenaufgang?“, hörte Bakura sich letztlich fragen, wobei er zu seiner eigenen Verblüffung ehrlich verwundert klang. „Ja.“ Ryou legte den Kopf schief und ließ die Augen über Dominos Dächer gleiten. Dieses Haus, in dem sie arbeiteten, lag verglichen mit den umliegenden, merkwürdig exponiert, und so hatte man von hier oben eine weitreichende Aussicht, die fast bis zum Horizont reichte. Ein stummer, verträumter Ausdruck schlich sich in Ryous Gesicht, gefolgt von einem dünnen, abwesenden Lächeln. „Ich hab noch nie einen gesehen“, murmelte Ryou schließlich. „Und jetzt kann ich sowieso nicht schlafen, also…“ Er warf Bakura, der ihn noch immer wortlos anstarrte, einen flüchtigen Blick zu und schenkte ihm ein unverbindliches Lächeln. Es war subtil, strahlte jedoch eine unverkennbare Wärme aus, so ehrlich, dass Bakura sich abwenden musste, es mit einem schwachen nicken abtat, ohne etwas darauf zu erwidern. Stattdessen schnippte er die Zigarette fort, nur, um sich im Anschluss die nächste anzuzünden. Heute war einfach nicht sein Tag. Ryou verfolgte die Handbewegungen aus den Augenwinkeln und runzelte schweigend die Stirn. Dabei fuhr eine erneute Windböe in seine Kapuze und hätte sie ihm fast vom Kopf gerissen. Die gestuften Strähnen, die sein Gesicht einrahmten, flatterten umher, als er sich an den Kopf griff, um alles dort zu halten, wo es hingehörte. „Du rauchst viel, oder?“, bemerkte er und der Tonfall seiner Stimme verriet den Versuch, es möglichst beiläufig klingen zu lassen. „Es ist nur“, fuhr er fort und blickte hinüber zum Horizont, der sich langsam rötlich färbte. „Ich habe dich noch nie ohne Zigarette gesehen.“ Auf Bakuras Lippen trat ein müdes Schmunzeln. Er hatte, während Ryou sprach, mit dem Feuerzeug gekämpft und nun einsehen müssen, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war, den Wind zum Kampfe herauszufordern. „Wieso nur fragen mich das heute alle?“ Stumm steckte er Zigarette und Feuerzeug zurück in Mariks Etui, dann schob er es in seine Hosentasche. Als Ryou das kleine Behältnis erblickte, veränderte sich dessen Gesichtsausdruck auf eine merkwürdige Art, die Bakura nicht zu deuten wusste. Der Junge ist total aufgekratzt, schoss es ihm durch den Kopf, während er ihn still musterte und dann hinüber zum Horizont blickte, wo die Sonne langsam über einige Hausdächer empor stieg. Erste Sonnenstrahlen fielen auf sie, brachen sich im umliegenden Schnee und tauchten alles in ein rötliches, warmes Licht. Es wunderte ihn, dass Ryou so unbefangen neben ihm stand, war er doch überhaupt erst dafür verantwortlich, dass er nun hier war. Während er die vergangenen Tage still und weinerlich alles über sich hatte ergehen lassen, machte er nun einen kindlichen, fast unbeschwerten Eindruck auf ihn. Vielleicht der Schlafmangel. Ryou wirkte, als sei ihm alles egal. „Haben die Kunden dich in Ruhe gelassen?“, fragte Bakura schließlich nach einigen Minuten der Stille. Er erinnerte sich an sein Versprechen, nach dem Rechten zu sehen und daran, dass er es bereits Minuten später gebrochen hatte. Ryou schwieg, sah ihn nicht einmal direkt an, leckte sich nur kurz über die bläulich schimmernden Lippen, mied Bakuras Blick. Das war Antwort genug. „Es ist ruhig hier oben“, begann Ryou schließlich und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Bakura ahnte bereits, dass Ryou, sobald er etwas aufgetaut war, sicherlich endlos vor sich hinplappern würde. Er hatte niemanden hier und von den Menschen, die ihm bekannt waren, kannte er Bakura noch am längsten. Ohnehin war es mit Marik und Jonouchi kaum möglich, Gespräche zu führen, die über den intellektuellen Anspruch des Wetterberichts hinausgingen. Geschweige denn mit Yuugi. „Bist du oft hier?“, fuhr Ryou fort und bestätigte den Verdacht des Anderen. „Ja.“ „Wissen die anderen davon?“ Misstrauisch hob Bakura die Augenbrauen. „Nein.“ Seine Stimme kam einem leisen Knurren gleich, perplex über die unverhohlene Neugierde seines Gesprächspartners. „Wäre auch besser, wenn das so bleibt.“ Wenn er auf eines verzichten konnte, dann darauf, sich auch noch hier oben mit Marik herumschlagen zu müssen. Oder mit Malik. Oder sonst wem. Ryou nickte nachdenklich und tippte sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand mehrmals lächelnd gegen den oberen Rand seiner Kapuze. „Roger.“ Sodann schloss er für einige Sekunden die Augen, ehe er den Blick wieder auf die aufgehende Sonne richtete. Ryou benahm sich auf eine Art, die Bakura nicht verstand. Als er ihm ängstlich und weinend gegenüber gesessen hatte, war er ihm leichter zugänglich gewesen als jetzt. „Was ist los mit dir?“, fragte Bakura schließlich und erwischte sich bei dem Gedanken, das Zigarettenetui wieder hervor zu holen. „Ich bin bloß müde…“ Mit schlanken Fingern strich Ryou erneut Strähnen hinter die Ohren. Nur Momente später rutschten sie ihm wieder ins Gesicht. Ryou seufzte resigniert, dann legte er die Hände wieder zurück auf das Geländer. Er hatte etwas fragiles an sich, so dünn und schmal, wie er war. Dabei trug er den Gesichtsausdruck einer Person, die langsam verstand, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte. Bakura lächelte schwach ließ die Fingerspitzen über den gefrorenen Schnee gleiten. „Wie lange arbeitest du schon hier?“, vernahmt er Ryous Stimme nach einer kurzen Periode des Schweigens im Hintergrund. „Ein paar Jahre.“ Er sprach nie über solche Dinge. Es gab zu viele unangenehme Erinnerungen, die unweigerlich mit seiner Zeit hier verknüpft waren. Diese Dinge gingen niemanden etwas an. Ryou hakte nicht nach, beließ es dabei und hing, nachdem er sich abgewandt hatte, stumm seinen eigenen Gedanken nach. Bakura hob den Kopf und betrachtete den jungen Mann, der so geistesabwesend den Sonnenaufgang anstarrte. Das Licht zauberte etwas Farbe in das bleiche Gesicht, das weiße Haar funkelte fast golden. „Mein Gott, das ist wunderschön“, flüsterte Ryou plötzlich leise, wohl mehr an sich selbst als an Bakura gerichtet. Er positionierte die Ellenbogen auf dem Geländer und legte sein Gesicht in seine Hände. „Kaum zu fassen, dass ich neunzehn Jahre darauf gewartet habe.“ Wieder breitete sich ein dünnes Schmunzeln auf Bakuras Gesicht aus. Man merkt, dass er jung ist, dachte er. Jung und behütet. Ryou war eines dieser Kinder, die sich nie den Kopf hatten zerbrechen müssen, wie sie die nächste Miete zahlen sollten. Oder die halbjährlichen Studiengebühren. Er war mittelständisch unbefleckt. Schließlich bemerkte Ryou Bakuras Starren und hob den Kopf. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, ehe ein erneuter Windstoß Ryou endgültig die Kapuze vom Kopf riss. Leise fluchend Band er die Haare wieder zu einem Kopf zusammen und richtete seine Kleidung. Dabei kehrte das zarte Rosa in seine Wangen zurück. Das dunkelrote Licht der aufgehenden Sonne war, ohne, dass sie es bemerkt hätten, in ein kräftiges Orange übergegangen. Mit der Zeit ebbte der Wind ab und die letzten, verbliebenen Vögel zwitscherten tapfer gegen die betäubende Kälte an. „Hast du keine Angst mehr?“, fragte Bakura auf einmal, nachdem sie sich über Minuten hinweg angeschwiegen hatten. Inzwischen hatte er der Versuchung nachgegeben und sich eine Zigarette angezündet. Die ganze Zeit hier zu stehen, am Geländer, und nichts zwischen den Fingern zu haben, mit dem man herumspielen konnte, hatte ihn nervös gemacht. Ryou ließ den Blick sinken und betrachtete still den Schnee. Er wirkte unschlüssig, was er auf diese Frage antworten sollte, und rang lange mit sch selbst, ehe er den Mund öffnete. „Doch.“ Er hob den Kopf und schenkte Bakura einen ernsten Blick. „Die ganze Zeit.“ Ryou lächelte verschmitzt und wandte sich ab. Ihm war das Thema offensichtlich unangenehm, lag darin scheinbar der Grund für seinen heimlichen Besuch auf diesem Dach. Ryou war ein getriebener, so wie er selbst. Lagen sie im Bett, rasten ihre Gedanken, brachten sie um den Schlaf. Bakura erinnerte sich daran, in seiner Anfangszeit ähnlich gefühlt zu haben. Wie oft er schweißgebadet aus unruhigen Träumen geschreckt war, er vermochte es nicht zu sagen. Mit einem Mal spürte er, wie jemand nach seinem Handgelenk griff und es mit einem energischen Ruck herumdrehte. Verwundert hob er die Augenbrauen und blickte Ryou an, der mit gerunzelter Stirn auf Bakuras Hände starrte. Ein dunkelroter Blutrand befand sich unter seinen Fingernägeln. Bakura hatte alles versucht, um ihn abzuwaschen, hatte aber letztlich kapitulieren müssen. Wie bereits erwähnt, dieses Biest war zäh. Selbst im Tod krallte sie sich an ihm fest. „Was hast du da gemacht?“, fragte Ryou atemlos. Bakura war sich nicht sicher, ob er da Argwohn oder Sorge in dessen Stimme vernahm. Beides löste widersprüchliche Gefühle in ihm aus. Er solidarisiert sich mit seinem Geiselnehmer, dachte er und runzelte die Stirn. „Ich habe den Rost von einem der Geländer abgeschliffen“, log er ruhig. „Wir müssen sie neu streichen.“ „Ach so.“ Ryou betrachtete sein Gesicht auf eine Art, die Bakura nur zu deutlich zeigte, dass Ryou ihm nicht glaubte, dass er sehr wohl wusste, was es mit diesen Spuren auf sich hatte. Er ahnte, dass sie der Grund für sein abendliches Fernbleiben darstellten und sein puppenhaftes Gesicht, dass bislang offen und freundlich gewirkt hatte, versteinerte augenblicklich. Bakura konnte regelrecht spüren, wie sich der Junge ihm gegenüber verschloss. Die Verbindung, die sie die Minuten zuvor geteilt hatten, war abgerissen. An diesem Morgen bestand keine Gelegenheit mehr, sie noch einmal herzustellen… Verunsichert trat Ryou einen Schritt zurück. Dabei ließ er das Handgelenk des groß gewachsenen Mannes los, welches er soeben noch fest umklammert gehalten hatte. Mit einem Mal war in ihm ein Sturm widersprüchlicher Gefühle ausgebrochen. Er hatte sich fast wohl gefühlt, hier oben, auf dem Dach, in stiller Abgeschiedenheit. Die Gedanken, die sie miteinander ausgetauscht hatten, die stille Übereinkunft, einander hier oben zu dulden. Und jetzt… so etwas. Still hob er den Kopf, ließ den Blick ein letztes Mal über Bakuras Finger gleiten. Sofort zog sich alles in ihm zusammen. Diese blutroten Ränder. Sein ominöses Verschwinden, obschon er ihm versprochen hatte, ein Auge auf ihn zu haben. „Hier draußen gibt es keine Treppengeländer“, flüsterte Ryou tonlos und holte tief Luft. Sein Puls beschleunigte sich. Still griff er sich an die Kehle, fühlte eine Woge kalter Angst in ihm aufsteigen. Schließlich wandte er sich ab, hob den Kopf gen Himmel, während seine Finger krampfhaft das Geländer umklammerten. Keine Wolke war dort oben zu sehen, nur strahlendes, eiskaltes blau. Bakura antwortete nicht und Ryou war nicht mehr danach, das Gespräch zu suchen. Die positiven Emotionen, die er in den vergangenen Minuten durchlebt hatte, hatten sich binnen kürzester Zeit in Luft aufgelöst. Die subtile Sympathie, die er Bakura entgegen gebracht hatte, war verschwunden und hatte jener grenzenlosen, instinktgesteuerten Angst Platz gemacht, die ihm im Lagerraum zum ersten Mal ergriffen hatte. Niemand von ihnen sprach ein Wort. So verharrten sie einige Minuten, bis Bakura, der derweil zu Ende geraucht hatte, den Zigarettenstummel von sich fort schnippte, und die Hände in die Hosentaschen schob. Während dieser Zeit hatte er Ryou den ein oder anderen Blick geschenkt, unfähig, etwas zu sagen, was die Situation entkrampfen würde. Schließlich gab er auf, wandte sich ab und verließ das Dach. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete Ryou erschöpft auf. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten. Es war zu spät. Viel zu spät. Seine Nerven lagen blank und die Müdigkeit tat ihr übriges. Er musste ins Bett, jetzt. Aufgewühlt und übermüdet umklammerte er das Geländer, beugte sich vor und legte das Gesicht stumm auf den verschränkten Armen ab. Ein, zwei Minuten nur wollte er hier oben noch allein sein. Wollte er verdauen, was er gerade erfahren hatte. Auch, wenn sich dieser Mann ihm gegenüber fast freundlich verhielt, so war er doch nichts weiter als ein- „Mörder“, flüsterte Ryou leise und schloss die Augen. Er nahm einen tiefen Atemzug, richtete sich auf und verließ mit schnellen Schritten das Dach, wissend, dass er auch jetzt keinen Schlaf finden würde. Heute war einfach nicht sein Tag. Kapitel 10: Am Abgrund ---------------------- „…“ Kesson Daslef – Aphex Twin       Es war Ryous hektischster Abend seit seiner Ankunft hier. Schweißgebadet stand er am Tresen, das Tablett, seine wichtigste Waffe, gegen die Brust gepresst. Die übliche, elektronische Musik hallte von den Wänden wieder. Menschen standen dicht gedrängt beisammen, schwitzend, stinkend. Keine ruhige Minute hatte er heute gehabt. Änderung nicht in Sicht. Der Durst dieser Kehlen versiegte nie. Seufzend strich er sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und versuchte, die Geräusche um sich herum auszublenden. Sein Kopf dröhnte seit Stunden. Er konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen und doch musste es weitergehen. Ryou musste weiter machen. Sie alle mussten das. Es gab kein Entrinnen. Er hatte sich angewöhnt, hier unten zu erscheinen, wie Bakura es ihm an seinem ersten Abend eingetrichtert hatte. Ein dünnes, ärmelloses Hemd hatte er über dem Bauchnabel zusammen gebunden, ein Haargummi bändigte seine Mähne. Noch immer schlief er schlecht. Tagsüber zierten zarte Schatten sein Gesicht. Seit man ihn hierher gebracht hatte, waren etwa zwei Monate vergangen. Ein Jahr hatte geendet, ein anderes begonnen. Nachmittags, wenn er die Lunchbox aß, die Bakura ihm täglich vom Kombini mitbrachte, durchforstete er die Zeitungen, die er sich  erbettelt hatte, nach seinem Namen. Er hoffte, dass jemand sein Verschwinden bemerken und darüber berichten würde. Darauf, dass sein Vater eine Vermisstenanzeige schaltete oder die Nachbarn bemerkten, dass das Haus seit Tagen verwaist war. Nichts dergleichen war geschehen. Immer wieder hatte er die Zeitung resigniert zusammen gefaltet und sie neben sich aufs Bett gelegt. Die Blicke des Anderen, der über das Frühstück hinweg noch bei ihm blieb, vermittelten Ryou zu deutlich, dass Bakura jeden seiner Gedanken lesen konnte. Davon abgesehen schlug Ryou sich durch. Nach Tagen erst hatte er realisiert, was ihm widerfahren war. Es gab kein Zurück. Sein Schicksal war irreversibel. Den anderen Gegenüber trug er eine Maske stiller Freundlichkeit. Niemand hatte es bisher gewagt, sein Verhalten zu hinterfragen. Und so weinte er nur, wenn er allein war, zermürbt von der alles dominierenden, ihn innerlich zerfressenden Müdigkeit. Jonouchi und Marik, jene, die er während seiner Tätigkeit im Film Noir allabendlich traf, waren stets gut zu ihm. Sie zeigten Mitgefühl, lauschten seinen Fragen und klopften ihm auf die Schulter, wenn er die Verzweiflung nicht länger verbergen konnte. Den meisten Stunden des Tages jedoch verbrachte er eingeschlossen in seinem Zimmer, dämmerte auf seinem Bett, die Augen wie betäubt auf den Bildschirm des Fernsehers geheftet, ohne bewusst hinzusehen. Bakura sah er kaum. Nachmittags aßen sie gemeinsam. Nach der Arbeit trafen sie sich auf dem Dach, betrachteten den Sonnenaufgang und gingen anschließend getrennte Wege. Ihre Treffen ergaben sich zufällig; doch sie störten einander nicht und so hatten sie sich zum jetzigen Zeitpunkt beinahe aneinander gewöhnt. Seit ihrer Begegnung im Lagerraum hatte sich Bakura ihm gegenüber nicht mehr aggressiv verhalten. Sie sprachen miteinander, wenn auch wenig. Obschon Ryou in seinem Inneren spürte, dass es Bakura war, den er hassen müsste, konnte er die zarte Sympathie, die in seiner Brust spross, nicht verleugnen. Die Ruhe dieses Mannes übertrug sich auf ihn. Wenn er im Moment etwas brauchte, dann das. Er seufzte. Ein kurzer Blick über die Schulter führte ihm vor Augen, dass er keine Ausrede hatte, um noch länger untätig herumzustehen. Gerade heute fiel es ihm schwer, sich aufzuraffen. Stumm verzog er das Gesicht. Er konnte sich nicht helfen - immer wieder glitten seine Gedanken zum Ausklang des gestrigen Abends.       Er saß stumm auf der Betonbrüstung, die das Dach umgab. Seine Beine hingen hinab. Bakura lehnte mit verschränkten Armen neben ihm an der Brüstung, den Blick gedankenverloren auf den Horizont gerichtet. Der Abstand, der am ersten Morgen zwischen ihnen geherrscht hatte, war geringer geworden. Wenn Ryou morgens das Dach betrat, war Bakura meist schon da. Dann stand er an seinem üblichen Platz, die Hände in den Hosentaschen vergraben und zeigte keinerlei Reaktion auf Ryous Erscheinen. Ryou wusste nicht, was er davon halten sollte. Er war bloß froh, dass man ihn endlich in Ruhe ließ. Nur selten wechselten sie einige Worte, unverbindlich, doch nicht ohne gegenseitiges Entgegenkommen. Bakura war verantwortlich für alles, was Ryou die letzten Wochen hatte erleiden müssen. Dennoch begann er, die Gesellschaft des anderen nicht länger als störend zu empfinden. Wenn es ihm half, die Tage zu überstehen, war ihm jedes Mittel recht. Es brachte nichts, sich den Kopf über derlei Dinge zu zerbrechen. Müde blickte er hinab in den Abgrund, der sich unter seinen Füßen auftat. „Mein Vater sucht mich sicher schon“, murmelte er und hob den Kopf, als der Wind ihm einige Haarsträhnen ins Gesicht wehte. Bakura, den er aus den Gedanken gerissen haben musste, hob die Augenbrauen und sah auf. „Glaubst du das wirklich?“ Er nahm einen Zug von der Zigarette, die zwischen seinen Fingern klemmte und schnippte diese anschließend über die Brüstung. Ein dünnes Lächeln erschien auf Ryous Lippen. Es war Antwort genug. „Nein.“ Er ließ den Kopf sinken. „Er hat vor Jahren mit dieser Familie abgeschlossen.“ Ruhig strich er sich die Strähnen zurück hinter das Ohr. Als er Bakuras Blick bemerkte, schlich sich eine zarte Röte auf seine Wangen. „Meine Mutter, meine Schwester und ich hatten einen Autounfall, als ich zehn Jahre alt war.“ Er hielt den Blick steif auf den Horizont gerichtet, während er sprach, die Hände regungslos im Schoß liegend. Wieder umspielte ein Zucken seine Mundwinkel. „Sie sind gestorben, damals.“ Er hob die Hand und schob etwas Schnee vom Geländer. Lange Zeit sagte er nichts. Als er den Mund wieder öffnete, flüsterte er. „Er hat mir nie verziehen, dass es nicht mich an ihrer Stelle getroffen hat.“ Eine stille Traurigkeit überwältigte ihn. Er vermied es, an diesen Tag zu denken. An seine Mutter, ihren regungslosen, im Gurt hängenden Körper und Amane, seine Schwester, deren Haar in dunkelroten Strähnen über ihre Schultern gehangen hatte. Er erinnerte sich an die blauen, angsterfüllten Augen und den Druck ihrer Hand, der immer schwächer geworden war, bis Ryou nichts mehr hatte fühlen können. In gewisser Hinsicht war auch er gestorben an diesem Tag. Das Kind in ihm, er musste es irgendwie verloren haben. Stumm starrte er in den Abgrund. Diese Kraft, die an einem zerrte, wenn man sich in großen Höhen befand - wie würde es sich anfühlen, ihr nachzugeben? Wenn etwas so sehnsüchtig rief, konnte es kaum Sünde sein, zu folgen. Die Hände gegen den Beton gepresst, ließ er sich einige Zentimeter nach vorn gleiten und bemerkte die Schneeflocken, die, durch seine Bewegungen losgelöst, lautlos ins Nichts tanzten. „Weißt du…“ Bakura folgte Ryous Blick und beugte sich selbst so weit über das Geländer, dass sein Kopf mit Ryous auf einer Höhe war. Er verharrte einige Sekunden in dieser Position, hob schließlich den Kopf und blickte Ryou unverwandt an. Bakuras Augen ruhten so ernst auf ihm, dass sich eine kalte Hand um Ryous Herz zu schließen schien. „Das Leben hier ist ein anderes, aber es ist nicht zwingend schlechter als dein altes.“ Ryou hob den Kopf. Waren seine Gedanken so offensichtlich? Vielleicht hatte Bakura bei seiner eigenen Ankunft ähnlich gedacht. Ihre Blicke trafen sich, kaum, dass Ryou begriff, was geschah. Schließlich schossen Tränen in seine Augen, die er weg blinzelte, doch nicht so schnell, als das Bakura sie nicht bemerkt hätte. Verlegen wandte Ryou den Blick ab und strich erneut Strähnen hinter sein Ohr. Sekunden später ertönte im Hintergrund das vertraute Klicken eines Feuerzeugs. Es verscheuchte die dunklen Gefühle, die sich in seinem Herzen angereichert hatten und brachten eine ungeahnte Leichtigkeit zurück. „Du kannst es nicht lassen, oder?“, flüsterte Ryou an Bakura gewandt und warf diesem aus den Augenwinkeln einen neckenden Blick zu. Bakura antwortete nicht. Lediglich ein amüsiertes Schnauben erreichte seine Ohren, das sein eigenes Lächeln unwillkürlich verstärkte. Plötzlich fuhr Ryou herum, beugte sich vor und nahm Bakura die Zigarette, die er sich nur Sekunden zuvor angesteckt hatte, aus den Fingern. Er steckte sie sich zwischen die Lippen, registrierte beiläufig die Feuchtigkeit, die sich am Filter gebildet hatte und schloss die Augen. Als er den Zug nahm, konnte er nicht umhin, sich verrucht zu fühlen und verzog das Gesicht, als das Brennen in seinen Lungen einsetzte. Ryou verkniff sich das Husten, zog jedoch eine Grimasse, die Bakura im Hintergrund auflachen ließ. Es klang merkwürdig unbeschwert. „Das solltest du nicht tun“, murmelte Bakura nachsichtig und nahm die Zigarette an sich, so geschickt, dass seine Finger Ryous’ kaum berührten. Es war ein bevormundender Tonfall gewesen, mit dem er gesprochen hatte und doch konnte Ryou darüber nicht böse sein. Es hatte fast fürsorglich geklungen. Beschützend. „Warum arbeitest du für Malik?“ Die Unverfrorenheit, mit der Ryou diese Frage gestellt hatte, musste Bakura überrascht haben, denn dieser blickte nur kurz auf und schwieg lange. Schließlich wandte er sich mit dem Rücken zur Rüstung und lehnte sich an, die Ellenbogen gegen den Beton gestützt. „Es war die beste Lösung für mich“, antwortete er mit einer Knappheit, die verriet, dass dieses Thema nichts war, worüber er gerne sprach. „Wie lange schon?“ „Zehn Jahre.“ Ryou neigte den Kopf und betrachtete den Mann, der ihn hierher gebracht hatte. Er wirkte müde. Das schmale Gesicht war von Schatten gezeichnet, die vor wenigen Tagen noch nicht da gewesen waren. Im Moment gab es viel Arbeit - das schien selbst vor den höher gestellten Mitarbeitern nicht Halt zu machen. Die Augen, braun wie seine eigenen, zeugten davon, dass er gedanklich entrückt war. Vom Wind zerzaust hing ihm das Haar ins Gesicht. Ryou runzelte still die Stirn. Bakura hatte feine Züge, wohlgeformt, wie aus Porzellan. Seine Haut wirkte so glatt und weich, dass Ryou sich beherrschen musste, seine Hand nicht auszustrecken und mit den Fingerspitzen darüber zu fahren. Sie verfielen in ein Schweigen, das ewig anzuhalten schien. Immer wieder sah Ryou zum Horizont, dessen blutrote Farbe allmählich in ein kräftiges Orange überging. Das Bild von Bakuras Fingernägeln einige Tage zuvor stieg in ihm auf und ließ ihn zusammen zucken. Diese krustigen, rostroten Ränder. Der Stricher, dessen Kehle so zerfetzt war, dass man das Weiß der Wirbel durch das Schwarz der Nacht hatte schimmern sehen können. Wie konnte es sein, dass ein Mensch, der zu solchen Dingen fähig war, neben ihm stand und wirkte, wie jeder andere auch? Er hatte eine kluge, berechnende Art, wie Ryou sie selten zuvor bei Menschen bemerkt hatte. Mit der Kraft eines Ertrinkenden klammerte er sich an ihr fest. „Du bist jemand, der für Geld tötet, nicht wahr?“ Bakura schwieg kurz. „So einer bin ich wohl.“ Lange sahen sie einander an, als versuchten sie, zu ergründen, was in den Gedanken des anderen geflüstert werden mochte. Ryou, die Hände im Schoß, den Schal seiner Großmutter um den Hals gelegt, atmete ein. Bakura wirkte, als habe er ein ganzes Menschenleben verlebt. Irritiert von Ryous ruhiger Reaktion, trat dieser näher heran. „Du hast Angst vor mir.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen. Ryou schüttelte den Kopf, von einer inneren Gelassenheit erfüllt, die er verlernt zu haben glaubte. „Habe ich nicht. Am Anfang…“ Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Dabei betrachtete er sein Gegenüber, der ihn noch immer forschend musterte. Ryou konnte sich nicht helfen, er konnte Bakura nicht hassen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und suchte nach passenden Worten. „Etwas in mir sagt, dass es keinen Grund mehr gibt, Angst zu haben.“ Er lachte bitter. „Dumm von mir, nicht?“ Bakura schnaubte und ließ die Zigarette, die er aufgeraucht hatte, in den Schnee fallen. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar, ein distanziertes Lächeln auf den Lippen. „Ja.“ Ryou begann zu Grinsen. Dieser Moment, die Reaktion seines Gegenübers, alles - er fühlte sich so leicht, als könne er aufstehen und davon fliegen. Er sah zu Bakura und bemerkte, dass dieser sein Grinsen erwiderte. Ryou mochte es. Es ließ die Bitterkeit in Bakuras Augen verblassen und verlieh ihnen ein Leuchten, das Ryous Herz einen Stich versetzte, so schön war es. Für eine Sekunde schloss er die Augen, genoss die Stille, die Sonne auf seiner Haut und das wortlose Einvernehmen, mit dem sie hier die Zeit verbrachten. Als er sie öffnete, hatte Bakura sich schon abgewandt, stand mit verschränkten Armen am Geländer und blickte entrückt zum Ende der Welt. Ryou schenkte ihm ein letztes Lächeln, das unbemerkt verblasste. Dann tat er es ihm gleich.       Mit einem Knall stellte Jonouchi eine Ladung Gläser auf dem Tresen ab. Ryou, der, in Gedanken versunken, alles um sich herum vergessen hatte, zuckte so heftig zusammen, dass ihm das Tablett aus den Händen glitt. Scheppernd schlug es auf dem Boden auf. Als er den Kopf hob, stand Jonouchi direkt vor ihm. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Stirn gerunzelt. Das blonde Haar ihm in feuchten Strähnen in die Stirn. „Ist alles in Ordnung?“ Unsicher trat er näher an Ryou heran. „Du wirkst heute nicht ganz bei der Sache.“ Ryou schüttelte heftig den Kopf und hob abwehrend die Hände. „Nein, es ist nichts.“ Ein entschuldigendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, ehe er sich bückte und das Tablett vom Boden fischte. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, stellte er missmutig fest, dass der Barkeeper ihn noch immer musterte. Er glaubte ihm nicht. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. „Wenn was ist, lass es mich wissen, ja?“ Er klopfte Ryou auf die Schulter, wandte sich ab und verschwand hinter die Theke, vor der sich schon einige Männer versammelt hatten. Schweigend sah Ryou ihm nach. Die gestrige Begegnung mit Bakura wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wann immer er die Augen schloss, sah er ihn vor sich. Bakura hatte, wenn auch nur für einen kurzen Moment, fast unbeschwert gewirkt. Sein Lächeln. Ryou seufzte und presste das Tablett gegen seine Brust. Dann ließ er den Blick über die Menge gleiten. Er erinnerte sich noch daran, wie Bakura ihm an seinem ersten Abend angedroht hatte, ein Auge auf ihn zu haben - seither hatte Ryou ihn hier nicht mehr gesehen. Leere Worte, er kannte das. Dafür stach ihm ein Mann Mitte zwanzig ins Auge, der in einem dunklen Anzug und violettem Hemd im Kreis anderer Männer stand und stets derjenige war, der am lautesten lachte. Das lange, schwarze Haar hatte er mit zu viel Gel zurückgekämmt. An den Handgelenken blitzte eine breite, aus Gold gefertigte Uhr. Auch sonst versuchte er kaum, seinen Wohlstand zu verstecken. Ryou kannte ihn bereits. Wann immer er den Laden betrat, blieb sein Herz stehen. Er war ein grober, ungehobelter Kerl, der wusste, wie man die Grenzen übertrat, ohne dabei erwischt zu werden. Oft schon hatte er Ryou berührt und es aussehen lassen, wie einen Zufall. Seine Freunde nannten ihn Ueno. Den Gehobenen. Ryou folgte Jonouchi hinter die Theke und begann, die Getränke auf sein Tablett zu laden. Dabei sah er hin und wieder zu Jonouchi, der Flaschen öffnete und Gläser füllte. „Bakura ist fast nie hier, was?“, ließ er beiläufig fallen und wischte sich die mit Bier befleckten Finger an der Schürze ab. Jonouchi lachte tonlos auf. „Sei froh“, rief er ihm durch den Lärm zu und blickte sich mit einem Ausdruck übertriebener Wachsamkeit um. „Wenn er sich hier blicken lässt, bedeutet das nichts als Ärger, glaub’ mir!“ Er trocknete seine Hände an dem Handtuch, dass über seine Schulter hing und klopfte Ryou flüchtig auf den Rücken. Dieser lächelte dünn und griff nach einem großen Glas mit dunkelbrauner Flüssigkeit, aus der er durstig einen Schluck nahm. „Dann ist es wohl besser, wenn man ihn nicht sieht“, murmelte er in sein Glas hinein und entlockte dem Barkeeper damit ein übertriebenes Nicken. „Absolut! Dieser Typ - wenn ich nur an ihn denke, geht mein Puls durch die Decke.“ Er schüttelte den Kopf und knallte das Glas, das er in der Hand gehalten hatte, auf den Tresen. Ryou, dessen Grinsen noch breiter wurde, sah hinüber zu der Uhr, die man neben der Theke befestigt hatte und runzelte verwundert die Stirn. Normalerweise ließen sich Yuugi und Marik jede Nacht zwischen zwölf und zwei Uhr auf einen kurzen Besuch blicken. Dann bekam Yuugi sein leuchtend grünes Getränk, während Marik Ryou hartnäckig über den neuesten Klatsch ausfragte. Inzwischen jedoch war es halb vier und niemand von ihnen war bisher hier gewesen. Es war nicht das erste Mal, dass sie fehlten. Mit einer verdächtigen Regelmäßigkeit blieben sie den mitternächtlichen Treffen fern. „Sag mal…“ Ryou und trat näher an seinen Vorgesetzten heran. Es überraschte ihn noch immer, mit welchem Geschick und welcher Schnelligkeit Jonouchi die Gäste bewirtete. Aus ihm sprach eine Routine, die Ryou noch abging. Wieder griff Ryou nach seinem Glas. Diesmal trank er es aus. „Yuugi und Marik waren heute noch gar nicht hier.“ Er hob den Kopf und erkannte sofort, dass er etwas falsches gesagt haben musste. Kaum, dass er den Mund geschlossen hatte, versteinerte Jonouchis eben noch freundlich wirkendes Gesicht. Das Küchentuch, dass er in der linken Hand gehalten hatte, warf er mit einer kurzen Bewegung über seine Schulter, dann wandte er sich ab. „Samstags kommen sie nie“, war alles, was er auf Ryous Kommentar antwortete. Dabei verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck und die Augen, die wachsam auf den Gästen geruht hatten, wirkten müde und leer. Ryou betrachtete ihn stumm, wie er die Gläser ins Wasser tauchte und heftiger schrubbte, als er es zuvor getan hatte und beschloss, das Thema nicht wieder anzusprechen.       Drei Stunden später warfen sie die letzten Gäste aus dem Laden und schlossen ab. Sie hatten länger gearbeitet, als es unter der Woche üblich war und nun, da es auf einmal ruhig wurde nahm man erstmals bewusst das Aroma kalten Rauchs und verschütteten Biers wahr. Jeden Morgen, wenn sich die Türen des Film Noir schlossen, war es an Ryou, den Laden auf Vordermann zu bringen. Er war es, der den Boden wischte, die Gläser einsammelte, sie spülte, aufräumte und darauf achtete, das alles verblieb, wie sie es am Abend des vorigen Tages vorgefunden hatten. In der Zwischenzeit kümmerte sich Jonouchi um die Abrechnung, überprüfte den Bestand im Lager, machte Bestellungen für den Großhandel fertig und lieferte die Listen nach Dienstschluss bei Malik im Büro ab. Seufzend stellte Ryou zwei lasiertem Ton gefertigte Becher auf ein Tablett und blickte hinüber zu Jonouchi, der, noch immer mit maskenhaftem Gesichtsausdruck, an einem Tisch in der Ecke saß, das Gesicht über einen Stapel Papier gebeugt. Neben ihm befand sich die Schatulle mit den Tageseinnahmen. Einige Male noch hatte Ryou versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, hatte letztlich jedoch angesichts seiner wortkarger Art kapituliert. Ryou musste, ohne es zu wollen, einen wunden Punkt in ihm getroffen haben. Das Tablett in der Hand, ging er zu Jonouchi. Dort reichte Ryou ihm wortlos einen der Becher, nahm den anderen an sich und setzte sich ungefragt dazu. Wenig erfreut warf Jonouchi einen Blick auf den dampfenden Inhalt seines Bechers. Wortlos hob er die Augenbrauen. „Findest du nicht, dass das hier der falsche Moment für ein Kaffeekränzchen ist?“, murmelte er und schielte hinab auf den Stapel Papier, den er bisher bearbeitet hatte. Ein Lächeln erschien auf Ryous Lippen. Wortlos beugte er sich vor, nahm die Blätter an sich und platzierte sie außerhalb Jonouchis Reichweite. „Das ist kein Kaffee, sondern Tee. Weißt du, ich kannte einmal einen vom FBI, der fest davon überzeugt war, dass man sich jeden Tag ein Geschenk machen sollte.“ Er nickte, um die Nervosität, die sich in ihm ausgebreitet hatte, zu überdecken. Dann hob er den Kopf. Als ihre Blicke sich trafen, zwinkerte Ryou ihm zu. „Ich glaube, du brauchst ein Geschenk, Jonouchi.“ Der Barkeeper, der bisher nur düster zurück gestarrt hatte, verzog die Lippen zu einem Lächeln. Der Ausdruck in seinen Augen wurde weicher. Er nickte, hob die Tasse und trank einen Schluck. „Als ob du einen vom FBI kennst“, murmelte er spöttisch, doch freundlich. Sie grinsten einander an. „Na klar!“ „Was ist aus dem Typen geworden?“ Ryou zuckte mit den Schultern. „Das weiß niemand. Er ist bei einem Fall verschwunden und nie wieder aufgetaucht.“ „Natürlich.“ Jonouchi schüttelte übertrieben den Kopf. Dann nippten sie schweigend an ihrem Tee, hingen eigenen Gedanken nach und wechselten kaum ein Wort. Irgendwann riss Jonouchis Stimme Ryou aus dem Meer flüsternder Gedanken, in das er abgetaucht war. Irritiert sah er auf. „Was hast du gesagt?“ Ryou hob überrascht die Augenbrauen, den wärmenden Becher schützend in den Händen verborgen. „Es tut mir leid.“ Der Blonde blickte unangenehm berührt auf die Tischplatte. „Mein Verhalten heute.“ Flüchtig schüttelte Ryou den Kopf. „Schon in Ordnung. Wirklich.“ Er trank den Becher aus und stellte ihn zurück auf den Tisch. „Hat dir Bakura erzählt, warum Yuugi und ich hier arbeiten?“ „Er hat bisher kaum irgendetwas erzählt“, antwortete Ryou schulterzuckend und verschwieg den Kommentar, den Bakura am Abend seiner Ankunft über Jonouchis angeblichen Drogenkonsum verloren hatte. Dieser lachte auf. „Das sieht ihm ähnlich.“ Er stellte den Becher zur Seite und lehnte sich zurück. Dort verschränkte er die Arme vor der Brust und senkte den Blick. „Du wirst voraussichtlich noch länger hier sein, also kannst du es ruhig wissen“, begann er und fuhr sich mit der Hand durch das blondierte Haar. „Es gibt Leute, die haben Glück im Leben. Und dann gibt es Yuugi und mich. Vielleicht auch dich, denn ansonsten wärst du nicht hier.“ Er nickte schwach und begann zu Lächeln. „Weißt du, meine Eltern haben sich getrennt, als ich keine zehn Jahre alt war. Eines Tages stand meine Mutter in der Wohnung, einen Koffer in der einen Hand, meine Schwester an der anderen. Sie wirkte wie immer. Bis zu diesem Tag war sie die beste Mutter, die ich mir hätte wünschen können, ernsthaft. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und versprach, sie würde mich nachholen, wenn sie eine Wohnung gefunden hätte, die groß genug für uns war. Aber sie kam nicht wieder.“ Sein Lächeln verblasste. „Nie mehr. Ich muss sie zu sehr an Papa erinnert haben und mit dem hat sie es nicht leicht gehabt. Vielleicht hätte ich es an ihrer Stelle genau so gemacht.“ Der Blonde zuckte mit den Schultern und wirkte verloren. Unschlüssig wanderte sein Blick durch den Raum, die Augen leer, auf einen Punkt gerichtet, den es nicht gab. „Er hat nie verkraftet, dass sie gegangen ist. Er hat getrunken. Erst wenig. Jeden Abend ein Bier, oder zwei. Irgendwann Schnaps, täglich, flaschenweise. Wenn ich das Altglas rausgebracht habe, haben mich unsere Nachbarn angestarrt, mit diesem Blick, der sagt: ‚Hey, ist das nicht der kleine Jonouchi mit dem saufenden Vater? Der arme Junge.‘ - Nicht, dass irgendwer mal irgendwann irgendetwas dagegen gemacht hätte, oder so. Geheucheltes Mitleid war das, nicht mehr.“ Er schnaubte, beugte sich vor und umschloss den Becher mit den Händen, so. „In der Oberschule bin ich an die falschen Leute geraten. Wir haben ziemlich viel Mist gebaut, die Jungs und ich. Wir haben geklaut, uns Schlägereien mit den anderen Banden geliefert, das volle Programm. Die meisten von ihnen sind inzwischen im Bau. Hab’ viel gekokst in der Zeit. Ich weiß nicht mehr, wie das anfing, aber irgendwann hatte es jeder in der Tasche.“ Jonouchi blickte auf, ihre Blicke trafen sich. Ryou schluckte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, oder ob es nicht besser war, den Mund zu halten. Verunsichert lächelte er. Jonouchi tat es ihm gleich. Es waren Dinge von Gewicht, die Jonouchi ihm hier erzählte. Intime, private Dinge. „Nun“, fuhr der Barkeeper fort und schnalzte mit der Zunge. „Hast du eine Ahnung, wie viel das Zeug kostet? Ich sag’s dir: Zu viel. Ich stand verdammt schnell ziemlich tief in der Kreide und wusste nicht, was ich machen sollte. Also habe ich angefangen, für Malik mit dem Zeug zu dealen. In dieser Zeit habe ich Yuugi kennen gelernt. Er war so grün hinter den Ohren. Kleinbürgerlich, aber irgendwie heile Welt, falls du weißt, was ich meine.“ Ryou nickte schwach. Er wusste es, hatte selbst lange Jahre so gelebt. „Wir haben viel zusammen unternommen und irgendwann hab ich ihn dazu überredet, mitzumachen. Auch was zu nehmen. Er wollte am Anfang nicht, aber später - ich glaube, er war einfach neugierig. Erst ein Mal, dann wieder. Ehe wir es gemerkt haben, war er total drauf hängen geblieben.“ Ein Seufzen verließ die Kehle des Blonden, der mit den Fingerspitzen angespannt auf der Tischplatte trommelte. Er lächelte, doch in seinen dunkelbraunen Augen lag stille Traurigkeit. Ryou, der still neben ihm saß, warf ihm hin und wieder einen Blick zu, starrte jedoch die meiste Zeit unangenehm berührt ins Leere. „Plötzlich war Yuugi in der gleichen Situation wie ich. Total überschuldet. Er hat angefangen, seinen Großvater zu beklauen, bis dieser ihn rausgeschmissen hat. Als er hier aufgetaucht ist, hat es in Strömen geregnet. Er war total durchnässt, war den ganzen Weg zu Fuß gelaufen, hatte nur seine kleine Tasche dabei. Ich habe ihn weggeschickt, aber er blieb stehen. Das hier ist kein Ort für ihn, weißt du? Er kann sich einfach nicht durchbeißen. Als Malik ihn gesehen hat, da war mir sofort alles klar. Entweder, er würde hier arbeiten, oder Bakura würde sich um ihn kümmern. Ich sagte, wenn er das tut, bringe ich ihn höchstpersönlich um. Ich hatte Yuugi dazu angestiftet. Wegen mir ist es erst so weit gekommen.“ Er seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. „Die Kunden haben sofort an ihm geklebt, so klein und zierlich, wie er ist. Er ist mehrmals getürmt, aber sie konnten ihn immer wieder einsammeln. Nach dem dritten Mal haben sie ihn fixiert.“ Überrascht hob Ryou die Augenbrauen. „Fixiert?“ Jonouchi nickte, den Blick gesenkt. „Dieses grüne Zeug, das er sich jeden Abend abholt. Sie nennen es Green. Entwicklung von Malik. Das gibt’s sonst nirgendwo. Sie machen dich davon abhängig und bezahlen dich damit, wenn du dich so benimmst, wie sie es gerne hätten.“ Ein Kloß bildete sich in Ryous Hals, der ihm die Luft zum Atmen abschnürte. Verkrampft biss er sich auf die Unterlippe, ließ den Kopf sinken und starrte auf seine Knie. Würde man mit ihm auch auf diese Art verfahren, wenn er sich nicht so verhielt, wie man es von ihm verlangte? Mit seinen hellen Haaren und der weißen Haut war er exotisch und begehrt. Er war, das musste er einsehen, von hohem Wert für Malik. Malik, der Mann, der ihn als sein Eigentum betrachtete. Ryou schluckte, atmete durch und sah auf. Jonouchi blickte ihn an, mit einer Mischung aus Verständnis und Mitleid. Sein Gesichtsausdruck machte alles nur noch schlimmer. „Wann war das?“, fragte Ryou tonlos. „Vor zwei Jahren. Seitdem ist er hier.“ Ryou nickte. Vor seinen Augen drehte sich alles, ihm wurde schwindelig. Kalter Schweiß trat auf seine Hände, die er sich fahrig an den Jeans abwischte. Er bekam Panik. Er wollte hier raus. Sofort. Für einen Moment schloss er die Augen, wartete, bis sein Puls sich beruhigt hatte. Es dauerte, bis er seine Stimme wieder gefunden hatte. „Kokst du noch?“ Der Barkeeper schnaubte und schüttelte heftig den Kopf. „Gott bewahre. Seit Yuugi hier ist, hab ich das Zeug nicht mehr angerührt. Ich bin nur wegen ihm hier.“ Er stöhnte auf und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „Ansonsten wäre ich schon längst weg. Das hier ist nicht gut auf Dauer. Der Laden frisst dich auf.“ Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen und verschwand so schnell, wie es gekommen war. Ryou betrachtete ihn lange, ohne etwas zu sagen. Das war also, was hinter seiner freundlichen und gut gelaunten Fassade steckte. Wie jeder hier, so hatte auch er seine Abgründe. „Du passt auf ihn auf, hm?“, murmelte Ryou gedankenverloren und griff nach Jonouchis Becher, um diesen zusammen mit seinem zurück auf das Tablett zu stellen. „Das bin ich ihm schuldig.“ Mit leerem Blick starrte er Ryou an. „Ich habe sein Leben kaputt gemacht.“ Der Barkeeper zuckte mit den Schultern und versuchte, seine Niedergeschlagenheit mit einem Grinsen zu überspielen. „Aber jeder hat sein Päckchen zu tragen, nicht?“ Von einem Impuls gepackt, beugte Ryou sich über den Tisch und legte seine Hand auf die des Anderen, der überrascht aufblickte. „Du müsstest nicht hier sein.“ Ein ehrliches Lächeln legte sich auf Ryous Lippen. Es machte ihn glücklich, zu wissen, dass es ein Band der Freundschaft gab, welches die beiden auch in solch düsteren Zeiten miteinander verband. „Aber du bist hier und stellst dich deiner Verantwortung. Es gibt nicht viele Menschen, die das tun. Aber du bist hier.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Auch, wenn alles nicht läuft, wie ihr euch das vorgestellt habt, er weiß das zu schätzen, was du tust. Da bin ich mir sicher.“ Jonouchis Miene erhellte sich. Er schmunzelte. Ryou zog die Hand zurück. Überrascht über Jonouchis Offenheit, schlug sein Herz wie wild in seiner Brust. In seinem alten Leben hatte man kaum mit ihm gesprochen, geschweige denn, ihm etwas anvertraut. „Hast du den Müll schon rausgebracht?“, fragte Jonouchi plötzlich, der sich nun streckte und seine Unterlagen von einem der benachbarten Tische fischte. Ryou schüttelte den Kopf. Dann stand er auf, brachte das Tablett hinter die Theke und widmete sich seiner Arbeit. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen, als er die Müllbeutel unter der Theke hervor zog und sich auf den Weg nach draußen machte.       Die Luft war kalt und trocken. Vorsichtig, in jeder Hand einen Müllbeutel, bahnte Ryou sich seinen Weg über den festgetretenen, gefrorenen Schnee. Er müsste hier Salz streuen, dachte er, sonst würde er sich noch den Hals brechen. Stumm ließ er den Blick durch den Innenhof gleiten, einen weitläufigen, schlecht augeleuchteten Ort, den er nur ungern aufsuchte. Zwanzig Meter von ihm entfernt, an der gegenüberliegenden Wand, standen verbeulte Mülltonnen. War Malik im Film Noir, so parkte er hier, sein ausländisches Auto versperrte die Ausfahrt. Ryou hasste diesen Ort. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Hof und versuchte, das Hallen seiner Schritte zu ignorieren. Plötzlich erstarrte er in seiner Bewegung. Hinter ihm klirrte etwas. Sein Herz setzte aus. Langsam wandte er sich um und warf einen Blick in das allumfassende Schwarz, aus dem nur die Umrisse der offen stehenden Tür hervor stachen. Ryou runzelte die Stirn und umklammerte die Beutel, die er in den Händen hielt, fester. Es gab keinen Grund, Angst zu haben. Für solche Geräusche gab es immer eine simple und harmlose Erklärung. Er riss sich zusammen und bahnte sich seinen Weg zu den Mülltonnen. Darauf bedacht, keine lauten Geräusche zu machen, stellte er die Tüten neben sich in den Schnee und steckte die Arme aus um die großen Container zu öffnen. Er kam nicht weit. Man packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn gegen die anliegende Wand. Finger krallten sich in sein Haar, zerrten seinen Kopf zurück und schlugen ihn im Anschluss mehrere Male gegen den dunkelroten Backstein. Ein Keuchen entwich Ryous Kehle, als der Schmerz in seiner Stirn explodierte. Die Schemen, die er in der Dunkelheit hatte ausmachen können, verschwanden in der Dunkelheit. Winzige, bunte Sterne tanzten vor seinen Augen. Seine Knie gaben nach. Man packte ihn unter den Achseln, zog ihn zurück auf die Beine, um ihn anschließend so hart gegen die Wand zu pressen, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Die rauche Oberfläche zerkratzte Wangen und Stirn. Ein fremder Atem pulsierte in seinem Nacken. „Halt’s Maul, klar?! Einen Mucks und ich mach dich kalt.“ Ein Schauer rann über Ryous Rücken, der nun begriff, was geschah. Diese Stimme erkannte er unter tausenden. Ueno. Der Kerl, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte. Erhitzt presste er sich gegen Ryous Körper, lachte heiser und biss Ryou, der die Augen fest geschlossen hatte, lustvoll in den Nacken. Das konnte alles nicht wahr sein. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Angst und der pulsierende Schmerz in seinem Kopf raubten ihm jeden klaren Gedanken. Er wusste, dass das, was folgte, sehr hässlich werden würde. Ueno begann, sich an Ryous Gürtel zu schaffen zu machen schob ein Paar eiskalter Hände in dessen Hose. Ein verzweifeltes Wimmern verließ Ryous Kehle, der sich auf die Unterlippe beißen musste, um nicht loszuschreien. Die Berührungen des anderen brannten auf seiner Haut. Stück für Stück glitt die Hose von seinem zitternden Körper. Hinter ihm ertönten Schritte. Lautstark hallten sie von den Wänden wieder. Man ließ ihn los. Ryou, benommen von dem Schlag gegen seinen Kopf, glitt lautlos die Wand hinab, wo er zwischen Schnee und Müll sitzen blieb. Ungeschickt zog er sich die Hose hoch und brauchte lange, bis er den Gürtel wieder an Ort und Stelle hatte. Er hob den Kopf, blickte sich um und hielt inne. Bakura hatte Ueno am Kragen gepackt und presste ihn nun mit seinem Oberkörper gegen die Mülltonnen. Sein Gesicht, das blass in der Dunkelheit leuchtete, war vor Zorn verzerrt. Mit seiner dunklen, kalten Stimme redete er ununterbrochen auf den anderen ein, doch Ryou, dessen Kopf zu sehr schmerzte, verstand kaum etwas von dem, was gesagt wurde. Einem Rauschen gleich lullten ihn die Worte ein. Er warf einen Blick hinüber zu der offenen Tür, durch die er den Hof betreten hatte. In der Nähe der angrenzenden Wand, auf dem Boden, lag eine brennende Zigarette. Im Hintergrund polterte es. Ryou wandte sich um, die Augen aufgerissen auf die sich ihm bietende Szenerie gerichtet. Ueno, groß gewachsen und wehrhaft, hatte zum Gegenangriff angesetzt. In der unterlegenen Position, hatte er Bakura am Kragen seines Hemdes gepackt und näher zu sich heran gezogen. Hasserfüllt starrten sie sich an. „Was ist los mit dir?!“, fauchte Ueno und machte provokativ eine Bewegung nach vorn, die durch Bakuras Griff ausgebremst wurde. Es schien, als genoss Ueno die Konfrontation. Ein hohles Grinsen hing schief auf seinen Lippen. „Na sag schon! Ist das alles?“ Ueno legte den Kopf in den Nacken und lachte los. „Hat dich dein Vater als Kind nicht hart genug rangenommen, oder was? Kaum zu fassen, dass sie Versager wie dich hier arbeiten lassen.“ Ryou, dessen Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, runzelte die Stirn. Uenos Worte schienen einen Schalter in Bakura umzulegen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Bakura riss die Augen auf, die Pupillen kaum größer als Stecknadelköpfe. Der Griff um den Kragen des Eindringlings verfestigte sich. Als er den Mund öffnete, war seine Stimme kaum mehr als ein Wispern. „Ich bring dich um.“ Er löste eine Hand, ballte sie zur Faust und schlug dem anderen mit einer ungeahnten Heftigkeit ins Gesicht. Uenos Kopf flog ein Stück nach hinten, seine Hände lösten sich von Bakuras Kragen. Als er sich gefangen hatte, traf ihn die Faust erneut. Schon bald flossen erste Rinnsale dunkelroten Blutes über sein Antlitz, das von Schlägen hin und her geschüttelt wurde. Als er jede Gegenwehr eingestellt hatte, ließ Bakura ihn los. Uenos Beine, die keinen Halt auf dem glatten Boden fanden, gaben nach und sein massiger Körper klatschte hallend auf den Grund. Sekunden später war Bakura über ihm, verpasste ihm einen Tritt gegen den Kopf, beugte sich herab und packte Ueno am Kragen, so hart, dass sich sein Körper wieder vom Boden löste. Mit offenem Mund betrachtete Ryou die Szene. Er kämpfte sich zurück auf die Beine, die Arme um den Oberkörper geschlungen und blickte ratlos zwischen den beiden hin und her. „Bakura!“ Keine Reaktion. Er hatte vollkommen die Beherrschung verloren. Seine Augen waren erfüllt von einem Blutdurst, den Ryou von ihm nicht kannte. Bakura scherzte nicht. Wenn er so weiter machte, würde er ihn tatsächlich umbringen. „Hör auf!“ Erschrocken hob Ryou den Kopf und blickte hinüber zu der Tür, durch die er das Gelände Minuten zuvor betreten hatte. Jonouchi, der den Lärm gehört haben musste, trat mit schnellen Schritten an sie heran. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, die Schürze abgelegt. Sein blasses Gesicht zierte eine Mischung von Empörung und Entsetzen. „Verdammt, willst du ihn umbringen?!“ Er hatte Bakura erreicht und ihn, der gerade zum nächsten Schlag ausholte, so hart am Arm gepackt, dass dieser innehielt. „Ja!“ Bakura ließ Ueno los und richtete sich auf. Seine Brust hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen, seine Wangen, sonst weiß wie Schnee, waren in kräftiges Rot getaucht. Er war völlig außer sich. Bevor Jonouchi reagieren konnte, hatte Bakura ihn gepackt und zu sich heran gezogen. Jonouchis Gesichtszüge, die selbst in größer Wut meist ihre Form behielten, entgleisten angesichts Bakuras Reaktion vollends. „Du solltest auf ihn aufpassen!“ Bakura schüttelte ihn so heftig, das Jonouchis Widerstand binnen Sekundenbruchteilen erstarb. „Mach deinen Job gefälligst anständig. Und schaff mir dieses Arschloch hier raus. Wenn er sich hier noch einmal blicken lässt, mach ich ihn fertig.“ Wütend knallte er den Barkeeper gegen die Wand und war mit wenigen, raschen Schritten verschwunden. Ueno, übel zugerichtet, lag röchelnd in einer Lache eigenen Blutes. Verstört verschränkte Ryou die Arme vor der Brust und blickte zu Boden. Er war erschrocken über Bakuras Brutalität, die er, wenn er sie auch am eigenen Leib erfahren hatte, nicht so roh und brutal in Erinnerung gehabt hatte. Bisher hatte Bakura bei allem, was er tat, egal, wie grausam er vorgegangen sein mochte, berechnend und kalkulierend agiert. So unbeherrscht vorzugehen, das sah ihm nicht ähnlich. Ryou fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und hob den Kopf. Sein Gesicht schmerzte. Er würde kein schöner Anblick sein, wenn sich die Prellungen dunkel färbten und die Wunden verkrustet waren. Wenn man ihm die heutige Nacht ansah, würde das Probleme nach sich ziehen. Fehlerhafte Ware brachte kein Geld. Jonouchi, der Bakura zornig hinterher gestarrt hatte, betastete mit den Fingerspitzen seinen Hals an jenen Stellen, an denen er ihn zuvor gepackt hatte. „Dieser Idiot“, flüsterte er so laut, dass Ryou ihn hören konnte. Ryou, der sich der Attacke gegen ihn schuldig fühlte, trat wortlos näher an den Barkeeper heran. „Ist alles in Ordnung?“ Jonouchi nickte wortlos und betrachtete den zusammengeschlagenen Ueno, der fast besinnungslos auf geronnenem Blut herum kaute. „Ein Glück gehört er zu keinem Syndikat.“ Leise seufzend schüttelte er sich die Haare aus dem Gesicht. „Sonst hätten wir jetzt echt Ärger am Hals, glaub mir. Bakura kann nur hoffen, dass der ihn nicht anzeigt. Malik flippt aus, wenn er davon erfährt.“ Ryou stöhnte, fuhr sich mit den Fingern über die aufgerissenen Stellen an seiner Stirn und zuckte zusammen, als der Schmerz wie ein Nadelstich durchs einen Kopf schoss. Er zweifelte daran, dass Ueno sich nach dieser Lektion noch trauen würde, Bakura bei der Polizei zu melden. „Was machen wir jetzt mit ihm?“ Ryou warf Jonouchi einen ratlosen Blick zu, ehe sie gemeinsam Ueno anstarrten. Der Barkeeper zuckte mit den Schultern. „Wir packen ihn in meinen Wagen und werfen ihn vor der Notaufnahme raus.“ Er trat an Ryou heran und klopfte ihm flüchtig auf die Schulter. Dann wandte er sich um und steuerte auf die Tür zu, die zurück ins Film Noir führte. Stumm verschränkte Ryou die Arme vor der Brust. „Das kommt davon, wenn man sich mit schwächeren anlegt“, flüsterte er bitter und spuckte, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand hinsah, vor Ueno auf den Boden. Dann folgte er Jonouchi in das Innere des Gebäudes, wobei er versuchte, nicht in die roten Pfützen zu treten, die sich um sie herum auf dem Boden ausgebreitet hatten. Kapitel 11: Spielothek ---------------------- Es war ihm unmöglich zu begreifen, dass er seit mehreren Monaten hier sein sollte. Der Januar neigte sich bereits dem Ende und auch, wenn die Sonne gelegentlich die viel zu kurzen Tage erhellte, hingen die Temperaturen hartnäckig jenseits des Gefrierpunktes fest. Jeden Morgen, bevor er zu Bett ging, betrachtete er das Funkeln des Raureifs, der Bäume und Sträucher überzog und schmeckte sie, die kalte, trockene Winterluft. Von seinem Vater hatte er nichts ausfindig machen können. Inzwischen hatte er es aufgegeben, die Zeitungen nach ihm zu durchforsten und sich dem Wissen, dass man ihn vergessen hatte, hingegeben. Er versuchte, sich mit seinem Schicksal abzufinden. Nichts würde sich ändern. Es machte die Dinge nur schmerzhafter, je mehr er sich dagegen sträubte. Das einzige Geschenk, dass er sich in seiner Lage machen konnte, war, sich in die Situation einzufügen. Soweit er es beurteilen konnte, schlug er sich gut. Das Ticken der Wanduhr, seiner einzigen Verbindung zur Realität, hallte blechern und seltsam hohl in seinen Gedanken wider. Es brachte ihn um den Schlaf und doch wagte er es nicht, die Batterien zu entfernen. Die glänzenden, schwarzen Zeiger waren in den Stunden des Wartens der einzige Wegweiser in eine Welt, die ihm keinerlei Orientierung mehr bot. Es war fünf nach drei. Seit Stunden schon war er wach, doch die Müdigkeit war nicht verflogen, im Gegenteil. Er fühlte sich abgekämpft, zu massiv, um sein Lager auch nur für einen Gang zur Toilette zu verlassen. Er hatte den Fernseher eingeschaltet, wann, daran erinnerte er sich nicht, nahm er vom Programm ohnehin kaum Notiz. Es bildete eine Geräuschkulisse, die seine Gedanken in Watte packte und ihn vor sich selbst schützte, nicht mehr. Er wartete. Auf Ihn. Tag für Tag. Er sehnte sich nach dem Moment, an dem das leise Quietschen der sich öffnenden Tür seine Lethargie durchbrach, nach dem Lächeln, das auf seinen Lippen erschien, wenn sich ihre Blicke das erste Mal trafen. Wenn seine Hände feucht wurden und sein Herz zu klopfen begann. Die Besuche des Anderen hatten sich zu einem Trost spendenden Ritual entwickelt. Er wusste, es war masochistisch. Trotzdem klammerte er sich daran wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz. Es bildete die einzige Sicherheit, die ihm geblieben war. Wortlos harrte er aus, einem Knecht gleich, der auf seinen Herrn wartete. Das Zigarettenetui, welches Bakura so oft in den Händen gehalten hatte, hatte Ryou schon lange nicht mehr gesehen. Von einem auf den anderen Tag war es verschwunden. Seither rauchte Bakura seine Zigaretten aus dem Päckchen, in dem er sie kaufte. Ryou hatte sich gewundert, doch keine weiteren Fragen gestellt. Nur der Stich, der seine Brust mit der Intensität einer heißen Nadel durchfuhr, wann immer er an die beiden dachte, hatte ihn den restlichen Tag auf Trab gehalten. Das Klicken des Türschlosses durchschnitt das Rauschen des Fernsehers und ließ Ryou erschrocken aufhorchen. Plötzlich hellwach fuhr er herum, die Augen weit aufgerissen. Nie zuvor war es vorgekommen, dass sich jemand vor vier Uhr blicken ließ. Überwältigt von der Befürchtung, der frühe Besuch könne nichts Gutes verheißen, blickte er zum einzigen Ausgang. Als die Tür zu erkennen gab, mit wem er es zu tun hatte, entglitten seine Gesichtszüge. Nicht Bakura, sondern Marik, Jonouchi und Yuugi standen im Türrahmen. Während Yuugis Mundwinkel ein zartes Lächeln umspielte, stand der Barkeeper feixend hinter ihm. Es war ungewohnt, die beiden in ziviler Kleidung zu sehen. Schlicht gekleidet, mit Jeans, Sweatjacke und Turnschuhen, blickten sie auf ihn hinab. Nur Marik stach mit seinem Hang zu exzentrischer Kleidung zwischen den anderen hervor, eingehüllt in die voluminöse, nach Patchouli duftende Plüschjacke und hautengen Hosen aus schwarzem Leder. Der junge Mann schmunzelte und kaute betont lässig auf einem Kaugummi herum. Alles an ihm, jede Bewegung, jeder Lidschlag, brachte zwangsläufig etwas anstößiges mit sich. Verwirrt ließ Ryou den Blick zwischen den Besuchern hin und her gleiten und begann nach einigen Sekunden des Schweigens voll Freude zu strahlen. „Was macht ihr denn hier?“ Er begann zu lachen, strich sich fahrig einige der blassen Haarsträhnen hinter das Ohr. Yuugi ließ sich neben ihm aufs Bett fallen und ergriff Ryous Hand. Er verschränkte ihre Finger miteinander und betrachtete Ryou mit ungetrübter Freundlichkeit. „Wir sind gekommen, um dich abzuholen, Ryou-kun“, sagte er aufgeregt und nickte, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Seine Hände waren warm und weich, überzogen von einem Film kaum wahrnehmbarer Feuchtigkeit. Ryou lächelte und erwiderte nichts. Manchmal, wenn man nicht damit rechnete, brach dieses Leuchten aus Yuugi hervor. Diese Leichtigkeit, die sich mit jedem Lächeln auf sein Gesicht legte, musste ihn bei seinen Freiern so beliebt machen. Es musste diese Eigenschaft gewesen sein, die Jonouchis Aufmerksamkeit erregt hatte, damals, als sie zusammen zur Schule gegangen waren. Viel war davon nicht geblieben. Nach all den Jahren des käuflichen Sex, hatten ihn die fremden Körper zu sehr abgenutzt. Nur manchmal, da bahnte es sich sein wahres Naturell den Weg zurück nach draußen. Dann wirkte er vergnügt wie ein kleines Kind. „Malik und Bakura mussten weg.“ Marik verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türrahmen. Dabei hob er den Kopf auf eine Art, die klar machte, dass er mehr wusste, als er durfte. Der Stricher zwinkerte Ryou schelmisch zu. „Geschäftlich. Es wird spät. Vor heute Abend sind sie nicht wieder hier.“ Yuugis Händedruck verstärkte sich. „Wir wollen in die Spielothek“, platzte es aus ihm heraus und er begann, unruhig auf und ab zu wippen. Er wirkte aufgedreht, konnte kaum an sich halten, die Augen glänzten glasig. Sein letzter Schuss lag nicht lang zurück. Ryou kannte ihn inzwischen gut genug. Marik fuhr sich mit den Fingern durch das karamellblonde Haar und ließ den Blick durch Ryous winziges Zimmer gleiten. Unverständnis und Abscheu ergriffen mit jeder verstreichenden Sekunde zunehmend die Macht über sein Gesicht. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Und hier lassen sie dich den ganzen Tag? Das Zimmer hat ja nicht mal sechs Matten. Du musst mitkommen, hörst du? Das ist ja ‘ne regelrechte Gummizelle.“ „Wie viel Zeit haben wir denn?“ Ryou hob die Augenbrauen. Das Angebot war verlockend, doch konnte so viel schiefgehen. Was, wenn Bakura und Malik früher zurück kehrten? Was würde man dann mit ihnen machen? Jonouchi warf einen beiläufigen Blick auf seine Armbanduhr und zuckte mit den Schultern. „Etwas mehr als drei Stunden. Schau nicht so kariert, es wird nichts passieren.“ Er lachte heiser über seine eigene Bemerkung, nur Ryou verzog besorgt das Gesicht. „Wo habt ihr den Schlüssel her?“, fragte er, ohne auf die vorangegangene Bemerkung einzugehen. Jonouchi verstummte. Auf Mariks Gesicht breitete sich ein wissendes Lächeln aus. „Jonouchi hat vor Jahren heimlich eine Kopie des Generalschlüssels anfertigen lassen.“ Die Hand auf den Mund gepresst, lachte Ryou auf. Jeden Tag verstand er ein Stück mehr, warum Bakura, der Kontrolle und Ordnung liebte, Jonouchi auf den Tod nicht leiden konnte. Doch so viel Dreistigkeit und kriminelle Energie hatte Ryou nicht einmal ihm zugetraut. „Wirklich?!“ Der Barkeeper signalisierte Marik mit einem kühlen Blick, dass es besser war, nun den Mund zu halten und verschränkte schließlich betont gleichgültig die Arme hinter seinem Kopf. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte er in die Luft. „Kein Kommentar.“   Von unzähligen Menschen eingerahmt standen sie im Erdgeschoss der mehrstöckigen Spielhalle und hatten Mühe, sich ihren Weg durch die Massen zu bahnen. Die Geräusche unzähliger Automaten übertönten alles, vermischten sich mit lauter, elektronischer Musik, die aus Lautsprechern über ihren Köpfen ertönte. Es war ein Rausch der Sinne, der, hatte man ihm sich erst einmal für längere Zeit ausgesetzt, anschließend absolute Stille verlangte. Das Licht war schummrig, kaum hell genug, als das man sehen konnte, wohin man ging, nur durchbrochen durch den Schein blinkender Bildschirme. Dazwischen mischte sich der Qualm rauchender Geschäftsmänner, die ihre kurzen Pausen nutzten, der Einsamkeit zu entfliehen, die sie auch nach Feierabend an jenen Ort trieb. Überreizt glitten ihre Augen durch das Dämmerlicht, sogen alles in sich auf wie Schwämme, die man nach langer Zeit der Dürre zum ersten Mal mit Wasser benetzte. Sie liebten es. Ryou, der früher oft mit seiner Schwester an solchen Orten gewesen war, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Unfähig, nur ein Wort zu sagen, nahm er einen Schluck Cola aus einer Dose, die sie an einem der umstehenden Automaten gezogen hatten. Marik stand neben ihm und paffte, die Blicke der umstehenden ignorierend, Zigarillos. Zusammen betrachteten sie Jonouchi und Yuugi, die zusammen an einer Konsole standen und sich bei einem Prügelspiel zeigten, wer hier das Sagen hatte. Selbst aus der Ferne erkannte man das ausgelassene Strahlen, welches ihre Gesichter beherrschte. „Sie wirken unbeschwert, wenn sie dort so stehen, nicht?“ Ryou blickte Marik, der die Hände in die Hosentaschen schob, aus den Augenwinkeln an. Er lächelte mild und nickte. „So waren sie früher sicher immer.“ Marik nickte stumm. „Oh ja. Die Schule schwänzen und in Spielhallen rumhängen.“ „Und Manga lesen.“ Sie lachten. Es war ein freies, ausgelassenes Lachen, das Ryou ein wenig von jener Anspannung, die sich über die vergangenen Monate auf seine Schultern gelegt hatte, nehmen konnte. Sie lachten, bis ihre Bäuche schmerzten und Tränen über ihre Wangen liefen. Als sie sich beruhigt hatten, hakte Marik sich bei Ryou ein und klaute ihm wortlos etwas Popcorn. Dann nickte er Yuugi und Jonouchi, die noch immer miteinander beschäftigt waren, zu. „Das wird noch eine Weile dauern. Komm, wir suchen uns auch etwas.“ Er löste den Griff und ging vor. Ryou blickte ihm nach. Es dauerte nur wenige Sekunden und schon war der braungebrannte junge Mann zwischen den Menschen verschwunden. In dem Moment, als Ryou zum ersten Schritt ansetzte, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Augenblicklich erstarrte er. Zum ersten Mal seit Monaten war er unbeobachtet. Niemand kümmerte sich um ihn, niemand bewachte ihn, niemand würde ihn aufhalten, wenn er sich jetzt auf dem Absatz umdrehte und das Weite suchte. Langsam wandte Ryou sich um und blickte in Richtung des Ausgangs. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, der Strom seines Blutes rauschte in seinen Ohren. Wenn er wollte, war dies sein Tor in die Freiheit. Er musste nichts weiter tun, als rauszugehen und sich in ein Taxi zu setzen. Die Freiheit war zum Greifen nah. Sie lag ihn seinen Händen. Und doch... Wenn er jetzt ging, riss er die Anderen in den Abgrund. Sie würden zwangsläufig auffliegen. Er wollte sich den Ärger, der darauf folgte, nicht ausmalen, wusste er nur zu gut, zu was Malik in der Lage war. Außerdem lagen seine Papiere in Maliks Büro. Und auch, wenn er nie wieder zu seinem alten Wohnhaus zurückkehren würde, konnten sie immer noch an seinem Vater Vergeltung üben. All jene Menschen, die ihm vertrauten, sie würden den Preis seiner Freiheit zahlen. Vor seinem inneren Auge flackerten Bilder vergangener Tage auf. Bakura, rauchend, auf dem Dach stehend, den leeren Blick in den Abgrund gerichtet. Sie beide balancierten auf Messers Schneide, um nicht endgültig den Halt im Leben zu verlieren. „Ryou?“ Der Junge fuhr herum, die Augen groß, starr vor Schreck. Er fühlte sich ertappt. Kaum einen Meter von ihm entfernt stand Marik und blickte ihn fragend an. Das Haar hing ihm ins Gesicht, die gepflegten Fingernägel deuteten auf den Gang hinter ihm. Unsicher runzelte er die Stirn. „Was ist los?“ Er trat einen Schritt näher heran, doch Ryou hob beschwichtigend die Hände und setzte ein Lächeln auf. „Es ist nichts“, hörte er sich sagen. Seine Stimme erklang wie aus weiter Ferne. „Gehen wir.“   Marik war niemand, der sich mit Renn- und Kampfspielen anfreunden konnte. Ryou ging es ähnlich. Da auch Glücksspiel nicht ihrem Geschmack entsprach, blieben sie nach einigen Minuten ziellosem Umherschlenderns vor einer Ansammlung von Greifautomaten stehen. Aus weißem Kunststoff und Plexiglas gefertigt, waren sie bis auf wenige Ausnahmen mit Plüschtieren und Merchandise bekannter Animeserien gefüllt. Kaum, dass die Maschinen in ihr Sichtfeld getreten waren, begannen Mariks Augen zu leuchten. Er packte Ryou am Handgelenk und zog ihn mit sanfter Gewalt hinter sich her. Als sie die Maschine erreichten, prallte Ryou, nicht länger Herr seines Körpers, schwungvoll dagegen. Nur mit Mühe hielt er sich auf den Beinen. „Wenn meine Geschwister das sehen könnten. Sie wären so neidisch.“ „Währen sie das?“ Benommen fuhr sich Ryou mit den Fingern durch das Haar und betrachtete, wie Marik ohne zu zögern sein Portemonnaie öffnete und einige Hundertyenmünzen heraus nahm. Verhalten trat Ryou ein Stück näher an ihn heran, musterte den Inhalt der Maschine. Es handelte sich um große, aus weißem Plüsch gefertigte Stoffhasen, die man auf einer langen Stange aufgereiht hatte. Man musste sie mit der am Dach der Maschine befestigten Kralle in den Schacht befördern, um sie entnehmen zu können. „Du bist nicht aus Japan“, bemerkte Ryou trockener, als beabsichtigt. Marik nickte schwach. „Ich komme aus Ägypten.“ „Aus Ägypten?“ „Ja.“ Marik warf das Kleingeld ein, ohne näher auf Ryous Frage einzugehen. Dieser lehnte sich gegen die Maschine und betrachtete den Stricher still, die Stirn in Falten gelegt. „Warum in Japan?“, brach es schließlich aus ihm hervor. Der Andere zuckte mit den Schultern. „Studium. Wirtschaft und Japanisch. Sie sagten, hier in Japan liegt die Zukunft.“ Ryou lächelte müde und drückte die Stirn gegen das Plexiglas. In seinen Ohren klang diese Äußerung wie ein schlechter Scherz. „Die Blase ist geplatzt. Wir sind mitten in der Krise.“ „Solche Dinge gehen vorbei.“ Marik beugte sich ein Stück vor. Die Tasten des Geräts blinkten wild und er las still die Betriebsanleitung, die man auf einer Plakette notiert hatte. Ryou schlang die Arme um seinen Oberkörper und betrachtete ihn nachdenklich. „Wie lange bist du schon hier?“ „Seit zwei Jahren.“ Marik hob den Kopf und verzog die Mundwinkel zu einem gequälten Schmunzeln. „Aber es lohnt sich für mich mehr, hier zu arbeiten. Ehrlich gesagt will ich gar nicht zurück. In Ägypten machen sie Jungs wie mich fertig. Und heiraten müsste ich auch. Meine Familie...“ Mit schlanken Fingern betätigte er die blinkenden Knöpfe. Die Kralle begann zu surren und suchte sich ihren Weg. Seine Augen waren ausdruckslos auf die Szene gerichtet, das Gesicht wie versteinert. „Ich bin der älteste Sohn, sie erwarten es von mir.“ Ryou antwortete nicht. Stattdessen verließ ein leises Seufzen seine Kehle. Die Fingerspitzen gegen das Glas gelegt, betrachtete er den anderen stumm, ehe er den Blick abwandte. Alle, einfach alle schienen vor irgendetwas auf der Flucht zu sein. Vor sich selbst, vor den Taten ihrer Vergangenheit. Sie alle waren auf der Suche. Nach Frieden, Glück, wer wusste das genau zu sagen. Erneut zuckte Marik mit den Schultern. „Schau nicht so, Ryou. Ich liebe den Job. Ernsthaft. Keine Ahnung, warum ich mich all die Jahre umsonst verramscht habe.“ Ihre Blicke trafen sich und nach einer Sekunde der Stille brachen sie in Gelächter aus. Nicht so ungehalten, wie zuvor, doch es vertrieb für einen Moment die Sorgen aus Ryous Gedanken. Es war Mariks pragmatische Sicht auf die Dinge, die große Ängste klein wirken ließen. Er erwartete vom Leben, dass sich die Dinge irgendwie richteten, und bislang schien er mit dieser Einstellung erfolgreich durchs Leben gekommen zu sein. Aus dem Nichts heraus begann Marik zu fluchen. Die Kralle hatte ihr Ziel verfehlt und kehrte nun an ihre Ausgangsposition zurück. Das Spiel war verloren. Ryou griff in seine Hosentasche und holte einige Münzen hervor. „Lass mich mal.“ Sie tauschten die Plätze. Ryou warf das Geld in den Münzschlitz und startete das Spiel. „Bakura und du, ihr habt die gleichen Zigarettenetuis, nicht?“, fragte er dann, den Blick stur auf die Greifvorrichtung gerichtet. Er war zu schüchtern, solch direkte Fragen zu stellen, doch nun, wo er Marik nicht in die Augen blicken musste, brachte er den nötigen Mut auf. „Ja.“ Marik, der mit der Schulter an der Maschine lehnte, drehte sich auf den Rücken und begann, wahllos vorüberziehende Passanten anzuflirten. „Ich hab’s ihm geschenkt. Von meinem ersten Gehalt im Film Noir. Er hat mir damals den Job dort besorgt, weißt du?“ Er lächelte, während sich in Ryous Magen alles zusammen zog. Ryou ließ sich nichts anmerken, umklammerte lediglich den kleinen Joystick, mit dem er die Kralle steuerte, etwas fester. „Ach so“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Ich bin in einer Kneipe in ihn reingelaufen. Ich weiß gar nicht mehr, wo genau. In Ni-Chome? Ist auch egal. Du hättest ihn mal sehen sollen.“ Marik begann zu kichern. In seiner Stimme hatte sich der Klang des nostalgischen eingeschlichen, die Augen waren auf Dinge gerichtet, die Ryou nicht sehen konnte, gehörten sie schon ewig der Vergangenheit an. „Auf drei Kilometer hat man ihm angesehen, in welchem Business er tätig ist.“ „Warum das?“ „Diese viel zu schneidigen Anzüge, alles auf Hochglanz poliert. Er hatte Goldringe an den Fingern und einen Pferdeschwanz. Er sah aus wie diese typischen Zuhälter in Kabukicho.“ Marik strich sich einige Strähnen hinter das Ohr und seufzte gedankenverloren. „Er hat mich dann gefragt, ob ich das nicht mal ausprobieren möchte. Nun bin ich hier. Eine glückliche Verkettung von Zufällen, wenn man so will. Neben Malik bin ich wahrscheinlich der einzige, der es nicht hasst, dort zu arbeiten.“ Ryou sagte nichts. Stechend stieg die Eifersucht in ihm auf, seine Hände wurden feucht. Die Kralle hob sich. Zu ihrer beidseitigen Überraschung hatte sie etwas gefangen. Ein etwa fünfzig Zentimeter großer Plüschhase fiel in den Gewinnschacht. Wortlos nahm Ryou ihn hervor und betrachtete ihn still, ehe er ihn Marik überreichte. Dieser lächelte, auf seine weiche, feminine Art, schlang die Arme darum und nickte Ryou beschwichtigend zu. „Mach dir keine Sorgen.“ Der Stricher beugte sich nach vorn und drückte Ryou einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Als er Ryous verlegenen Gesichtsausdruck bemerkte, wandte er sich amüsiert ab und schlenderte zu einer der angrenzenden Spielekonsolen. Schweigend, die Wangen von einem zarten Kribbeln erfüllt, blickte Ryou ihm hinterher. „Was?“ Marik wandte sich um, die Augen funkelten im Licht der Neonröhren. „Wir sind kein Paar. Bakura und ich. Wir sind nicht zusammen und waren es nie.“ Ryous Atem stockte. Sofort verfärbten sich seine Wangen dunkelrot. Ertappt schob er die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans und starrte auf den Linoleumboden, dunkelgrün und klebrig von verschütteten Getränken. Er zuckte mit den Schultern, ließ den Kopf sinken und tappte Marik, eingehüllt in den Zigarettenqualm der Anderen, still hinterher.   An diesem Abend ging Ryou die Arbeit leichter von der Hand. Angestachelt von dem Gefühl, etwas verbotenes getan zu haben und damit davon zu kommen, konnte er heute über das zudringliche Verhalten der Gäste hinweg sehen. Seit dem Zwischenfall mit Ueno hatte sich das Klima deutlich verbessert. Er war seither nicht zurück gekehrt, was daran liegen mochte, dass er vermutlich noch immer im Krankenhaus lag. „Oi, Ryou!“ Von dem Ruf aus den Gedanken gerissen wandte Ryou sich um und hob die Hände, als er etwas auf sich zufliegen sah. Ehe er realisieren konnte, um was es sich handelte, prallte ein kleines, silbernes Päckchen gegen seine Brust und fiel raschelnd in seine Hände. Bunt bedrucktes Zellophan. Erdnüsse. Ryou hob den Kopf und erblickte Jonouchi, der gut gelaunt hinter der Theke stand und ihn nachdrücklich zu sich heran winkte. „Mach mal kurz Pause. Komm her.“ Stumm trat Ryou hinter die Theke, wo Jonouchi ihm mit einer schnellen Handbewegung das Haar zerzauste. Ryous Protest ignorierte er gekonnt und stützte sich schließlich mit dem Ellenbogen auf der Schulter des Jüngeren ab. „Wer hat eigentlich bei euch gewonnen?“, fragte Ryou, den Blick auf die Schar von Geschäftsmännern gerichtet, die hier ihren Abend ausklingen ließen, ehe sie betrunken in ihre Wohnungen torkelten. Nomikai. Jonouchi kniff die Augen zusammen und ging auf Abstand. „Ich natürlich.“ Er ließ Ryou los und deutete energisch mit beiden Daumen auf seine Brust. „Ich bin der Meister der Prügelspiele!“ Vergnügt lachend hob Ryou die Augenbrauen. Jonouchi, empört den Kopf schüttelnd, packte Ryou an den Schultern und zog ihn näher an sich heran. „Kein Spaß!“ Yuugi ist ein geschickter Spieler, aber wenn es um Schlägereien geht, kann nicht mal er mir das Wasser reichen.“ „Na, wenn du das sagst, Jonouchi...“ Ryou sagte dies nicht ganz ohne freundlich gemeinten Spott, was dem anderen nicht entging. Gut gelaunt grinsten sie einander an, verbunden in stiller Freundschaft, als Ryou aus den Augenwinkeln etwas bemerkte, das sein Lächeln gefrieren ließ. Am Ende des Raumes bahnten sich Yuugi und Marik ihren Weg durch die Menge. Es war Yuugi, der eilig voran ging. Beide wirkten gehetzt, prallten gegen Gäste und verfehlten Tische und Stühle einige Male nur sehr knapp. Als Jonouchi bemerkte, wie Ryous Lächeln verblasste, wurde auch er ernst. Er wandte sich um, folgte Ryous Blick, da hatte Yuugi sie schon erreicht. Mit schnellen Schritten lief er zu ihnen hinter die Theke, wo er ungebremst gegen den Barkeeper prallte. Aufgelöst stand der junge Stricher vor ihnen, seine Schminke war den Tränen zum Opfer gefallen, Mascara und Lidschatten liefen in schwarzen Schlieren über sein Gesicht. Die Augen waren gerötet, ebenso die Wangen. Der zierliche Körper bebte unter Schluchzern. Sowohl auf dem linken Jochbein als auch an den Oberarmen fanden sich dunkelrote Striemen. Wie ein Fisch auf dem Trockenen öffnete er immer wieder den Mund, doch kein Laut verließ seine Lippen. Stattdessen klammerte er sich hilfesuchend an seinem Freund fest, der ihn unschlüssig und besorgt betrachtete. „Es tut mir leid.“ Sie blickten hinüber zu Marik, welcher an der Theke stand und entschuldigend die Hände hob. „Er ist mir einfach entwischt. Ich konnte nichts tun. Ich wollte ihn aufhalten, aber er ist einfach abgehauen.“ Mit den Fingerspitzen hob Jonouchi Yuugis Gesicht an und betrachtete die dunkelroten Flecken, die quer über Yuugis Gesicht verliefen. Mit jeder Sekunde verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck zunehmend. Man hatte den Jungen regelrecht zusammen geschlagen. Langsam schwoll das linke Auge zu. „Übernimm kurz für mich“, sagte er an Ryou gewannt, so kalt, dass es diesem die Nackenhaare aufstellte. Dann packte er Yuugi an den Schultern und führte ihn behutsam in den angrenzenden Lagerraum. Sprachlos blickte Ryou den beiden hinterher. Dann wandte er sich an Marik. Sie tauschten unschlüssige Blicke. „Was ist denn passiert?“ Noch steif vor Schreck, begann Ryou, Bier zu zapfen. Mechanisch stellte er die Gläser auf der Theke ab, nahm das Geld entgegen und steckte es in die Kassenschublade. Aus dem Nichts schlangen sich ein Paar schlanker Arme um seinen Oberkörper. Es war Marik, der zu ihm gekommen war und sich nun von hinten an ihn schmiegte. Still platzierte er sein Kinn in Ryous Halsbeuge. Es war nicht das erste Mal, dass sie so zusammen standen. Es war seine Art, Sympathie zu bekunden. Die Gäste störte es wenig. Ungeachtet dessen trieb es Ryou nach wie vor die Röte ins Gesicht. „Einer der Kunden ist übergriffig geworden und hat Yuugi um die Einnahmen geprellt“, flüsterte er leise. Der Hauch seiner Stimme jagte Ryou einen Schauer über den Rücken. Ohne es zu merken, entglitt ihm das Glas, dass er gehalten hatte und fiel zu Boden, wo es in tausend Einzelteile zersprang. Wie betäubt blickte Ryou auf den Scherbenhaufen zu seinen Füßen. „Und jetzt?“, flüsterte er tonlos. Ein bittersüßes Schnauben glitt über seine Haut. „Jetzt wird es hässlich.“ Marik seufzte und lehnte die Stirne gegen Ryous Schulter. Dieser starrte geradeaus und schwieg. Nach einer Zeit niedergeschlagener Stille zog er Ryou näher an sich heran. „Die Kunden buchen Leistungen. Wenn sie nicht zahlen, stimmt bei Feierabend die Kasse nicht.“ „Diesem Malik entgeht nichts, was?“ „Er hat seine Augen überall.“ Minuten später wurde die Tür hinter ihnen aufgeschoben und gab Jonouchi und Yuugi preis. Sie wirkten um Jahre gealtert. Noch immer waren die Augen des Strichers vor von den Tränen, die er zuvor vergossen hatte. Er schien sich etwas beruhigt zu haben. Marik ließ Ryou los und ging zu seinem üblichen Platz hinter der Theke. Sie wagten kaum, einander in die Augen zu sehen. War die Stimmung am Nachmittag noch ausgelassen gewesen, so war nun das Gegenteil der Fall. Wortlos zog Jonouchi eine Glasflasche unter dem Tresen hervor und reichte Yuugi Sekunden später das allabendliche Schnapsglas mit der kaktusgrünen Flüssigkeit. Das Glas fest umklammert, setzte dieser sich neben Marik. Ryou sagte nichts. Mit gesenktem Blick spülte er von den Gläsern, wovon er sich nicht reinwaschen konnte. Die anderen signalisierten mit jeder Bewegung, dass sie wussten, was nun folgte, während er allein mit seiner Ratlosigkeit zurecht kommen musste. Er wagte es nicht, zu fragen und malte sich gedanklich bereits das Schlimmste aus. Irgendwann hob er den Kopf und ließ den Blick ziellos umher schweifen. Sie alle wirkten seltsam entrückt. Marik, der Mittags noch mit den Passanten geflirtet hatte, starrte gedankenverloren auf das Thekenholz, während Jonouchi, der einem Roboter gleich ein Glas nach dem anderen abfertigte, nur hin und wieder den Kopf reckte und einen prüfenden Blick über die Menge schickte. Er schien nach etwas Ausschau zu halten. Nur Yuugi wirkte, nun, da die Tränen versiegt waren, merkwürdig unbeeindruckt. Still betrachtete er sein Glas, ehe er es in einem Zug leerte. Sein Blick war gezeichnet von einer Melancholie, die man auf den ersten Blick leicht übersah. Eine blasse Hand legte sich auf Yuugis Schulter. Ryou runzelte die Stirn und hob den Blick, nur um eine Sekunde später inne zu halten. Ein lautloses Zittern durchlief die Runde, jeder von ihnen schien zu Eis erstarrt. Bakuras Augen funkelten bedrohlich im Halbdunkel. Das schummrige Kneipenlicht verstärkte die Schatten, welche schon tagsüber sein schmales Gesicht zeichneten und verliehen ihm die Ausstrahlung eines Mannes, mit dem man es sich besser nicht verscherzte. Er trug die Uniform des japanischen Büroangestellten. Eine graue, schmal geschnittene Nadelstreifenhose, lederne Schuhe und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er bis über die Ellenbogen hochgekrempelt hatte. „Oben gab es Tumult.“ Er sprach leise, doch so nachdrücklich, dass selbst Ryou ihn über all die Distanz noch verstehen konnte. „Was ist passiert?“ Schweigen war die einzige Antwort, die er erhielt. Je länger er wartete, desto dunkler wurden die Schatten in seinem Gesicht. Leise knurrend verstärkte er den Griff um Yuugis Schulter. „Wird’s bald?“ Sie tauschten betretene Blicke. Dann, nach anfänglichem Zögern, war es Marik, der den Mund öffnete und die Stille durchbrach. Seine Stimme, sonst voller Selbstbewusstsein, klang resigniert, war kaum mehr als ein Flüstern. „Einer der Gäste ist handgreiflich geworden und hat Yuugi um die Einnahmen geprellt.“ Bakura verzog das Gesicht. Für eine Weile sagte er nichts, dann beugte er sich nach vorn und tauschte einige vielsagende Blicke mit Yuugi, der ruhig zwischen ihnen saß und sich nicht gerührt hatte. „Das wird den Boss interessieren, glaubst du nicht auch?“ Yuugi nickte. Dabei wich die letzte Farbe aus einem zugeschwollenen Gesicht. Marik, dessen Hände zu Fäusten geballt auf seinen Knien ruhten, schloss die Augen, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen gepresst. Plötzlich schepperte es hinter ihnen. Ryou riss die Augen auf und fuhr herum. Es dauerte nicht lange und er erkannte Jonouchi, der, beim Versuch, so schnell wie möglich den Thekenbereich zu verlassen, einige der frisch gespülten Gläser umgerissen hatte. Ehe Ryou und Marik ihn aufhalten konnten, hatte er Bakura am Kragen gepackt und mit einer heftigen Handbewegung zu sich heran gezogen. „Du verdammter Mistkerl!“ Seine Finger verkrallten sich im weißen Hemdstoff. Sein Gesicht war rot vor Zorn, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Durch seine Haut traten die Knöchel weiß schimmernd hervor. „Fass ihn noch ein Mal an und ich mach dich fertig. Glaub mir, ich sorge dafür, dass deine eigene Mutter dich nicht mehr als ihren Sohn erkennt.“ In Sekundenbruchteilen waren alle auf den Beinen. Marik erwachte aus seiner Lethargie und auch Ryou ließ alles stehen. Zusammen packten sie Jonouchi an den Armen und versuchten, ihn von Bakura herunter zu zerren, doch ohne Erfolg. Die beiden Männer, die sich in ihrer ganzen Feindseligkeit ineinander verkrallt hatten, bewegten sich keinen Zentimeter. „Lass mich sofort los.“ Bakuras Stimme war nicht mehr als ein Knurren. Voller Selbstbeherrschung packte er Jonouchis Hand, versuchte, sie zu lösen, doch der Andere zeigte keine Reaktion. „Du überspannst den Bogen, Katsuya.“ Der Blonde lachte kalt. Er zog Bakura noch näher zu sich heran. „Aber du, was? Du überspannst ihn jeden Tag. Du kannst dir deine Großkotzigkeit nur erlauben, weil du Maliks Liebling bist, vergiss das nicht.“ Er atmete tief ein und spuckte vor Bakura auf den Boden. „Du bist die einzige Nutte hier, und das weißt du ganz genau.“ Stille. Die Musik, so laut, dass sie jede Konversation erschwerte, schien zu verstummen. Fassungslos starrten sie den Blonden an, der wieder im Begriff war, den Mund zu öffnen, als Yuugi aufsprang und sich zwischen die beiden drängte. „Jonouchi, hör auf!“ Sein Gesicht, sonst das eines Kindes, war vor Wut verzerrt. „Es reicht. Hör auf. Es ist genug. Es ist in Ordnung. Bitte.“ Wie vom Donner gerührt, erstarrte der Barkeeper. Nur langsam lockerte sich der Griff um Bakuras Hals. Bakura, der auf diese Gelegenheit gewartet hatte, ergriff sie und löste sich mit einem Ruck aus Jonouchis Händen. „Yuugi, was sagst du da?“ Der Jüngere setzte ein Lächeln auf, doch es wirkte maskenhaft und falsch. Jeder hier wusste, dass er sich opferte, damit sein bester Freund nicht in Schwierigkeiten geriet. Vorsichtig schob er die beiden ein Stück auseinander. „Bitte.“ Seine Stimme klang flehend. „Es war mein Fehler und ich muss die Verantwortung dafür übernehmen.“ Jonouchis Mund klappte auf. Verständnislos hob er die Hände und trat näher an seinen Freund heran. „Yuugi, du hast überhaupt nichts getan. Das ist doch bescheuert!“ Er packte ihn an den Schultern. Sein Gesichtsausdruck pendelte zwischen Verständnislosigkeit und Sorge. Bakura, der hinter ihnen stand und sich beherrscht den Hemdkragen richtete, funkelte Jonouchi hasserfüllt an. Die beiden hatten sich noch nie gut verstanden, doch heute hatte ihre Antipathie ein neues Level erreicht. „Du hast ihn gehört“, knurrte er und verzog missbilligend das Gesicht. „Jetzt schieb deinen Arsch zurück hinter die Theke und mach deine verdammte Arbeit.“ Knapp nickte Bakura Yuugi zu, der diese Geste erwiderte und sich anschließend peinlich berührt eine der blonden Strähnen hinter das Ohr strich. Die Energie, die ihn soeben beflügelt hatte, hatte sich aufgelöst. Still blickte er zu Boden, die Arme schutzsuchend vor der Brust verschränkt. Ein letztes Mal tauschten Bakura und Jonouchi Blicke aus. „Das wird ein Nachspiel haben, klar?“ Mit vor Zorn funkelnden Augen stierte Jonouchi zurück. Niemand in diesem Raum schien mehr Selbstbewusstsein, mehr Standhaftigkeit zu haben als diese beiden Männer. „Leck mich, Bakura. Ernsthaft. Leck mich.“ „Dir wird das Lachen noch vergehen, verlass dich drauf.“ Erneut legte er Yuugi die Hand auf die Schulter. Es war sein Stichwort. Zusammen verschwanden sie in der Menschenmenge und ließen die Verbliebenen ratlos zurück. Steif und mit geballten Fäusten starrte Jonouchi ihnen hinterher, bereit, bei der kleinsten Provokation erneut auf Bakura loszugehen, während Ryou und Marik still nebeneinander standen. Einmal mehr stiegen in Ryou die Bilder seiner Ankunft auf, die Szene, in die er hinein geraten war, als er das erste Mal Maliks Büro betreten hatte. Schweigend blickte er Bakura nach, blinzelte sie fort, die Bitterkeit, die plötzlich von ihm Besitz ergriffen hatte.   Gegen drei Uhr am Morgen - die Zahl der Gäste hatte sich zur Zeit des letzten Zuges beachtlich gelichtet - wurde am anderen Ende des Schankraumes jene schwarze Metalltür aufgeschoben, die zu Maliks Büro führte. Es war Bakura, der heraus trat und er war allein. Er wirkte abgekämpft und müde, schien obendrein blasser zu sein, als sonst. Obschon er zum Rauchen stets nach draußen ging, schob er sich, kaum, dass die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, eine Zigarette zwischen die schmalen Lippen und zündete sie an. Anschließend sank er mit dem Rücken gegen die Wand, die linke Hand in der Hosentasche vergraben. Sein Hemd war makellos sauber, die Ärmel immer noch hochgekrempelt. Marik, der wie besessen zu jener Tür gestarrt hatte, sprang auf, sobald er den Anderen sah und eilte durch die verbliebenen Gäste hindurch zu ihm. Ryou und Jonouchi blickten auf und unterbrachen ihre Arbeit. Obwohl Bakura auf Marik stets mit offener Ablehnung reagierte, verhielt er sich dieses eine Mal merkwürdig neutral, als der junge Stricher ihn in ein Gespräch verwickelte. Sie standen dicht beieinander, redeten ernst und interagierten auf eine vertraute Art, die Ryou nicht entging. Den Kopf gegen den Backstein gelehnt, die Zigarette zwischen den schlanken Fingern eingeklemmt, antwortete Bakura lediglich einsilbig auf das, was sein Gegenüber ihm zu sagen hatte und während Marik stets den Blickkontakt suchte, wich Bakura diesem gezielt aus. Als Marik erkannte, dass er keine weiteren Informationen erhalten würde, schob er sich an Bakura vorbei und verschwand. „Ich gehe ihm hinterher.“ Ryou warf Jonouchi das Spülhandtuch zu, dass er soeben noch in den Händen gehalten hatte, und zog die Schürze über seinen Kopf. Er hatte damit gerechnet, dass Jonouchi ihn aufhalten würde, doch dieser sagte nichts. Manchmal, da brauchte es keine Worte, um auszudrücken, dass man das gleiche fühlte. Raschen Schrittes durchquerte Ryou den Schankraum, besorgt über den Anblick, der sich ihm gleich bieten würde. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Hände waren kalt und zitterten. Selbst Bakura wirkte verstört über das, was in Maliks Büro vorgefallen sein musste. Wie schlimm hatte er Yuugi zugerichtet? Wie schwer mochte er verletzt sein? Plötzlich packte ihn jemand am Oberarm und brachte ihn zum Stehen. Der Griff brannte wie Feuer. Ryou, der einen Moment brauchte, um zu realisieren, was vor sich ging, hob den Kopf. Es war Bakura, der ihn festhielt. In der Linken noch immer die Zigarette haltend, gruben sich die Finger seiner rechten Hand unbarmherzig in seine Haut. Ihre Blicke trafen sich. Die wachen, intelligenten Augen des Anderen, die stets eine bedrohliche Kälte ausgestrahlt hatten, trugen nun einen Ausdruck, den Ryou nicht deuten konnte. Er wusste nur, dass ihm jetzt, in diesem Moment, alles zu viel wurde. Er wollte nicht mehr. Er hatte die Nase voll davon, ständig herum geschubst zu werden. Mit einem ungeahnt harten Ruck riss er sich los und trat einen Schritt zurück. Er war wütend über das, was geschehen war und machte keinen Hehl daraus. Seine sonst warmen Augen schienen aus Eis zu sein. Zornig starrten sie Bakura an, seine ganze Körperhaltung drückte den Abscheu aus, den er ihm gegenüber in diesem Moment empfand. „Fass mich nicht an.“ Etwas in Bakuras Gesicht flackerte auf, dann verschwand es. Sie blickten einander für einige Sekunden stillschweigend an, ehe Ryou - es fühlte sich an, als habe er eine Ewigkeit so verharrt - sich abwandte und Marik hinterher lief. Keine Worte hätten ausdrücken können, was er in diesen Sekunden Bakura gegenüber empfand. Es war besser für sie, es nicht auszusprechen. Kapitel 12: Licht und Schatten ------------------------------   Für Kronenprinz     “I don't know just how it happened; I let down my guard Swore I'd never fall in love again, but I fell hard Guess I should have seen it coming; caught me by surprise Wasn't looking where I was going; I fell into your eyes   You came into my crazy world like a cool and cleansing rain Before I, I knew what hit me, baby, you were flowing through my veins”   Avicii - Addicted to you     Er wusste nicht, was ihn her getrieben hatte. Der Ärger, der in ihm rumorte, erstickte jeden klaren Gedanken im Keim. Das Unbehagen über Ryous Verhalten ihm gegenüber kurz zuvor schien ihn von innen her regelrecht aufzufressen. Und doch stand er hier und wartete. Er konnte sie nicht vergessen, diese Emotionslosigkeit, die er in Ryous Augen gesehen hatte. Die Wut, der Abscheu - all das hatte so aufrichtig gewirkt, dass sein Herz für einen Moment zu schlagen aufgehört hatte. Wann immer er blinzelte, sah er das Gesicht des Jüngeren vor sich aufblitzen. Dieser so weich wirkende Junge, der aus dem Nichts heraus eine Kälte ausstrahlte, dass es schmerzte. Nie zuvor hatte Ryou ihn auf diese Art zurück gewiesen. War es das, was er in Wirklichkeit über ihn gedacht hatte, all die Wochen, die sie zunehmend miteinander verbracht hatten? Wenn er seine wahren Gedanken ihm gegenüber all die Zeit hinter einer Maske falscher Freundlichkeit verborgen hatte, sollte er es Bakura ins Gesicht sagen. Er musste wissen, woran er war. So stand er nun direkt vor Ryous Zimmertür, wartete in der Dunkelheit. Grübelte nach über den Abend, die Dinge, die geschehen waren. Wenn eine Zigarette sich dem Ende neigte, zündete er rasch die nächste an. Nicht einmal sie vermochten es, seine Gedanken zum Schweigen zu bringen. Rastlos nahm er einen Zug nach dem anderen, zwischendurch ein bitteres Grinsen auf den Lippen. Wenn Marik ihn nun sehen könnte - Bakura konnte sie sich bereits denken, die dummen Sprüche, die ihm der Stricher stecken würde. Wenn er denn überhaupt noch mit ihm sprach, nach diesem Abend. Seine Position war nicht die beste im Moment, das leuchtete ihm ein. In jener Sekunde, als Ryou sich seinem Griff entwunden hatte, hatte sich alles in ihm zusammen gezogen. Stille Wut und verletzter Stolz hatten im Anschluss die Kontrolle über ihn übernommen. Er fühlte sich betrogen und es war lange her, dass er dieses Gefühl das letzte Mal vernommen hatte. Er schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und sog den Rauch so tief in seine Lungen, dass er sie bis in den letzten Winkel ausfüllte. Diese Gefühle, die in ihm rumorten, er hasste sie. Er war ihrer überdrüssig, schon lange, doch sie wichen nie von seiner Seite. Sie waren seine Dämonen, seit er denken konnte beherrschten sie alles in ihm. Er war ihnen ausgeliefert, machtlos angesichts ihrer schier unendlichen Überlegenheit. Sie waren der Grund für seine Gier nach Kontrolle und Ordnung. Nach außen dringen ließ er nichts davon. In Folge dessen fühlten sich Kopf und Brust stets an, als explodierten sie, wenn er nicht bald etwas unternahm. Jede wache Minute stand er unter einer Anspannung, die ihn wahnsinnig machen würde, hätte er sich nicht schon so daran gewöhnt, dass er sie in den meisten Momenten nicht bewusst wahrnahm. Dieser Druck, der sich in ihm ausbreitete wie ein Krebsgeschwür, ließ ihn zittern, wenn er nicht rauchte. Ohne seine Zigaretten hätte er die Kontrolle schon vor langem verloren. Sie waren seine Stütze in einer Welt, die keinen Halt mehr bot. Er hatte nichts tun können. Es war sein Job, das Arschloch zu sein, zwischen Malik und den anderen zu stehen. Niemandem, nicht einmal sich selbst, konnte er in dieser Position gerecht werden. Er wusste das und bislang hatte es ihn kaum gestört. Malik hatte ihn verpflichtet, er selbst stand zu tief in der Schuld seines Arbeitgebers, als dass er sich ihm widersetzen konnte. Jeder Mensch auf diesem Planeten verfügte über Rechte und Pflichten. Jeder musste sich daran halten. Auch er. Brach er aus, verlor er alles, was er sich in seinem Leben aufgebaut hatte. Es war ihm unbegreiflich, wie Yuugi es schaffte, sich in die ausweglosesten Situationen zu manövrieren. Den anderen Strichern geschahen solche Dinge nie. Sie kamen ihrer Arbeit nach, lieferten bei Geschäftsschluss ihren Anteil ab und waren ansonsten kaum zu sehen. Nur mit diesem Jungen gab es seit dem ersten Tag nichts als Ärger. Er hat einen schwachen Charakter, schoss es Bakura durch den Kopf. Sie zog liquide Männer an, das mochte sein, doch brachten sie ihre zweifelhafte Gesinnung und die restlichen Probleme gerne mit sich. Und die Drogen. Junkies waren keine guten Arbeitnehmer, so viel stand fest. Nicht mal mehr zur Hurerei taugten sie. Konnte Ryou nicht sehen, dass er nicht anders handeln konnte? Dieser Junge war feinfühliger als der Durchschnitt, das war Bakura früh aufgefallen. Er nahm Dinge wahr, die anderen verborgen blieben, manchmal auch dem Menschen, zu dem sie gehörten. Bakura hatte es in seinen Augen gesehen. Trotz ihrer Wärme zeigten sie, dass er mehr erlebt hatte, als es bei Jungen seines Alters der Fall sein sollte. Sie zeigten, dass sein Inneres älter war als sein Äußeres. Nur an diesem Abend, da war er blind gewesen. Konnte Bakura es ihm verübeln? Er war in Sorge um seinen Freund gewesen. Es war ein wesentlicher Zug seiner Persönlichkeit, solche Dinge zu tun. Es war genau das, was Bakura, ohne, dass er es jemals zugeben würde, so sehr an ihm schätzte. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. Es ärgerte ihn, dass er etwas auf Ryous Gedanken gab. Normalerweise agierte er anders. In seinen Händen liefen die Fäden des Geschäftes zusammen, ihm oblag die Kontrolle über alles, was sich geschäftlich im Film Noir abspielte. Über die Stricher, über die Gäste, die Wirtschaft, den vorlauten Barkeeper, den er am liebsten mit sofortiger Wirkung vor die Tür setzen würde. Über sich. Jederzeit. Auf dem Flur ertönten Schritte. Ryou. Bakura erkannte ihn am Klang seines Ganges. Lautlos blickte er auf, ließ die Zigarette auf den gefliesten Boden fallen und trat sie mit der Fußspitze aus. Der Jüngere wirkte gehetzt. Trotz der kürzeren Arbeitszeit heute sah er müde und abgekämpft aus. Sein Blick verkündete, dass er nicht bei sich war, sondern gedanklich immer noch mit den vorherigen Geschehnissen kämpfte. Lustlos zog er den Zopfgummi aus den Haaren und löste den Knoten, der sein Hemd zusammen hielt. Er bemerkte Bakura nicht und Bakura verzichtete darauf, ihn auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Stattdessen sah er dabei zu, wie Ryou die Zeichen der Arbeit von seinem Körper strich, betrachtete die filigranen Finger und die grazilen Handgelenke. Alles an ihm schien so zerbrechlich, als sei es aus Porzellan. Der Körper, der weder sehr feminin noch männlich wirkte, war das Fleisch gewordene Sinnbild androgyner Geschlechtslosigkeit. Seit er im Film Noir arbeitete, hatte sich der Umsatz im Schankraum deutlich erhöht. Er hatte etwas an sich, dass die Kunden anzog, etwas, das nicht einmal Marik ihnen geben konnte. Am Kragen seines Hemdes fanden sich Spritzer von dunkelroter Farbe. Blut. Wahrscheinlich Yuugis. Es wunderte ihn, dass es nur so wenig war.   „Was ist jetzt schon wieder?“ Malik klang genervt. Bakura kannte das bereits, doch dieses Mal mischte sich etwas in seine Stimme, dass jedem Eindringling vermittelte, dass er nicht gestört werden wollte. Mit verschränkten Armen stand er vor seinem Arbeitstisch, der, wie so oft, über und über mit Unterlagen bedeckt war. Das Gesicht war vor Konzentration ausdruckslos. Er sah nicht auf, als Bakura die Tür öffnete und sein Kommen ankündigte. Dieser wusste, dass es unangenehm werden konnte, wenn man Malik in solchen Situationen störte, doch er konnte jetzt keine Rücksicht darauf nehmen. Maliks Begrüßung ignorierend, zog er die schwere Feuerschutztür, welche zu seinem Büro führte, hinter sich zu und nickte mit warf einen flüchtigen Blick zu Yuugi, der mit gesenktem Kopf hinter ihm stand. Er vermied es, Malik anzuschauen und schlang schutzsuchend die Arme um den ausgemergelten Oberkörper. Sie kannten das schon, war Yuugi, der wirkte wie ein Tier, das wusste, dass es zum Schlachter ging, schon oft in diesem Büro gewesen. Bakura schob die Hände in die Taschen seiner dunkelgrauen Anzughose und wartete. „Es gibt ein Problem.“ Wann gab es das nicht? Malik erbarmte sich und sah auf, in den Händen hielt er einige Blätter bedruckten Papiers. Sein Blick war kalt, die Stimme frostig. „Schon wieder?“ Ein unangenehmes Schweigen legte sich über die kleine Gruppe. Hinter Bakura ertönte Yuugis Atem der vor Nervosität zitterte. Bakura, der ihn bisher mit seiner groß gewachsenen Gestalt verdeckt hatte, trat einen Schritt zur Seite und gab ihn frei. Die Präsenz des Strichers war Antwort genug. Mehrere Stellen in seinem Gesicht und an den Armen leuchteten feuerrot. Es war ein Wunder, dass die Haut dort, wo man sie getroffen hatte, nicht aufgeplatzt war. Nun, da der Übergriff ein wenig zurück lag, zeichneten sich die Fingerknöchel jener Faust ab, die Yuugi geschlagen haben musste. Bakura sagte nichts dazu, doch er konnte nicht bestreiten, dass er beeindruckt war von dem Maß an roher Gewalt, die sich am Körper des Jungen abzeichnete. Sah man genauer hin, erkannte man ein Zittern, das von Yuugis Gliedern Besitz ergriffen hatte. Still betrachtete Bakura ihn aus den Augenwinkeln. Es war kein Geheimnis, was dort oben geschehen war und es ärgerte ihn, dass es so etwas trotz der Maßnahmen, die sie ergriffen, passiert war. Wenn etwas schief ging, fiel es auf ihn zurück. Er trug die Verantwortung. In seiner Hand lief alles zusammen. Es war sein Versagen, nicht das der Türsteher. Ganz abgesehen davon, dass sie Yuugi mit dem Schaden, den man an ihm angerichtet hatte, vorerst nicht einmal mehr würden einsetzen können. Kaum, dass er Yuugi erblickt hatte, verließ ein Stöhnen Maliks Kehle. Er knallte den Bleistift, den er in der rechten Hand gehalten hatte, auf den Tisch und nickte zwei Männern, die Bakura zuvor nicht bemerkt hatte, bestimmt zu. Sie befanden sich hinter ihm auf dem Sofa, beide groß, schlank, jung und gut gebaut. Bakura kannte sie, wenn auch nur flüchtig. Während der eine sein brünettes Haar in der Stirn hoch frisiert hatte, trug der andere es schwarz glänzend zum Pferdeschwanz gebunden. Rote Stoffbänder zogen sich durch die dunklen Strähnen, an seinen Ohren funkelten silberne Würfel. Unter dem linken, smaragdgrün schimmernden Auge befand sich ein Strich schwarzen Kajals. Die beiden Männer waren die Aufreißer des Clubs, standen bei jedem Wetter draußen und brachten dem Laden jene Kunden, die zu schüchtern waren, den Fuß aus eigenem Antrieb über die Türschwelle zu heben. Sie waren verantwortlich dafür, Stricher anzuwerben und dealten, wenn frischer Stoff ins Haus kam. Wie die meisten im Haus verhielten sie sich unauffällig. Die meiste Zeit sah man sie kaum. „Wir sind am Arbeiten, das siehst du, ja?“ Malik wandte sich um und schritt hinüber zu einer aus dunklem Holz gefertigten Kommode, deren oberste Schublade er aufzog. Bakura, an den der Kommentar gerichtet war, presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Es war eine rhetorische Frage, die keine Antwort erforderte. Statt etwas zu sagen, richtete er den Blick auf die beiden Türsteher, die ihn mit unverhohlener Neugierde anstarrten. Bakura seufzte. Das konnte alles nicht wahr sein. „Ja, das sehe ich“, erwiderte er trocken. „Gut, dann setz dich. Das hier wird noch etwas dauern.“ Malik nahm ein Päckchen mit weißem Pulver aus der Schublade und warf es den beiden Männern auf dem Sofa zu. Der schmalere, jener mit den smaragdgrünen Augen fing es und öffnete es rasch, ehe er die Spitze seines kleinen Fingers mit dem Inhalt benetzte. Schweigend leckte er es ab. Kurz darauf runzelte er die Stirn. „Das ist kein Koks.“ Malik lachte auf und trat näher an sie heran. Dabei platzierte er sich so, dass er Bakura den Rücken zuwandte. Dieser schenkte seinem Vorgesetzten einen düsteren Blick, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen eines der dunklen Bücherregale, die den Schreibtisch einrahmten. „Nein, das ist es nicht.“ „Gib mal her, Otogi.“ Der Brünette beugte sich vor und nahm seinem Freund das Päckchen aus der Hand. Er wiederholte die Geste und begann zu schmunzeln, als das Pulver seine Lippen benetzte. „Ist das nicht ein bisschen sehr siebziger?“, war alles, was er sagte. Dann verschloss er das Päckchen und platzierte es auf dem Glastisch vor ihnen. Dabei feixte er, fest davon überzeugt, gerade sehr schlagfertig gewesen zu sein. „Was ist es?“ „Heroin.“ Otogi hob den Kopf, Augen groß vor Überraschung. „Heroin?“ Seine Stimme, tief, aber weich, zitterte vor Nervosität. Malik nickte schwach, zog ein dünnes Notizbuch aus der Hosentasche hervor und schlug es auf. „Ja, Heroin. Koks ist tot, Otogi, toter als tot. Das sollte selbst dir inzwischen aufgefallen sein. Heroin ist zurück und das im ganz großen Stil.“ Bakura räusperte sich. Die Gruppe schenkte ihm einen flüchtigen, nichtssagenden Blick, nahm ansonsten jedoch keine weitere Notiz von ihm. Stattdessen notierte Malik einige Dinge, riss einen Zettel aus dem Notizbuch und reichte ihn den beiden. „Das sind etwa zehn Gramm. Ich will, dass ihr das unter die Leute bringt. Unsere Kunden sollen ruhig wissen, dass wir unser Sortiment erweitert haben. Lasst euch weiter empfehlen.“ Der Brünette nickte und steckte den Zettel ein. „Wie viel soll der Spaß denn kosten?“ „Achthunderttausend sollten realistisch sein, denke ich.“ Die beiden nickten. Schließlich griff Otogi nach dem Päckchen und steckte es in die Brusttasche seiner roten Weste. „Also gut.“ Er stand auf und klopfte sich die Hände ab. Der Brünette tat es ihm gleich. Es war eine knappe Unterhaltung, routiniert und schon oft geführt, in der nicht mehr Worte gewechselt wurden, als verlangt. Malik leckte sich über die Lippen und steckte das Notizbuch in die Tasche seines Sakkos. „Gut, ihr könnt gehen.“ Er wandte sich ab, hielt plötzlich inne und trat einen Schritt zurück. „Und Honda - “ Der Brünette, der den Griff der Tür zum Innenhof schon umklammert hielt, blickte auf. „Ja?“ „Pass gefälligst auf, wenn du anquatschst, klar? Nochmal so etwas wie neulich, und es ist das letzte Mal, verstehen wir uns?“ Honda lief dunkelrot an und verneigte sich hastig. „Jawohl, kommt nicht wieder vor.“ „Dann haut jetzt ab.“ „Ja.“ Sie zogen die Tür hinter sich ins Schloss und es wurde still. Bakura, erleichtert über das Verschwinden der anderen warf Yuugi, der noch immer schräg hinter ihm stand, einen Blick zu. Der Junge zitterte, zermürbt durch die Warterei, wie Espenlaub. „Was war los?“ Bakura, der noch immer an dem Bücherregal lehnte, deutete mit dem Kinn zur Tür, durch die Honda und Otogi das Büro einige Sekunden zuvor verlassen hatten. Sein Vorgesetzter verdrehte die Augen und ging auf sie zu. „Hat einen Bullen in Zivil angequatscht, dieser Nichtsnutz.“ Bakura schmunzelte. Honda war dafür bekannt, dass ihm gerne der ein oder andere Flüchtigkeitsfehler unterlief. Dabei war er schon lange im Geschäft. Otogi, sein Partner, fing dies mit seiner besonnenen Art meist wieder auf. Sicherlich der einzige Grund, warum Malik ihn in all den Jahren noch nicht rausgeschmissen hatte. „Solche Anfängerfehler sollten ihm eigentlich nicht mehr unterlaufen“, bemerkte Bakura knapp. „Ja. Gut für ihn, dass er schnell ist. Gut für uns.“ Griff die Polizei einen Dealer auf, war es meist nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei an der Tür des dazugehörigen Großhändlers klopften. Verschwiegenheit und Ehre galten im echten Leben nicht viel. „Also.“ Maliks Gesichtsausdruck wurde ernst. Er deutete auf Yuugi, der, durch die bloße Anwesenheit Maliks eingeschüchtert, einen Schritt zurück wich. Die Augen glitten, aufgerissen vor Angst, über das Gesicht des Anderen. Dieser machte sich erst gar nicht die Mühe, Yuugi persönlich anzusprechen und wandte sich gleich wieder an Bakura. „Warum hast du ihn her gebracht?“ Beschämt richtete der Stricher den Blick zu Boden. Bakura, dem das alles inzwischen zu lange dauerte, holte genervt Luft. Er war kurz davor, selbst die Fassung zu verlieren. „Sag es ihm.“ Yuugi hob den Kopf. Sie tauschten Blicke, doch er antwortete nicht. Sein linkes Auge war so zugeschwollen, dass er kaum noch sehen konnte. Es war der Moment, in dem Bakura der Geduldsfaden riss. Er ging auf den Jungen zu, packte ihn am Oberarm und zerrte ihn die wenigen Meter hinüber zu Malik. Kaum, dass Bakura ihn berührt hatte, versteifte sich der Körper des Strichers, doch der Widerstand erstarb nach Sekunden. „Los“, knurrte Bakura nachdrücklicher. „Sag’s ihm. Los jetzt!“ Wieder zögerte Yuugi. Steif vor Angst stand er zwischen ihnen und rang nach Worten. Hin und wieder öffnete er den Mund, doch mehr als ein leises Stottern brachte er nicht hervor. Der Mut und die Hartnäckigkeit, die er gezeigt hatte, um Jonouchi zu schützen, fehlten, sobald es um ihn selbst ging. Er war unfähig, für seine eigenen Interessen einzustehen, einer der zentralen Gründe, warum er hier gelandet war. Bakura sah hinüber zu Malik. Das Gesicht seines Vorgesetzten war angespannt, der Blick düster. Dieses Treffen hatte unter keinem guten Stern gestanden, seit sie den Raum betreten hatten und offensichtlich fehlte es ihm Yuugi gegenüber zusehends an Geduld. Sekunden verstrichen. Dann ballte Malik seine rechte Hand zur Faust. Mit einer Geschwindigkeit, die ihres gleichen suchte, schnellte er vor und schlug Yuugi so hart ins Gesicht, dass dieser der Länge nach zu Boden ging. Nur ein klägliches Wimmern durchschnitt die Stille, welche den Raum im Anschluss erfüllte. Bakura, der kaum einen Meter entfernt stand, verkrampfte innerlich, als er das Geräusch des Körpers vernahm, der auf den gekachelten Boden aufschlug, das leise Knacken des Schädels, der nur durch ein dünnes Häutchen geschützt gegen die Fliesen prallte. Die Arme vor der Brust verschränkt, hob er den Kopf und betrachtete den Jungen, der benommen auf dem Boden kauerte und nicht recht verstand, was gerade mit ihm geschehen war. Immer wieder versuchte er, sich aufzurichten, doch die Arme knickten unter dem Gewicht seines eigenen Körpers immer wieder ein. Seine Unterlippe war durch den Schlag aufgeplatzt. Erste Tropfen dunkelroten Blutes rannen über sein Kinn. Als der Schock über den plötzlichen Angriff nachließ, füllten sich die traurigen, violetten Augen mit Tränen. Er war ein erbärmlicher Anblick. Schluchzend kauerte er am Boden und fand erst  Minuten seine Stimme wieder. Flüsternd begann er, zusammen zu fassen, was sich ereignet hatte. Es war nicht leicht, ihn zu verstehen. Immer wieder durchbrachen einzelne Schluchzer seine Erzählung. „Er hatte erst heute Abend reserviert. Ich kannte ihn nicht, es war sein erstes Mal hier. Ein Geschäftsmann.“ Yuugi hob den Arm und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem verschmierten Gesicht. „Ich hatte ein schlechtes Gefühl. Er war so ruhig und hat kaum geredet. Als er zu mir kam, hat er die Tür abgeschlossen und dann -“ Seine Stimme brach. Seine Augen blickten aufgerissen und starr ins Nichts. Erneut begann er zu zittern. „Und dann -“ Ein erneutes Wimmern erfüllte den Raum. Die Finger, welche flach auf dem Kachelboden lagen, ballten sich zu Fäusten. Seine Wangen glitzerten vor Blut und Tränen. „Er hat mich aufs Bett gedrückt und... Dinge getan. Ich wollte mich wehren, aber er schlug mir ins Gesicht und sagte, er brächte mich um, wenn ich nicht still sei.“ Er ließ den Kopf sinken und gab sich seinen Tränen hin. Seine Schultern zitterten unter den Schluchzern, die ihn in unregelmäßigen Abständen durchschüttelten und sein Oberkörper begann, langsam auf und ab zu wippen. Als er weiter sprach, war seine Stimme hoch, fast piepsig. Er war kaum bei Sinnen. „Du willst es doch. Komm schon, stell dich nicht so an. Ich werd’s dir richtig besorgen, glaub mir.“ Wie im Rausch wiederholte er die Worte, immer wieder, mit einer Stimme, so merkwürdig verfremdet, dass es Bakura die Nackenhaare aufstellte. Peinlich berührt ließ er den Blick durch den Raum gleiten, versuchte, zu ignorieren, was sich gerade vor ihm auf den Boden abspielte. Er hatte einiges gesehen in seinem Leben, aber derartiges Verhalten war ihm neu. Der Junge war gebrochen. Zu gut konnte Bakura sich daran erinnern, in welcher Verfassung Yuugi gewesen war, als er vor Jahren zum ersten Mal im Film Noir aufgetaucht war. Auch damals war sein Gehirn von Drogen zerfressen gewesen, aber sein jugendliches Wesen hatte er sich bis dahin erhalten können. Nun war er nicht mehr als ein Schatten seiner selbst. Nichts von dem, was ihn zu Beginn ausgezeichnet hatte, war geblieben. Es war ihm egal, der Junge kümmerte ihn nicht. Doch diesen Ausbruch nackter Verzweiflung zu sehen, unmittelbar und echt, das war etwas, dass ihn schlucken ließ. Er kannte dieses Gefühl selbst besser als alles andere und wusste, dass Jonouchi, würde er das hier sehen können, ihn umbrächte. Daran gab es keinen Zweifel. „Wo ist das Geld?“ Bakura schaltete sich ein. „Es ist weg. Der Kerl hat alles mitgenommen.“ Wieder hob Yuugi die Hand und strich sich die Tränen fort. Dabei streiften seine Fingerspitzen das geschwollene Auge, glitten vorsichtig die Wange hinab und betasteten schließlich seine aufgesprungenen Lippen. Als er das Blut auf seinen Fingern erblickte, fluchte er benommen und ließ die Hand sinken, als geschah all dies jemand anderem, nicht ihm. Maliks Gesicht, einer Maske gleich, verfinsterte sich. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, ehe er sich vorbeugte, den Stricher am Kragen packte und ihn zurück auf seine Füße zerrte. Es war ein Moment roher Gewalt, nur durchbrochen durch das Betteln des Jungen, der sich aus eigener Kraft kaum noch auf den Beinen halten konnte. „Das Geld ist weg? Stimmt das?“, knurrte Malik leise und ließ die Pupillen über Yuugis geschwollenes Gesicht gleiten. Dieser ließ kraftlos den Kopf sinken, die Hände zu Fäusten geballt, der Körper bebend, als erwarte er bereits den nächsten Schlag. „Ja“, flüsterte er und schloss die Augen. Malik wandte sich nun an Bakura, der noch immer regungslos in der Nähe stand, der Mund trocken, die Hände feucht und kalt. Sein Vorgesetzter war stinksauer. „Wie konnte das passieren?!“ „Er ist gegangen. Guck dir den Jungen an, der kann kaum noch stehen. Als man im Schankraum von der Sache Wind bekommen hat, war er längst weg.“ Malik lachte auf, ehe er Yuugi fallen ließ und in seiner Wut einige Bücher vom Tisch fegte, die jemand dort aufgeschlagen liegen gelassen hatte. „Fantastisch. Wirklich fantastisch.“ Der groß gewachsene Mann verschränkte die Arme. Yuugi, dessen Beine sein Gewicht nicht länger tragen konnten, sackte zu Boden, wo er, kniend, die Arme um den Oberkörper schlang. Mit leeren Augen starrte er still ins Leere. Angewidert blickte Malik auf ihn hinab, wie auf ein Insekt, das man besser zerquetschte. Plötzlich schien sich ein Schalter in Maliks Kopf umzulegen. Seine Gesichtszüge entglitten. Die letzte Selbstbeherrschung verschwand. „Ich habe es wirklich satt mit dir, Junge.“ Er holte aus und trat Yuugi mit voller Kraft in den Rücken. Er verfehlte die Rippen, traf jedoch die Nieren. Yuugi jaulte auf, fiel vornüber, so unvermittelt von der Attacke getroffen, dass keine Abwehrreaktion erfolgen konnte. Sekundenbruchteile später stand Malik über ihm, packte ihn am Hinterkopf und rammte ihm das Knie so hart ins Gesicht, dass das Krachen der Knochen bis zu Bakura zu hören war. Für einen Moment durchzuckte Bakura der Verdacht, dass Yuugi das Bewusstsein verloren hatte, doch die Hände, die er zitternd vor sein Gesicht hielt, widerlegten den Verdacht sofort. Vornübergebeugt hockend, schoss ihm das Blut aus der Nase und tropfte in Strömen auf den weißen Fliesenboden. Dabei wirkte Malik seelenruhig; die Pupillen, so starr, als wären sie aus Glas, verfolgten gierig jede Yuugis‘ Bewegungen. Gelangweilt verpasste er ihm den letzten Schlag, dann ließ er ihn los und wandte sich ab. Mit aufgerissenen Augen beobachtete Bakura die Szene, die sich vor ihm abspielte. Er war es gewohnt, dass Malik jene Stricher, die ihm unbequem geworden waren, zu seinem eigenen Vergnügen misshandelte, bis sie irgendwann ihren letzten Atemzug aushauchten - und Bakura sich um die Beseitigung der Körper kümmern musste. Der Vorwand war nebensächlich, es war der Akt der Gewalt an sich, den Malik erregend fand. Hatte Bakura das alles in seinen ersten Jahren noch um den Schlaf gebracht, war dies bald einer bemerkenswerten Gleichgültigkeit gewichen. Betrachtete er solche Szenen, war es, als stünde er neben sich. Dann sah er sich aus weiter Ferne und es war, als träumte er bloß. Dieser Wahnsinn, der Malik innewohnte, unterschied sie voneinander. Sie beide töteten auf ihre Art, doch Motivation und Ausführung waren verschieden. Töten war sein Job, er tat es, weil man es von ihm verlangte und die Zeiten, in denen ihn die Panik immer wieder aufs neue durchgeschüttelt hatte, waren lange vorüber. An den Platz der Angst war schließlich eine befriedigende Genugtuung getreten, die immer dann einsetzte, wenn er, mit der Präzision eines Chirurgen, ein Leben auslöschte. Maliks Verhalten dagegen war irrational und animalisch, ohne jede Weitsicht. Mit einer gebrochenen Nase zudem würde Yuugi die nächsten Wochen nicht zu gebrauchen sein. Wenn er überhaupt jemals wieder arbeiten konnte. Schweigend betrachtete Bakura, wie Yuugi in sich zusammensackte. Er gab keinen Laut mehr von sich, rührte sich nicht. Benommen starrte er an die Decke, das Blut rann über seine weiße Haut. Es war der Moment, in dem Bakura aus seiner Lethargie erwachte. „Kannst du mir mal verraten, was das soll?“ Er trat einen Schritt vor und packte Malik, der sich den Knöchel am Taschentuch abwischte, am Oberarm. Heftig riss er ihn herum. Sein Gesicht war wutverzerrt. „Wie soll er so arbeiten? Das hast du mir beigebracht. Niemals ins Gesicht. Er wird die nächsten Wochen komplett ausfallen, das weißt du. Wenn du ihn nicht mehr willst, entsorge ihn, aber entscheide dich endlich, verdammt.“ Es war ein trockenes Lachen, welches als Antwort diente. Ein Lachen, das Bakura sagte, dass man hier keinen Wert auf seine Ratschläge legte. „Niemand hat gesagt, dass er wieder arbeiten wird.“ Malik ließ das Taschentuch fallen und berührte Yuugi mit der Fußspitze, erhielt jedoch keine Reaktion. Er hatte den Jungen übel zugerichtet. Die Augen waren zugeschwollen, die Haut am Nasenrücken aufgeplatzt. Bakura erkannte Knochensplitter, das Nasenbein war zertrümmert. Selbst wenn Marik, der erste Hilfe leisten konnte, sich sofort darum kümmerte, waren Yuugis Zeiten makelloser Schönheit dahin. Hin und wieder hallte ein erbärmliches Wimmern von den Wänden wider. „Es reicht.“ Malik verschränkte die Arme und schenkte Bakura einen abfälligen Blick. „Er hat genug Ärger gemacht. Kümmer dich um ihn.“ Bakura kniff die Augen zusammen und wandte sich ab. Er hatte es kommen sehen. Er hatte gewusst, dass Malik die Drecksarbeit wieder an ihn weitergeben würde. „Hast du das nicht schon zur Genüge getan?“ Er betrachtete den Stricher, der über seine Freundschaft zu Jonouchi in diesem Haus gelandet war, der für Schulden arbeitete, die er niemals tilgen würde. In seiner jetzigen Verfassung würde er den Sommer kaum mehr durchstehen. Er war ein Problem, welches sich, wenn man ihm ausreichend Zeit gab, von alleine lösen würde. Hand an ihn zu legen brachte nur ein unnötiges Risiko mit sich. „Bist du taub?“, zischte Malik, nachdem Bakura keine Anstalten machte, sich zu rühren. „Nein.“ „Dann beweg deinen verdammten Arsch und mach ihn fertig.“ Er packte Bakura an der Schulter, doch dieser riss sich los. Sein Puls schnellte in die Höhe und eine hasserfüllte Wut flackerte in ihm auf. „Leck mich, Malik. Mach dir deine Finger selbst schmutzig, wenn du ihn unbedingt loswerden willst. Ich arbeite für dich, aber ich lasse mich nicht verheizen.“ Sie funkelten einander an, dann wandte sich Bakura ab und steuerte auf die Tür zu, die zurück in den Schankraum führte. Er musste hier raus. Die zunehmende Launenhaftigkeit seines Chefs fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. Er war lange genug im Geschäft um zu wissen, dass nüchternes, überlegtes Handeln die Grundlage für erfolgreiches Arbeiten war. Maliks Irrationalität barg ein Risiko für sie alle - und er war nicht dazu bereit, für derartige Dinge seinen Kopf hinzuhalten. Maliks Drohungen ignorierend, verließ er das Büro. Dabei brauchte es all seine Selbstbeherrschung, sich nach außen nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die letzte Stunde aufgewühlt hatte. Sein Kopf dröhnte. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, seufzte er leise und blieb stehen. Das gleiche Zittern, welches er an Yuugi gesehen hatte, hatte sich nun auch seiner ermächtigt. Für ein paar Minuten hielt er inne, wartete, bis er sich so weit beruhigt hatte, als das man ihm seinen Zustand nicht mehr ansah, dann ging er seines Weges. Er musste jetzt eine Zigarette rauchen, sonst brachte er den Tag nicht zu Ende.   Ihre Blicke trafen sich. Ryou wich ihm aus, blieb stehen und verschränkte die Arme. „Kannst du nicht das Licht anmachen? Stehst hier einfach in der Dunkelheit wie ein Irrer und erschreckst die Leute.“ Ein Stechen durchzuckte Bakuras Brust, doch er rührte sich nicht. Nun, wo Ryou vor ihm stand, erkannte er die Ausmaße dessen, was die letzten Minuten bei ihm hinterlassen hatten. Sein Blick war stumpf, erwirkte abgeschlagen. Aus ihm sprach die Fassungslosigkeit, die Menschen innewohnte, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit echter Brutalität konfrontiert wurden. Kaum wahrnehmbare Salzränder an seinen Wangen zeigten an, dass er geweint haben musste. Bakura musterte ihn, erkannte die Wut, die in diesem Moment alles an ihm dominierte, hinter der ein intelligenter Junge steckte, mit starkem Willen und unbefleckter Schönheit. „Was willst du?“, durchbrach Ryou die Stille, die sie eingehüllt hatte, nachdem der erste Satz verklungen war. Seine Stimme hallte kalt von den Wänden wieder, durchzogen von Trotz und Furcht. Für einen Moment zögerte Bakura. Er wusste nichts, was er antworten konnte, ohne Ryous negative Gefühle ihm gegenüber weiter zu nähren und schwieg. Erst, als Ryou anfing, nervös an seiner Kleidung zu zupfen, öffnete er den Mund. „Ich will mit dir reden. Komm.“ Er machte keinen Hehl aus seinem Ärger, eben so wenig, wie Ryou seinen Abscheu ihm gegenüber verbarg. Trotzdem zeigte sein Verhalten die gewünschte Wirkung. Ryou, der noch immer mit verschränkten Armen und leeren Augen vor ihm stand, hob den Kopf und sah ihn an. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, nickte Ryou endlich. „Okay.“   Es war kaum fünf Uhr am Morgen, die Dämmerung lag Stunden entfernt. Die Nacht hatte ihren kältesten Punkt erreicht, ihr Atem stieg weiß dampfend vor ihren Gesichtern in die dunkle Nacht empor. Fröstelnd schlug Bakura den Kragen hoch und blickte gen Himmel, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Dunkelblaue Wolken grenzten sich, erhellt vom schmutzigen Leuchten der Stadt, von der lichtleeren Weite ab. Hier in der Großstadt, wo die Lichter nie erloschen, glühte der Himmel stets, als würde die Sonne bald wieder über den Horizont kriechen. Wer hier aufwuchs, hatte vielleicht nie in seinem Leben einen mit Sternen gespickten Himmel gesehen. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Bakura warf Ryou kurze Blicke zu, nur, um zu bemerken, dass der Andere stur geradeaus starrte. Vereinzelte Strähnen hingen in sein weiches Gesicht und warfen Schatten über Mund und Augen. Seine Haut glänzte bläulich im Licht der Straßenlampen. „Ich werde nicht zulassen, dass du so mit mir sprichst.“ Es brach aus ihm hervor, ohne, dass er etwas dagegen tun konnte. Kaum, dass er geendet hatte, ballte er die Hände zu Fäusten. Seine Fingernägel krallten sich in weiches, nachgiebiges Fleisch. „Es reicht, dass Jonouchi nicht weiß, wo seine Grenze ist. Fang du gar nicht erst damit an.“ Ryou hatte ihn vor den Umstehenden bloß gestellt und der Lächerlichkeit preis gegeben. Niemand wagte es, so mit ihm umzuspringen, erst recht nicht dieser Junge, der kaum alt genug war, zu verstehen, wie die Dinge hier funktionierten. Nach all der Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, war Bakura immer noch sein Vorgesetzter. Was er sagte hatte befolgt zu werden. Ryou presste die Lippen zusammen, bis nur noch ein schmaler, blutleerer Strich zu sehen war. Langsam ließ er den Kopf sinken, schob die Hände in die Hosentaschen, während das im Mondlicht funkelnde Haar sein Gesicht verdeckte. Sie gingen langsamer und eine aufreibende, feindselige Spannung breitete sich zwischen ihnen aus. Nach einer Phase des Schweigens fuhr Ryou herum. Sein Gesicht war blasser als sonst, Schatten zeichneten sich darin ab. Wütend blitzten seine Augen in der Dunkelheit. „Wie konntest du das nur zulassen?“ Trotz des Gefühlsausbruchs klang er tonlos, die Stimme gebrochen, erfüllt von Enttäuschung und Trauer. Einmal mehr zog sich alles in der Brust des Anderen zusammen. Sie blieben stehen und Bakura, ein falsches Lächeln auf den Lippen, fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Er holte tief Luft. Es lag auf der Hand, dass dies hier eine längere, grundsätzlichere Diskussion werden würde. „Es ist mein Job“, antwortete er trocken. „Man bezahlt mich dafür, solche Dinge zuzulassen. Ich kann nichts dagegen tun.“ Ryou antwortete nicht. Stattdessen gab er einen erstickten Laut von sich, den Bakura bei ihm zuvor noch nicht vernommen hatte. Nie zuvor hatte sich der Junge so gebärdet, wie er es jetzt tat. „Du weißt, dass Yuugi keine Schuld hatte. Konntest du nicht sehen, was man ihm angetan hat? Du hast die Macht, über solche Dinge hinweg zu sehen und trotzdem hast du ihn ausgeliefert!“ Mit jedem Wort wurde Ryous Stimme lauter, bebender, ohnmächtig vor der Unfähigkeit, das Verhalten des Anderen nachvollziehen zu können. Bakura verzog das Gesicht. Nun war er es, der verärgert schnaubte. „Darüber steht dir kein Urteil zu“, war alles, was er sagen konnte, aber Ryou ließ nicht locker. „Nur, weil es dein Beruf ist, befreit es dich noch nicht von deiner moralischen Verantwortung.“ Seine Stimme war voll Bitterkeit. „Hat er nicht genug durchgemacht? Hast du nicht gesehen, was ihm dieser Freier angetan hat?“ „Er kennt die Risiken. Es hätte genauso gut Marik treffen können. Niemand, der ganz bei Trost ist, bunkert die Einnahmen des ganzen Tages in dem Zimmer, in dem er arbeitet. Das ist der Unterschied. Mach dich nicht lächerlich.“ „Du bist es, der sich lächerlich macht, Bakura.“ Er hielt inne. Für eine Sekunde schloss er die Augen und atmete durch. Wieso konnte Ryou nicht still sein? Warum traf er blind genau jene Punkte, die ihn in Rage versetzten? Er fuhr herum, packte Ryou am Oberarm und zog ihn mit einer heftigen Bewegung zu sich heran. Alles geschah so plötzlich, dass Ryou Mühe hatte, den Kopf aufrecht zu halten, doch er knickte nicht ein. Dieses Mal nicht. Wütend blickten sie einander an. „Was redest du für dummes Zeug?“, knurrte Bakura und versteifte seinen Griff, bis Ryou vor Schmerz keuchte. „Es ist ein Unterschied, ob man nur seine Arbeit macht oder jemanden fast totprügelt. Ich bin nicht blind! Ich habe ihn gesehen! Ich habe ihn gesehen, verstehst du?!“ Ryou schnappte nach Luft, die Stimme brach. Seine Augen, zuvor stechend, wirkten nun resigniert und traurig. „Ich habe ihn gesehen. Und das Blut. Da war so viel Blut. Mein Gott, Bakura, bist du wirklich so kalt? Siehst du nicht, was ihr ihm angetan habt? Wie kannst du uns so in den Rücken fallen und mir danach noch in die Augen sehen?!“ Stumm presste Bakura die Zähne aufeinander. Ryou ging davon aus, dass er Yuugi so zugerichtet hatte, nicht Malik. Wieder erschien das kalte Lächeln auf seinen Lippen. Sicher, er tötete für Geld. Warum sollte er da nicht auch solche Dinge tun? „Du weißt nichts“, knurrte er. „Bilde dir nicht ein, über mich urteilen zu können.“ Mit einem Ruck ließ er den Anderen los, schob die Hände zurück in die Manteltaschen und wandte sich zum Gehen. Er wollte das nicht hören. Er wollte nicht darüber nachdenken, was er tat, wenn er für Malik arbeitete. Was würde sich ändern? Die Verantwortung von sich zu schieben was das einfachste, was er tun konnte. „Über dich muss niemand urteilen. Deine Taten sprechen für sich.“ Stille. Bakuras Schritte verhallten ungehört. Ryou öffnete erneut den Mund, doch er kam nicht dazu, seine Stimme noch einmal zu erheben. Beherrscht drehte Bakura sich um. Da war sie wieder, diese Wut, die ihn überkam, wenn sein Weltbild ins Wanken geriet. Ryou, der kaum drei Meter von ihm entfernt stand, blickte ihn mit großen, undurchsichtigen Augen an. Er wirkte, als sei etwas in ihm zerbrochen. „Was?!“ Bakuras Stimme überschlug sich vor Zorn. Sein Puls schoss in die Höhe, in seinen Ohren rauschte das Blut. Er hielt einen Moment inne und begann zu lachen. „Fängst du schon wieder an zu heulen?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf in den Nacken. Fassade. Der Knoten in seiner Brust erstickte ihn fast, so sehr drückte er auf seine Lungen. „Das ist deine Taktik, oder? Wenn du nicht mehr weiter weißt, kommen dir die Tränen.“ Jedes seiner Worte war ein Messer, dass er dem Jüngeren verbal in die Brust stieß. Tief in seinem Herzen wusste er, warum er so grausam sprach. Warum er versuchte, den Anderen zu verletzen. Ryous Sprüche trieben ihn in die Enge. Er hatte einen Punkt erreicht, an dem ihm nichts anderes übrig blieb, als auszuteilen. Innerlich stand er mit dem Rücken zur Wand. Dennoch schienen seine Worte genau ins Schwarze zu treffen. Wie elektrisiert stolperte Ryou einen Schritt zurück, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Es war, als hätte er plötzlich beschlossen, sich nicht länger schwach und wehrlos zu geben. Von einer Sekunde zur nächsten verzerrte sich sein Gesicht angesichts der Emotionen, die in diesem Moment durch seinen Körper jagen mussten. Seine Schultern bebten. Seine Augen lagen im Schatten der Nacht. Plötzlich schoss er nach vorn, packte Bakura an den Schultern und versetzte ihm einen so harten Stoß, dass dieser einen Schritt nach hinten machen musste, damit er das Gleichgewicht nicht verlor. In Ryous Augenwinkeln glitzerte es feucht. „Lass mich! Lass mich einfach!“ Bakura konnte nichts tun. Irritiert blickte er den Jüngeren an, hob instinktiv die Hände zur Verteidigung, obschon von Ryou keine nennenswerte Gefahr ausging. Er war zu schwach, zu zart gebaut. Ein gezielter Griff und Bakura brach ihm die Knochen. Ryou hob die Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Du hast mir alles genommen! Du hast mich her gebracht, mich gequält, eingesperrt und mich verkauft. Du hast mich zu Maliks Sklaven gemacht!“ Er hielt inne und rang nach Luft. Seine Hände zitterten, die Worte selbst kamen nur abgehackt über seine Lippen. Es war der Moment, in dem all die aufgestauten Emotionen sich auf einen Schlag entluden. Emotionen, die ihn seit Monaten von innen auffressen mussten und die nun aus ihm hervor brachen. „Aber dann -“ Ryou zögerte. Seine Stimme wurde weicher. „Dann hast du angefangen, dich um mich zu kümmern. Und ich -“ Seine Stimme versackte, als fehlten ihm die richtigen Worte. Langsam ließ er die Hand sinken. „Ich glaube an das Gute in dir. Kein Mensch wird grausam geboren, kein Mensch tötet ohne Grund.“ „Und wenn ich es will?“ Verschreckt hob Ryou den Kopf. Ein manisches Grinsen hatte sich auf Bakuras Lippen gebrannt, steif wie das einer Maske. „Vielleicht ist mir das Geld Grund genug. Vielleicht habe ich ja meinen Spaß an der Sache, niemand zwingt mich, hier zu sein. Hast du schon mal daran gedacht, dass ich vielleicht genieße, was ich tue?“ Er blickte auf seine Faust und versuchte, sich Yuugis Blut, welches Ryou dort vermutete, vorzustellen. Sein Grinsen wurde breiter. „Vielleicht ist das Geräusch Yuugis brechender Knochen die einzige Freude, zu der ich fähig bin. Was dann Ryou, was machst du dann? Macht mich das schlechter als andere? Gibt es tatsächlich jemanden, der sich aussuchen kann, welchen Charakter und welches Temperament er hat? Sag es mir! Du machst es dir leicht, andere zu verurteilen, obwohl du dich nie mit deinen eigenen Abgründen konfrontieren musstest.“ Ihre Blicke trafen sich. Der Gesichtsausdruck des Jüngeren wurde kalt. Enttäuschung und Wut traten in seine Augen. Er blinzelte mehrmals, schüttelte verständnislos den Kopf und öffnete den Mund. „Fahr zur Hölle.“ Kaum ausgesprochen, schlugen die Worte einen Graben zwischen ihnen. Bakura spürte, wie etwas in ihm zerbrach. Er schluckte, atmete, mechanisch, ohne es zu merken. Über das allmächtige Rauschen des Blutes in seinen Ohren verlor er fast die Besinnung. Er hatte genug. Was taten sie hier eigentlich? Wortlos packte er Ryou am Oberarm und zerrte ihn in eine angrenzende Seitengasse, wo er ihn mit all seiner Kraft gegen die Wand drückte. Dabei wehrte Ryou sich, verstummte jedoch, als sein Kopf in Folge des heftigen Rucks gegen die Wand knallte. Starke Hände schlossen sich um seine Schultern und hielten ihn fest, Fingernägel gruben sich in sein Fleisch. Ryous Atem stockte, die braunen Augen weiteten sich vor Schreck. Es war Bakura nicht möglich, zu beurteilen, ob er ihm weh getan hatte oder ob die Stille nur aus der Erkenntnis erwuchs, zu weit gegangen zu sein. Es interessierte ihn nicht. „Du weißt nichts“, fauchte er. „Gar nichts! Es war nicht meine Entscheidung, dass die Dinge sind, wie sie sind. Daran lässt sich nichts ändern, also spar dir den erhobenen Zeigefinger.“ Er war wie im Rausch, betrachtete das Gesicht des Jungen, das, verzerrt durch die Dunkelheit, angsterfüllt zurück starrte. Jeden Millimeter sog er in sich auf, die weiße, makellose Haut, wie aus Porzellan, die Augen, gläsern, puppenhaft. Dieser Junge. Er brachte Facetten in ihm hervor, die Bakura schon vor Jahren vergessen hatte. Er wollte das nicht. Es machte ihn schwach. Verwundbar. Damit konnte er nicht umgehen. Erneut schlug er ihn gegen die Wand. Ryou stöhnte leise auf, sagte jedoch nichts. Mit jedem Schlag kniff er die Augen zusammen, jede Muskelfaser versteifte sich. Bakura beugte sich vor, bis sich ihre Gesichter fast berührten. Ihr Atem bildete weißen Dampf in der bitterkalten Luft. „Du weißt nicht, wie es ist, wenn man dir die Knochen bricht, und niemanden interessierts. Du hast noch nie vor Hunger geklaut oder Mülltonnen durchwühlt. Selbst ein Ort wie dieser kann das Paradies sein, wenn du dort herkommst, wo ich herkomme.“ Ein empathieloses Lachen verließ seine Kehle. „Ich hätte dich zerquetschen sollen, als ich die Chance dazu hatte, dich und deine unsägliche Arroganz.“ Mit einem Mal herrschte Stille. Eine kaum greifbare Kälte war in ihre Herzen gekrochen und ließ sie verstummen. Die provokative Angriffslust, die zuvor in Ryous Augen gelodert hatte, war verschwunden und hatte einer tiefen Traurigkeit Platz gemacht, resignierter und müder als alles zuvor. Nur Sekunden später füllten sie sich mit Tränen. Regentropfen gleich rannen sie über die roten Wangen des regungslosen Gesichts. Schließlich ließ Ryou den Kopf sinken. Strähnen rutschten in seine Stirn und die Hände, die er nur Sekunden zuvor in dem Versuch, den Anderen auf Abstand zu halten, gegen Bakuras Brust gedrückt hatte, sanken langsam hinab. Beiläufig strichen sie über den Stoff des Hemdes, Fingerspitzen glitten über die darunter liegende Haut. Scham war alles, was sie hinterließen. Bakura lockerte den Griff um die Schultern des Jungen und betrachtete ihn, still, unfähig, auszusprechen, was sich in jenen Momenten in ihm abspielte. Er konnte sich nicht helfen. Ryous Tränen, die feucht glänzenden Lippen, alles an ihm. Seit er ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte Ryou ihn nicht mehr losgelassen. Er wirkte so makellos und zerbrechlich, dass es ihn beinahe körperlich schmerzte. Etwas an ihm zog Bakura immer wieder in seine Nähe. Schloss er die Augen, sah er ihn auf dem Dach stehen, den blauen Parka hochgezogen bis unter das Kinn, die Haare im Wind flatternd. Ryous Blick, warm und sanft, ruhte auf ihm, als könne er direkt durch die Mauer, die er um sich hochgezogen hatte, in seine Seele blicken. Nur Engel konnten so schön sein. Es machte ihm, dem Kontrolle wichtiger war als alles andere, Angst. Nie war er sich selbst so ausgeliefert gewesen. „Ich habe meine Gründe“, flüsterte er nicht ohne Resignation und wunderte sich über den kratzigen Klang seiner Stimme. Er räusperte sich, nahm das Gesicht des Jungen in seine Hände und wischte behutsam die Tränen fort. Da war eine stille Verbundenheit, die ihm bislang unbekannt gewesen war. Es ließ ihn kalt, wenn Menschen neben ihm zu Schaden kamen, solange er selbst unversehrt blieb. Doch Ryou in diesem Zustand zu sehen, dafür verantwortlich zu sein, setzte ihm zu. Er war ein Mörder, ja. Ein Monster war er nicht. Er war kalt und doch ebenso menschlich wie alle anderen. Er konnte fühlen. Leiden. In seinem Leben hatte es kaum je mehr gegeben als das. Und auch, wenn er nichts nach draußen dringen ließ, waren sie doch da. Auch sein Herz pumpte Blut durch seine Venen. Wieder ließ Ryou den Kopf sinken. Eine Weile weinte er leise vor sich hin, die Wangen in Bakuras Hände geschmiegt. Die Schultern bebten unter den unterdrückten Schluchzern, die seinen Körper immer wieder durchzuckten. Erst nach einer Ewigkeit fand er seine Stimme wieder. Sie war kaum mehr als ein Flüstern. „Normalerweise hättest du mich getötet, oder?“ Bakura zögerte für einen Moment. „Ja.“ Es hatte ihn einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, Malik von dem Standard, unliebsame Zeugen sofort aus dem Weg zu räumen, umzustimmen. Malik hatte nicht verstanden, warum Bakura dieses Risiko eingehen wollte, und sich stundenlange Diskussionen mit ihm geliefert. Er hatte nicht anders gekonnt. Nie hatte er jemanden getroffen, der ihm in seiner Erscheinung und in seinem Wesen so ähnlich gewesen war. Selbst, wenn er gewollt hätte, er hätte ihn nicht töten können. Wenn er ihn ansah, dann sah er sich selbst. Wären die Dinge in seinem Leben anders verlaufen, hätte er seine Unschuld nicht verloren, sie wären wie Zwillinge. So aber konnten sie unterschiedlicher kaum sein. „Warum hast du es nicht getan?“ Ryou hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich in der Dunkelheit. Suchend wanderten Ryous Pupillen über Bakuras Gesicht, erfüllt von einer Sehnsucht, die Bakura nicht deuten konnte. Sie suchten nach Antworten, verstanden nicht, warum man ausgerechnet ihn verschont hatte. Wortlos starrten sie sich an. Ryous Mund stand leicht offen, die Lippen glänzten feucht, seine Haut schimmerte bläulich in dem fluoreszierenden Licht der Straßenlampen. Bakura seufzte. Da war es wieder, das Zittern, das von ihm Besitz ergriffen hatte, als er Maliks Büro verlassen hatte. Er hatte Ryou aus egoistischen Gründen am Leben gelassen, dessen war er sich bewusst. Es war das erste gewesen, dass er für sich einen Anspruch geltend gemacht hatte, während er sonst nur kommentarlos das ausführte, was man ihm auftrug. Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, wäre der Tod besser gewesen als all das, wozu er Ryou gezwungen hatte. Wozu lebte man, wenn man keine Wünsche, keine Träume, keine Zukunft mehr hatte? Der Atem des Jüngeren streifte seine Lippen, unruhig, aufgewühlt und mit einem Mal verstummten alle Stimmen, alle Zweifel in seinem Kopf, als habe man sie mit einer kräftigen Handbewegung hinfort gefegt. Vorsichtig wischte er Ryou die verbliebenen Tränen aus dem Gesicht, ehe er dessen Kinn mit den Fingerspitzen anhob und seine Lippen auf die des Jungen legte. Es dauerte einen Moment, bis Ryou, der den Kuss nur zurückhaltend erwiderte, zu begreifen schien, was mit ihm geschah. Der schwache Widerstand, der von seinem Körper ausgegangen war, erstarb. Begleitet von einem leisen Keuchen öffnete er die Lippen, die Arme schlangen sich um Bakuras Taille, wo seine Finger Halt in dem losen, viel zu dünnen Hemdstoff suchten. Wortlos zog Bakura ihn näher an sich heran und drückte ihn mit seinem gesamten Gewicht gegen den roten Backstein der angrenzenden Wand. Er wollte sich nicht mehr zurücknehmen, wollte sich nicht gegen das wehren, was hier geschah. Jetzt, wo er ihn in seinen Armen hielt, gab es keine Möglichkeit, dass er ihn jemals wieder gehen ließ. Seine Finger glitten über Ryous Hals, betasteten jeden Zentimeter nackter Haut, den er finden konnte. In seinen Ohren hallte der fremde Atem, jedes noch so kleine Stöhnen, welches die Lippen des anderen verließ, wann immer Bakura ihn berührte. Eingeklemmt zwischen Wand und ihm presste Ryou sich mit aller Kraft gegen Bakuras Oberköper, schmiegte sich an ihn, als seien sie eins. Dieser sog jeden Hauch des fremden Geruchs in seine Lungen, voller Gier, der Kopf wie leer gefegt. Er vergaß sich. Jeden Millimeter dieses Körpers wollte er erkunden. Hier. Jetzt. Sofort. Hinter ihnen schepperte es. Der Klang berstenden Metalls prasselte von den Wänden auf sie hinab und trieb sie auseinander. Verschreckt blickten sie in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, noch immer ineinander verschlungen, beide schwer atmend, die Wangen rot glänzend von der Hitze, die sich in den Sekunden zuvor in ihnen entfacht hatte. Erst jetzt bemerkte Bakura, wie sehr das Herz in seiner Brust raste. Suchend starrte er in die Dunkelheit. Er entdeckte nichts. Ein Mülleimerdeckel, der herunter gefallen war, eine verirrte Katze. Alles war möglich, wer wusste das schon. Niemand war zu sehen. Bakura drehte den Kopf zurück in Ryous Richtung, das Gesicht immer noch durch seine Hände eingerahmt, gerade im Begriff, ihn noch einmal zu küssen, als er inne hielt und bemerkte, dass Ryous Gesichtsausdruck ein anderer war als zuvor. Unsicher, fast verstört sah er aus; als ihre Blicke sich in der Dunkelheit trafen, wich Ryou ihm aus. Sein Mund öffnete sich und er suchte nach Worten, doch kein Laut verließ seine Lippen. Lautlos beobachtete Bakura die Reaktion des Anderen und Bitterkeit breitete sich in ihm aus. Sekunden später wich er ein Stück zurück und gab ihn frei. Ryou befreite sich aus seinem Griff und noch einmal, flüchtig, sahen sie sich an. Dann verließ Ryou schnellen Schrittes die Gasse, in die Bakura ihn nur Minuten zuvor gezogen hatte. Die Hände zu Fäusten geballt blickte Bakura ihm hinterher und ließ den Blick schließlich sinken. Die Ahnung von Glück, die für Sekunden in ihm aufgeflammt war, war erloschen und wich beschämter Enttäuschung. Er hatte es geschafft, sich vor jedem, der im Film Noir arbeitete, bloßzustellen und das an nur einem Abend. An einem Ort, der so klein war, das nichts geheim bleiben würde. Er konnte ihn bereits hören, Mariks beißenden Spott und Jonouchis überhebliches Gelächter. Dieser Junge... Bakura holte tief Luft, erstickte das stechende Gefühl in seiner Brust und fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar. In ihm war eine Sehnsucht, so stark, dass sie ihn fast körperlich schmerzte. Er musste dieses Gefühl abtöten. Es war sinnlos. Nichts würde sich für ihn ändern. Nicht heute. Nicht morgen. Alles würde so bleiben, wie es war. Bakura richtete seine Kleidung, straffte die Schultern und wandte sich um. Sein Gesicht war regungslos, das Rot aus seinen Wangen verschwunden. Nichts an ihm verriet, was geschehen war, als er Ryou zurück ins Film Noir folgte. Kontrolle. Sie war das wichtigste. Sie war alles, was er hatte. Kapitel 13: Die Männer von der anderen Seite -------------------------------------------- „…“ Sunset Mission – Bohren & der Club of Gore   Einige Wochen zuvor. Domino. Fünf Uhr morgens. Das kleine Badezimmer, Bestandteil einer Hochhaussiedlung, die man vor zwanzig Jahren am Westende der Stadt errichtet hatte, bot kaum genug Platz für eine Person. Helles Licht nackter Neonröhren prallte an den weißen Fliesen ab und hüllte alles in einen kalten Schimmer, der einen blendete, wenn man aus der Dunkelheit kam. Der Dunst abgestandenen Duschwassers hing in der Luft, durchsetzt vom Moschusduft billigen Männershampoos. Er hatte einen dünnen Film über die Oberflächen gelegt und hatte nicht einmal den kleinen Badezimmerspiegel, den jemand einst über dem schmucklosen Waschbecken angebracht hatte, verschont. Über allem schwebte der Geruch frisch aufgebrühten Kaffees. Yami Atem schloss die Knöpfe des dunkelblauen Leinenhemdes, welches er Minuten zuvor aus dem Schrank genommen hatte und betrachtete sich nachdenklich in dem holzgerahmten Badezimmerspiegel. Unzufrieden mit seinem Äußeren, verzog er missbilligend das Gesicht, ehe er nach einer schlichten Kaffeetasse griff, die er am Rand des Waschbeckens platziert hatte. Wortlos nahm er einen Schluck und strich sich mit den Fingerspitzen eine hellblonde Strähne hinter das Ohr. Er war ein schlanker, beinahe zierlicher Mann, dessen sehnige Gestalt trotz allem von einer Kraft kündete, die leicht zu unterschätzen war. Kleiner, als man es von einer Person seines Alters erwarten würde, hatte er die Eignungsprüfung zur Polizeiakademie nur knapp bestanden. Sieben Jahre war das her. Feminin anmutende Finger fuhren durch dickes, bunt eingefärbtes Haar, während ein Paar blutunterlaufene, violette Augen aus dem Spiegel zurück starrten. Ihr sonst waches Blitzen war von dem Fakt, dass der Schlaf sich erst zwei Stunden zuvor seiner erbarmt hatte, ausgemerzt worden. Alles an ihm wirkte weich. Die Haut war blass, das Gesicht ohne charakteristische Erhebung. Volle Lippen, Stupsnase, die Augen ungewöhnlich groß. Nur die stille Entschlossenheit, die er bei allem, was er tat, stets ausstrahlte, kündete von der Härte, die in ihm wohnte. Es war zu früh am Morgen, als dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Einem Roboter gleich nahm er die Tasse an sich und trat hinaus in den Flur. Seit seinem Abschluss vier Jahre zuvor bewohnte er dieses Apartment in einem der weitläufigen Pendlervororte. Das Zimmer selbst war kaum zehn Matten groß und beherbergte neben einem Futon einen Kotatsu, einen Fernseher, ein Bücherregal und eine Küchenzeile – wobei letzteres den Namen kaum verdient hatte. Dekoration suchte man vergebens. Es wirkte steril, doch war es ausreichend für jemanden, der ohnehin kaum zu Hause war. Er ließ den Blick über die Tatamimatten gleiten und seufzte. Wie alles in seinem Leben, so hatte seine Wohnung über die Jahre hinweg ein Chaos befallen, dessen er nicht Herr wurde. Die Decke des Futons unordentlich, eingerahmt von leeren Lebensmittelpackungen umliegender Supermärkte, einem überfüllten Aschenbecher aus Glas und ausgelesenen Mangamagazinen. Auf der dunkelbraunen Tischplatte des Kotatsus stand noch immer das schwere Glas, an dessen Grund Überreste jenes Whiskeys klebten, der in Form einer Flasche Yamazaki direkt daneben stand. Er trank oft, wenn er aß und noch öfter, wenn er es nicht tat. Die Verpackung des Bahnhofsbentos befand sich in der Nähe, die Essstäbchen lagen auf der hölzernen Tischplatte. Die Aromen von Eiche und Reisessig hingen in der Luft, die noch dick war vom Schlaf der kaum vergangenen Nacht. Es war kein Ort, an dem man lebte. Selbst die Einrichtung seiner Küche beschränkte sich auf wenige, ausgesuchte Teile. Genutzt wurde sie nie. Wie der größte Teil alleinstehender japanischer Arbeitnehmer ließ er sich seinen Speiseplan von umliegenden Schnellrestaurants und Konbinis diktieren. Dort fand er alles, was er brauchte. Es störte ihn nicht mehr, wenn es das jemals getan hatte. Seit jenem Tag, an dem sich die Resignation in seinem Herzen eingenistet hatte, war es ihm gleich, mit was er sich durch den Tag brachte. Er lebte. Diese Zustandsbeschreibung genügte ihm vollkommen. Er stellte die Tasse auf der Spüle ab und bahnte sich den Weg durch das Schlafzimmer. Sodann nahm einen schwarzen Parka aus Synthetik vom Haken an der Wand und wickelte sich einen Schal aus anthrazitfarbener Wolle um den Hals. Er schlüpfte in das Paar dunkler Anzugschuhe, das er am Abend zuvor achtlos im Genkan abgestellt hatte, fischte den Schlüsselbund aus einem Holzschälchen neben der Haustür und zog sie, ohne einen Blick zurück zu werfen, hinter sich zu. Eine Stunde zuvor. Der schrille Klang des dunkelgrünen Wählscheibentelefons, welches neben seinem Kopfkissen auf dem Fußboden stand, riss ihn aus dem Schlaf. Starr vor Schreck und mit weit aufgerissenen Augen starrte er an die Decke, ehe im folgenden Moment der pulsierende Kopfschmerz einsetzte, der ihn immer dann heimsuchte, wenn er am Abend zuvor zu tief ins Glas geschaut hatte. Stöhnend drehte er sich auf die Seite und wühlte sich einarmig durch den Müll, der ihn umgab. Bei jedem Schellen zersprang sein Kopf in tausend Stücke. Einige Sekunden später hatten seine Finger den Kunststoffhörer erreicht. Erleichtert nahm er ab und beendete den zermürbenden Lärm. „Atem.“ Er klang alles andere als erfreut über die nächtliche Störung. Schlecht gelaunt klemmte er den Hörer zwischen Ohr und Kopfkissen und zog die Decke über die nackten Schultern. Am anderen Ende räusperte sich jemand. Yami erkannte die Stimme sofort, war jedoch nicht überrascht. Für nächtliche Störungen dieser Art kam nur eine Person in Frage. Tief und sachlich, gehörte sie zu einem Mann, der immerzu rational handelte und das Wesentliche stets im Blick hatte. Seine kalte Art konnte so schneidend sein wie sein Verstand. Als das Räuspern Yamis Ohr erreichte, schnellte sein Puls in die Höhe. Etwas gutes hatten seine nächtlichen Störungen noch nie verheißen. „Wir haben eine Leiche. Wie lange brauchst du?“ Im Hintergrund knackte und rauschte es. Yami vernahm Fetzen der elektronischen Bahnsteigansagen, in die sich das Knattern der ersten Pendlerzüge mischte. Mit einem Mal saß er kerzengerade im Bett. Die Decke glitt von seinen Schultern. Da er kaum mehr trug als Unterhemd und Shorts, begann er augenblicklich zu frösteln. Erneut streckte er den Arm aus und griff nach dem Wecker, der neben dem Telefon stand, drückte den silbernen Knopf, mit dem man die Beleuchtung einschalten konnte und las benommen die Uhrzeit vom digitalen Display ab. Vier Uhr dreiundzwanzig. Es brauchte drei Anläufe, bis die Anzeige in seinem Hirn Sinn ergab. „Rufst du von unterwegs an?“ Sein Blick fiel auf die Temperaturanzeige. Sechs Grad Celsius. Frierend ließ er sich zurück in die Matratze sinken, innerlich fluchend über den diesjährigen Winter und die einfachverglasten Fenster. Seit seine Klimaanlage drei Tage zuvor den Geist aufgegeben hatte, hatte sich seine Wohnung in einen Eisschrank verwandelt. „Ja. Ich bin in Meguro.“ Brummend zog er die Decke bis zum Kinn. „Ein Mord?“, raunte Yami in den Hörer. Er schloss die Augen. Seine Stimme klang matt und erschöpft, ganz im Gegenteil zu der seines Partners, die keine Müdigkeit zu kennen schien. Warum er sich bereits so früh dort herum trieb, erschloss sich ihm nicht – er verzichtete darauf, nachzufragen. „Die Spurensicherung sagt, es sieht danach aus.“ „Wo?“ „Im Hamarikyu-Park in Chuo.“ Einhändig öffnete Yami eine dunkelrote Zigarettenschachtel, die neben seinem Bett auf den hellbraunen Tatamimatten gelegen hatte. Als er nicht fündig wurde, drehte er sie auf den Kopf und schüttelte sie. Nichts. Kein Rascheln, keine Zigaretten, nichts. Sie war leer. Genervt schnippte er die Packung zur Seite und rollte sich auf den Rücken. Chuo. Bis dahin würde er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln eine halbe Ewigkeit brauchen. Mit dem Auto ebenfalls. Halb fünf am Morgen und der Tag war bislang eine einzige Katastrophe. „Alles in Ordnung?“, ertönte es aus dem Hörer. „Ja, ja.“ Er fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe und bemerkte den zarten Hauch von Whiskey. Er musste vom letzten Abend zurück geblieben sein. „Bin eben erst eingeschlafen.“ Auf der anderen Seite ertönte ein amüsiertes Schnauben. „Das sagst du jedes Mal, wenn ich dich aus dem Bett hole, Atem." Ja, sie kannten das schon. Ein alter Hut. Stete Routine in einem Leben, das bis auf ungelöste Verbrechen nicht viel zu bieten hatte. Ein mattes Lächeln erschien auf Yamis Gesicht. Er konnte es nicht abstreiten. „Womöglich.“ Mit geschlossenen Augen lag er da. Allmählich ließ der Kopfschmerz nach. „Das würde nicht passieren, wenn du mal mit einem Kaffee vor meiner Haustür stündest, anstatt mich immer nur per Telefon aus dem Bett zu werfen.“ Seine Mundwinkel zuckten belustigt. „Ein bisschen mehr Romantik, weißt du?“ „Du weißt, dass das nicht passieren wird.“ Das Grinsen wurde breiter, doch der Schmerz in seiner Stirn blieb. Ohne Koffein würde er den Tag nicht durchstehen können, so viel stand fest. „Natürlich nicht. Ich stehe jetzt auf. Gib mir eine halbe Stunde.“ „In Ordnung. Bis gleich.“ Es klickte, und der Mann am anderen Ende hatte aufgelegt. Fünfzig Minuten später parkte Yami seinen silbernen Toyota Tercel auf dem Parkplatz unweit des Tores, welches den Eingang zum Park bildete. Er kannte diesen Ort, diente er als Naherholungsgebiet der hiesigen Bevölkerung, dessen weitläufige Grünanlagen eine Einheit bildeten mit der ans Meer angrenzenden Bucht der Stadt. Der Geruch von Salzwasser hing in der Luft. Kaum, dass er die Autotür hinter sich ins Schloss geworfen hatte, erfasste ihn eine Windböe und ließ ihn erschaudern. Der Winter war ein verdammt kalter Bastard dieses Jahr. Er tat einige Schritte in der Dunkelheit, das Gesicht tief im Schal vergraben. Jeder Windstoß brannte in den Augen und ließ die gefühlte Temperatur noch weiter absinken. Steinchen schwarzen Schotters knirschten unter seinen Anzugschuhen. Yami schob die Hände in die Taschen seiner Jacke und blickte sich um. Es brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Der Parkplatz war miserabel ausgeleuchtet. Neben seinem Toyota fanden sich weitere Autos, in der Mehrzahl japanische Fabrikate. Die meisten trugen Nummernschilder, die ihm vertraut waren und die zu Kollegen gehört, die vor ihm am Tatort eingetroffen waren. Aus der Ferne, verdeckt von Bäumen und Sträuchern, drang ein kaum wahrnehmbares Gewirr von Stimmen zu ihm hinüber, in das sich hin und wieder vereinzelte, lautere Rufe mischten. Es dauerte nicht lange und Yami passierte das Tor, welches ins Innere des Parks führte. Für gewöhnlich schloss dieser seine Pforten am späten Nachmittag, und so verschluckte ihn die Dunkelheit, sobald er die ersten Bäume passiert hatte. Hin und wieder kam er an Männern und Frauen in weißer Schutzkleidung vorbei, die Füße in Gummistiefeln, die Hände in Handschuhen von der Farbe frischer Mayonnaise. Einige von ihnen trugen Aluminiumkoffer. Gemeinsam war ihnen allen eine gewisse Rastlosigkeit, die jeden ihrer Schritte zu begleiten pflegte. Nur die wenigsten hatten ein grüßendes Wort ihn übrig. Es waren die Mitglieder der Spurensicherung, jene, die zuerst vor Ort waren, und dafür sorgten, dass alles seine Ordnung hatte. Yami verstand ihren Unmut, mussten sie noch weniger geschlafen haben als er selbst. Kaum, dass er den Park betreten hatte, nahmen Kälte und Luftfeuchtigkeit zu. Das Aroma frischer Kiefernnadeln und toten Laubs erfüllte die Luft. Yami vernahm das metallische Rufen aufgeschreckter Vögel, die vom plötzlichen Tumult in ihrem letzten Rückzugsort laut ihre Empörung kund taten. Ein Schaudern erfasste seinen Körper, in Folge dessen er den Kragen seiner hoch klappte und den Schal über Mund und Nase zog. Zu gerne hätte er sich wieder in sein Bett verkrochen, doch es half nichts. War das Licht auf dem Parkplatz noch schummrig gewesen, so wandelte er nun in pechschwarzer Dunkelheit. Die Hände suchend ausgestreckt wartete er darauf, dass sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnen würden. Nachdem er einige Meter gegangen war, zweigte der Pfad nach rechts ab und verschwand nach fünfhundert Metern in einem dicht angelegten Waldstück, aus dem das helle Flackern kalten, artifiziellen Lichtes gebrochen durch die Äste zu ihm hindurch drang. Tatortscheinwerfer. Das Stimmengewirr nahm an Intensität zu. Er fasste sich ein Herz und betrat den Hain, der sich – seinen Nerven war es nur recht – bereits nach wenigen Metern lichtete und den Blick frei gab. Die Scheinwerfer trafen ihn mit voller Härte. Geblendet hob Yami einen Arm und hielt ihn vor sein Gesicht, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Das Surren der Generatoren brannte sich in seinen Schädel, doch der allgegenwärtige Dieselgeruch gab ihm den Rest. Unruhig fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar und atmete tief ein. Übelkeit hatte von ihm Besitz ergriffen, gesellte sich zu dem Pochen in seiner Stirn, das ihn begleitete, seit er eine Stunde zuvor die Augen aufgeschlagen hatte. Bei allem, was dir heilig ist, Atem, schoss es ihm durch den Kopf. Kotz jetzt nicht den Tatort voll. Reiß dich zusammen! Blinzelnd riskierte er einen erneuten Blick. Vor ihm erstreckte sich ein künstlich angelegter See, der durch eine Lichtung in zwei Hälften geteilt wurde. Auf dem Wasser befand sich ein Teehaus in traditionellem Stil, von dem aus man eine gute Aussicht über die umliegende Landschaft hatte. Das Areal hatte man weitläufig mit Flatterband abgesperrt. Ohne zu zögern hob Yami das Band an und tauchte darunter hinweg, ehe er den Steg betrat, der zum Teehaus führte. Dort fand er die höchste Konzentration an weiß gekleideten Menschen vor. Einige platzierten Nummernkärtchen, andere trugen Kameras bei sich. Das Klicken des Auslösers einhergehend mit dem Flackern des Blitzlichtes sorgte dafür, dass Yami sich einmal mehr mit grimmiger Miene abwandte. In diesem Moment hätte er alles für eine Aspirin gegeben. Wortlos betrachtete er die Gruppe bei der Arbeit, die immer wieder den Standort wechselte, sich murmelnd unterhielt und Dinge auf vorgedruckten Bögen notierte. Sie wirkten nicht wie eine Ansammlung von Einzelpersonen. Zusammen bildeten sie einen Korpus, der atmete, lebte – dachte. Einem Ameisenstaat gleich erledigten sie ihre Arbeit gewissenhaft nach einem Programm, dass man ihnen Jahre zuvor in muffigen Klassenzimmern eingeimpft hatte. Streng nach Dienstvorschrift, ohne jede Chance, jemals vom Schema abzuweichen. Sein Blick blieb an dem hölzernen Rahmen in der Mitte des Raumes hängen, der einst als Befestigung für die raumtrennenden Schiebetüren gedient haben musste. Dagegen lehnte der Körper einer Frau, der, eingehüllt in einen hellbraunen Wollmantel, eins wurde mit dem vergilbten Untergrund. Der Kopf hing vornüber gebeugt. Dichtes, schwarzes Haar verdeckte, einem seidigen Schleier gleich, ihr Gesicht. Die Hände, weiß im Licht der Scheinwerfer, ruhten regungslos in ihrem Schoß. Lederne Boots bedeckten ihre Füße. Ein aus dunkelrotem Wollstoff gefertigter Rock reichte bis zu den Knien. Ihre leblos ausgestreckt liegenden Beine waren auseinander gerutscht und ermöglichten den Blick auf ihr Allerheiligstes. Es vermochte nicht, Yamis Aufmerksamkeit länger zu bündeln, als es die dienstliche Routine erlaubt hätte. Bemerkenswerter waren die Spuren getrockneten Blutes, die sich ihren Hals hinab über den Mantel hinweg bis zur Höhe ihres Bauchnabels zogen. Sie musste viel davon verloren haben, denn es war nahezu überall, hatte sich vereinigt mit dem porösen Untergrund, der nun ohne Zweifel ein Fall für die Müllkippe war. Die Stirn in Falten gelegt, ging Yami voran, bis er ein weiteres Absperrband, welches den Eingang zum Haus verriegelte, erreicht hatte. Auf dem Boden, direkt vor dem Körper, lag ein Portemonnaie aus braunem Leder. Jemand hatte es aufgeklappt und sämtliche sich darin befindliche Karten fein säuberlich daneben ausgelegt. Alles wirkte, im Gegensatz zu den Tatorten, an denen er zuvor gewesen war, merkwürdig geordnet. Bis auf die Unmengen an Blut deutete kaum etwas auf ein Gewaltverbrechen hin. Nichts im Raum schien beschädigt worden zu sein. Als wolle man sicherstellen, dass die Identität des Opfers im Trubel der Ermittlungen nicht verloren ging, hatte man ihre persönlichen Gegenstände ausgebreitet, ein identitätsstiftender Rahmen im Angesicht des Todes. Er fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht, massierte die Schläfen und rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen, ehe er den Kopf hob und lange zur Leiche blickte. Er konnte nicht nennen, was es war, doch irgendetwas störte ihn. Irgendetwas war anders. Der Ermittler war sich nicht sicher, woher dieser Eindruck rührte, doch er konnte sich des Eindrucks, dass dem ganzen etwas vertrautes anhaftete, nicht erwehren. Fröstelnd verschränkte er die Arme vor der Brust und machte Anstalten, unter dem zweiten Absperrband hinweg zu tauchen, als hinter ihm eine Stimme ertönte, die ihn in seiner Bewegung erstarren ließ. „Da bist du ja endlich.“ Verschreckt fuhr Yami herum. Für Sekundenbruchteile schoss sein Puls in die Höhe, normalisierte sich jedoch, als er erkannte, mit wem er es zu tun hatte. Sodann trat ein Lächeln auf seine Lippen. Vor ihm stand ein groß gewachsener, sehr schlanker Mann von knapp dreißig Jahren. Dunkelbraunes Haar fiel in das schmal geschnittene Gesicht, aus dem ihn ein Paar eisblaue Augen anblitzten. Trotz der frühen Stunde war er perfekt heraus geputzt. Ein weißes Hemd ragte unter dem Kragen des schwarzen Einreihers hervor, über den er einen dunkelgrauen Trenchcoat gezogen hatte – böse Zungen behaupteten, dass es sich dabei um seine Art des Humors handelte. In den Händen hielt er zwei dampfende Becher frischen Kaffees, wo auch immer er diese an jenem Ort, zu jener Stunde aufgetrieben haben mochte. Er wirkte schlecht gelaunt, doch das tat er immer. Seit drei Jahren arbeiteten sie zusammen. Sein Name lautete Seto Kaiba. „Von wegen dreißig Minuten.“ Er klang verärgert. Yami ignorierte den Tonfall und hob abwehrend die Schultern. „Entschuldige.“ Ohne zu fragen griff er nach einem der Becher und nahm einen vorsichtigen Schluck. Kaffee war das einzige, was ihn jetzt noch retten konnte. Mit einem flüchtigen Lächeln dankte er dem Anderen, doch dieser starrte nur ernst zurück. Ein Knistern lag in der Luft. Langsam ließ Yami den Becher sinken und betrachtete seinen Freund und Kollegen nicht ohne Argwohn. Setos Gesichtsausdruck jagte ihm einen Schauer über den Rücken. „Stimmt etwas nicht?“ „Komm mit.“ Schlanke Finger schlossen sich um Yamis Oberarm und zogen ihn mit sanfter Gewalt vom Ort des Geschehens fort hinauf auf den Steg, über den Yami nur Minuten zuvor gekommen war. Hier, abseits von den Menschenmassen, waren sie ungestört, umgeben vom friedlichen Plätschern des Sees. Fernab der Scheinwerfer, hüllte die Dunkelheit sie ein. Verwundert betrachtete Yami Setos Hand, die ihn gepackt hielt, wandte sich um und warf einen letzten Blick hinüber zum Tatort, ehe er endlich stehen blieb. Mit dem Verhalten seines Kollegen konnte er nichts anfangen. Was war denn los? Normalerweise hätte Seto ihm jetzt die üblichen Instruktionen gegeben. Informationen zum Opfer, zum bisherigen Wissensstand, dem Zeitpunkt, an dem man die Leiche gefunden hatte – wer sie gefunden hatte – und wo sie am besten mit der Arbeit beginnen würden. Nichts von all dem geschah. Unruhig leckte Yami sich mit der Zunge über die Unterlippe und warf Seto einen Blick zu, der aus der sich allmählich einschleichenden Unsicherheit keinen Hehl machte. Seto verhielt sich abseits jeder der für ihn geltenden Normen und so abweisend, dass Yami nicht zu deuten vermochte, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Übermüdet, wie er war, fand seine Geduld ein rasches Ende. Gefühle von Frustration und Sorge kochten in ihm hoch. Mit einem Ruck riss er sich los und trat einen Schritt zurück. „Kaiba, was ist los?“, versuchte er das Eis zu brechen. „Hat deine Herzensdame dich abserviert? Warum zur Hölle schubst du mich herum?“ Der Andere verzog keine Miene. Still schob er eine Hand in die Tasche seines Trenchcoats und nahm selbst einen Schluck Kaffee. Seine Mundwinkel umspielte nicht einmal der Hauch eines Lächelns, wie es sonst vorkam, wenn Yami ihn derart von der Seite anging. Sie arbeiteten lange genug zusammen, kannten sich gut genug, um solche Spielchen problemlos deuten zu können. „Du weißt, dass ich keine Freundin habe“, erwiderte er trocken. Yami stöhnte auf. „Das ist mir klar.“ Seufzend zog er eine kleine, dunkelrote Schachtel hervor, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete diese wortlos an. Mit dem ersten Zug fiel die Anspannung von ihm ab. Kaffee und Zigaretten – ein richtiges Nuttenfrühstück. Es war der Moment, in dem Seto endlich eine Regung zeigte. „Rauchst du wieder?“ „Ja.“ Der Brünette verzog das Gesicht. „Du betreibst Raubbau mit deinem Körper“, stellte er nicht ohne Tadel fest. Eine Bemerkung, die ein dünnes Schmunzeln auf Yamis Lippen erscheinen ließ. Er konnte nicht abstreiten, dass der Andere Recht hatte. Kümmern tat es ihn nicht. „Ich komm schon klar“, antwortete er tonlos und blies den Rauch in die kalte Nachtluft. Im Hintergrund konnte er ihre Kollegen auf und ab laufen sehen. Noch immer wunderte er sich über die Hektik am Tatort, die weit über das gewöhnliche Maß hinaus ging. Alle, die er heute getroffen hatte, hatten einen gehetzten Eindruck auf ihn gemacht. Es übertrug sich auf ihn und machte ihn nervös. Unruhig drehte er die Zigarette zwischen seinen Fingern hin und her, ignorierte den tadelnden Blick Setos und nahm einen weiteren Zug. Zwei Jahre hatte er es geschafft, ohne Nikotin durch den Alltag zu kommen. Dann hatte ihn die Überzeugung verlassen. „Ist Yamamoto von der Staatsanwaltschaft schon da?“, fragte er beiläufig und drehte den Kaffeebecher in den Händen. Yukiko Yamamoto war eine alte Bekannte von ihnen. Ehrgeizig und verbissen hatte sie schon so manchen Verdächtigen seiner Schuld überführt. Stets als erste am Tatort, war sie eine bemerkenswerte Karrierefrau, die sich ihren Posten in einer von Männern dominierten Welt hart erarbeitet hatte. Über die letzten Monate hinweg hatte sie einige Erfolge verzeichnen können, die über ihre Abteilung hinaus Schlagzeilen gemacht hatten. Sie war präzise, genau und ein Arbeitstier, vor dem man sich in Acht nehmen musste, mit einem Humor, schwärzer als der Kaffee, der in dem weißen Pappbecher in seinen Händen dampfte. Widerworte gab man ihr exakt ein Mal – dann nie wieder. Sie hatte Charakter und Durchsetzungskraft, und Yami hatte sie seit Beginn seiner beruflichen Laufbahn dafür respektiert und geschätzt. Ihm entging nicht, dass sich etwas in Setos Gesicht veränderte, kaum, dass er ihren Namen ausgesprochen hatte. Mit zusammen gepressten Lippen blickte dieser für einen Moment zu Boden und schien nach passenden Worten zu suchen. Schließlich nahm er Yami den Becher aus den Händen und stellte ihn auf das weiß lackierte Geländer des Stegs. In diesem Moment ging mit  Yami, der langsam zu ahnen begann, dass die Unruhe am Tatort nicht nur ein Produkt seiner Einbildungskraft war, die Nervosität durch. Er öffnete den Mund, um einen Schwall von Fragen auf seinen Kollegen nieder regnen zu lassen, doch dieser schnitt ihm das Wort ab, ehe er einen Ton von sich geben konnte. Ihre Blicke trafen sich in der Dunkelheit. „Darüber wollte ich mit dir reden.“ Die Ermittler verharrten in ihren Bewegungen und blickten einander stumm an. Setos Stimme hatte etwas so ernstes an sich, dass Yami kaum zu atmen wagte. Etwas in den Worten seines Kollegen, in dem Tonfall, der Art, wie er sprach, sagte Yami, dass etwas anders war als sonst. Das alles anders war als sonst. Alarmiert trat Yami einen Schritt näher an Seto heran und packte ihn am Oberarm. Dieser zuckte durch die Heftigkeit der Bewegung zusammen und hob abwehrend die Hände. Widerwillig ließ Yami ihn los. „Sag mir, was passiert ist“, forderte dieser mit bebender Stimme, wandte sich ab und umklammerte mit beiden Händen das Geländer. Er musste sich beherrschen. Er durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Er war übermüdet und gestresst, aber all das war keine Entschuldigung dafür, sich unpassend zu benehmen. Aus den Augenwinkeln betrachtete er seinen Freund, der den Kaffee abstellte und nun die Arme vor der Brust verschränkte. Insgeheim wusste Yami bereits, was geschehen war, doch er musste es hören. Jemand musste es aussprechen. Mit einem subtilen Kopfnicken deutete Seto in Richtung des Teehauses. „Sie war wie immer vor uns am Tatort“, sagte er voll Bitterkeit. Die letzten Worte erreichten Yami schon nicht mehr. Kaum hörbar schnappte dieser nach Luft, musste sich festhalten, damit er nicht einknickte, denn seine Knie verließ mit einem Schlag jede Kraft. Für einen Moment hörte sein Herz auf zu schlagen. „Yamamoto ist…“, presste er zwischen den Zähnen hervor, das Gesicht weiß wie Papier, die Augen weit aufgerissen. Seto nickte knapp. „Ja. Yamamoto ist tot.“ Kapitel 14: Vogel im Käfig -------------------------- Unruhig trat Marik von einem Fuß auf den anderen, die schlanken Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick ruhte auf der Tür, die zu Mariks Büro führte, doch noch wagte er es nicht, den Griff zu umfassen und sie aufzustoßen. Seit dem Zwischenfall mit Yuugi war eine Woche vergangen und noch immer hatte sich nicht alles wieder normalisiert. Die Szenen jenes Abends hatten sich in den Köpfen aller festgesetzt und verfolgten sie, bei allem, was sie taten. Tag um Tag. Stunde um Stunde. Seither hatte niemand von ihnen gewagt, auch nur im Geringsten aus der Reihe zu tanzen. Jonouchi, der dafür bekannt war, den Kunden mit seiner extrovertierten Art den letzten Yen aus der Tasche zu ziehen, öffnete den Mund nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Er war derjenige, dem der Schock am Tiefsten in den Knochen steckte. Allabendlich stand er mit ernstem Blick an der Theke, füllte Glas um Glas, doch war er gedanklich nie bei ihnen. Nicht einmal Marik schaffte es, seine alte Geschwätzigkeit zum Vorschein zu bringen. Sie alle sorgten sich um ihn, wissend, dass Malik nicht zulassen würde, dass Jonouchi in seiner Leistung zurück fiel. Yuugi hingegen verbrachte die meiste Zeit auf seinem Zimmer. Noch immer war er nicht in der Lage, zu arbeiten – niemand wusste recht einzuschätzen, wie lange dies noch so bleiben würde. Seine Haut war geschwollen. Die geröteten Stellen hatten sich derweil bläulich verfärbt. Und auch, wenn Marik sein bestes getan hatte – die zierliche Stubsnase war dahin. Die Stammkunden hingegen hörten nicht auf, nach ihm zu fragen. Manche schickten Blumen und Schokolade, etwas, das Ryou mit überraschter Miene zur Kenntnis genommen hatte. Auch, wenn sie alle seit jenem Abend neben sich standen, war Marik fest davon überzeugt, dass sich mit der Zeit alles zum Guten wenden würde. Nur eine Sache gab es, über die er sich ernstlich den Kopf zerbrach. Niemandem im Film Noir war entgangen, dass die Stimmung zwischen Ryou und Bakura ins Negative umgeschlagen war. Hatte sich zuvor ein zartes Band stiller Verbundenheit zwischen ihnen gesponnen, schien es nun, als habe man es unvermittelt gekappt. Bakura schnitt den jüngeren. Sie sprachen nicht miteinander. Nicht einmal mehr das Essen brachte er ihm aufs Zimmer – stattdessen schickte er Marik, der zwischen den Stühlen stand und sich nicht zu helfen wusste. Dieser nahm war, dass Ryou versuchte, die Fassung zu bewahren – und es doch nicht schaffte, wann immer er und Bakura in einem Raum waren. Er aß schlecht. Die zartblauen Schatten unter seinen Augen wurden zusehends dunkler und auch die Arbeit selbst schien ihm immer größere Probleme zu bereiten. Jedes Mal, wenn Marik den Schlüssel im Schloss drehte und Ryous Zimmer betrat, sah er die Enttäuschung in den Augen des Jüngeren. Enttäuschung darüber, dass Bakura es wieder nicht geschafft hatte. Marik kannte den Grund für diese jähe Veränderung nicht, hatte jedoch bisher kaum einen Gedanken daran verschwendet. Zu sehr war er mit sich selbst beschäftigt gewesen. Während alle mit sich selbst gekämpft hatten, hatte er nachgedacht – und eine Entscheidung getroffen. Der Ägypter nahm einen tiefen Atemzug und straffte die Schultern. Äußerlich ruhig, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Das Blut rauschte in seinen Ohren, sein Mund war staubtrocken. Es war mehr als schlichte Aufregung, die ihn heimsuchte. Es war die feine, unterschwellige Angst, die ihn seit fünf Jahren begleitete und nie wirklich zur Ruhe kommen ließ. Jetzt, wo er hier stand, an der Schwelle des Abgrundes, der sein ganzes Leben einrahmte, loderte sie auf, wie ein Feuer, dass man mit Benzin fütterte. Wenn er jetzt nicht ging, war ein Tag mehr dahin. Die Uhr tickte. Es war früher Nachmittag, die Vorbereitungen für den Abend liefen bereits. Die Zimmer wurden auf Vordermann gebracht, die Getränke aufgefüllt, Besorgungen getätigt. Es war die Zeit des Tages, zu der alle abrufbar und doch beschäftigt waren. Es war normaler Alltag jenseits der abendlichen Tätigkeiten. Selbst Marik wirkte ungewöhnlich unauffällig. Er hatte den üblichen Fummel abgelegt, trug eine schlichte Jeans, ein T-Shirt mit Aufdruck und eine Jacke aus dunkelblauem Jersey. Ungeschminkt wirkte sein Gesicht kantiger. Die feminine Schönheit, die ihm innewohnte, wenn er arbeitete, man fand sie kaum noch. Die Schminke, die er allabendlich trug, fehlte vollständig. Marik hob die Hand und klopfte drei Mal. Niemand antwortete. Er zögerte einen Moment, dann griff er nach der Türklinke. Kaum, dass seine Finger diese berührt hatten, hielt er inne. Ein Zittern hatte von all seinen Gliedern Besitz ergriffen. Halte durch, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Halte durch. Seit fünf Jahren lebte er von Tag zu Tag. Seit fünf Jahren waren diese Worte alles, was er hatte. Noch einmal füllte er seine Lungen mit Luft, dann trat er ein. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schien sie lauter zu scheppern als sonst. Zögernd machte der Stricher einige Schritte in die Mitte des Raumes. Dabei schlug sein Herz kontinuierlich schneller. Für eine Sekunde schloss er die Augen. Er musste sich beruhigen. Er musste klar denken können, sonst würde das folgende Gespräch zu nichts führen. Als er nach einigen Sekunden angespannter Stille blinzelte, fand er Malik zu seiner Überraschung alleine vor. Dieser saß am Schreibtisch und hob den Blick, als er bemerkte, dass jemand den Raum betreten hatte. Er trug eine schwere, dunkelbraune Hornbrille, die er absetzte und wortlos vor sich auf den Tisch legte. Normalerweise war Bakura zu dieser Zeit bei ihm, erledigten sie zu dieser Stunde den Papierkram, für den sie abends keine Zeit fanden. Marik hinterfragte selten, was die beiden hier besprachen. Er ahnte, dass es besser war, es nicht zu wissen. Und doch – Bakuras Abwesenheit versetzte ihn in Sorge. Er hatte fest mit ihm gerechnet. Malik lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ein dünnes Schmunzeln erschien auf seinen Lippen, als er Marik erblickte, hinter dem die Tür soeben mit einem leisen Klicken ins Schloss gefallen war. Die kalten Pupillen glitten demaskierend über den jugendlichen Stricherkörper. Er wusste um Mariks Wert für dieses Haus und auch sonst gab es nichts, was Marik vor ihm verbergen konnte. Malik kannte in besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Nicht einmal Bakura konnte ihm das Wasser reichen. Vor Nervosität wurden seine Hände feucht. Ohne etwas zu sagen, schob er sie in die Hosentaschen und trat näher an den Älteren heran. Dabei war das Gesicht des Strichers ungewöhnlich ernst. Kein Zucken, keine Regung verriet, was in ihm vorging. Und auch jene legere Leichtigkeit, die er sonst stets ausstrahlte, war verschwunden. Selten war er seinem wahren Selbst ähnlicher gewesen als in diesem Moment. „Was willst du hier?“ Marik, der vor dem schweren Schreibtisch zum Stehen kam, streckte die Hand aus und ließ die Fingerspitzen gedankenverloren über das glänzende Holz gleiten. Stumm blickte er hinüber zu der dunkelroten Couch, auf der Bakura normalerweise saß. „Ist er nicht da?“ Marik nickte mit dem Kinn in Richtung des Sofas. „Er hat eine Besprechung mit einem Syndikat aus Nakagawa.“ Besprechung. Das Wort fühlte sich sperrig an. Es klang offizieller und legaler als diese Art von Treffen zu sein pflegten. Ferner war Nakagawa kein Stadtteil, den man mal eben  aufsuchte. Mit Bus und Bahn war man eine knappe Stunde unterwegs. Bakura war aus dem Rennen, die Chance, dass er binnen der nächsten Minuten das Büro betreten würde, dahin. Hiermit war Marik auf sich allein gestellt. Sie hielten einen Moment inne, betrachteten einander, ohne etwas zu sagen. Sie sahen sich ähnlich, doch Malik hatte eine Härte, die Marik niemals besitzen würde. War sie heute maßgeblicher Bestandteil seiner Persönlichkeit, so hatte es Zeiten gegeben, in denen dies anders gewesen war. Marik konnte nicht sagen, wann dieser Wechsel stattgefunden hatte. Und obschon er wusste, dass Malik nicht immer so gewesen war, so konnte er sich an die besseren Zeiten nicht mehr daran erinnern. „Was machst du?“ „Ich korrigiere die Abrechnungen des Wochenendes.“ Ein müdes Lächeln umspielte Mariks Mundwinkel. Malik entging das nicht. Seine Augenbrauen zuckten gereizt. „Was ist?“, murrte er schlecht gelaunt. „Nichts. Ich kann nur immer noch nicht glauben, dass ihr Gangster Bücher führt.“ Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Die Luft zwischen ihnen schien in Flammen zu stehen. „Schreibst du Bakuras Aufträge auch da hin? Laufen sie unter Einnahmen oder sind das schon Ausgaben? Solche Grenzen verschwimmen leicht, was?“ „Pass auf, was du sagst.“ Malik verzog das Gesicht zu einer Fratze. Es stand außer Frage, dass ihm der passivaggressive Umgangston, den Marik an den Tag gelegt hatte, nicht entgangen war. Innerlich zuckte der Stricher und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Gegenüber beugte sich über den Tisch. Dabei stützte er sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ab und musterte den Jüngeren unnachgiebig. „Mal abgesehen davon – merkst du nicht, dass deine Anwesenheit hier unerwünscht ist?“ „Hat mich das jemals interessiert, Malik?“ Marik versuchte, desinteressiert zu klingen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Schweigend nahm er eines der Papiere vom Tisch, die Malik zuvor verstreut haben musste und ließ den Blick langsam darüber gleiten. Es handelte sich um den Steckbrief eines Jungen, samt Foto, der knapp fünf Jahre jünger war als er. Er trug nicht mehr als einen schwarzen Slip. Sein Körper war unverbraucht, schön, exotisch, in der Blüte der Jugend. Ängstlich blickten ein Paar dunkler Augen in die Kamera. Importware zum Verkauf. So wie er selbst. „Frischfleisch?“ „Ja.“ Malik zog ihm mit einem geschickten Griff das Blatt aus den Fingern und legte es zurück auf den Tisch. „Ich suche einen Nachfolger für Yuugi.“ Ein Stechen durchzuckte Mariks Brust, doch er ließ sich nichts anmerken. Das Yuugi Malik ein Dorn im Auge war, war schon lange kein Geheimnis mehr. Das Malik bereits nach einem Ersatz suchte, bestätigte Marik nur in der Annahme, dass sein Gegenüber plante, den Stricher loszuwerden. Beherrscht leckte sich Marik über die Lippen und sammelte sich kurz, ehe er weiter sprach. „Die Schleuserjungs taugen nichts“, murmelte er knapp. Maliks Blick verdüsterte sich. „Was geht’s dich an?“ Ein Lächeln, das keinen Hehl daraus machte, dass es durch und durch falsch war, huschte über Mariks Gesicht. Seine Finger, die über das Holz gestrichen hatten, hielten inne. „Ich muss die Herzchen einarbeiten, das weißt du. Du kannst dir vorstellen, dass das schlecht geht, wenn sie kein Wort von dem verstehen, was ich sage.“ „Du wärest nicht der erste, der das hinbekommt. Vergiss nicht, dass es bei dir auch so war. Und jetzt geh mir nicht weiter auf den Keks.“ Damit beachtete Malik Marik, der die Lippen still zusammen presste, nicht weiter. Er zog das Notizbuch, über dem er zuvor gesessen hatte, zu sich heran und nahm einen Stift in die Hand. Marik betrachtete ihn schweigend. Allein bei dem Gedanken an Schleuserbanden und Menschenhandel legte sich eine Schraubzwinge um sein Herz, so fest, dass es ihm die Luft zum Atmen nahm. Seine Finger krallten sich in die Tischkante, doch er nahm es nicht wahr. Schon immer reagierten Bakura und Malik gereizt auf seine Anwesenheit. Wie viele Jahre hatten sie ihn herum geschubst, über seine Einwände gelacht und ihre schlechte Laune an ihm ausgelassen? Vor allem Bakura… Marik seufzte innerlich. Bakura war nicht immer so gewesen. Irgendwann hatte er resigniert und sich dem Milieu, in dem er groß geworden war, angepasst. Lange Zeit sagte niemand etwas. Unschlüssig, wie er sich verhalten sollte, blieb Marik an Ort und Stelle stehen, während sein Gegenüber versuchte, seiner Arbeit nachzugehen. Die Stille zwischen ihnen wurde zunehmend unerträglich, doch niemand wollte der erste sein, der unter der stillen Feindseligkeit, die zwischen ihnen herrschte, einknickte. Es war Marik, der zuerst den Mund öffnete. „Ich muss mit dir über etwas sprechen.“ Adrenalin schoss in seine Adern und ließ seinen Atem kürzer und unregelmäßiger werden. Seine Stimme hatte sich verändert. Tief und ernst, ließ sie keinen Widerspruch zu. Unnachgiebig fixierten seine Augen den Mann, der seit Jahren über sein Leben bestimmte. Keine Spur mehr von der fröhlichen Heiterkeit, die er abends zur Schau stellte. Sie war eine Maske, hinter die er nur wenige blicken ließ. Nichts von all dem war echt. Mit schlanken Fingern strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Es brauchte ihm jede Selbstbeherrschung, den Blick nicht wegbrechen zu lassen. Der Andere legte den Stift zur Seite und hob den Kopf. Sie betrachteten einander. Es war, als suchte Malik nach den richtigen Worten. Hinter all den Spannungen ruhte eine Vertrautheit, über die sich gegenseitige Abscheu legte. Langsam reifte in seinem Gesicht die Erkenntnis, dass es sich nicht um den üblichen Smalltalk handelte, der Marik sonst in sein Büro spülte. Nachdenklich hob er die Augenbrauen. „Worüber?“ Marik schluckte. Die Hände ballten sich zu Fäusten. Wenn er den Mund jetzt öffnete, dann gab es kein Zurück mehr. Wenn er jetzt sprach, löste er einen Sturm aus, der ohne Gnade über ihm zusammen brechen würde. Er holte tief Luft. „Ich werde nicht länger für dich arbeiten.“ Er hatte lange genug darüber nachgedacht. Es lag viele Jahre zurück, dass er sich mit seiner Tätigkeit hier arrangiert hatte. Irgendwann hatte er nicht länger hinterfragt, was er hier zu suchen hatte. Er hatte sich durchgeschlagen, irgendwie, von Tag zu Tag. Jahrelang hatte er keine Planungen angestellt, die über das Ende der Woche hinaus gereicht hatten. Wie auch Ryou, so hatte er seine Träume irgendwann aus den Augen verloren. Er war zu einem Rädchen im System geworden, das funktioniert hatte, weil das System funktionierte. Dann hatten sich erste Veränderungen eingeschlichen. Wann immer er konnte, hatte er Yuugi ein Extra an Drogen zugesteckt – bis dieser irgendwann mit dem Schlüssel in der Hand entdeckt worden war. Kurze Zeit später hatte Bakura Ryou angeschleppt und Marik, ohne es zu merken, ersetzt. Marik hatte seine Endstation im Film Noir erreicht. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Von einer auf die andere Sekunde hatte er begriffen, dass er vor die Hunde ging, wenn er nicht die Reißleine zog. Marik wollte nicht so werden, wie der Mann, der vor ihm saß. Dieser begann zu feixen. „Was gibt dir den Gedanken, dass das möglich ist?“ Der Blick des Jüngeren verdüsterte sich. Mit zusammengekniffenen Augen schoss er nach vorn und beugte sich über den Tisch. Die Angst, die ihn her getrieben hatte, verwandelte sich zusehends in kalte Wut. „Ich bin nicht her gekommen, um meinen Arsch für dich her zu halten, Malik. Du hast mir den Himmel versprochen und mir die Hölle gegeben. Ich wollte hier studieren, verdammt! Stattdessen spiele ich Krankenschwester für deine Junkies hier.“ „Mein Gott.“ Malik rollte mit den Augen. Mit einer heftigen Handbewegung klappte er das Notizbuch zu und lehnte sich mit verschränkten Armen im Stuhl zurück. „Wie oft muss ich mir das anhören, bis du endlich verstehst, dass das hier niemanden interessiert?“ Er hatte nur so oft damit anfangen müssen, weil ihm niemand zuhören wollte. Es war, als schrie er nach Leibeskräften um Hilfe, doch niemand blickte zu ihm auf. Langsam schüttelte Marik den Kopf. „Was ist nur aus dir geworden, Malik?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein resigniertes Flüstern. „Halt deinen Mund.“ „Gib mir meinen Pass.“ Der Stricher streckte die Hand aus. Es war ihm ernst. Bevor er seinen Pass nicht in den Händen hielt, würde er diesen Raum nicht verlassen. Zu lange hatte er über dieser Entscheidung gebrütet, als dass er sich einfach abweisen lies. Malik ließ den Blick über die Szene gleiten, die sich ihm bot. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Dabei ergriff er Mariks Hand und schüttelte sie hämisch. Es war eine groteske Situation. Aus seinen Augen sprach der blanke Hohn. „Lass das.“ Er versuchte, seine Hand zu entreißen, doch mit jedem Ruck verfestigte sich Maliks Griff. Einem Schraubstock gleich schlossen sich die fremden Finger um sein Handgelenk und hinderten ihn daran, sich frei bewegen zu können. Es war der Moment, in dem die Selbstbeherrschung bröckelte und die Angst über ihn triumphierte. „Es reicht“, zischte er verzweifelt. „Lass mich endlich gehen. Ich war lange genug hier. LASS MICH LOS!“ Von diesem Punkt an geschah alles so schnell, dass Marik sich im Anschluss kaum mehr an den genauen Hergang erinnern konnte. Malik stand auf und zog Marik mit einer heftigen Handbewegung über den Tisch. Fremde Finger krallten sich in den Kragen des Strichers und hielten ihn fest. Malik war ein gutes Stück größer als er. Unter dem purpurnen Hemd, welches er trug, lugten ein Feinrippunterhemd und eine fein gearbeitete, goldene Kette hervor. Sie waren einander so nah, dass Marik die Zigaretten riechen konnte, die sein Gegenüber zuvor geraucht haben musste. „Du undankbares Gör!“, fauchte der ältere so hasserfüllt, dass Marik vor Schreck erstarrte. Das letzte Selbstbewusstsein wich aus den violetten Augen, die weit aufgerissen immer größer wurden. Aus einem Reflex heraus griff er nach Maliks Händen. Eine Sekunde später fand er sich auf dem Boden wieder. Er hatte die Grenze überschritten. Es gab kein Zurück mehr. „Denkst du, ich hab‘ mir aus Spaß die ganze Mühe mit dir gemacht?! Du bleibst hier, und wenn du darüber krepierst, Marik!“ Ehe Marik aufstehen konnte, war er um den Tisch herum geeilt. Er sank vor ihm auf die Knie, griff ihm ins Gesicht und zwang ihn, den Blick zu erwidern. Bei jedem Versuch, sich zu befreien, bohrten sich die Finger tiefer in Mariks Fleisch. „Marik… Du weißt, dass ich dich hier nicht einfach gehen lassen kann.“ Überheblich grinsend senkte Malik die Stimme, bis sie beinahe etwas Zärtliches an sich hatte. Alles, was er tat zeugte von der unverhohlenen Verachtung, mit der er dem Stricher begegnete. „Du bist mein bestes Pferd im Stall. Ohne dich wäre Yuugi zu nichts mehr zu gebrauchen. Er zieht die Kunden. Du hältst sie. Was soll aus ihm werden, wenn du nicht mehr hier bist?“ Das Grinsen wurde breiter. „Wenn er vor die Hunde geht, ist es deine Schuld.“ „Wenn hier einer Schuld ist, dann bist du das.“ Marik drehte den Kopf zur Seite, doch es gab kein Entkommen. Es gab keine Worte dafür, wie sehr er sein Gegenüber in diesem Moment hasste. Dieser näherte sich ihm, bis ihre Gesichter auf einer Höhe waren. Noch immer umspielte ein kaltes Lächeln seine Mundwinkel. „Na, na, na. Es kann so viel passieren, wenn du nicht mehr da bist. Yuugi, Ryou… sie sind so grün hinter den Ohren, nicht? Glaub mir, Bakura wird nicht immer hier sein. Und Unfälle passieren eben.“ Drohungen. Malik neigte dazu, Menschen unter Druck zu setzen, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten, doch so deutlich war er Marik gegenüber bisher noch nie gewesen. Es war der Moment, in dem sein Widerstand erstarb. Langsam reifte in ihm die Erkenntnis, dass er mit seinem Vorhaben scheitern würde. Es gab keinen Ausweg. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er tastete nach Maliks Hand, die sein Gesicht immer noch fest umschlossen hielt, vorsichtig, beinahe zärtlich und suchte nach den Augen des Anderen. Ihre Blicke trafen sich. Hinter all der Kälte, das wusste Marik, war da immer noch der Junge, mit dem er sich einst blind verstanden hatte. Es hatte Zeiten gegeben, da waren sie eine Seele in zwei Körpern gewesen. Und nun stand er hier und brach Mariks Herz. Marik wollte ihn umarmen und ohrfeigen zugleich. „Bitte…“ Seine Stimme klang weinerlich und erstickt. Immer wieder kam das Wort über seine Lippen, doch der Gesichtsausdruck des Älteren veränderte sich nicht. Es war, als hörte dieser ihm nicht zu. Alles, was er sagte, war vergebens. Malik würde ihn nicht gehen lassen. Seine Papiere würde er ebenso wenig heraus geben. Stattdessen verstärkte sich der Griff erneut und wieder kämpfte Marik dagegen an. In den Augen seines Gegenübers flackerte etwas, was Marik einen Schauer über den Rücken jagte. Es war eine Boshaftigkeit, die Marik erst von ihm kannte, seit sie in Japan waren. Einmal mehr führte sie ihm vor Augen, zu was der Andere fähig war. Sie jagte ihm Angst ein. „Mal ganz abgesehen davon…“ Maliks Gesicht näherte sich dem seinen an, bis sie nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt waren. „Was denkst du, werden Mutter und Vater sagen, wenn ich ihnen erzähle, dass du dich hier im großen Stil an dahergelaufene Geschäftsmänner verkaufst?“ Für eine Sekunde hörte Mariks Herz auf zu schlagen. Mit großen Augen starrte er den Anderen an, ehe sich sein Gesichtsausdruck vor aufschäumender Wut verzerrte. Hasserfüllt funkelte er Malik an, der feixend vor ihm stand. „Das würdest du nicht tun“, zischte er. Ein kaltes Lachen war alles, was er als Antwort erhielt. Es dröhnte in seinen Ohren, schrillte in seinem Kopf, bis er es nicht länger ertrug. Schließlich, ehe er realisiert hatte, was er tat, spuckte er dem Anderen ins Gesicht. Das Lachen erstarb sofort und hinterließ nichts als wohltuende Stille. Einen Moment später hallte ein Klatschen von den gekachelten Wänden wieder. Mariks Kopf flog nach links, dann tanzten Sterne vor seinen Augen. Die rechte Wange verfärbte sich dunkelrot. Endlich frei, rutschte er auf dem kalten Boden einen halben Meter zurück. Die Wut jedoch blieb. „Du blödes Arschloch!“ Er hob die Hand und strich sich über die Wange, die heiß glühend zu pulsieren begann. „Denkst du, du kannst mit mir umspringen, wie mit Yuugi und den anderen?!“ „Glaub mir, das kann ich.“ Mit einer gezielten Bewegung vergrub Marlik die Finger in Mariks Haaren und zerrte diesen unter schmerzerfülltem Winseln zurück auf die Beine. „Denkst du, jemanden in diesem Land würde es interessieren, was mit einem dahergelaufenen, ausländischen Stricher passiert? Glaubst du, jemand würde auch nur bemerken, wenn dir irgendetwas zustößt? Die sind alle damit beschäftigt, sich selbst zu retten.“ Das hellblonde Haar fest umklammert, strich Malik ihm mit der freien Hand über die Wange, die feucht glänzte vor Tränen, die sich ihren Weg über die dunkle Haut bahnten. „Also tu dir selbst einen Gefallen und mach deinen Job anständig, damit ich Verwendung für dich habe, ja?“ „Könnt ihr mir mal verraten, was der Lärm hier soll? Euer arabisches Gekeife hört man bis raus in den Hof.“ Marik erkannte die Stimme sofort. Erleichtert schloss er die Augen. Letzte Tränen rannen über seine Wangen und tropften zu Boden. Mit letzter Kraft wandte er seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Mit düsterem Gesicht stand Bakura in der Tür. Die dunkle Weste, die er über seinem weißen Hemd trug, ließ ihn zugleich schlank und gut gebaut wirken. Darüber trug er einen schwarzen Wollmantel, der zum Teil durch einen dunkelroten Schal verdeckt wurde. In der freien Hand hielt er eine weiße Plastiktüte. Vermutlich hatte er auf dem Rückweg einen kurzen Stopp beim nächstgelegenen Kombini gemacht, um die üblichen Dinge für Ryou einzukaufen. Bakuras unvermitteltes Auftreten hatte die Situation ins Stocken geraten lassen. Mit einem letzten, heftigen Ruck riss sich Marik endgültig von Malik los und kämpfte sich schwankend zurück auf die Beine. Er war sich nicht sicher, ob er vor Trauer oder Wut heulte, doch kaum, dass er stand, schossen ihm erneut die Tränen in die Augen. Am liebsten wäre er auf Malik losgegangen, doch er wusste, dass dies vermutlich das letzte war, was er tun würde. Stattdessen kam Bakura mit raschen Schritten auf ihn zu, die Stirn in Falten, offensichtlich verwirrt und überfordert zugleich, hatte er kein Wort von dem, was zuvor gesprochen wurde, verstehen können. Marik hatte genug. Er wollte nur noch fort von hier. „Lass mich durch.“ Aus den Augenwinkeln warf er Malik einen letzten, verschreckten Blick zu. Dann schob er sich an Bakura vorbei in Richtung der Tür, die zum Schankraum hin aus diesem Vorhof zur Hölle hinaus führte. Er fühlte sich schäbig und unendlich gedemütigt. Wie hatte er nur auf den Gedanken kommen können, dass sein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein würde? „Marik…!“ Plötzlich brachte ihn etwas zum Stehen. Verwirrt wandte er sich um. Einmal mehr hatte sich eine Hand um seinen Unterarm geschlossen, doch dieses Mal waren die Finger so weiß wie Schnee. Dieses Mal wollte ihm niemand weh tun. Unschlüssig, was er tun sollte, hielt er inne und erwiderte den Blick des Anderen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war die Kälte in Bakuras Augen verschwunden und gab eine subtile Sorge preis, die Marik nur ein einziges Mal gesehen hatte. Fünf Jahre zuvor… Es war, als zog ihm jemand den Boden unter den Füßen weg. Aufgeschreckt schnappte er nach Luft, die Augen weit aufgerissen. Er konnte Bakura vor sich stehen sehen und gleichzeitig nahm er ihn nicht mehr wahr. Erneut ergriff ein Zittern seinen Körper, dessen er nicht Herr wurde. „Nein…!“ Der Andere packte ihn an den Schultern, bestimmt, aber doch sanft. Immer wieder öffnete Bakura den Mund, doch was er sagte, drang nur wie aus weiter Ferne zu ihm hindurch. Seine eigene Panik war allgegenwärtig, überdeckte alles und dominierte seine Gedanken. Ihm war kalt. Ihm war heiß. Sein Herz schlug so schnell, dass es gleich stehen bleiben musste. „Marik.“ „Nein!“ Er konnte kaum atmen. Lang vergessene Bilder flackerten vor seinem inneren Auge auf. Der Andere schüttelte den Kopf, ließ ihn nicht los, obschon Marik begann, wild um sich zu schlagen. „Sag ihnen, sie sollen aufhören… Sag ihnen, sie sollen aufhören!“ „Marik, verdammt, beruhige dich.“ „SAG ES!“     1989. Acht Jahre war es her, dass sein Bruder über Nacht seine Sachen zusammen gepackt und das elterliche Haus in Kairo verlassen hatte. Sechs Jahre sollte es dauern, bis Marik den ersten Brief von ihm in den Händen halten würde. Zwei weitere, bis er das Flugzeug bestieg, das ihn zu seinem Bruder nach Japan bringen sollte. Kaum achtzehn Jahre war er alt, hatte den Abschluss erst seit wenigen Wochen in der Tasche. Noch jung an Jahren, glich der Lebenshunger aus, was ihm an Erfahrung fehlte. Das Leben war ein einziges Abenteuer, die Welt eine Herausforderung, die es zu bewältigen galt. Marik war stolz darauf, einen Bruder zu haben, der es in einem reichen Industrieland wie Japan zu etwas gebracht hatte. Der in einer namhaften Firma arbeitete. Der jeden Morgen mit Anzug und Krawatte ins Büro ging. An dem Abend, an dem er seinem Bruder das erste Mal in die Augen gesehen hatte, hatte er gewusst, dass er es nicht mehr mit dem gleichen Menschen zu tun hatte, mit dem er aufgewachsen war. Einige Tage später war in Marik die Erkenntnis gereift, dass sein Leben sich in eine andere Richtung entwickeln würde, als er es zu Beginn seiner Reise erwartet hatte. Drei Tage später hatte er seine Sachen gepackt, das Geld für den Rückflug in einem Umschlag aus Papier im Rucksack. Er wollte zurück nach Hause. An der Türschwelle hatten sie ihn abgefangen. Seither hatte sein Leben mit jeder Minute, die ins Land gegangen war, zusehends einer einzigen Katastrophe geglichen. Er konnte nicht sehen. Auch mit geöffneten Augen blieb die Dunkelheit, die ihn verschlungen hatte, erhalten. Sein Körper lag auf einem Bett. Er war nackt. Seine Kleidung hatte man ihm genommen. Wohin man sie gebracht hatte, das wusste er nicht. Niemand hatte mit ihm gesprochen, niemand hatte ihm erklärt, was geschehen würde. Verstanden hätte er sie ohnehin nicht. Sein Japanisch war rudimentär vorhanden, doch für Konversation noch nicht zu gebrauchen. Er wusste weder, wo er sich befand, noch, wie spät es war. Lediglich das Surren der Klimaanlage, die noch immer gegen die drückende Hitze des tropischen Sommers kämpfte, zeugte davon, dass er sich immer noch in Japan befand. Wann immer der Windhauch seinen ungeschützten Körper berührte, lief ein Schauer über die nackte Haut, die nur an manchen Stellen von einem dünnen Laken verdeckt wurde. Seine Hände hatte man mit Handschellen am Kopfgitter des Bettes befestigt. Selbst, wenn er sich nicht bewegte, schnitt das nackte Metall in seine Haut. Ein heftiges Zittern hatte von ihm Besitz ergriffen, doch stammte es nicht von der Kälte. Hin und wieder verließ ein klägliches Wimmern seine Lippen. Unter Geschrei und Gezeter hatte man ihn her gebracht. Es konnte nicht lange zurück liegen, doch fühlte er sich, als seien seither Wochen ins Land gegangen. Unter Tränen hatten sie ihn ausgezogen und ihn diese Position gezwungen. Danach waren sie gekommen. „Wenn wir mit dir fertig sind, bist du ein neuer Mensch.“ Er erinnerte sich gut an Maliks Worte, die er bereits am ersten Tag an Marik gerichtet hatte. Damals hatte Marik sie nicht verstanden. Erst, als er das erste Mal den Klang der sich öffnenden Tür vernommen hatte, war ihm langsam gedämmert, was nun auf ihn zukommen würde. Alles, was danach geschehen war, war ein Albtraum, zusammen gesetzt aus immer gleichen, sich stets wiederholenden Bausteinen, die sich aneinander reihten, bis Marik vollends die Orientierung verloren hatte. Schwere, glatte Männerkörper. Selten hatte man ihn so grob angefasst wie an diesem Tag. Wie ein Stück Fleisch hatte man ihn in immer neue Positionen gedreht. Die fremden Gerüche und Stimmen hatten sich in sein Gehirn gebrannt und würden nie wieder verblassen. Immer wieder war es über ihn herein gebrochen. Sie kamen und gingen. Niemand blieb. Sie drangen in ihn ein, ohne Notiz von seinem Widerstand zu nehmen. Es war ihr Ziel, ihn Untertan zu machen und es war ihnen gelungen. Als er das erste Mal den Mund öffnete, um zu protestieren, hatte man ihm eine Hand auf die Lippen gedrückt. Irgendwann waren seine Schreie im fremden Fleisch verstummt, jede Spannung aus seinem Körper gewichen. Äußerlich und innerlich war er in sich zusammen gesackt. Er hatte aufgehört, zu zählen, wie oft sie gekommen waren. Es war ein einziges Kommen und Gehen. Ein immerwährendes Rein und Raus. Rein. Raus. Nach einer Ewigkeit hatte endlich niemand mehr den Raum betreten. Schwer atmend war er allein zurück geblieben. Er zitterte wie Espenlaub, fest davon überzeugt, dass dies der Ort war, an dem er sein Leben aushauchen würde. Sein Körper schien aus nichts anderem zu bestehen als Schmerzen. Zwischen seinen Beinen brannte es hinauf bis in den Bauchnabel hinein. Augen und Wangen glänzten feucht im verbliebenen Licht billiger Plastiklampen. Er verstand nicht, was hier mit ihm geschah. Sein eigener Bruder hatte ihn getäuscht und verkauft. Es war der einzige Gedanke, den er klar denken konnte. Man hatte ihn verraten. Sein Bruder hatte ihn verraten. Die Tür wurde geöffnet. Sofort nahm das Zittern an Stärke zu. Da waren sie wieder. Alles würde sich wiederholen. Allein der Gedanke daran versetzte ihn in Todesangst. „Mein Gott. Ist das dein Ernst?“ Eine Stimme durchschnitt die Stille. Marik horchte auf. Er erkannte sie sofort. Sie verhieß nichts Böses. Im Hintergrund vernahm er den Atem seines Bruders. Maliks Atem. In Marik zog sich alles zusammen. Hier zu liegen, in dieser herabwürdigenden Position und von jedem angestarrt werden zu können, gab ihm den Rest. „Halt den Mund. Er muss wissen, wo er steht, sonst wird er in Zukunft nur Probleme machen.“ Im Hintergrund erklang das Rascheln einer Plastiktüte. „Sieh nach ihm und sorg dafür, dass er nicht schlapp macht. Verstanden?“ „Ja.“ „Was machst du?“ „Ich sorge dafür, dass er nicht schlapp macht.“ Die Stimme klang genervt. „Guter Junge.“ Marik entging der Sarkasmus nicht, mit dem Malik antwortete. Er vernahm das klopfende Geräusch, welches ertönte, wenn jemand einer Person lobend einen Klaps auf die Schulter gab, dann entfernten sich Schritte. Das charakteristische Klackern, welches von Maliks ledernen Anzugschuhen bei jedem Schritt von den Wänden widerhallte, verhallte im gefliesten Flur. Dann herrschte Stille, nur das Klopfen seines eigenen Herzens dröhnte in Mariks Ohren. Angespannt lauschte er, konnte den anderen noch Atmen hören. Er war noch im Raum. „Bakura?“ In dem Moment, als er den anderen beim Namen rief, erstarb die heisere Stimme. Ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, füllten sich seine Augen erneut mit Tränen. „Ja.“ Die Stimme des Anderen klang ernst und doch schwang etwas Beruhigendes in ihr mit. Sie kündete davon, dass der Horror ein vorläufiges Ende gefunden hatte. Es war der Moment, in dem sich Mariks Kehle zuschnürte. Sekundenbruchteile später brach er in hemmungsloses Schluchzen aus. Er fühlte sich benutzt und verletzt. Seine Nacktheit war ihm unangenehm. Die Aromen, die sich über die vergangenen Stunden in seine Haut gebrannt hatten, würde keine Seife der Welt je wieder wegwaschen können. „Sag ihnen, sie sollen aufhören“, presste er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor, immer unterbrochen von erneuten Schluchzern, die seinen Körper durchschüttelten. „Sag es ihnen.“ Immer wieder wiederholte er die Worte, ehe ihn die Kraft verließ und er erneut in sich zusammen sackte. Schritte klangen durch den Raum, begleitet vom Rascheln dünner Plastikfolie. Anschließend wurde das Laken, welches nur Teile seines Körpers bedeckte, über ihm ausgebreitet. Ein dünner Vorhang, der vorübergehend die Illusion von Sicherheit suggerieren würde. Schließlich setzte sich jemand zu ihm aufs Bett und nahm ihm die Maske ab, welche ihn die Stunden zuvor in Dunkelheit gefangen gehalten hatte. Blinzelnd sah er sich um und erblickte Bakura, der sich direkt neben ihm niedergelassen hatte. Er war blutjung, kaum zwanzig Jahre alt. Das schlanke Gesicht war makellos und straff. Die zarten Fältchen der späteren Jahre fehlten, das farblose Haar reichte ihm kaum bis zu den Schultern. Dünn, beinahe dürr – die Muskeln die ihn eines Tages zeichnen würden, fehlten noch – trug er die legere Kleidung eines durchschnittlichen Teenagers. Jeans, T-Shirt, Sweater. Laut eigener Aussage arbeitete er zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren hier. Er hatte eine ernsthafte, ruhige Art, die Marik unter all den Verbrechern und Schlägern sofort angenehm aufgefallen war. Noch jung an Jahren, sorgten diese Charakterzüge dafür, dass auch die dienstälteren Bandenmitglieder auf ihn hörten. Er sprach kaum, doch wenn er es tat, brachte er die Dinge rasch auf den Punkt. Sein Humor war bissig, nahezu zynisch. Es stand außer Frage, dass er mehr gesehen hatte, als ein junger Mann seines Alters gesehen haben sollte. Dabei stand er als Assistent Maliks stets zwischen den Stühlen, war weder Fisch, noch Fleisch. Es hatte nicht lange gedauert, und sie hatten zunehmend mehr Zeit miteinander verbracht. Einen Monat war es nun her, seit Marik das Flugzeug bestiegen hatte. Mit einer beiläufigen Handbewegung ließ Bakura die Maske auf das Laken fallen und betrachtete ihn schweigend. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, nur seine Augen hatten die sie sonst dominierende Kälte abgelegt und musterten ihn mit wissendem Bedauern. Bakura war ihm einige Schritte voraus. Er wusste, was Marik noch blühte. „Ich konnte diesen Teil der Arbeit noch nie leiden“, murmelte er schließlich, nachdem sie lange geschwiegen hatten. Es fiel Marik immer noch schwer, die Worte zu verstehen, die Bakura an ihn richtete. Er sprach unkonventionelles, grobes Japanisch, das man in keinem Lehrbuch fand. Zusammen harrten sie aus, bis Mariks Tränen endlich versiegt waren. „Was ist das hier?“, brachte Marik schließlich mit letzter Kraft über die Lippen. Er schämte sich, Bakura in einer derartigen Pose ausgeliefert zu sein. Dieser zog ein Taschentuch hervor und nahm Mariks Gesicht in seine Hände. Er verhielt sich dabei sanfter, als man es von einem Mann seiner Statur erwartet hätte. Vorsichtig wischte er dem Ägypter das Gesicht ab. Anschließend glitten seine Fingerspitzen behutsam über die Wangen und strichen dem jüngeren einige Haarsträhnen aus der Stirn. „Malik versucht, dich zu brechen. Das macht er mit allen, die hier neu ankommen.“ Sein Fluchtversuch. Malik wollte sichergehen, dass er es nicht noch einmal darauf anlegte, das Weite zu suchen. Welch bittere Ironie. Hätte er sich ruhig verhalten, vielleicht wäre ihm all das erspart geblieben. „Dir auch?“ „Nein.“ Marik verzichtete darauf, nach dem Warum zu fragen. Zu erschöpft war er, zu sehr dominierte der allgegenwärtige Schmerz seine Gedanken. Für eine Sekunde schloss er die Augen und atmete tief ein. Die Berührungen des anderen waren Balsam auf seiner geschundenen Haut. Müde lehnte er den Kopf gegen die Finger, die seine Wangen liebkosten und bemerkte schließlich ein Paar weicher Lippen, die sich gegen seine Stirn drückten. Blinzelnd öffnete er die Augen. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke, dann beugte sich Bakura vor und küsste ihn vorsichtig. Anstatt sich zu wehren, schloss Marik die Augen und ließ es geschehen. Es war das erste Mal, dass ihn jemand auf diese Art berührte und Marik wusste, dass Bakura sein Fels in der Brandung sein würde, wenn er es zuließ. Wenig später löste sich Bakura von ihm und nahm eine weiße Plastiktüte, die er zuvor auf dem Beistelltisch abgestellt haben musste, an sich. Dabei rutschte der Saum seines Pullovers nach oben und entblößte einen sehnigen, blassen Unterarm, über den eine etwa zwanzig Zentimeter lange Narbe verlief. Sie glänzte blassrosa. Mit gerunzelter Stirn ließ Marik den Blick auf ihr ruhen. „Diese Narbe…“ „Was ist mit ihr?“ Marik zögerte einen Moment. „Tat es sehr weh?“ Ein dünnes Lächeln umspielte Bakuras Mundwinkel. Schweigend griff er in die Tüte und nahm heraus, was er zuvor eingekauft haben musste. Zwei Onigiri und eine Flasche grünen Tee. „Ich erinnere mich nicht an solche Dinge.“ Mit routinierten Bewegungen begann er, die Plastikverpackung vom Onigiri zu entfernen. Allein bei dem Gedanken daran, nun etwas zu essen, drehte sich Marik der Magen um – doch wusste er, dass Bakura nicht gehen würde, ehe er aufgegessen hatte, was man ihm vorsetzte. Stoisch starrte dieser auf den Reisball in seinen Händen. Es dauerte eine Weile, bis er seine Stimme wieder fand. „Warum bist du her gekommen?“ Marik entging der stille Vorwurf, der in seiner Stimme anklang, nicht. „Er hat gesagt, dass ich hier studieren kann.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Wispern, als er diese Worte Aussprach. Rückblickend konnte er nicht verstehen, wie leichtsinnig er sich darauf eingelassen hatte. Andererseits – wenn er seinem eigenen Bruder nicht trauen konnte, wem auf der Welt konnte er dann noch trauen? Er war in eine verhängnisvolle Situation geschlittert, doch traf ihn keine Schuld. Im Hintergrund schnaubte Bakura verächtlich, das Gesicht voll stiller Resignation. Marik musterte ihn aus den Augenwinkeln. „Da wärst du der erste.“ Es war alles, was Bakura dazu sagte. Eine halbe Stunde später begann alles von vorn.     1994. Gegenwart. Bakuras Zimmer war etwas größer als das der anderen Mitarbeiter. Es hatte sechs Matten und schmucklose, beige verputzte Wände, die hier und da von zarten Rissen vergangener Erdbeben durchzogen wurden. Die meisten seiner Habseligkeiten befanden sich in einem schmucklosen Wandschrank mit traditionellen Schiebetüren. Auch sonst dominierte alles ein nüchterner, sachlicher Stil, der Raum gab für eigene Gedanken, der Luft ließ und nicht erdrückte. Die wenigen Möbel waren aus dunklem, aber hochwertigem Holz gearbeitet. Das einzige, hüfthohe Regal war vollgestopft mit Büchern jeder Art. Manga fehlten. Verkopftes, intellektuelles Zeug, mit dem Marik nichts anfangen konnte. Es herrschte penible Ordnung. Alles hier hatte seinen Platz. Marik saß auf dem gemachten Bett. Er hatte sich nach vorn gebeugt, die Ellenbogen auf den Knien abgestützt und den Kopf gesenkt. Kinnlanges, hellblondes Haar war ihm ins Gesicht gerutscht. Ein Paar geröteter Augen starrte ausdruckslos gegen die Wand. In ihm herrschte eine Leere, die er kaum aushielt. Sein Kopf dröhnte. Die Stellen seines Körpers, an denen Malik ihn gepackt hatte, schimmerten rot und würden sich binnen der nächsten Stunden in blassblaue Hämatome verwandeln. An seinem rechten Unterarm fanden sich Schrammen von seinem Sturz zu Boden. Wenigstens das Zittern seiner Hände hatte endlich aufgehört. Unzählige Gedanken rasten durch seinen Kopf. Was hatte er sich nur dabei gedacht? War er wirklich davon ausgegangen, dass Malik ihn einfach gehen lassen würde, nach all den Jahren? Das hier war kein Ort, an dem man für sich selbst entschied. Marik musste das, über all die Privilegien, die er sich über die letzten Jahre erarbeitet hatte, vergessen haben. Wie jeder hier, war auch er eine Ware von Wert, die eingesetzt und wie eine Ressource verwaltet wurde, bis sie sich zu sehr abgenutzt hatte, um länger Profit abzuwerfen. Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, als er aus den Augenwinkeln vernahm, wie die Tür sich öffnete und Bakura eintrat. Marik beachtete ihn kaum. „Was machst du hier?“ Einem Rasiermesser gleich zerschnitt Bakuras Stimme die Stille. Erneut kochte Wut in Marik hoch, der nach dem, was eben geschehen war, nichts mehr zu verlieren hatte. Was für eine beschissene, dumme Frage das doch war. Hatte Bakura nicht eben erst mit eigenen Augen gesehen, wie er unter dessen Händen zusammen gebrochen war? Diese Panikattacken… sie kamen und gingen, wie es ihnen beliebte. Noch immer schmerzte seine Brust, so schnell hatte sein Herz geschlagen. Für einen Moment hatte er geglaubt, er würde an Ort und Stelle sterben. Hyperventilierend war er irgendwann in sich zusammen gesackt. Und selbst jetzt hatte er nichts Besseres zu tun, als ihm einmal mehr vor Augen zu halten, dass seine Anwesenheit hier unerwünscht war? „Warum fragt mich das heute jeder?!“ Er wandte sich um und sah Bakura wutentbrannt an, hielt jedoch schlagartig inne, als er erkannte, dass ihm der Andere ein Glas Wasser und eine Tablette hin hielt. Eine Entschuldigung murmelnd, nahm er beides an sich. Beruhigungsmittel. Er nahm sie, seit er denken konnte. Mal mehr, mal weniger. Ohne, das wusste er, war er nicht mehr dazu in der Lage, gute Arbeit zu leisten. Nur, wenn er mit den anderen zusammen war, verschwand die latente Angst, die all seine Handlungen begleitete, seit er in Japan gelandet war. Er ertrug es nicht, alleine zu sein. Deswegen teilte er sich ein Zimmer mit Yuugi. „Danke…“ Er schob die Pille zwischen die Lippen und trank das Glas leer. Dann gab er es Bakura zurück, der dieses schweigend aufs Bücherregal stellte. Er trug noch immer den schwarzen Mantel und den roten Schal. Erst jetzt realisierte Marik, wie müde er wirkte. Seine Unterlippe zuckte gelegentlich, wie sie es immer tat, wenn er sich eine Auseinandersetzung mit Malik geliefert hatte. Ob sie sich wegen ihm gestritten hatten? Marik wagte es nicht, zu fragen. Sein Herz wurde schwer. „Soll ich Ryou heute das Essen bringen? Oder gehst du?“ Mit einem Kopfnicken deutete er auf die Tüte, die Bakura noch immer in den Händen hielt. Dieser stellte sie auf einen kleinen Schreibtisch, der gerade genug Platz für einige Bücher bot und zog die Jacke aus. Nach einem flüchtigen Blick auf die Einkäufe schüttelte er den Kopf. „Du gehst.“ Er nahm den Schal ab und hing diesen zusammen mit seinem Mantel an einen Kleiderhaken direkt neben der Tür. Schließlich hob er den Kopf und sah hinüber zu Marik, der ihn all die Zeit über beobachtet hatte. Zaghaft klopfte dieser mit der flachen Hand auf die Matratze, rutschte ein Stück zur Seite, um dem größeren Platz zu machen. Dieser zögerte einen Moment, setzte sich schließlich jedoch hin. Mit einer geschickten Handbewegung öffnete Marik die Schublade des kleinen Beistelltisches und nahm einen kleinen, silbernen Flachmann hervor. „Tut mir Leid wegen eben.“ Marik versuchte sich an einem Lächeln, doch er versagte auf ganzer Linie. Stumm öffnete er den Drehverschluss des Flachmanns, doch Bakura nahm ihm diesen aus den Händen, ehe er einen ersten Schluck nehmen konnte. „In Ordnung.“ Er führte den Flachmann an die Lippen und trank. „Worüber habt ihr euch gestritten?“ Der groß gewachsene Mann beugte sich vornüber, bis er sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln abstützen konnte. Gedankenverloren drehte er den Flachmann zwischen den Fingern hin und her. Marik zögerte. Er wollte sich nicht lächerlich machen mit einer Geschichte über den gescheiterten Versuch, sein eigenes Leben zu leben. Unschlüssig, was er antworten sollte, starrte er zu Boden, bis Bakura schließlich den Kopf hob und ihm einen erwartungsvollen Blick zuwarf. Seine Antwort hatte zu lange gebraucht. „Er denkt, er kann mit mir umspringen wie mit den anderen“, sagte Marik schließlich und hoffte, das Thema damit zum Abschluss zu bringen. Bakura schnaubte nur verächtlich. „Was erwartest du? Du kennst ihn doch.“ Er nahm einen weiteren Schluck und schwieg lange. Marik kannte ihn am längsten und doch hatte er das Gefühl, seinen Bruder erst hier wirklich kennen gelernt zu haben. Was das anging, war Bakura im Vorteil. Der Ägypter streckte die Hand nach dem Flachmann aus, doch Bakura reagierte schneller und wich aus. Mit einem langen Zug schließlich trank er ihn leer und drehte den Verschluss zu. „Ich verstehe bis heute nicht, warum du ihm nach Japan gefolgt bist.“ „Aus den gleichen Gründen, warum du dich von ihm hast anheuern lassen.“ „Ich weiß.“ Sie beide waren auf der Flucht gewesen, vor einem Leben, das ihnen zuwider war. Sie beide hatten auf ein besseres Leben gehofft. Und beide waren sie enttäuscht worden. Erneut verfielen sie in Schweigen. Marik betrachtete Bakura lange, musterte das schmale Gesicht. Die glatte, weiße Haut. Seine Augen glitten über die Schultern, die Arme und die langen, fast feminin wirkenden Finger. Er hatte wache, intelligente Augen, die davon zeugten, dass er ein erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft hätte werden können, wenn man ihn gelassen hätte. Seit ihrem ersten Aufeinandertreffen waren einige zarte Fältchen an Augen und Mundwinkeln hinzu gekommen und auch das einst schulterlange Haar hatte seither deutlich an Länge gewonnen. Für Marik war Bakura so schön, dass es ihm fast körperliche Schmerzen zufügte. Sein Blick blieb an der Narbe am Unterarm hängen. Ohne nachzudenken streckte er die Hand aus und ließ die Fingerspitzen vorsichtig über die wulstige Haut gleiten. „Hat es sehr weh getan?“, flüsterte er. Bakura folgte seiner Geste mit den Augen und runzelte die Stirn. Sein Gesicht verdüsterte sich. „Ich erinnere mich nicht.“ Es war die immer gleiche Frage mit der immer gleichen Antwort. „Nicht?“ „Nein.“ Bakura hasste dieses Thema, Marik wusste das. Dennoch konnte er nicht anders, als immer wieder nachzufragen. Wie gerne hätte er gewusst, was Bakura einst zugestoßen war. Was ihm diese Narben verpasst und ihn in Maliks Arme gespült hatte. Doch er sprach nicht darüber. Nie. Es war ein Geheimnis, dass er womöglich mit ins Grab nehmen würde. Ein Lächeln trat auf Mariks Lippen. „Ich weiß noch, wie ich dich das erste Mal gesehen habe.“ Bakura warf ihm einen nichtssagenden Blick zu und schwieg. „Es war an meinem ersten Abend hier. Ich habe in Mariks Büro gewartet. Niemand hat sich um mich gekümmert. Ich war müde und nervös… und als er endlich kam, hatte er dich im Schlepptau.“ Mariks Lächeln wurde breiter. Eine bestimmte Melancholie, hervor gerufen durch die Erinnerung an alte Tage, trat in sein Gesicht. „Es gab Ärger mit einem der Stricher. Er hatte sich an den Einnahmen vergriffen. Malik war stinksauer.“ Lächelnd schüttelte er den Kopf, als könne er bis heute nicht glauben, was damals vorgefallen war. Ein knappes Nicken bildete Bakuras Antwort. „Das war dein erster Abend?“ „Ja.“ Bakura schwieg für einen Moment, ehe seine Miene sich sichtlich erhellte. „Ich hätte ihm sagen sollen, dass du das Geld geklaut hast. Hätte mir über die Jahre einiges an Mühe gespart.“ „Arsch.“ Es war der Satz, der die Stimmung nach allem, was in den letzten Stunden passiert war, endlich auflockerte. Die düsteren Gedanken, denen sie nachgehangen hatten, schienen sich allmählich zu verflüchtigen. Marik verpasste dem Anderen einen Knuff mit seinem Ellenbogen und begann zu lachen. Es war ein wohltuendes, befreiendes Lachen. Als er sich letztlich beruhigte, fühlte er sich, als habe man Blei von seinen Schultern genommen. „Blut ist dicker als Wasser, vergiss das nicht!“ „Glaubst du das wirklich?“ Bakura gab den Flachmann an Marik zurück, der diesen in der Nachttischschublade verstaute, aus dem er ihn nur Minuten zuvor heraus genommen hatte. Er schloss die Schublade fester als notwendig. „Nein. Aber du solltest lieber aufpassen, dass du nicht der erste bist, der ersetzt wird. Er scheint nicht nur von Yuugi die Schnauze voll zu haben, Bakura.“ Tatsächlich schienen die Spannungen zwischen den beiden über die vergangenen Monate gewachsen zu sein. War die Stimmung zwischen ihnen, seit Bakura sich im Untergrund zusehends einen Namen gemacht hatte, ohnehin gereizt gewesen, hatte sich seit Ryous Ankunft alles zusehends verschärft. Inzwischen waren sie kaum noch dazu imstande, eine normale Unterhaltung zu führen, ohne, dass die Situation ins gewaltbereite eskalierte. Für Mariks Warnung jedoch hatte Bakura nur ein müdes Lächeln übrig. „Da sollte er sich nicht zu sicher fühlen.“ Verwundert runzelte Marik die Stirn. Da schimmerte ein Tonfall durch, der darauf schließen ließ, dass Bakura genau wusste, wovon er da sprach. Sein Selbstbewusstsein war über die Jahre hinweg auf eine Größe angewachsen, die einen an Größenwahn erinnern konnte. Marik fragte nicht nach. Wenn Bakura es nicht von sich aus ausplauderte, war es hoffnungslos, weiter nachzubohren. Marik hob den Kopf und blickte hinüber zur Tür. „Was soll ich Ryou sagen, wenn er nach dir fragt? Und das wird er.“ „Sag ihm, ich habe zu tun.“ Ein genervtes Seufzen verließ Mariks Kehle. Wie lange sollte das zwischen den beiden noch so weitergehen? Die Stimmung war ohnehin am Boden. Die beiden machten es durch ihr ewiges Hin und Her nicht besser. Das auf der Stelle treten, das peinliche Schweigen – er hatte es satt. „Schon wieder?“ „Oder denk dir was anderes aus. Ist mir gleich.“ Sie blickten einander an, bis Bakura, dem die Sache allmählich unangenehm zu werden schien, schließlich aufstand, und hinüber zum Fenster ging. Er zog den Vorhang zurück, öffnete es und zündete sich eine Zigarette an. „Du müsstest sein Gesicht sehen, wenn ich ins Zimmer komme und er realisiert, dass du es schon wieder nicht bist. Er sieht nicht gut aus, Bakura. Wirklich.“ Bakura ließ den Blick zum Fenster hinaus schweifen und sagte lange nichts. Seine Augen blickten in die Ferne, ausdruckslos und müde. Die Zigarette brannte zwischen seinen Fingern ab. Er rauchte schon länger, als Marik hier arbeitete, doch über die Jahre hinweg war es zunehmend mehr geworden. Hatte er früher hin und wieder eine angesteckt, war er inzwischen bei knapp einem Päckchen pro Tag. Marik hatte aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Der Zigarettengeruch gehörte zu Bakura wie der Duft seines Aftershaves. „Da ist nichts zu machen“, sagte dieser schließlich. Marik rollte mit den Augen und stand auf. „Du bist ein sturer Bock, weißt du das?“ Marik durchquerte den Raum und nahm die Plastiktüte an sich. Wortlos warf er einen Blick hinein und hielt inne. Sein Magen zog sich zusammen. Sein Herz schien für einen Schlag auszusetzen. In der Tüte befanden sich zwei Onigiri und eine Flasche mit grünem Tee. Ein Kloß bildete sich in seiner Brust, doch Marik sagte nichts. Still betrachtete er die Utensilien. Es war sogar die gleiche Marke. „Was ist los?“ Verschreckt hob Marik den Kopf und betrachtete den Anderen, der am Fenster stand und mit einer knappen Handbewegung Asche von seiner Zigarette schnippte. Der Ägypter versuchte ein Lächeln. „An diesem einen Abend… hattest du mir genau das gleiche mitgebracht.“ Bakura runzelte die Stirn und schob die Zigarette zwischen seine Lippen. Während Marik um Fassung rang, schienen seine Worte nicht recht zu Bakura durchzudringen. „Ach wirklich?“ „Ja.“ Er ließ die Tüte sinken und seufzte leise. Bakuras Reaktion versetzte seinem Herzen einen Stich. Er wusste es nicht mehr, musste es vergessen haben, womöglich schon vor Jahren. Waren sie sich nicht einst unendlich nah gewesen? Wann war der Punkt gekommen, an dem Bakura sich von ihm abgewandt hatte? Der Platz, den Marik einst bei ihm eingenommen hatte, gab es nicht mehr. „Zwing mich nicht dazu, euch zusammen in einen Raum zu sperren, bis ihr euch endlich ausgesprochen habt“, sagte er schließlich schnippisch. Bakuras Blick verdüsterte sich. Langsam machte Marik einige Schritte auf ihn zu, bis er direkt vor ihm zum Stehen kam. Das weiße Plastik der Tüte raschelte leise. Ungefragt nahm er Bakura die Zigarette aus den Fingern und nahm einen tiefen Zug. Mit dem Brennen, dass sich in seiner Lunge ausbreitete, verschwand auch die Anspannung. Jeder im Film Noir konnte sich denken, was zwischen den beiden vor sich ging. Es war so offensichtlich, dass sie die einzigen waren, die es nicht zu bemerken schienen. In Marik breitete sich ein Gefühl tiefer Traurigkeit aus. Es war der Moment, in dem er realisierte, dass er verloren hatte. Einmal mehr. Selbst, wenn er mit Bakura hier stand und sie sprachen, war alles anders. Gedanklich war Bakura weit weg. Marik presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Lange blickten sie einander an, bis Marik es irgendwann nicht mehr ertrug. Er beugte sich vor und hauchte Bakura einen letzten, langen Kuss auf den Mundwinkel. „Ich liebe dich.“ Er hatte es nie ausgesprochen. „Ich weiß.“ Beide lächelten vorsichtig. Diese stille Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschte, würde nichts zerstören können. Der Griff Mariks‘ Finger um die Henkel der Tüte verfestigte sich. Schließlich zuckte er gespielt locker mit den Schultern. „Schon gut. Ich gebe dich frei, weißt du?“ Er schenkte dem Anderen ein Zwinkern. Die Zeit verstrich zwischen ihnen. Mit jeder Stunde, mit jeder Minute, mit der die allabendliche Eröffnung des Film Noir näher rückte, rutschte er einmal mehr in die Rolle des aufmüpfigen Jungen, die er sich über die Jahre hinweg erarbeitet hatte. Nichts von all dem war wahr. Und niemand bemerkte den Unterschied. Wortlos gab er Bakura die Zigarette zurück und wandte sich zum Gehen. Das amüsierte Schnauben Bakuras ließ ihn innehalten. Mit verschränkten Armen lehnte er am Fensterrahmen und blickte dem jungen Stricher nach. „Du hattest mich nie, Marik.“ Bakura log. Beiden war das bewusst, doch spielten sie beide mit. Er hatte damals den ersten Schritt auf Marik zugemacht, damals, als Malik ihm die schlimmsten Stunden seines Lebens beschert hatte. Nun tat er, als sei all das nie geschehen. Marik wusste nicht, was ihn mehr schmerzte. War es die Erkenntnis, dass er ihn verloren hatte? Oder der endgültige Wunsch Bakuras, das alles sei niemals geschehen? Ein letztes Mal drehte Marik sich um. Ein breites, warmes Lächeln lag auf seinen Lippen, während sich seine Augen gegen seinen Willen mit Tränen füllten. Er nickte schwach, und das blonde Haar glitt in seine Stirn. „Ich weiß“, flüsterte er mit erstickter Stimme. „Ich weiß.“ Epilog: Ein Ende ---------------- (Kurze Anmerkung vorab: Animexx übernimmt meine Standard-Dramen-Formatierung nicht. Ich bitte daher alle LeserInnen dringlichst darum, auf den im Vorwort angeführten Google Drive Link zurückzugreifen. Vielen Dank!)   Erster Akt Erste Szene   Der Schankraum des Film Noir. Er wirkt heruntergekommen und verwaist. Eine dicke Staubschicht bedeckt alles. Es herrscht heilloses Durcheinander. Vieles liegt in Schutt und Asche. Es ist offensichtlich, dass die Räumlichkeiten seit Jahren leer stehen. Jemand macht sich von außen an der Eingangstür zu schaffen, die letztlich aufspringt. Es ist Marik; er betritt den Raum. Er trägt enge, schwarze Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover. Darüber einen schmal geschnittenen, gleichfalls schwarzen Mantel. Marik sieht um, dann beginnt er herum zu wandern. Mit einer gewissen Nostalgie betrachtet er alles. Für einen Moment entschwindet er in Maliks Büro. Als er in den Schankraum zurück kehrt, bleibt er wie angewurzelt stehen. In der Mitte des Raumes sitzt jemand am Tisch, doch es ist zu dunkel, um ihn zu erkennen.   Marik.   Wer ist da? (Pause). Hey. Hey! Mensch.  (zündet sich stumm eine Zigarette an. Das Feuer erhellt für eine Sekunde den Schankraum). Die Frage ist doch eher, was du hier machst, Marik – oder lieg ich da falsch? Marik.   Wer-? (er betätigt den Lichtschalter, doch es bleibt dunkel). Mensch.  (hebt die Hand und schnippt mit den Fingern, woraufhin die Decken- und Thekenbeleuchtung aktiviert wird). Fünf Jahre und du erkennst mich nicht mehr. Ich hätte mehr erwartet, nachdem du früher ständig um mich herumgetänzelt bist. Marik.   (atemlos). Bakura. Mensch.  (sich selbstbewusst auf dem Stuhl fläzend nimmt er einen Zug von seiner Zigarette. Er trägt die üblichen Klamotten. Weißes Hemd, schwarze Anzughose, Sakko). Wer sonst? Marik.   Aber- Oh mein Gott. (er ringt mit sich). Du von allen Menschen. Du darfst nicht hier sein, du kannst nicht hier sein! Warum-?! Bakura.  Ich bin immer hier, Marik, das ist doch altbekannt. Wer gefehlt hat, warst du. Du und die Anderen. Man, man, man. Schau dich an. Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Marik.   (bitter lächelnd). Einen Geist? Bakura.  (nickt). Marik.   (ringt mit sich, verzieht das Gesicht in Verzweiflung und fängt an zu schluchzen. Bakura betrachtet ihn rauchend und ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen). Ich-! Du-! Oh Gott, verzeih mir. (Er geht auf Bakura zu und geht vor ihm auf die Knie, packt ihn am Arm). Bitte. Schau mich an, siehst du nicht, wie sehr du mir fehlst? (Er berührt ihn, als könne er es nicht fassen, ihn vor sich zu haben). Bakura.  (betrachtet Marik lange, ohne etwas zu sagen). Doch, das sehe ich. (er nimmt einen Zug, greift in seine Jackentasche und nimmt einen Flachmann hervor. Er deutet auf den nächstgelegenen Stuhl). Setz dich zu mir. (Er schmunzelt). So wie früher. (Marik nimmt Platz, woraufhin Bakura ihm den Flachmann reicht. Marik trinkt und beruhigt sich langsam). Was machst du hier? Marik.   Was? Bakura.  Was machst du hier? Fünf Jahre lässt du dich nicht blicken und jetzt stolperst du einfach so hier rein? Als ob. Guck dir den Drecksstall doch mal an, hier gibt’s nichts mehr zu holen. Marik.   Ich weiß. Bakura.  Der Laden ist längst dicht. Marik.   Ja. Bakura.  Seit damals. Marik.   Hm, hm. (nickt). Bakura.  Nichtmal aufgeräumt haben sie, seit fünf Jahren verrottet hier alles. Marik.   Wer würde hier auch noch rein wollen, nach allem, was hier passiert ist? Bakura.  (lacht). (Pause). Also? Marik.   Also was? Bakura.  Warum bist du hier? (schnaubt). Meinetwegen scheinbar nicht. Marik.   Malik war der Hauseigentümer. Bakura.  (rauchend). Erzähl mir was Neues. Marik.   Es wurde mir überschrieben, nachdem er- Bakura.  Verstehe. Marik.   Ich habe weiß Gott bestimmt tausend Mal darüber nachgedacht, ob ich nicht alles wieder instandsetzen solle, glaub mir, aber- Bakura.  (schmunzelnd). Zu schmerzhaft, hm? Marik.   (nickt). Bakura.  (schaut sich um, dann zuckt er mit den Schultern). Das hier war und ist ein Scheißort. Selbst, wenn du hier Apartments reinsetzen würdest, es wäre doch immer noch das gleiche Rattenloch wie vorher. Manche Dinge ändern sich nicht. Marik.   Ja. (seufzt schwer). Die Stadt möchte das Gebäude abreißen. Es verschandelt die Gegend, sagen sie. Bakura.  (lacht). Die wissen schon, von welcher Gegend sie reden, oder? (zieht an der Zigarette und löscht sie aus). Das hier ist ein verdammtes Rotlichtmilieu, was erwarten die? Einfamilienhäuser und gepflegte Vorgärten? Marik.   War. Bakura.  Was? Marik.   Es war ein Rotlichtmilieu. Bakura.  (Pause). Klar. Marik.   Sie haben den ganzen Distrikt umgekrempelt, vor fünf Jahren, weißt du das nicht mehr? Bakura.  Wenn du das sagst. (sucht nach der Zigarettenschachtel). Marik.   Ich habe zugestimmt. Bakura.  (gedankenverloren). Wozu? Marik.   Zum Abriss. Bakura.  (hält inne, sieht auf und sucht Mariks Blick). Ist das dein Ernst? Marik.   (nickt). Bakura.  Das heißt, all das hier wird-? Marik.   Verschwinden, ja. Es wird Zeit, zu vergessen. All das Schlimme, was hier passiert ist. All das Blut, das hier geflossen ist, die Menschen, die hier gebrochen wurden. (lächelt). Wenn ich es schon nicht vergessen kann… Bakura.  Wann? Marik.   Morgen früh. Bakura.  Morgen früh? (er zündet eine neue Zigarette an und lehnt sich zurück). Bisschen spontan, findest du nicht? Marik.   Es ändert nichts, oder? Bakura.  Nein. Die Sache ist durch. Man kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. (nickt). Morgen also? Wer hätte das gedacht? (er lacht auf und schaut sich um). Marik.   Weißt du, manchmal fällt es mir schwer, zu glauben, dass seitdem fünf Jahre vergangen sind. Fünf Jahre. Bakura.  (schnaubt amüsiert). Für dich vielleicht. Marik.   (senkt den Blick). Ja. Für mich. (Pause). Ich meine - wie konnte das alles nur passieren? Bakura.  Weißt du’s nicht mehr? Marik.   Ich war nicht mehr da. Erinnerst du dich? An diesem Tag- Bakura.  Als du Ryou die Einkäufe gebracht hast? Marik.   Er hat nach dir gefragt, damals. Bakura.  Das hat er immer. Marik.   Ihr habt nicht miteinander gesprochen. Bakura.  Ja. Es ging nicht. Ich konnte nicht. Marik.   Du wolltest nicht. Bakura.  Das auch. (Pause). Er hat nach mir gefragt, sagst du? Marik.   (nickt). Bakura.  Was wollte er wissen? Marik.   Woher du kommst. Bakura.  (schnaubt). Dieses Balg. Er konnte es einfach nicht lassen. (Pause). Was hast du ihm gesagt? Marik.   (schulterzuckend). Dass du im Heim aufgewachsen und mit siebzehn stiften gegangen bist. Dass mein Bruder dich von der Straße geholt und ausgebildet hat. Das, was jeder wusste, der mit dir zusammen gearbeitet hat, du großer Geheimniskrämer, du. (lächelt). Bakura.  (schmunzelt dünn). Es war nicht wichtig. Marik.   Für dich nicht. Aber ich, ich hätte meine rechte Hand dafür gegeben, um zu erfahren, woher du diese verdammte Narbe an deinem Unterarm hast. Und Ryou auch… Bakura.  Mein Gott, es hätte nichts geändert, gar nichts. Marik.   Das weiß ich doch, aber trotzdem. Bakura.  (betrachtet für einen Moment seinen Unterarm). Danach kamst du zu mir, nicht? Marik.   Ja. Bakura.  Du hast mich angefleht, dir hier raus zu helfen. Marik.   Es ging einfach nicht mehr. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Die Anderen dachten immer, es wäre so einfach für mich, aber ein Scheiß war’s. Bakura.  Du warst ein guter Schauspieler, das stimmt wohl. Marik.   Ich bin’s noch. (seufzt). Am Anfang hast du dich geweigert. Bakura.  (nimmt einen langen Zigarettenzug). Ich wollte nicht. Marik.   Warum? Bakura.  (lange Pause). Weil ich ohne dich schon Jahre vorher durchgedreht wäre, in dem Drecksschuppen. Du warst der einzig halbwegs intelligente Mensch dort. Du und- Marik.   Ryou. Bakura.  Ja. Marik.   Du wolltest nicht, dass ich gehe? Bakura.  Nein. (er weicht Mariks Blick aus). Aber es war offensichtlich, dass es sein musste. Du hattest genug. Und ein Yugi war genug, wir brauchten keinen zweiten. Malik hat versucht, dich zu brechen, aber geschafft hat er’s nie. Marik.   Was hast du getan? Bakura.  Ich ging zu Malik ins Büro und nahm deinen Pass aus dem Safe. Es war offensichtlich, dass es Ärger geben würde, sobald du weg warst, aber was sollte er tun? Er brauchte mich. Ohne mich hätte er seine dreckige Wäsche selbst waschen müssen, und er wusste, dass er eigentliche in Stümper ist. Marik.   (lacht) Oh ja, das wusste er. Bakura.  Besser als jeder andere. Als ich aus dem Büro kam, fing Jonouchi mich ab, der Idiot. Marik.   Du hattest es mal erwähnt, ja. Bakura.  Wenn wir ihn nicht an der Theke gebraucht hätten, er hätte die nächsten Wochen vermöbelt in seinem Zimmer zugebracht. (nimmt einen Zigarettenzug und ascht ab). Marik.   Er hatte sich mit Ryou um die Getränkelieferung gekümmert, nicht? Bakura.  Ja. Er sagte, Ryou habe draußen noch etwas holen wollen – und dann war er weg. Marik.   Getürmt. Bakura.  Beschissener Amateur. Malik ist ausgerastet. Ryou zog die Kunden, und du hast sie gehalten. Er hätte den ganzen Laden hochgehen lassen können, wir mussten ihn wiederfinden. Marik.   (nachsichtig lächelnd). Als ob er das getan hätte, Bakura. Nach allem, was zwischen euch passiert ist bis dahin. Bakura.  Die Entscheidung ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Du kennst Malik. Er hat mich losgeschickt, um Ryou zu suchen. Marik.   Wo hast du ihn gefunden? Bakura.  Vor seinem Elternhaus. Er saß auf einem Stein und hat geheult wie ein kleines Kind, war sein Tiefpunkt, schätze ich. Er war total am Ende. Marik.   Oh man. (seufzt). Armes Ding. Das muss man sich vorstellen, einmal Pech gehabt im Leben und schon ist alles für die Katz. Bakura.  Ja. Aber diesmal lag’s nicht an uns. Das Haus stand zum Verkauf. Sein Vater hat es aufgegeben, ohne weiter nach seinem Sohn zu suchen. Marik.   Es gab keine Vermisstenanzeige, nicht? Bakura.  Nein. Als hätte er nur darauf gewartet, endlich neu anfangen zu können, dieser Mistkerl. Ich musste Ryou nur einsammeln, er ging mit, ohne sich zu wehren, es war einfach. Marik.   Und er hat geweint, sagst du? Bakura.  Ja. (schnaubt). Aber das hat er ständig. Marik.   Ihr seid nicht gleich zurück gekommen. Bakura.  Nein. Er hat mich angefleht, ihm eine Pause zu gönnen. Mit so viel Nachdruck hab ich ihn noch nie vorher sprechen hören, man hat gemerkt, dass ihm inzwischen alles egal war. Er wollte zum Karaoke. Ich hab’s ihm erlaubt. Marik.   Und dann? Bakura.  Hat er sich betrunken. (lacht bitter). Vermutlich das erste Mal, dass er überhaupt getrunken hat. Irgendwann sind wir zurück in‘s Film Noir. Marik.   Das war alles? Bakura.  Soweit ja. Marik.   (starrt ihn an). Bakura.  Was? Marik.   Nichts. Bakura.  (grimmig). Hör auf mit dem Scheiß, was ist? Marik.   (lächelt). Ihr habt miteinander geschlafen, damals. Nachdem ihr zurück gekommen seid. (Pause). Jeder andere hätte es übersehen, aber ich kenne dich. Ich wusste es in dem Moment, in dem ich dich die Treppe runterkommen sah. Ich hatte recht, nicht? Bakura.  (mit den Schultern zuckend). Und selbst wenn. Marik.   (lächelt, wissend, dass er richtig liegt). Am Morgen darauf hast du mir meinen Pass gegeben. Ich habe mich von Ryou verabschiedet, meine Sachen gepackt, Yugi noch einmal umarmt und bin gegangen. Bakura.  (schnaubend). Yugi. Marik.   Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. (seine Augen füllen sich mit Tränen und er ringt um Fassung) (er bittet sich noch einmal den Flachmann aus und trinkt). Niemand hat gemerkt, dass ich gegangen bin. Nicht mal du. Bakura.  Malik hat es gemerkt. Marik.   War er wütend? Bakura.  Wütend? Der Kerl hat gekocht. Er rief mich zu sich ins Büro. Natürlich wusste er, dass ich mich am Safe zu schaffen gemacht habe. (schmunzelt). Bevor ich Luft holen konnte, hatte ich seine Faust im Gesicht. Er hat mich nach Strich und Faden verdroschen, aber das war’s auch. Wie gesagt, er brauchte mich – und ich bin schon mit Schlimmerem fertig geworden. Er wollte es nie zugeben, aber er wusste die ganze Zeit, dass sein Stern am Sinken und ich ihm überlegen war. Marik.   Mistkerl. Bakura.  Na, solche Worte aus deinem Mund? (sie tauschen ein Lächeln aus). Jedenfalls war das nicht alles. Marik.   So? Bakura.  Einige Tage nach deinem Verschwinden stand die Polizei auf der Matte. Marik.   (bleich werdend). Die Polizei?! Bakura.  Die Mordkommission. Marik.   Die Mordkommission?! Warum? Bakura.  Es ging um den Yamamoto-Fall. Marik.   Die Staatsanwältin, die du getötet hast? Bakura.  Ja. Ich kannte einen der Ermittler von früher. (er nimmt noch einen Schluck aus dem Flachmann). Wir waren Freunde, wenn man so wollte, haben uns den Rücken frei gehalten, früher, als wir jung waren. Unsere Wege haben sich irgendwann getrennt, aber der Kontakt blieb. Marik.   Kanntet ihr euch aus dem Heim? Bakura.  Ja. Marik.   Sowas verbindet. Bakura.  (nickt). Sein kleiner Bruder war ein Pflegefall, ein richtiges Gemüse, schwerer Hirnschaden, ist während der High School vor ein Auto gelaufen. Marik.   Mein Gott… Bakura.  Kaiba – so hieß der Kerl - hat sich um ihn gekümmert, aber die Medikamente kamen von mir. Das kannst du als kleiner Beamter nicht alleine stemmen, viel zu teuer. Total absurd, das ganze System. Von Kaiba hatte ich demnach nichts zu befürchten, das war klar. Marik.   Und der Andere? Bakura.  Von dem schon eher. Marik.   Wie hieß er? Bakura.  Atem. Viel von uns getrennt hat den nicht mehr. Das war diese Sorte von Typ, die irgendwann im Leben richtig Scheiße gebaut haben und seitdem davon aufgefressen werden. (schnaubt). Natürlich hing der Grund dafür bei uns rum. Marik.   Der Grund? Bakura.  (lacht). Du willst echt die ganze Geschichte hören, oder? Marik.   Ja, natürlich - was soll ich auch machen, wenn du mal wieder nur in Rätseln sprichst? Bakura.  (betrachtet ihn schweigend über seine Zigarette hinweg). Marik.   Ich will einfach verstehen, was damals passiert ist. Als ich das nächste Mal dazu kam, war alles schon vorbei. Bitte. (Seufzt). Ich will mit diesem Kapitel abschließen können, hilf mir. Warum glaubst du, bin ich sonst hergekommen? Es frisst mich auf. Bakura.  (überlegt eine Weile). Von mir aus. Aber es wird eine Weile dauern, stell dich drauf ein. Marik.   (nickt). Ich hab es nicht eilig. Bakura.  Gut. Marik.   Was war mit diesem Ermittler? Bakura.  Er kannte Yugi. Marik.   Woher sollte Yugi einen Cop kennen? (lacht, doch als Bakura nur ernst zurück starrt, erstirbt es). (beugt sich über den Tisch, mit verruchter Stimme). Sag mir nicht, dieser Cop war sein Lover? Bakura.  Doch, genau das. Sein Ex-Lover, wenn du’s genau haben willst. Sie hatten was am Laufen, bevor Jonouchi ihn an die Nadel gebracht hat (zündet eine neue Zigarette an und lehnt sich zurück). Die Beziehung ist daran kaputt gegangen und der Typ daran scheinbar auch. Kaiba und Atem stehen also im Schankraum, wollen Malik sprechen, ich führ sie ins Büro und auf dem Flur treffen wir Yugi. Marik.   Hat er was gemerkt? Bakura.  Er war ein Junkie, aber nicht dämlich. Marik.   Ja, gut… Bakura.  Atem hat getan, als kannte er ihn nicht, aber Yugi hat die Nerven verloren. Es hat Ryou und Jonouchi die ganze Nacht gekostet, ihn zu beruhigen. Eine Weile später hat Atem dann angefangen, Yugi vor dem Laden abzupassen, aber es hat eine ganze Weile gedauert, bis das irgendjemandem aufgefallen ist. Die zwei konnten die Finger nicht voneinander lassen. Einen Tag später ruft Malik mich ins Büro. Er hat mich zusammen gefaltet und mir die Schuld daran gegeben, dass die Bullen im Film Noir waren. Ab jetzt würde ich nur noch mit einem Partner zusammenarbeiten, des Alibis wegen. Ich weigere mich, du weißt, dass ich immer allein arbeite. Er lässt nicht locker. Ich frage, wer ihm da vorschwebt. Er sagt, Ryou. Ich weigere mich weiterhin. Es war genug, dass Ryou hier von unseren Klienten angefasst wurde, Auftragsmord war nichts für ihn. Marik.   Er war zu weich. Bakura.  Viel zu weich. Als Malik begreift, dass ich nicht nachgeben werde, stellt er mich vor die Wahl. Entweder, er würde mir zur Hand gehen, oder er würde dich ersetzen. Marik.   (entsetzt). Das hat er nicht getan. Bakura.  Doch, genau das hat er getan. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich ihn gehasst habe in diesem Moment. (nimmt einen tiefen Zigarettenzug). Ryou wurde dann mein Partner. Wir haben drei Leute zusammen um die Ecke gebracht. Marik.   Wie hat er es weggesteckt? Bakura.  Ich habe ihn rausgeschickt, wenn es ernst wurde. Er hat nichts gesehen. Aber er hatte Angst vor mir, auch, wenn er es nicht zugeben wollte. Marik.   Verständlicherweise. Bakura.  Hm. Marik.   Und dann? Bakura.  Habe ich beschlossen, dass ich nicht länger für Malik arbeiten werde. Im Endeffekt hab ich den Laden geschmissen. Es war an der Zeit, dass ich die Lorbeeren dafür kriege, nicht immer nur Tritte und Gemecker. Ich Maliks Posten übernehmen, ohne am Ende den Ruf zu haben, meinen eigenen Boss um die Ecke gebracht zu haben. Ryou bat darum, einfach gemeinsam wegzugehen, aber ich hatte noch eine Rechnung mit diesem Mistkerl offen. Nach zehn Jahren kann man sich nicht einfach umdrehen und gehen. Und ich wollte ihn leiden sehen Also gehe ich zu Kaiba und wir handeln einen Plan aus. Er ziert sich, aber letztlich schlägt er ein, er schuldet es mir. Er würde die Ermittlungen so manipulieren, dass man Malik früher oder später pflücken würde wie einen reifen Apfel vom Baum. Die Polizei hatte schon länger ein Auge auf ihn, er war ein großer Fisch und meine Informationen wertvoll. Es kam dann aber anders, als wir es geplant hatten. Marik.   Was war los? Bakura.       Kaiba steckte mir irgendwann, er habe Yami gemeinsam mit Yugi gesehen. Also nehme ich Yugi zur Seite und stutz ihn mir zurecht. Jedes falsche Wort von ihm hätte den ganzen Plan ruinieren können. Er wusste einfach zu viel, um uns nicht gefährlich werden zu können, war die Schwachstelle des Systems. Ryou hat was gewittert und ich musste ihm versprechen, dem Jungen nicht gefährlich zu werden. Yugi verspricht mir also, sich nicht mehr mit diesem Bullen zu treffen – aber wir wissen beide, dass Junkies meistens nichts als Scheiße reden. Hinter meinem Rücken also gehen die Treffen weiter, aber sie stellen sich geschickt genug an, als das niemand mitbekommt, was Sache ist, Kaiba nicht, ich nicht. Derweil bitte ich Kaiba darum, dass er mir und Ryou neue Papiere besorgt, weil abzusehen war, dass wir erst einmal untertauchen müssen, sobald die Falle zuschnappt. Die Dinge gehen ihren Gang. Wir verhalten uns unauffällig und warten. Was Ryou und ich allerdings nicht wissen ist, dass Yugi zwischenzeitlich Angst bekommt, ich könne seine nächtlichen Spaziergänge an Malik weitergeben. Er muss geglaubt haben, er könne mich aus dem Weg räumen. Er geht also zu Atem und erzählt ihm alles, was er weiß. Es ist die Nacht vor dem Zugriff, die Beweislage gegen Malik ist längst sicher, und Atem bittet ihn, die Nacht noch bei uns zu verbringen, damit keiner Verdacht schöpfen würde. Atem hatte in der Zwischenzeit in Kaibas Wohnung per Zufall ein Foto in die Finger bekommen, das Kaiba und mich im Heim zeigte und hatte wohl den Verdacht, dass Kaiba die Ermittlungen für mich manipulierte. Gefangen in Selbstzweifeln, lässt er Yugi gehen und unternimmt nichts. Yugi kommt zurück in‘s Film Noir, aber weder Ryou noch ich bemerken das. Ryou kümmerte sich um unser Gepäck. Ich traf mich mit Kaiba, um die neuen Papiere abzuholen. Als ich ins Film Noir zurück komme, herrscht ein heilloses Chaos. Alles, was du hier siehst, die ganzen Möbel, die auf dem Boden liegen, die zerschlagenen Flaschen, es sieht genauso aus wie damals. Ryou saß dort, wo du jetzt sitzt, aber bevor ich etwas sagen konnte, rief Malik nach mir. Seine Stimme – es war offensichtlich, dass irgendwas schiefgegangen ist. Wir konnten nicht gehen, bevor wir nicht auch unsere alten Pässe aus dem Büro geholt hatten, sonst wäre gleich klar gewesen, dass man nach uns hätte fahnden müssen. Marik.   Mein Gott, das klingt alles furchtbar. Bakura.  Es war nicht angenehm, falls du das meinst. Marik.   Hattest du Angst? Bakura.  Vor wem? Malik? Marik.   Ja. Bakura.  Nein. Alles war anders in dieser Nacht, aber Angst hatte ich keine. Es hätte nichts geändert. Marik.   Ja… - was ist dann passiert? Bakura.  Ich sage Ryou, er soll die Taschen holen und hier unten warten. Er besteht darauf, mit mir ins Büro zu gehen, aber ich verbiete es ihm. Es war offensichtlich, dass es hässlich werden würde. Am Ende ging es doch nur um Malik und mich. Der große Showdown in einer längst giftigen Beziehung. Meine Katharsis, der Kampf um die Freiheit, nenn‘ es wie du willst. Ryou und ich stritten kurz und heftig, aber am Ende gehorchte er und blieb. Er gab mir eine Pistole, die wir sicherheitshalber in einen der Rucksäcke gepackt hatten. Ich klemmte sie mir hinten in den Gürtel und ging ins Büro. Marik.   War Yugi dort? Bakura.  Ja. Marik.   Und Jonouchi? Bakura.  Fehlte. Marik.   Wie war die Stimmung? Bakura.  Scheiße. Yugi muss ihm auf seinem Rückweg direkt in die Arme gelaufen sein. Er lag auf dem Boden. Malik hatte ihn übel zugerichtet, mal wieder, hielt eine Pistole in der Hand und zielte auf ihn. Er habe die Schnauze voll, es reiche ihm endgültig und wenn ich das Problem nicht beseitigen wolle, würde er es selbst tun. Yugi, um sein Leben zu retten, erzählte alles, was er von Atem wusste, auch über die Ermittlungen, und brachte mich damit in Teufels Küche. Wie du weißt, hat er sich damit nicht gerettet. Marik.   (traurig) Ja. Malik erschoss ihn, nicht? Bakura.  Er hatte kaum ausgeredet, da hatte er bereits eine Kugel im Kopf. Die Blutlache sieht man bis heute. Marik.   (erstickt). Ich weiß. Bakura.  Es waren nie Tatortreiniger hier, nicht? Marik.   Nein. (schluckt). Und dann? Bakura.  Malik sagte, er habe nicht das geringste Mitleid mit Verrätern. Das würde auch für mich gelten. Er wollte wissen, warum ich ihm das angetan habe. Hat sich benommen wie ein Mädchen, dem man das Herz gebrochen hat. (schmunzelt). Als ob er je eines gehabt hätte… Marik.   Was hast du geantwortet? Bakura.  Dass ich ihn hasse. Dass er viel für mich getan habe, aber ich seine Art zu Arbeiten stümperhaft und ineffizient fände. Und dass ich ihm gern dabei behilflich sein würde, ihn zum Teufel zu jagen.      Dann schoss er auf mich, mehrmals, in kurzen Abständen – verfehlte mich aber mit Absicht. Stattdessen traf er die Gasleitung und die Wand ging in Flammen auf. Als er die Waffe dann auf mich richtete und abdrückte, klickte es nur. Marik.   Das Magazin war leer? Bakura.  Ja. Er hatte sich verzählt, der alte Choleriker. Ich zog meine eigene Waffe zwang ihn, mir die Papiere aus dem Safe zu geben. Der Raum füllte sich mit Rauch, ich konnte kaum was sehen. Er gehorchte, gab mir die Unterlagen, aber als ich sie einsteckte, stürzte er sich auf mich. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Wir kämpften um die Waffe, dann löste sich ein Schuss. Wenig später fiel die Pistole zu Boden. Malik stürzte ihr nach, aber es war mir egal. Ich hatte, was ich wollte. Ich lief raus, ein weiterer Schuss, dann war ich im Schankraum, schrie Ryou an, dass wir verschwinden müssten und wir rannten auf die Straße. Marik.   (ruhig). Ich glaube ich weiß, wohin das führt… Bakura.  (atmet durch). Ja. (er nimmt noch einen Schluck und zündet sich eine weitere Zigarette an). Wir liefen, bis wir nicht mehr konnten. In einer Seitengasse blieben wir stehen. Wir begannen zu lachen, zwei Pechvögel, die endlich einmal Glück gehabt hatten im Leben. Mir war schlecht, aber ich dachte, es lag an der Anstrengung. Mein Hemd fühlte sich feucht an. Ich betastete meinen Bauch und bemerkte, dass das Hemd vollkommen durchnässt war. Meine Hand war blutrot. Auch mein Hemd. Ich flüsterte Ryous Namen. Er drehte sich nach mir um und meine Beine gaben nach. Ich schlug auf dem Boden auf, der Länge nach, Ryou fiel neben mir auf die Knie und drehte mich auf den Rücken. Er hatte solche Angst. (lacht). Um mich, von allen Menschen. Er redete auf mich ein, griff nach meiner Hand, drückte sie, schrie um Hilfe. Ich sah auf seine Lippen, aber es war, als würde der Ton leiser gedreht, wie bei einem Fernseher. Am Ende hörte ich nichts mehr. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich konnte nicht sprechen. Etwas Warmes rann mir über die Lippen, die Wangen und tropfte zu Boden. Ich sah Ryou an und er löste sich vor meinen Augen auf, alles löste sich auf, und dann war da nur noch ein strahlend helles Weiß. (schnaubt). Weinst du schon wieder? Marik.   (schluchzend). Ja, verdammt, Bakura, natürlich. (wischt sich über die Augen). Hörst du dir eigentlich selbst zu? Bakura.  Ja. (Er lässt den Blick umher schweifen). Die Geschichte läuft jeden Tag vor mir ab, da wirkt sie nicht mehr so wie beim ersten Mal. (Er krempelt den Ärmel zurück und betrachtet seinen Arm). Danach hatte ich einen langen Traum. Marik.   Einen Traum? Bakura.  Davon, wie ich die Narbe bekommen habe. (nachdenklich). Ich hatte geglaubt, ich hatte es vergessen. Marik.   (atemlos). Die Narbe. Bakura.  Ja. Marik.   Sagst du es mir? Bitte. Bakura, bitte. Bakura.  (denkt lange nach). Gut. Marik.   Gut? Bakura.  Ich erzähle es dir. Marik.   Einfach so? Bakura.  Einfach so. Marik.   Aber – all die Jahre hast du dich so gewehrt. Warum jetzt? Warum so plötzlich? Bakura.  (schnaubt). Weil es unwichtig ist, wie alles im Leben. Es ändert nichts. Marik.   (mit zitternder Stimme). Was hast du geträumt? Bakura.  (schaut nachdenklich auf die Tischplatte und versucht, sich zu erinnern). Meine Eltern haben sich getrennt, als ich in der Grundschule war. Mein Vater war ein Mistkerl, immer betrunken, unfassbar eifersüchtig. Ständig hat er meine Mutter verprügelt, ihr Sachen verboten, sie schlecht behandelt. Irgendwann ist sie gegangen und hat mich mitgenommen. Er hat versucht uns zu finden. Wir sind mehrmals umgezogen in kurzer Zeit, bis wir dachten, wir hätten es endlich geschafft. Eines Tages sitze ich spielend auf dem Boden als meine Mutter reingelaufen kommt. Sie packt mich, zerrt mich auf die Beine und sperrt mich in den großen Schrank im Schlafzimmer. Sie hatte Angst. Nein. Sie war panisch. Sie versucht, mich zu beruhigen. Sie würde mich gleich holen kommen. Ich solle warten, im Dunkeln, keinen Mucks dürfte ich machen, was auch passieren würde, ob ich das verstanden hätte? Ich nickte. Ihre Angst übertrug sich auf mich. Die Tür ging zu, sie verschwand, es wurde still. Wenig später gab es Lärm im Erdgeschoss. Ich hörte die Stimme meines Vaters. Er hatte uns gefunden. Sie stritten. Der Streit wurde heftiger. Es polterte. Dinge gingen zu Bruch. Meine Mutter weinte. Plötzlich knallte es ohrenbetäubend, zwei Mal kurz hintereinander. Danach war es ganz still. Ich saß im Schrank und wartete. Schritte klangen auf der Treppe, langsam, ohne Eile. Sie kamen näher. Ich quetschte mich in die Ecke des Schranks. Die Schlafzimmertür ging auf. Mein Vater trat ein. Er öffnete die Schranktür und fand mich, packte mich am Arm und versuchte, mich raus zu zerren. Ich wehrte mich. Er wurde grob, verdrehte meinen Arm und schleuderte mich zu Boden. Es krachte, als habe man einen dicken Ast in zwei Teile gebrochen. Bevor ich wusste, was geschah, explodierte der Schmerz in meinem Arm. Die Haut war aufgerissen, ich sah das Weiß meiner Knochen, das Blut auf meiner Haut und fing an zu Brüllen. Mein Vater ignorierte mich. Er packte mich an der gleichen Hand und schleifte mich hinter sich her ins Erdgeschoss. Er hätte mir den Arm genauso gut abreißen können, es hätte nichts geändert. Unten angekommen, öffnet er die Küchentür und schleudert mich in den Raum. Ich falle zu Boden, ein schreiendes, verletztes Kind, mit dem Gesicht voran in eine Lache frischen Blutes. Als ich aufsehe, glänzt alles an mir tiefrot. Neben mir lag den Körper einer Frau, unbewegt. Es war meine Mutter. Ihre Augen waren aufgerissen, die Pupillen ganz grau. Ihr Schädel hing in Fetzen. Mein Vater hatte sie erschossen. Er beugte sich zu mir und begann zu grinsen. Das hätte man davon, sagte er, wenn man ihn verarsche. Wenn man versuche, ihm ein fremdes Kind unterzujubeln. Ich sei ein Fluch, das solle ich nie vergessen. Deswegen würde er mich leben lassen, als Strafe über das Unheil, dass ich über die Familie gebracht hätte. Irres Zeug, das er gelabert hat, aber als Kind glaubt man es. Er ging und ließ mich zurück. Zwei Tage später fanden mich die Nachbarn und ich kam ins Heim. Marik.   (mit zitternder Stimme). Und dein Vater? Bakura.  Brachte sich um, der elende Feigling, noch am gleichen Tag. Marik.   Ist das alles… wirklich passiert? Bakura.  (zuckt mit den Schultern). Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es war ein Traum, nichts weiter. (Sie schweigen lange, Marik kommen immer wieder die Tränen). Willst du endlich aufhören zu flennen? Marik.   Entschuldige. Bitte, gib‘ mir eine von deinen Kippen, ja? Bakura.  (Schiebt ihm das Etui zu). Nimm dir. Marik.   (Das Etui nehmend). (Er zündet sich eine Zigarette an und betrachtet es rauchend). Du hast es immer noch? Bakura.  Immer. (sie lächeln einander über den Tisch hinweg zu). Marik.   Wir sind des Teufels. (er nimmt einen tiefen Zug). Alle. Selbst Ryou, irgendwann wird es ihn einholen, ich bin mir sicher. Weißt du, was aus den Anderen wurde? Bakura.  Erzähl es mir. Marik.   Sie haben Malik gefunden und festgenommen. Man hat ihm den Prozess gemacht. Er wird nie wieder das Tageslicht sehen. Bakura.  Geschieht ihm recht. Marik.   (schnaubt). Ja. - Atem hat es nicht verkraftet, dass Yugi gestorben ist. Er war es auch, der den Tatort als erstes betreten und seine Leiche gefunden hat. Ein halbes Jahr später hat er sich mit seiner Dienstwaffe erschossen. Offensichtlich gab er sich die Schuld an allem. Wenn ich mich nicht irre, lief auch ein interner Prozess gegen ihn. Kaiba- Bakura.  (rauchend). – haben sie eingebuchtet, weil er in das laufende Verfahren eingegriffen und Beweismittel gefälscht hat. Er hat alles verloren und sitzt in irgendeinem japanischen Gefängnis. Ja, das habe ich gehört. Keine Ahnung, was aus seinem Bruder geworden ist. Hoffentlich mehr als aus Jonouchi, den haben sie letztes Neujahr aus dem Hafenbecken gefischt. Marik.   Ja. (senkt den Kopf). Eine schreckliche Sache war das. Man hat die Angelegenheit bis heute nicht aufgeklärt. Bakura.  (zuckt mit den Schultern). Es war nur eine Frage der Zeit, bis es so kommen musste mit ihm. Hat sich ständig mit den falschen Leuten angelegt, der Idiot, mich eingeschlossen. Du hast den Absprung geschafft, nicht wahr? Marik.   Ja. Bakura.  Was machst du jetzt? Marik.   Ich kellner in einer Bar. Bakura.  (lachend). Kein richtiger Absprung, also. Marik.   Nun, ich verkaufe meinen Arsch nicht mehr an anzugtragende Ekelpakete, also ja, ein richtiger Absprung, Bakura. Bakura.  Gut, gut. (Pause). Aber Ryou… Marik.   Ist damals in mich reingelaufen, nachdem du zusammen gebrochen bist. Bakura.  So? Marik.   Ja. Der Straßenstrich war nicht weit und ich sah ihn die Straße langlaufen, blutverschmiert. Ich nahm ihn mit zu mir. Er war vollkommen verstört, der Ärmste. Zu viel gesehen in zu kurzer Zeit. Es hat eine Weile gedauert, bis er sich gefangen hatte. Bakura.  Was macht er jetzt? Marik.   Er lebt ein stinknormales Leben und studiert, so, wie er es sich erträumt hat. Er lässt sich Zeit, aber vermutlich ist es genau das, was er braucht. Bakura.  Lebt er noch bei dir? Marik.   Nein. Aber manchmal kommt er vorbei und wir trinken Tee. Bakura.  (fast zärtlich). Das ist gut für ihn. Marik.   (lächelnd). Ja. (Pause). Aber sag, was ist mit dir? Bakura.  Mit mir? Marik.   Ja. Was wurde aus dir? Bakura.  (lächelt nachsichtig). Aber da weißt du doch, Marik. Ich bin gestorben an diesem Tag. Marik.   Aber- Bakura.  Verblutet auf offener Straße. Marik.   (Er betrachtet Bakura, als habe er einen Geist vor sich). Das kann nicht sein. Bakura.  Es ging ganz schnell. Marik.   Nein. Bakura.  Doch, Marik. Siehst du nicht das Blut auf meinem Hemd? (Er deutet auf seine Brust und plötzlich ist der Stoff blutdurchtränkt). (Marik wird bleich). (Bakura betrachtet ihn lange und voller Nachsicht). Du bist einsam, nicht? Deswegen bist du hergekommen, weil zuhause niemand auf dich wartet. All‘ die Jahre, und du läufst mir immer noch nach wie damals. Marik.   (fängt an zu weinen und kriegt sich lange nicht ein). Was ist das hier? Bakura.  Hm? Marik.   Das hier – unser Gespräch. Ist das wirklich? Ist das Phantasie? Was ist das hier? Bakura.  Es ist egal. (Er zuckt mit den Schultern). Selbst wenn du hier gesessen und mit dir selbst gesprochen hast, was ändert das? Was hier gesagt wurde, stand in allen Zeitungen der Stadt, das weißt du. Marik.   Und dein Traum? Bakura.  Du hattest schon immer eine blühende Phantasie, Marik. (Er steht auf). Ich muss den Flachmann auffüllen, warte hier. (Er verschwindet hinter die Theke). Marik.   Du hast recht. (Er lacht). Eine blühende Phantasie, ja. Auch damals schon. Wie sonst hätte ich all die Jahre sonst hinter mich bringen können? Hey, Bakura, bring‘ mir noch einen mit, hörst du? Ich will anstoßen mit dir auf die alten Tage. Bakura? Hey, Bakura! (Er blickt zur Theke und mit einem Mal erlischt das Licht im Saal).   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)