Film Noir von MadameFleurie (Don't fear the reaper... (Bakura x Ryou)) ================================================================================ Kapitel 10: Am Abgrund ---------------------- „…“ Kesson Daslef – Aphex Twin       Es war Ryous hektischster Abend seit seiner Ankunft hier. Schweißgebadet stand er am Tresen, das Tablett, seine wichtigste Waffe, gegen die Brust gepresst. Die übliche, elektronische Musik hallte von den Wänden wieder. Menschen standen dicht gedrängt beisammen, schwitzend, stinkend. Keine ruhige Minute hatte er heute gehabt. Änderung nicht in Sicht. Der Durst dieser Kehlen versiegte nie. Seufzend strich er sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und versuchte, die Geräusche um sich herum auszublenden. Sein Kopf dröhnte seit Stunden. Er konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen und doch musste es weitergehen. Ryou musste weiter machen. Sie alle mussten das. Es gab kein Entrinnen. Er hatte sich angewöhnt, hier unten zu erscheinen, wie Bakura es ihm an seinem ersten Abend eingetrichtert hatte. Ein dünnes, ärmelloses Hemd hatte er über dem Bauchnabel zusammen gebunden, ein Haargummi bändigte seine Mähne. Noch immer schlief er schlecht. Tagsüber zierten zarte Schatten sein Gesicht. Seit man ihn hierher gebracht hatte, waren etwa zwei Monate vergangen. Ein Jahr hatte geendet, ein anderes begonnen. Nachmittags, wenn er die Lunchbox aß, die Bakura ihm täglich vom Kombini mitbrachte, durchforstete er die Zeitungen, die er sich  erbettelt hatte, nach seinem Namen. Er hoffte, dass jemand sein Verschwinden bemerken und darüber berichten würde. Darauf, dass sein Vater eine Vermisstenanzeige schaltete oder die Nachbarn bemerkten, dass das Haus seit Tagen verwaist war. Nichts dergleichen war geschehen. Immer wieder hatte er die Zeitung resigniert zusammen gefaltet und sie neben sich aufs Bett gelegt. Die Blicke des Anderen, der über das Frühstück hinweg noch bei ihm blieb, vermittelten Ryou zu deutlich, dass Bakura jeden seiner Gedanken lesen konnte. Davon abgesehen schlug Ryou sich durch. Nach Tagen erst hatte er realisiert, was ihm widerfahren war. Es gab kein Zurück. Sein Schicksal war irreversibel. Den anderen Gegenüber trug er eine Maske stiller Freundlichkeit. Niemand hatte es bisher gewagt, sein Verhalten zu hinterfragen. Und so weinte er nur, wenn er allein war, zermürbt von der alles dominierenden, ihn innerlich zerfressenden Müdigkeit. Jonouchi und Marik, jene, die er während seiner Tätigkeit im Film Noir allabendlich traf, waren stets gut zu ihm. Sie zeigten Mitgefühl, lauschten seinen Fragen und klopften ihm auf die Schulter, wenn er die Verzweiflung nicht länger verbergen konnte. Den meisten Stunden des Tages jedoch verbrachte er eingeschlossen in seinem Zimmer, dämmerte auf seinem Bett, die Augen wie betäubt auf den Bildschirm des Fernsehers geheftet, ohne bewusst hinzusehen. Bakura sah er kaum. Nachmittags aßen sie gemeinsam. Nach der Arbeit trafen sie sich auf dem Dach, betrachteten den Sonnenaufgang und gingen anschließend getrennte Wege. Ihre Treffen ergaben sich zufällig; doch sie störten einander nicht und so hatten sie sich zum jetzigen Zeitpunkt beinahe aneinander gewöhnt. Seit ihrer Begegnung im Lagerraum hatte sich Bakura ihm gegenüber nicht mehr aggressiv verhalten. Sie sprachen miteinander, wenn auch wenig. Obschon Ryou in seinem Inneren spürte, dass es Bakura war, den er hassen müsste, konnte er die zarte Sympathie, die in seiner Brust spross, nicht verleugnen. Die Ruhe dieses Mannes übertrug sich auf ihn. Wenn er im Moment etwas brauchte, dann das. Er seufzte. Ein kurzer Blick über die Schulter führte ihm vor Augen, dass er keine Ausrede hatte, um noch länger untätig herumzustehen. Gerade heute fiel es ihm schwer, sich aufzuraffen. Stumm verzog er das Gesicht. Er konnte sich nicht helfen - immer wieder glitten seine Gedanken zum Ausklang des gestrigen Abends.       Er saß stumm auf der Betonbrüstung, die das Dach umgab. Seine Beine hingen hinab. Bakura lehnte mit verschränkten Armen neben ihm an der Brüstung, den Blick gedankenverloren auf den Horizont gerichtet. Der Abstand, der am ersten Morgen zwischen ihnen geherrscht hatte, war geringer geworden. Wenn Ryou morgens das Dach betrat, war Bakura meist schon da. Dann stand er an seinem üblichen Platz, die Hände in den Hosentaschen vergraben und zeigte keinerlei Reaktion auf Ryous Erscheinen. Ryou wusste nicht, was er davon halten sollte. Er war bloß froh, dass man ihn endlich in Ruhe ließ. Nur selten wechselten sie einige Worte, unverbindlich, doch nicht ohne gegenseitiges Entgegenkommen. Bakura war verantwortlich für alles, was Ryou die letzten Wochen hatte erleiden müssen. Dennoch begann er, die Gesellschaft des anderen nicht länger als störend zu empfinden. Wenn es ihm half, die Tage zu überstehen, war ihm jedes Mittel recht. Es brachte nichts, sich den Kopf über derlei Dinge zu zerbrechen. Müde blickte er hinab in den Abgrund, der sich unter seinen Füßen auftat. „Mein Vater sucht mich sicher schon“, murmelte er und hob den Kopf, als der Wind ihm einige Haarsträhnen ins Gesicht wehte. Bakura, den er aus den Gedanken gerissen haben musste, hob die Augenbrauen und sah auf. „Glaubst du das wirklich?“ Er nahm einen Zug von der Zigarette, die zwischen seinen Fingern klemmte und schnippte diese anschließend über die Brüstung. Ein dünnes Lächeln erschien auf Ryous Lippen. Es war Antwort genug. „Nein.“ Er ließ den Kopf sinken. „Er hat vor Jahren mit dieser Familie abgeschlossen.“ Ruhig strich er sich die Strähnen zurück hinter das Ohr. Als er Bakuras Blick bemerkte, schlich sich eine zarte Röte auf seine Wangen. „Meine Mutter, meine Schwester und ich hatten einen Autounfall, als ich zehn Jahre alt war.“ Er hielt den Blick steif auf den Horizont gerichtet, während er sprach, die Hände regungslos im Schoß liegend. Wieder umspielte ein Zucken seine Mundwinkel. „Sie sind gestorben, damals.“ Er hob die Hand und schob etwas Schnee vom Geländer. Lange Zeit sagte er nichts. Als er den Mund wieder öffnete, flüsterte er. „Er hat mir nie verziehen, dass es nicht mich an ihrer Stelle getroffen hat.“ Eine stille Traurigkeit überwältigte ihn. Er vermied es, an diesen Tag zu denken. An seine Mutter, ihren regungslosen, im Gurt hängenden Körper und Amane, seine Schwester, deren Haar in dunkelroten Strähnen über ihre Schultern gehangen hatte. Er erinnerte sich an die blauen, angsterfüllten Augen und den Druck ihrer Hand, der immer schwächer geworden war, bis Ryou nichts mehr hatte fühlen können. In gewisser Hinsicht war auch er gestorben an diesem Tag. Das Kind in ihm, er musste es irgendwie verloren haben. Stumm starrte er in den Abgrund. Diese Kraft, die an einem zerrte, wenn man sich in großen Höhen befand - wie würde es sich anfühlen, ihr nachzugeben? Wenn etwas so sehnsüchtig rief, konnte es kaum Sünde sein, zu folgen. Die Hände gegen den Beton gepresst, ließ er sich einige Zentimeter nach vorn gleiten und bemerkte die Schneeflocken, die, durch seine Bewegungen losgelöst, lautlos ins Nichts tanzten. „Weißt du…“ Bakura folgte Ryous Blick und beugte sich selbst so weit über das Geländer, dass sein Kopf mit Ryous auf einer Höhe war. Er verharrte einige Sekunden in dieser Position, hob schließlich den Kopf und blickte Ryou unverwandt an. Bakuras Augen ruhten so ernst auf ihm, dass sich eine kalte Hand um Ryous Herz zu schließen schien. „Das Leben hier ist ein anderes, aber es ist nicht zwingend schlechter als dein altes.“ Ryou hob den Kopf. Waren seine Gedanken so offensichtlich? Vielleicht hatte Bakura bei seiner eigenen Ankunft ähnlich gedacht. Ihre Blicke trafen sich, kaum, dass Ryou begriff, was geschah. Schließlich schossen Tränen in seine Augen, die er weg blinzelte, doch nicht so schnell, als das Bakura sie nicht bemerkt hätte. Verlegen wandte Ryou den Blick ab und strich erneut Strähnen hinter sein Ohr. Sekunden später ertönte im Hintergrund das vertraute Klicken eines Feuerzeugs. Es verscheuchte die dunklen Gefühle, die sich in seinem Herzen angereichert hatten und brachten eine ungeahnte Leichtigkeit zurück. „Du kannst es nicht lassen, oder?“, flüsterte Ryou an Bakura gewandt und warf diesem aus den Augenwinkeln einen neckenden Blick zu. Bakura antwortete nicht. Lediglich ein amüsiertes Schnauben erreichte seine Ohren, das sein eigenes Lächeln unwillkürlich verstärkte. Plötzlich fuhr Ryou herum, beugte sich vor und nahm Bakura die Zigarette, die er sich nur Sekunden zuvor angesteckt hatte, aus den Fingern. Er steckte sie sich zwischen die Lippen, registrierte beiläufig die Feuchtigkeit, die sich am Filter gebildet hatte und schloss die Augen. Als er den Zug nahm, konnte er nicht umhin, sich verrucht zu fühlen und verzog das Gesicht, als das Brennen in seinen Lungen einsetzte. Ryou verkniff sich das Husten, zog jedoch eine Grimasse, die Bakura im Hintergrund auflachen ließ. Es klang merkwürdig unbeschwert. „Das solltest du nicht tun“, murmelte Bakura nachsichtig und nahm die Zigarette an sich, so geschickt, dass seine Finger Ryous’ kaum berührten. Es war ein bevormundender Tonfall gewesen, mit dem er gesprochen hatte und doch konnte Ryou darüber nicht böse sein. Es hatte fast fürsorglich geklungen. Beschützend. „Warum arbeitest du für Malik?“ Die Unverfrorenheit, mit der Ryou diese Frage gestellt hatte, musste Bakura überrascht haben, denn dieser blickte nur kurz auf und schwieg lange. Schließlich wandte er sich mit dem Rücken zur Rüstung und lehnte sich an, die Ellenbogen gegen den Beton gestützt. „Es war die beste Lösung für mich“, antwortete er mit einer Knappheit, die verriet, dass dieses Thema nichts war, worüber er gerne sprach. „Wie lange schon?“ „Zehn Jahre.“ Ryou neigte den Kopf und betrachtete den Mann, der ihn hierher gebracht hatte. Er wirkte müde. Das schmale Gesicht war von Schatten gezeichnet, die vor wenigen Tagen noch nicht da gewesen waren. Im Moment gab es viel Arbeit - das schien selbst vor den höher gestellten Mitarbeitern nicht Halt zu machen. Die Augen, braun wie seine eigenen, zeugten davon, dass er gedanklich entrückt war. Vom Wind zerzaust hing ihm das Haar ins Gesicht. Ryou runzelte still die Stirn. Bakura hatte feine Züge, wohlgeformt, wie aus Porzellan. Seine Haut wirkte so glatt und weich, dass Ryou sich beherrschen musste, seine Hand nicht auszustrecken und mit den Fingerspitzen darüber zu fahren. Sie verfielen in ein Schweigen, das ewig anzuhalten schien. Immer wieder sah Ryou zum Horizont, dessen blutrote Farbe allmählich in ein kräftiges Orange überging. Das Bild von Bakuras Fingernägeln einige Tage zuvor stieg in ihm auf und ließ ihn zusammen zucken. Diese krustigen, rostroten Ränder. Der Stricher, dessen Kehle so zerfetzt war, dass man das Weiß der Wirbel durch das Schwarz der Nacht hatte schimmern sehen können. Wie konnte es sein, dass ein Mensch, der zu solchen Dingen fähig war, neben ihm stand und wirkte, wie jeder andere auch? Er hatte eine kluge, berechnende Art, wie Ryou sie selten zuvor bei Menschen bemerkt hatte. Mit der Kraft eines Ertrinkenden klammerte er sich an ihr fest. „Du bist jemand, der für Geld tötet, nicht wahr?“ Bakura schwieg kurz. „So einer bin ich wohl.“ Lange sahen sie einander an, als versuchten sie, zu ergründen, was in den Gedanken des anderen geflüstert werden mochte. Ryou, die Hände im Schoß, den Schal seiner Großmutter um den Hals gelegt, atmete ein. Bakura wirkte, als habe er ein ganzes Menschenleben verlebt. Irritiert von Ryous ruhiger Reaktion, trat dieser näher heran. „Du hast Angst vor mir.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen. Ryou schüttelte den Kopf, von einer inneren Gelassenheit erfüllt, die er verlernt zu haben glaubte. „Habe ich nicht. Am Anfang…“ Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Dabei betrachtete er sein Gegenüber, der ihn noch immer forschend musterte. Ryou konnte sich nicht helfen, er konnte Bakura nicht hassen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und suchte nach passenden Worten. „Etwas in mir sagt, dass es keinen Grund mehr gibt, Angst zu haben.“ Er lachte bitter. „Dumm von mir, nicht?“ Bakura schnaubte und ließ die Zigarette, die er aufgeraucht hatte, in den Schnee fallen. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar, ein distanziertes Lächeln auf den Lippen. „Ja.“ Ryou begann zu Grinsen. Dieser Moment, die Reaktion seines Gegenübers, alles - er fühlte sich so leicht, als könne er aufstehen und davon fliegen. Er sah zu Bakura und bemerkte, dass dieser sein Grinsen erwiderte. Ryou mochte es. Es ließ die Bitterkeit in Bakuras Augen verblassen und verlieh ihnen ein Leuchten, das Ryous Herz einen Stich versetzte, so schön war es. Für eine Sekunde schloss er die Augen, genoss die Stille, die Sonne auf seiner Haut und das wortlose Einvernehmen, mit dem sie hier die Zeit verbrachten. Als er sie öffnete, hatte Bakura sich schon abgewandt, stand mit verschränkten Armen am Geländer und blickte entrückt zum Ende der Welt. Ryou schenkte ihm ein letztes Lächeln, das unbemerkt verblasste. Dann tat er es ihm gleich.       Mit einem Knall stellte Jonouchi eine Ladung Gläser auf dem Tresen ab. Ryou, der, in Gedanken versunken, alles um sich herum vergessen hatte, zuckte so heftig zusammen, dass ihm das Tablett aus den Händen glitt. Scheppernd schlug es auf dem Boden auf. Als er den Kopf hob, stand Jonouchi direkt vor ihm. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Stirn gerunzelt. Das blonde Haar ihm in feuchten Strähnen in die Stirn. „Ist alles in Ordnung?“ Unsicher trat er näher an Ryou heran. „Du wirkst heute nicht ganz bei der Sache.“ Ryou schüttelte heftig den Kopf und hob abwehrend die Hände. „Nein, es ist nichts.“ Ein entschuldigendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, ehe er sich bückte und das Tablett vom Boden fischte. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, stellte er missmutig fest, dass der Barkeeper ihn noch immer musterte. Er glaubte ihm nicht. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. „Wenn was ist, lass es mich wissen, ja?“ Er klopfte Ryou auf die Schulter, wandte sich ab und verschwand hinter die Theke, vor der sich schon einige Männer versammelt hatten. Schweigend sah Ryou ihm nach. Die gestrige Begegnung mit Bakura wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wann immer er die Augen schloss, sah er ihn vor sich. Bakura hatte, wenn auch nur für einen kurzen Moment, fast unbeschwert gewirkt. Sein Lächeln. Ryou seufzte und presste das Tablett gegen seine Brust. Dann ließ er den Blick über die Menge gleiten. Er erinnerte sich noch daran, wie Bakura ihm an seinem ersten Abend angedroht hatte, ein Auge auf ihn zu haben - seither hatte Ryou ihn hier nicht mehr gesehen. Leere Worte, er kannte das. Dafür stach ihm ein Mann Mitte zwanzig ins Auge, der in einem dunklen Anzug und violettem Hemd im Kreis anderer Männer stand und stets derjenige war, der am lautesten lachte. Das lange, schwarze Haar hatte er mit zu viel Gel zurückgekämmt. An den Handgelenken blitzte eine breite, aus Gold gefertigte Uhr. Auch sonst versuchte er kaum, seinen Wohlstand zu verstecken. Ryou kannte ihn bereits. Wann immer er den Laden betrat, blieb sein Herz stehen. Er war ein grober, ungehobelter Kerl, der wusste, wie man die Grenzen übertrat, ohne dabei erwischt zu werden. Oft schon hatte er Ryou berührt und es aussehen lassen, wie einen Zufall. Seine Freunde nannten ihn Ueno. Den Gehobenen. Ryou folgte Jonouchi hinter die Theke und begann, die Getränke auf sein Tablett zu laden. Dabei sah er hin und wieder zu Jonouchi, der Flaschen öffnete und Gläser füllte. „Bakura ist fast nie hier, was?“, ließ er beiläufig fallen und wischte sich die mit Bier befleckten Finger an der Schürze ab. Jonouchi lachte tonlos auf. „Sei froh“, rief er ihm durch den Lärm zu und blickte sich mit einem Ausdruck übertriebener Wachsamkeit um. „Wenn er sich hier blicken lässt, bedeutet das nichts als Ärger, glaub’ mir!“ Er trocknete seine Hände an dem Handtuch, dass über seine Schulter hing und klopfte Ryou flüchtig auf den Rücken. Dieser lächelte dünn und griff nach einem großen Glas mit dunkelbrauner Flüssigkeit, aus der er durstig einen Schluck nahm. „Dann ist es wohl besser, wenn man ihn nicht sieht“, murmelte er in sein Glas hinein und entlockte dem Barkeeper damit ein übertriebenes Nicken. „Absolut! Dieser Typ - wenn ich nur an ihn denke, geht mein Puls durch die Decke.“ Er schüttelte den Kopf und knallte das Glas, das er in der Hand gehalten hatte, auf den Tresen. Ryou, dessen Grinsen noch breiter wurde, sah hinüber zu der Uhr, die man neben der Theke befestigt hatte und runzelte verwundert die Stirn. Normalerweise ließen sich Yuugi und Marik jede Nacht zwischen zwölf und zwei Uhr auf einen kurzen Besuch blicken. Dann bekam Yuugi sein leuchtend grünes Getränk, während Marik Ryou hartnäckig über den neuesten Klatsch ausfragte. Inzwischen jedoch war es halb vier und niemand von ihnen war bisher hier gewesen. Es war nicht das erste Mal, dass sie fehlten. Mit einer verdächtigen Regelmäßigkeit blieben sie den mitternächtlichen Treffen fern. „Sag mal…“ Ryou und trat näher an seinen Vorgesetzten heran. Es überraschte ihn noch immer, mit welchem Geschick und welcher Schnelligkeit Jonouchi die Gäste bewirtete. Aus ihm sprach eine Routine, die Ryou noch abging. Wieder griff Ryou nach seinem Glas. Diesmal trank er es aus. „Yuugi und Marik waren heute noch gar nicht hier.“ Er hob den Kopf und erkannte sofort, dass er etwas falsches gesagt haben musste. Kaum, dass er den Mund geschlossen hatte, versteinerte Jonouchis eben noch freundlich wirkendes Gesicht. Das Küchentuch, dass er in der linken Hand gehalten hatte, warf er mit einer kurzen Bewegung über seine Schulter, dann wandte er sich ab. „Samstags kommen sie nie“, war alles, was er auf Ryous Kommentar antwortete. Dabei verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck und die Augen, die wachsam auf den Gästen geruht hatten, wirkten müde und leer. Ryou betrachtete ihn stumm, wie er die Gläser ins Wasser tauchte und heftiger schrubbte, als er es zuvor getan hatte und beschloss, das Thema nicht wieder anzusprechen.       Drei Stunden später warfen sie die letzten Gäste aus dem Laden und schlossen ab. Sie hatten länger gearbeitet, als es unter der Woche üblich war und nun, da es auf einmal ruhig wurde nahm man erstmals bewusst das Aroma kalten Rauchs und verschütteten Biers wahr. Jeden Morgen, wenn sich die Türen des Film Noir schlossen, war es an Ryou, den Laden auf Vordermann zu bringen. Er war es, der den Boden wischte, die Gläser einsammelte, sie spülte, aufräumte und darauf achtete, das alles verblieb, wie sie es am Abend des vorigen Tages vorgefunden hatten. In der Zwischenzeit kümmerte sich Jonouchi um die Abrechnung, überprüfte den Bestand im Lager, machte Bestellungen für den Großhandel fertig und lieferte die Listen nach Dienstschluss bei Malik im Büro ab. Seufzend stellte Ryou zwei lasiertem Ton gefertigte Becher auf ein Tablett und blickte hinüber zu Jonouchi, der, noch immer mit maskenhaftem Gesichtsausdruck, an einem Tisch in der Ecke saß, das Gesicht über einen Stapel Papier gebeugt. Neben ihm befand sich die Schatulle mit den Tageseinnahmen. Einige Male noch hatte Ryou versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, hatte letztlich jedoch angesichts seiner wortkarger Art kapituliert. Ryou musste, ohne es zu wollen, einen wunden Punkt in ihm getroffen haben. Das Tablett in der Hand, ging er zu Jonouchi. Dort reichte Ryou ihm wortlos einen der Becher, nahm den anderen an sich und setzte sich ungefragt dazu. Wenig erfreut warf Jonouchi einen Blick auf den dampfenden Inhalt seines Bechers. Wortlos hob er die Augenbrauen. „Findest du nicht, dass das hier der falsche Moment für ein Kaffeekränzchen ist?“, murmelte er und schielte hinab auf den Stapel Papier, den er bisher bearbeitet hatte. Ein Lächeln erschien auf Ryous Lippen. Wortlos beugte er sich vor, nahm die Blätter an sich und platzierte sie außerhalb Jonouchis Reichweite. „Das ist kein Kaffee, sondern Tee. Weißt du, ich kannte einmal einen vom FBI, der fest davon überzeugt war, dass man sich jeden Tag ein Geschenk machen sollte.“ Er nickte, um die Nervosität, die sich in ihm ausgebreitet hatte, zu überdecken. Dann hob er den Kopf. Als ihre Blicke sich trafen, zwinkerte Ryou ihm zu. „Ich glaube, du brauchst ein Geschenk, Jonouchi.“ Der Barkeeper, der bisher nur düster zurück gestarrt hatte, verzog die Lippen zu einem Lächeln. Der Ausdruck in seinen Augen wurde weicher. Er nickte, hob die Tasse und trank einen Schluck. „Als ob du einen vom FBI kennst“, murmelte er spöttisch, doch freundlich. Sie grinsten einander an. „Na klar!“ „Was ist aus dem Typen geworden?“ Ryou zuckte mit den Schultern. „Das weiß niemand. Er ist bei einem Fall verschwunden und nie wieder aufgetaucht.“ „Natürlich.“ Jonouchi schüttelte übertrieben den Kopf. Dann nippten sie schweigend an ihrem Tee, hingen eigenen Gedanken nach und wechselten kaum ein Wort. Irgendwann riss Jonouchis Stimme Ryou aus dem Meer flüsternder Gedanken, in das er abgetaucht war. Irritiert sah er auf. „Was hast du gesagt?“ Ryou hob überrascht die Augenbrauen, den wärmenden Becher schützend in den Händen verborgen. „Es tut mir leid.“ Der Blonde blickte unangenehm berührt auf die Tischplatte. „Mein Verhalten heute.“ Flüchtig schüttelte Ryou den Kopf. „Schon in Ordnung. Wirklich.“ Er trank den Becher aus und stellte ihn zurück auf den Tisch. „Hat dir Bakura erzählt, warum Yuugi und ich hier arbeiten?“ „Er hat bisher kaum irgendetwas erzählt“, antwortete Ryou schulterzuckend und verschwieg den Kommentar, den Bakura am Abend seiner Ankunft über Jonouchis angeblichen Drogenkonsum verloren hatte. Dieser lachte auf. „Das sieht ihm ähnlich.“ Er stellte den Becher zur Seite und lehnte sich zurück. Dort verschränkte er die Arme vor der Brust und senkte den Blick. „Du wirst voraussichtlich noch länger hier sein, also kannst du es ruhig wissen“, begann er und fuhr sich mit der Hand durch das blondierte Haar. „Es gibt Leute, die haben Glück im Leben. Und dann gibt es Yuugi und mich. Vielleicht auch dich, denn ansonsten wärst du nicht hier.“ Er nickte schwach und begann zu Lächeln. „Weißt du, meine Eltern haben sich getrennt, als ich keine zehn Jahre alt war. Eines Tages stand meine Mutter in der Wohnung, einen Koffer in der einen Hand, meine Schwester an der anderen. Sie wirkte wie immer. Bis zu diesem Tag war sie die beste Mutter, die ich mir hätte wünschen können, ernsthaft. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und versprach, sie würde mich nachholen, wenn sie eine Wohnung gefunden hätte, die groß genug für uns war. Aber sie kam nicht wieder.“ Sein Lächeln verblasste. „Nie mehr. Ich muss sie zu sehr an Papa erinnert haben und mit dem hat sie es nicht leicht gehabt. Vielleicht hätte ich es an ihrer Stelle genau so gemacht.“ Der Blonde zuckte mit den Schultern und wirkte verloren. Unschlüssig wanderte sein Blick durch den Raum, die Augen leer, auf einen Punkt gerichtet, den es nicht gab. „Er hat nie verkraftet, dass sie gegangen ist. Er hat getrunken. Erst wenig. Jeden Abend ein Bier, oder zwei. Irgendwann Schnaps, täglich, flaschenweise. Wenn ich das Altglas rausgebracht habe, haben mich unsere Nachbarn angestarrt, mit diesem Blick, der sagt: ‚Hey, ist das nicht der kleine Jonouchi mit dem saufenden Vater? Der arme Junge.‘ - Nicht, dass irgendwer mal irgendwann irgendetwas dagegen gemacht hätte, oder so. Geheucheltes Mitleid war das, nicht mehr.“ Er schnaubte, beugte sich vor und umschloss den Becher mit den Händen, so. „In der Oberschule bin ich an die falschen Leute geraten. Wir haben ziemlich viel Mist gebaut, die Jungs und ich. Wir haben geklaut, uns Schlägereien mit den anderen Banden geliefert, das volle Programm. Die meisten von ihnen sind inzwischen im Bau. Hab’ viel gekokst in der Zeit. Ich weiß nicht mehr, wie das anfing, aber irgendwann hatte es jeder in der Tasche.“ Jonouchi blickte auf, ihre Blicke trafen sich. Ryou schluckte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, oder ob es nicht besser war, den Mund zu halten. Verunsichert lächelte er. Jonouchi tat es ihm gleich. Es waren Dinge von Gewicht, die Jonouchi ihm hier erzählte. Intime, private Dinge. „Nun“, fuhr der Barkeeper fort und schnalzte mit der Zunge. „Hast du eine Ahnung, wie viel das Zeug kostet? Ich sag’s dir: Zu viel. Ich stand verdammt schnell ziemlich tief in der Kreide und wusste nicht, was ich machen sollte. Also habe ich angefangen, für Malik mit dem Zeug zu dealen. In dieser Zeit habe ich Yuugi kennen gelernt. Er war so grün hinter den Ohren. Kleinbürgerlich, aber irgendwie heile Welt, falls du weißt, was ich meine.“ Ryou nickte schwach. Er wusste es, hatte selbst lange Jahre so gelebt. „Wir haben viel zusammen unternommen und irgendwann hab ich ihn dazu überredet, mitzumachen. Auch was zu nehmen. Er wollte am Anfang nicht, aber später - ich glaube, er war einfach neugierig. Erst ein Mal, dann wieder. Ehe wir es gemerkt haben, war er total drauf hängen geblieben.“ Ein Seufzen verließ die Kehle des Blonden, der mit den Fingerspitzen angespannt auf der Tischplatte trommelte. Er lächelte, doch in seinen dunkelbraunen Augen lag stille Traurigkeit. Ryou, der still neben ihm saß, warf ihm hin und wieder einen Blick zu, starrte jedoch die meiste Zeit unangenehm berührt ins Leere. „Plötzlich war Yuugi in der gleichen Situation wie ich. Total überschuldet. Er hat angefangen, seinen Großvater zu beklauen, bis dieser ihn rausgeschmissen hat. Als er hier aufgetaucht ist, hat es in Strömen geregnet. Er war total durchnässt, war den ganzen Weg zu Fuß gelaufen, hatte nur seine kleine Tasche dabei. Ich habe ihn weggeschickt, aber er blieb stehen. Das hier ist kein Ort für ihn, weißt du? Er kann sich einfach nicht durchbeißen. Als Malik ihn gesehen hat, da war mir sofort alles klar. Entweder, er würde hier arbeiten, oder Bakura würde sich um ihn kümmern. Ich sagte, wenn er das tut, bringe ich ihn höchstpersönlich um. Ich hatte Yuugi dazu angestiftet. Wegen mir ist es erst so weit gekommen.“ Er seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. „Die Kunden haben sofort an ihm geklebt, so klein und zierlich, wie er ist. Er ist mehrmals getürmt, aber sie konnten ihn immer wieder einsammeln. Nach dem dritten Mal haben sie ihn fixiert.“ Überrascht hob Ryou die Augenbrauen. „Fixiert?“ Jonouchi nickte, den Blick gesenkt. „Dieses grüne Zeug, das er sich jeden Abend abholt. Sie nennen es Green. Entwicklung von Malik. Das gibt’s sonst nirgendwo. Sie machen dich davon abhängig und bezahlen dich damit, wenn du dich so benimmst, wie sie es gerne hätten.“ Ein Kloß bildete sich in Ryous Hals, der ihm die Luft zum Atmen abschnürte. Verkrampft biss er sich auf die Unterlippe, ließ den Kopf sinken und starrte auf seine Knie. Würde man mit ihm auch auf diese Art verfahren, wenn er sich nicht so verhielt, wie man es von ihm verlangte? Mit seinen hellen Haaren und der weißen Haut war er exotisch und begehrt. Er war, das musste er einsehen, von hohem Wert für Malik. Malik, der Mann, der ihn als sein Eigentum betrachtete. Ryou schluckte, atmete durch und sah auf. Jonouchi blickte ihn an, mit einer Mischung aus Verständnis und Mitleid. Sein Gesichtsausdruck machte alles nur noch schlimmer. „Wann war das?“, fragte Ryou tonlos. „Vor zwei Jahren. Seitdem ist er hier.“ Ryou nickte. Vor seinen Augen drehte sich alles, ihm wurde schwindelig. Kalter Schweiß trat auf seine Hände, die er sich fahrig an den Jeans abwischte. Er bekam Panik. Er wollte hier raus. Sofort. Für einen Moment schloss er die Augen, wartete, bis sein Puls sich beruhigt hatte. Es dauerte, bis er seine Stimme wieder gefunden hatte. „Kokst du noch?“ Der Barkeeper schnaubte und schüttelte heftig den Kopf. „Gott bewahre. Seit Yuugi hier ist, hab ich das Zeug nicht mehr angerührt. Ich bin nur wegen ihm hier.“ Er stöhnte auf und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „Ansonsten wäre ich schon längst weg. Das hier ist nicht gut auf Dauer. Der Laden frisst dich auf.“ Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen und verschwand so schnell, wie es gekommen war. Ryou betrachtete ihn lange, ohne etwas zu sagen. Das war also, was hinter seiner freundlichen und gut gelaunten Fassade steckte. Wie jeder hier, so hatte auch er seine Abgründe. „Du passt auf ihn auf, hm?“, murmelte Ryou gedankenverloren und griff nach Jonouchis Becher, um diesen zusammen mit seinem zurück auf das Tablett zu stellen. „Das bin ich ihm schuldig.“ Mit leerem Blick starrte er Ryou an. „Ich habe sein Leben kaputt gemacht.“ Der Barkeeper zuckte mit den Schultern und versuchte, seine Niedergeschlagenheit mit einem Grinsen zu überspielen. „Aber jeder hat sein Päckchen zu tragen, nicht?“ Von einem Impuls gepackt, beugte Ryou sich über den Tisch und legte seine Hand auf die des Anderen, der überrascht aufblickte. „Du müsstest nicht hier sein.“ Ein ehrliches Lächeln legte sich auf Ryous Lippen. Es machte ihn glücklich, zu wissen, dass es ein Band der Freundschaft gab, welches die beiden auch in solch düsteren Zeiten miteinander verband. „Aber du bist hier und stellst dich deiner Verantwortung. Es gibt nicht viele Menschen, die das tun. Aber du bist hier.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Auch, wenn alles nicht läuft, wie ihr euch das vorgestellt habt, er weiß das zu schätzen, was du tust. Da bin ich mir sicher.“ Jonouchis Miene erhellte sich. Er schmunzelte. Ryou zog die Hand zurück. Überrascht über Jonouchis Offenheit, schlug sein Herz wie wild in seiner Brust. In seinem alten Leben hatte man kaum mit ihm gesprochen, geschweige denn, ihm etwas anvertraut. „Hast du den Müll schon rausgebracht?“, fragte Jonouchi plötzlich, der sich nun streckte und seine Unterlagen von einem der benachbarten Tische fischte. Ryou schüttelte den Kopf. Dann stand er auf, brachte das Tablett hinter die Theke und widmete sich seiner Arbeit. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen, als er die Müllbeutel unter der Theke hervor zog und sich auf den Weg nach draußen machte.       Die Luft war kalt und trocken. Vorsichtig, in jeder Hand einen Müllbeutel, bahnte Ryou sich seinen Weg über den festgetretenen, gefrorenen Schnee. Er müsste hier Salz streuen, dachte er, sonst würde er sich noch den Hals brechen. Stumm ließ er den Blick durch den Innenhof gleiten, einen weitläufigen, schlecht augeleuchteten Ort, den er nur ungern aufsuchte. Zwanzig Meter von ihm entfernt, an der gegenüberliegenden Wand, standen verbeulte Mülltonnen. War Malik im Film Noir, so parkte er hier, sein ausländisches Auto versperrte die Ausfahrt. Ryou hasste diesen Ort. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Hof und versuchte, das Hallen seiner Schritte zu ignorieren. Plötzlich erstarrte er in seiner Bewegung. Hinter ihm klirrte etwas. Sein Herz setzte aus. Langsam wandte er sich um und warf einen Blick in das allumfassende Schwarz, aus dem nur die Umrisse der offen stehenden Tür hervor stachen. Ryou runzelte die Stirn und umklammerte die Beutel, die er in den Händen hielt, fester. Es gab keinen Grund, Angst zu haben. Für solche Geräusche gab es immer eine simple und harmlose Erklärung. Er riss sich zusammen und bahnte sich seinen Weg zu den Mülltonnen. Darauf bedacht, keine lauten Geräusche zu machen, stellte er die Tüten neben sich in den Schnee und steckte die Arme aus um die großen Container zu öffnen. Er kam nicht weit. Man packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn gegen die anliegende Wand. Finger krallten sich in sein Haar, zerrten seinen Kopf zurück und schlugen ihn im Anschluss mehrere Male gegen den dunkelroten Backstein. Ein Keuchen entwich Ryous Kehle, als der Schmerz in seiner Stirn explodierte. Die Schemen, die er in der Dunkelheit hatte ausmachen können, verschwanden in der Dunkelheit. Winzige, bunte Sterne tanzten vor seinen Augen. Seine Knie gaben nach. Man packte ihn unter den Achseln, zog ihn zurück auf die Beine, um ihn anschließend so hart gegen die Wand zu pressen, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Die rauche Oberfläche zerkratzte Wangen und Stirn. Ein fremder Atem pulsierte in seinem Nacken. „Halt’s Maul, klar?! Einen Mucks und ich mach dich kalt.“ Ein Schauer rann über Ryous Rücken, der nun begriff, was geschah. Diese Stimme erkannte er unter tausenden. Ueno. Der Kerl, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte. Erhitzt presste er sich gegen Ryous Körper, lachte heiser und biss Ryou, der die Augen fest geschlossen hatte, lustvoll in den Nacken. Das konnte alles nicht wahr sein. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Angst und der pulsierende Schmerz in seinem Kopf raubten ihm jeden klaren Gedanken. Er wusste, dass das, was folgte, sehr hässlich werden würde. Ueno begann, sich an Ryous Gürtel zu schaffen zu machen schob ein Paar eiskalter Hände in dessen Hose. Ein verzweifeltes Wimmern verließ Ryous Kehle, der sich auf die Unterlippe beißen musste, um nicht loszuschreien. Die Berührungen des anderen brannten auf seiner Haut. Stück für Stück glitt die Hose von seinem zitternden Körper. Hinter ihm ertönten Schritte. Lautstark hallten sie von den Wänden wieder. Man ließ ihn los. Ryou, benommen von dem Schlag gegen seinen Kopf, glitt lautlos die Wand hinab, wo er zwischen Schnee und Müll sitzen blieb. Ungeschickt zog er sich die Hose hoch und brauchte lange, bis er den Gürtel wieder an Ort und Stelle hatte. Er hob den Kopf, blickte sich um und hielt inne. Bakura hatte Ueno am Kragen gepackt und presste ihn nun mit seinem Oberkörper gegen die Mülltonnen. Sein Gesicht, das blass in der Dunkelheit leuchtete, war vor Zorn verzerrt. Mit seiner dunklen, kalten Stimme redete er ununterbrochen auf den anderen ein, doch Ryou, dessen Kopf zu sehr schmerzte, verstand kaum etwas von dem, was gesagt wurde. Einem Rauschen gleich lullten ihn die Worte ein. Er warf einen Blick hinüber zu der offenen Tür, durch die er den Hof betreten hatte. In der Nähe der angrenzenden Wand, auf dem Boden, lag eine brennende Zigarette. Im Hintergrund polterte es. Ryou wandte sich um, die Augen aufgerissen auf die sich ihm bietende Szenerie gerichtet. Ueno, groß gewachsen und wehrhaft, hatte zum Gegenangriff angesetzt. In der unterlegenen Position, hatte er Bakura am Kragen seines Hemdes gepackt und näher zu sich heran gezogen. Hasserfüllt starrten sie sich an. „Was ist los mit dir?!“, fauchte Ueno und machte provokativ eine Bewegung nach vorn, die durch Bakuras Griff ausgebremst wurde. Es schien, als genoss Ueno die Konfrontation. Ein hohles Grinsen hing schief auf seinen Lippen. „Na sag schon! Ist das alles?“ Ueno legte den Kopf in den Nacken und lachte los. „Hat dich dein Vater als Kind nicht hart genug rangenommen, oder was? Kaum zu fassen, dass sie Versager wie dich hier arbeiten lassen.“ Ryou, dessen Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, runzelte die Stirn. Uenos Worte schienen einen Schalter in Bakura umzulegen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Bakura riss die Augen auf, die Pupillen kaum größer als Stecknadelköpfe. Der Griff um den Kragen des Eindringlings verfestigte sich. Als er den Mund öffnete, war seine Stimme kaum mehr als ein Wispern. „Ich bring dich um.“ Er löste eine Hand, ballte sie zur Faust und schlug dem anderen mit einer ungeahnten Heftigkeit ins Gesicht. Uenos Kopf flog ein Stück nach hinten, seine Hände lösten sich von Bakuras Kragen. Als er sich gefangen hatte, traf ihn die Faust erneut. Schon bald flossen erste Rinnsale dunkelroten Blutes über sein Antlitz, das von Schlägen hin und her geschüttelt wurde. Als er jede Gegenwehr eingestellt hatte, ließ Bakura ihn los. Uenos Beine, die keinen Halt auf dem glatten Boden fanden, gaben nach und sein massiger Körper klatschte hallend auf den Grund. Sekunden später war Bakura über ihm, verpasste ihm einen Tritt gegen den Kopf, beugte sich herab und packte Ueno am Kragen, so hart, dass sich sein Körper wieder vom Boden löste. Mit offenem Mund betrachtete Ryou die Szene. Er kämpfte sich zurück auf die Beine, die Arme um den Oberkörper geschlungen und blickte ratlos zwischen den beiden hin und her. „Bakura!“ Keine Reaktion. Er hatte vollkommen die Beherrschung verloren. Seine Augen waren erfüllt von einem Blutdurst, den Ryou von ihm nicht kannte. Bakura scherzte nicht. Wenn er so weiter machte, würde er ihn tatsächlich umbringen. „Hör auf!“ Erschrocken hob Ryou den Kopf und blickte hinüber zu der Tür, durch die er das Gelände Minuten zuvor betreten hatte. Jonouchi, der den Lärm gehört haben musste, trat mit schnellen Schritten an sie heran. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, die Schürze abgelegt. Sein blasses Gesicht zierte eine Mischung von Empörung und Entsetzen. „Verdammt, willst du ihn umbringen?!“ Er hatte Bakura erreicht und ihn, der gerade zum nächsten Schlag ausholte, so hart am Arm gepackt, dass dieser innehielt. „Ja!“ Bakura ließ Ueno los und richtete sich auf. Seine Brust hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen, seine Wangen, sonst weiß wie Schnee, waren in kräftiges Rot getaucht. Er war völlig außer sich. Bevor Jonouchi reagieren konnte, hatte Bakura ihn gepackt und zu sich heran gezogen. Jonouchis Gesichtszüge, die selbst in größer Wut meist ihre Form behielten, entgleisten angesichts Bakuras Reaktion vollends. „Du solltest auf ihn aufpassen!“ Bakura schüttelte ihn so heftig, das Jonouchis Widerstand binnen Sekundenbruchteilen erstarb. „Mach deinen Job gefälligst anständig. Und schaff mir dieses Arschloch hier raus. Wenn er sich hier noch einmal blicken lässt, mach ich ihn fertig.“ Wütend knallte er den Barkeeper gegen die Wand und war mit wenigen, raschen Schritten verschwunden. Ueno, übel zugerichtet, lag röchelnd in einer Lache eigenen Blutes. Verstört verschränkte Ryou die Arme vor der Brust und blickte zu Boden. Er war erschrocken über Bakuras Brutalität, die er, wenn er sie auch am eigenen Leib erfahren hatte, nicht so roh und brutal in Erinnerung gehabt hatte. Bisher hatte Bakura bei allem, was er tat, egal, wie grausam er vorgegangen sein mochte, berechnend und kalkulierend agiert. So unbeherrscht vorzugehen, das sah ihm nicht ähnlich. Ryou fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und hob den Kopf. Sein Gesicht schmerzte. Er würde kein schöner Anblick sein, wenn sich die Prellungen dunkel färbten und die Wunden verkrustet waren. Wenn man ihm die heutige Nacht ansah, würde das Probleme nach sich ziehen. Fehlerhafte Ware brachte kein Geld. Jonouchi, der Bakura zornig hinterher gestarrt hatte, betastete mit den Fingerspitzen seinen Hals an jenen Stellen, an denen er ihn zuvor gepackt hatte. „Dieser Idiot“, flüsterte er so laut, dass Ryou ihn hören konnte. Ryou, der sich der Attacke gegen ihn schuldig fühlte, trat wortlos näher an den Barkeeper heran. „Ist alles in Ordnung?“ Jonouchi nickte wortlos und betrachtete den zusammengeschlagenen Ueno, der fast besinnungslos auf geronnenem Blut herum kaute. „Ein Glück gehört er zu keinem Syndikat.“ Leise seufzend schüttelte er sich die Haare aus dem Gesicht. „Sonst hätten wir jetzt echt Ärger am Hals, glaub mir. Bakura kann nur hoffen, dass der ihn nicht anzeigt. Malik flippt aus, wenn er davon erfährt.“ Ryou stöhnte, fuhr sich mit den Fingern über die aufgerissenen Stellen an seiner Stirn und zuckte zusammen, als der Schmerz wie ein Nadelstich durchs einen Kopf schoss. Er zweifelte daran, dass Ueno sich nach dieser Lektion noch trauen würde, Bakura bei der Polizei zu melden. „Was machen wir jetzt mit ihm?“ Ryou warf Jonouchi einen ratlosen Blick zu, ehe sie gemeinsam Ueno anstarrten. Der Barkeeper zuckte mit den Schultern. „Wir packen ihn in meinen Wagen und werfen ihn vor der Notaufnahme raus.“ Er trat an Ryou heran und klopfte ihm flüchtig auf die Schulter. Dann wandte er sich um und steuerte auf die Tür zu, die zurück ins Film Noir führte. Stumm verschränkte Ryou die Arme vor der Brust. „Das kommt davon, wenn man sich mit schwächeren anlegt“, flüsterte er bitter und spuckte, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand hinsah, vor Ueno auf den Boden. Dann folgte er Jonouchi in das Innere des Gebäudes, wobei er versuchte, nicht in die roten Pfützen zu treten, die sich um sie herum auf dem Boden ausgebreitet hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)