Myrinha von Wolkenwolf (Auftakt der Dämmerung) ================================================================================ Prolog: Die Legende der Beschützer ---------------------------------- Viele Geschichten und Legenden berichten von Helden – Frauen und Männern im Dienste der Gerechtigkeit. Ein Jeder hat schon einmal von ihnen gehört, doch wenige kennen das Geheimnis, das sie alle miteinander verbindet. Seit Anbeginn der Zeit, als es in den Welten weder Götter, noch Teufel, Engel oder Dämonen gab, betete man allerorts zu einer uralten Macht. In jener Sprache, die Euch am geläufigsten zu sein scheint, gab es ein Wort für diese Macht: Fantasie. Mit dieser wunderbaren Kraft gelang es den Lebewesen der Welten über sich selbst hinauszuwachsen, Dinge außerhalb der Möglichkeiten ihrer Körper zu bewältigen und unglaubliche Wunder entstehen zu lassen. Selbstverständlich gab es auch diejenigen, die nach Verderbnis und Zerstörung trachteten. In ihrer Wut, ihrem grenzenlosen Hass erschufen sie schwarze Fantasie, die den Frieden der anderen Welten buchstäblich in den Schatten stellte. In diesen Zeiten keimte Zweifel in den Herzen der Menschen auf und sie begannen, die Macht der Fantasie zu hinterfragen. Schließlich konnten sie diese ja weder sehen, noch anfassen oder irgendwie theoretisch erklären. So geschah es, dass das Volk der Menschen eine neue Kraft ersann, die heute allerorts unter dem Namen Realität bekannt ist. Die Fantasie selbst jedoch drohte dabei in völlige Vergessenheit zu geraten. Um das angeblich größte Geschenk aller zu schützen, beriefen die Ältesten jeder Welt eine Versammlung ein. Aus ihren Reihen wurden diejenigen erwählt, welche den meisten Teil an Fantasie in sich trugen und der alten Macht stets treu geblieben waren. Diese Frauen und Männer galten fortan als die Beschützer und ihre Aufgabe war es, den Menschen und allen anderen zweifelnden Völkern das Fantasieren wieder näher zu bringen. Ausgestattet mit unglaublichen Fähigkeiten und Eigenschaften, die sie wie heroische Ritter wirken ließen, trotzten sie jeder Gefahr und stellten ein Gleichgewicht zwischen der schwarzen Fantasie und ihrer eigenen sicher. Diese Ära ging schließlich als das glorreiche Zeitalter in die Geschichte ein. Götter und Teufel, Engel und Dämonen wurden geboren. Magie, Hexerei und Alchemie hielt in den Welten Einzug und manche Völker, heißt es, gingen gar so weit, dass sie das Ansehen aller Wesen an der Stärke ihrer Fantasie maßen. Über Jahrhunderte gelang es den Beschützern, die alte Kraft in den Herzen der Lebenden aufrecht zu erhalten. Ihre eigene Macht wuchs dabei ins schier Unermessliche. Das glorreiche Zeitalter fand ein jähes Ende, als im Orden der Beschützer Neid und Zwietracht zu keimen begann. Eifersucht und Neid spalteten ihr einst gemeinsames Lager und das Zeitalter der Flammen begann, seine eigene Geschichte zu schreiben. Plötzlich bekämpften sich die edlen Beschützer untereinander, furchtbare Schlachten entbrannten und schwarze Fantasie drohte das Schicksal aller Welten mit ewiger Dunkelheit zu bedecken. Am Ende waren Dutzende Königreiche zerstört, Wälder gerodet, ganze Meere verseucht und das Land zerklüftet worden. Der einst so stolze Orden der Beschützer hatte sich selbst zu Grunde gerichtet und war nur noch ein Schatten seiner vergangenen Herrlichkeit. Doch es gab noch Hoffnung... Einer der letzten Beschützer hatte seinen Glauben an die Macht der Fantasie nicht vergessen. In seiner unendlichen Treue verschwor er sich ihrer Gnade bis über den Tod hinaus – und sie sollte ihm zuteil werden. Er zog sich von den Welten zurück und starb, als sein Körper alt und sein Herz müde geworden war, in völliger Abgeschiedenheit, allein mit sich selbst. Ein ganzes Jahrhundert später – die Legenden um den ritterlichen Orden und das Glorreiche Zeitalter gerieten allmählich in Vergessenheit – erblickte der letzte Beschützer der Fantasie erneut das Licht der Welt. Ein Menschenleben und ein weiteres Jahrhundert später wiederholte sich dieser Prozess und so kehrte die Fantasie in die Herzen der Lebenden zurück. Doch sollte nichts wie früher sein... Die Nachkommen der Ältesten aus dem Glorreichen Zeitalter – inzwischen als das Gericht der Atlanten bekannt – trennte die Verbindung zwischen den Welten mittels magischer Tore. Nur auf diese Weise, so glaubten sie, könne der letzte Beschützer seine Aufgabe angemessen erfüllen und das Gleichgewicht aller Welten zurückbringen. Infolgedessen geschah es, dass das Reich der Menschen unmagisch wurde und viele die Fantasie vollends vergaßen. Doch solange alle hundert Jahre erneut das Herz eines Beschützers zu schlagen beginnt, wird die alte Kraft niemals vollständig versiegen können.   In einer der Welten, in der Magie noch existiert, die alten Legenden um Beschützer und Fantasie jedoch zu verblassen beginnen, wird sich ihr Schicksal ein weiteres Mal entscheiden… Blut und Namen -------------- Der blauschwarze Mantel der Nacht lag über Tadsel und liess die ruhige See nahezu unbarmherzig finster erscheinen. Im Süden strahlte der weit entfernte Leuchtturm Sen Gils durch die Dunkelheit, war an jenem Ort jedoch nicht mehr als ein Glühwürmchen. Tadsels zweiter Lichtmeister Brengard Sonnenkeim stieg die Wendeltreppe zur Spitze seines Leuchtturms hinauf. In Nächten wie diesen legten nur selten Schiffe im Hafenbecken an, doch schliesslich wurde er für seine Arbeit bezahlt und wollte für den Fall der Fälle gewappnet sein. Die Fackel in seiner Hand ließ unheimliche Schatten über die Wände und seinen Strohhut tanzen. Die Augen darunter wirkten winzig und griesgrämig und Brengards gewaltiger Schnurrbart hätte jedem Nebelwalross Konkurrenz gemacht. Im Drachenhals, wo der Lichtmeister Stammgast war, hatte man ihm den Namen Donnergroll gegeben. Ein Name, da waren sich die Leute einig, der seine Natur vortrefflich widerspiegelte. Brengard „Das wandelnde Donnergrollen“ Sonnenkeim. Die Sandalen des Lichtmeisters verursachten ein klackendes Geräusch auf der steinernen Treppe. Schon tagsüber war Tadsels Leuchtturm finster und unheimlich. Durch die Fenster drang nur wenig Sonnenlicht, doch bei Nacht wirkte das Innere des Turmes wie eine eigene Welt, in der nichts als Dunkelheit existierte. Brengard keuchte schnaufend, blieb einen Augenblick stehen und beugte sich über seinen Wanst, um die Hände auf den Knien abstützen zu können. Er verabscheute Nachtschichten. „Ein kühles Buckelbier...“, grummelte er verträumt und war in Gedanken schon wieder an seinem – jawohl, seinem Tisch im Drachenhals, den Blick auf den Grund eines gut gefüllten Humpens gerichtet. Er seufzte gereizt und versuchte die Sache aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Dort oben war er für sich. Niemand gab ihm irgendwelche unsinnigen Namen, beschwerte sich über seine Manieren oder konnte ihm vorschreiben, dass er weniger trinken sollte. Die Kuppel des Leuchtturms war ein Zufluchtsort, wo ihn zu dieser späten Stunde niemand stören würde. Keuchend machte er sich an die letzten Stufen und erreichte schließlich die alte Holztür, das Portal in eine sternenbekränzte Freiheit. Dahinter lag die Kuppel des Leuchtturms: ein kreisrunder Raum ohne Wände, dessen Dach von fünf Säulen gehalten wurde. In der Mitte der Kuppel befand sich ein Podest, auf dem eine gewaltige Feuerstelle errichtet worden war – das schlummernde Leuchtfeuer. Ächzend trat Sonnenkeim an die steinerne Vorrichtung des Leuchtfeuers heran. Er hob die Fackel und war gerade dabei, seinen Dienst zu beginnen, als ein ungewöhnliches Schauspiel plötzlich seine Aufmerksamkeit einforderte. Auf den pechschwarzen Fluten des Nebelmeers, ganz nahe bei den Kais flackerte etwas. Mit einem Mal erhellten zahlreiche Sturmlichter die Finsternis. Brengard Sonnenkeim runzelte die faltige Stirn, stieg auf den Rundgang hinaus und beugte sich über die eiserne Ballustrade. Was zum Teufel ging da unten vor? Dies war gewiss nicht die Zeit der männlichen Flimmerfeen für einen Balztanz und so weit er wusste, gab es in der Stadt weder Irrlichter, noch Elementare. Dann bemerkte er sie. Ein gutes Dutzend an Männern in schneeweißen Waffenröcken bahnte sich seinen Weg über die Piers. Das Licht ihrer Laternen ließ die Gesichter der Fremden gespenstische Formen annehmen. Er konnte sich irren, doch der Lichtmeister glaubte, bei einem von ihnen die Hörner eines Steinbocks erkannt zu haben. Ein anderer trug sein Haupthaar und Bart wie eine Löwenmähne, ein Dritter hatte eine Nase wie ein Raubvogel. Sie schienen ihn noch nicht bemerkt zu haben. Immer mehr Laternen erhellten die Dunkelheit der Nacht, bis der ganze Hafen von orangeroten Lichtkreisen nur so wimmelte. Wie schemenhafte Geister tanzten sie umher und reckten sich dann wie auf ein unsichtbares Kommando alle gemeinsam in die Höhe. Sonnenkeim hob den Blick. Ein gewaltiger Zweimaster steuerte in diesem Augenblick durch die Finsternis auf das Hafenbecken zu. Seine Segel waren ebenso weiss wie die Kleidung der Männer bei den Docks und trotzdem das Leuchtfeuer des Turms noch nicht entzündet war, schien es eine erstaunliche Zielstrebigkeit an den Tag zu legen. Plötzlich erinnerte sich der Lichtmeister an etwas und er zog sein Fernrohr hervor. Ein Schauer erfasste ihn. Das Schiff hatte das Symbol einer goldfarbenen Sonne gehisst! „Bei Augustus... Ein Überfall! Wir werden ange...!“ Weiter kam Brengard Sonnenkeim nicht. Ein Pfeil steckte in seinem Hals, als er gurgelnd zu Boden ging. Blut tröpfelte über den Rand des Balkons und breitete sich weitläufig über dem Boden aus.  Gleichzeitig wurde die Tür zur Kuppel des Leuchtturms aufgerissen und die Männer mit den Sturmlichtern stürmten herein. Auf ihren Waffenröcken prangte ein goldenes Sonnensymbol. Zwei von ihnen hoben den Leichnam des Lichtmeisters auf und warfen ihn über die Ballustrade des Leuchtturms in die pechschwarze See. Ein Dritter nahm die auf den Boden gefallene Fackel an sich. „Aus dem Weg!“, blaffte er seine Kameraden an und näherte sich der Feuerstelle.       Inzwischen hatte der Zweimaster die Anlegestellen erreicht. In Windeseile waren die Leinen festgemacht und der Landungssteg ausgefahren. Weitere Männer, mit Laternen und Kurzschwertern bewaffnet, verliessen das Schiff und verteilten sich über dem Pier. Eine hochgewachsene Gestalt stand am Steuerrad und blickte zur Kuppel des Leuchtturms auf. Dort wurde soeben das Leuchtfeuer entzündet. Eine Kreatur mit Geierschnabel und Katzenbuckel trat an die Seite des Steuermanns: „Dort ist das Signal, Kommandant To’Nihlin! Es verläuft alles wie gewünscht!“ „Ich sehe es! Die Männer sollen ausschwärmen. Wir verfahren wie gewohnt. Nehmt die Botschaft, den Sitz der Stadtwache und ihre wichtigsten Posten ein und verschafft euch Zugang zu den Rats- und Gemeindehäusern. Findet ausserdem heraus, welche Gilden diese Stadt beherbergt und nehmt das Stadtoberhaupt in Gewahrsam. Tötet nur diejenigen, die Widerstand leisten“ „Jawohl, mein Kommandant!“, die Kreatur salutierte und entfernte sich hinkend vom Schiff. Kommandant Serias To’Nihlin trat an die Reling und beobachtete das Gewimmel aus sicherer Entfernung. Die letzten Beiboote – jedes mit einem halben Dutzend weiterer Soldaten besetzt – fanden sich im Hafenbecken ein. Die Lichter ihrer Laternen schienen über der finsteren Wasseroberfläche wie Flimmerfeen zu schweben. Es dauerte nicht lange und die ersten Schreie erfüllten die Nachtluft über Tadsel. Der letzte Mann an Deck des Zweimasters zog sein Schwert und liess den Blick wohlig über dessen blanke Klinge gleiten. Hörst du das, mein Liebling? Sie spielen unser Lied... Ein Schauer freudiger Erwartung erfasste ihn, als er sich daran machte, an Land zu gehen. So viele Jahre zogen ins Land, aber hier hat sich scheinbar kaum etwas getan. Ich bin sehr gespannt... Der Wind mischte Blut unter den salzigen Geschmack der Luft, auf den Strassen herrschte Panik. Die in Schneeweiß gekleideten Besucher verbreiteten sich wie eine Seuche in der sonst so friedlichen Hafenstadt und rissen alles an sich, dessen sie habhaft werden konnten. Der Hauptmann schritt unbeirrt durch die Dunkelheit voran. Anders als seinem Gefolge konnte Serias die Finsternis der Nacht nichts auszumachen. Die Targakin allerdings – ihr Name war so schroff und kantig wie ihre Heimat, die einst den Zwergen gehört hatte - brauchten ihre Sturmlichter wie die Menschen Luft zum Atmen. Stolzen Schrittes verliess er die Anlegestellen der Schiffe und trat auf einen kreisrunden, gepflasterten Platz hinaus. Die Rüstung unter seinem Waffenrock gab klappernde Geräusche von sich. Mit gezogenem Schwert blickte er sich um. Stark deformierte Körper schienen den Weg der Hauptstrasse bis zum Stadttor zu säumen. Einige von ihnen waren nicht mehr als Haufen von Blut und dampfenden Gedärmen. Serias sog die Luft durch die spitze Nase ein. Seine honigfarbenen Augen schlossen sich für einen kurzen Augenblick und  er nahm sich diesen einen Moment Zeit, um die Szenerie in vollen Zügen genießen zu können. Hinter ihm bewegte sich etwas. Ein Mann trat hinter einem Stapel Kisten nicht weit des Hafenbeckens hervor. Er war in die Kluft der Seefahrer gehüllt, trug ein nicht mehr ganz weisses Hemd mit einer blauen Weste darüber. In der Linken hielt er einen Säbel, in der Rechten ein Sturmlicht. Seine Hände schienen vor Wut zu zittern. „Ihr... Ihr Schweinehunde! Wie könnt ihr es wagen...!?“ Der Hüne atmete unbekümmert aus. Er schien ganz sich selbst und seinen Sinnen ergeben zu sein. „Du Abschaum! Ich rede mit dir! Zeig mir deine hässliche Fratze und verabschiede dich von...!“ Die hochgewachsene Gestalt – der Kommandant des erbarmungslosen Trupps von Soldaten trat in den Schein der Sturmlampe. Das orangerote Licht fiel auf ein Paar spitz zulaufender Ohren und blutrotes, überlanges Haar. „Das... das kann nicht sein...“ Der Seemann taumelte zurück. „Ein Elf?“ „Nicht mehr.“ antwortete die Gestalt vor ihm mit knurriger Stimme. Dann riss Serias sein Schwert nach vorn und durchbohrte den hilflosen Matrosen mit seiner Klinge. Der Mann liess Säbel und Sturmlicht fallen, als seine Füsse den Boden verliessen und er scheinbar mühelos in die Höhe gehoben wurde. Seine Augenlider flatterten. „Ein... Gef...fall...“ Er sah nicht, dass der Hauptmann vor ihm diabolisch zu grinsen begann. „Exakt!“ Mit einem Ruck schwang Serias sein Schwert und beförderte den Seemann ins Meer. Es begann zu regnen. Mit angewidertem Blick wischte der ehemalige Elf das Blut von seinem Zweihänder und wandte sich dann wieder dem Treiben im Herzen von Tadsel zu. Die Pfützen auf den Strassen und Gassen schimmerten bereits rötlich. Der Hauptmann schulterte sein Schwert und stapfte los. In der Stadt waren zahlreiche Kämpfe ausgebrochen. Der übriggebliebene Rest der Wächter versuchte sich gegen eine Überzahl von feindlichen Soldaten zu bewähren. Die Schmiede verteilten ihre Waffen auf beiden Seiten, Bauern schwangen Mistgabeln, sogar die Besucher der Schänken hatten ihre Stammplätze verlassen. Der Rest versuchte in einem heillosen Durcheinander seine Habseligkeiten zusammenzuraffen und unbeschadet das Stadttor zu erreichen. Ein schwarzgewandeter Mann stellte sich dem Kommandanten auf der Hauptstrasse in den Weg. Er trug eine schwarze Kapuze und verdeckte die untere Hälfte seines Gesichts mit einem dunklen Tuch. „Ein Assassine?“ „Es ist nichts Persönliches!“ versicherte der Fremde mit noch junger Stimme. „Aber Ihr verscheucht mir Kunden und Beute. Wenn Ihr so weitermacht, gibt es hier für mich bald nichts mehr zu tun.“ „Der Parderclan wird nicht zulassen, dass Ihr ihm sein Revier streitig macht!“, schaltete sich eine zweite Stimme ein. Auf den Schindeln eines abgeschrägten Daches nicht weit entfernt hockten zwei weitere Gestalten. Auch ihre Gesichter waren verhüllt, in ihren Händen blitzten tödliche Krummdolche. „Also doch nicht.“ Serias spuckte aus. „Einfache Räuber, Diebesgesindel! Nun ja... Frauen und Kinder für die Massen, Männer, Krieger und... der klägliche Rest für mich!“ „Askat Nebul, unser Herr, hat Euch als Bedrohung eingestuft.“ verkündete einer der Räuber auf dem Dach. Seine Stimme schien weiblicher Natur zu sein. „Wir werden Eurem treiben hier ein Ende setzen.“ „Ich bin gespannt...“ Der Räuber auf der Strasse machte einen Satz und sprang mit gezücktem Messer auf Serias zu. Der hob sein Schwert und liess die Waffe seines Gegners an der Schneide abgleiten. Ein wuchtiger Stoß  folgte und schleuderte den Jungen auf den Rücken. Ohne zu zögern trat Serias auf ihn zu und rammte sein Schwert durch die Brust des Räubers in den Boden. „Nein!“ Die Frau auf dem Dach hatte ihre lauernde Haltung verlassen. Aufgebracht stürmte sie auf den Mörder ihres Kameraden zu. Die Schindeln knackten unter ihren Füssen, als sie ebenfalls zum Sprung ansetzte, dazu bereit, ihre Dolche wie die Reißzähne eines wilden Tiers in ihrem Gegner zu versenken. Doch Serias ließ sich nicht beirren. Behende zog er die Klinge aus dem noch röchelnden Räuber am Boden und ließ sie durch die Luft sausen. Für die todesmutige Frau kam jede Hilfe zu spät. Sie krachte mitten in Serias’ Schwert hinein und spuckte Blut, als der Hüne ihr mit bahnbrechender Gewalt den Brustkorb zertrümmerte. Er presste sie gegen eine Häuserwand und zog die Klinge aus der bereits ohnmächtigen Frau. Sein Blick galt nun der letzten verbliebenen, schemenhaften Gestalt auf dem Dach. „Wisst Ihr... Ich liebe den Geruch von Blut.“ sagte er keuchend, doch mit einem boshaften Lächeln auf dem schmalen Gesicht. „Er versetzt mich in Ekstase. Es ist wie der Geschmack von gutem Wein auf der Zunge... Das Brechen der Knochen ist wie ein Trommelwirbel, der mich zu immer weiteren Höchstleistungen anspornt!“ Mit jedem Wort war Serias’ Stimme lauter geworden. Jetzt schrie er fast und schien das Geräusch des prasselnden Regens mit einem Donnerschlag zu ergänzen. „Also, wenn du ein Mann bist, dann kommst du zu mir herunter und stellst dich, damit ich diesen wahnsinnigen Tanz noch einmal für dich aufführen kann!“ Der Schatten antwortete nicht. Als würde er mit der Dunkelheit der Nacht verschmelzen, löste er sich auf und war verschwunden, bevor der Hauptmann sichtlich enttäuscht das Blut von seiner Klinge wischte. „Kommandant To’Nihlin!“ Einer von Serias’ Soldaten tauchte aus einer Seitengasse in die Hauptstrasse ein. Wie sein Kamerad auf dem Schiff ging auch er gebeugt, besaß jedoch eher die Züge eines Reptils. Das Gelb seiner schlitzförmigen Augen schien neben dem Licht seiner Laterne in der Nacht zu glimmen. „Melde gehorsam: Es ist uns gelungen, das Hauptquartier der Stadtwache einzunehmen, Herr!“ Der Soldat hielt kurz inne, als er die tiefroten Flecken auf dem Wappenrock seines Kommandanten entdeckte. „Ist... alles in Ordnung mit Euch, Kommandant?“ „Ich habe mich ein wenig vergnügt“ erwiderte Serias schlicht. „Was ist mit den Ratshäusern? Habt ihr das Stadtoberhaupt ausmachen können?“ „Wir haben einen Mann festgenommen, der sich als Bürgermeister bezeichnet – vermutlich ist er also der Herr dieser Stadt. Nach dem, was er uns erzählt hat, gibt es nicht weit von hier eine Festung, wo ein gewisser Dalzar residiert. Sagt Euch das etwas, Herr?“ „Ein Dalzar... Einer von Denjenigen, die führen, wenn ich die Übersetzung richtig im Gedächtnis habe“, knurrte der Hauptmann. „Die Festung ist vermutlich die alte Burg Wurmfels oben bei den Klippen. Wenn sie denn noch steht. „Mit Verlaub, Herr...“, der Soldat senkte den Kopf. Er wusste, dass sein Hauptmann schlechte Nachrichten verabscheute. „Wir haben alles durchsucht, aber... sein... sein Name steht nicht auf den Listen. In den Aufzeichnungen über die Gilden war er auch nicht zu finden. Ebenso wenig im Stadtbuch... Der Gläserne Druide... ist nicht hier, Herr!“ Serias knirschte mit den Zähnen. „Gut... Nein, nicht gut! Eine verdammte Zeitverschwendung!“, herrschte er den Lakaien an und war drauf und dran, sein Schwert zu ziehen. Der Bursche zog winselnd den Kopf ein. Doch anstatt ihm sein Haupt vom Hals abzutrennen, verstaute Serias sein Schwert in der Scheide auf seinem Rücken. Er wandte sich ab und blinzelte durch den anhaltenden Regenschauer zum Stadttor hinauf. „Gibt es Verluste in unseren Reihen?“ „Keine Nennenswerten. Die Stadtbewohner, die noch übrig sind, haben wir in einem Lagerhaus nahe der Anlegestellen eingepfercht“ „Nehmt ein paar Frauen und Kinder als Geiseln, das wird die anderen gefügig machen. Schärft ihnen ein, dass diese Stadt von nun an unter unserem Kommando steht. Wer auch nur an Flucht denkt, ist des Todes. Jeglicher Kontakt zur Außenwelt wird abgebrochen“ „Jawohl Herr! Wie... geht es jetzt weiter mit der Suche nach...“ „In den Ställen werden sicher irgendwo Nebelrösser bereit stehen. Wir warten auf die Ankunft eurer Lichtbrecher und machen uns dann auf den Weg zur Festung. Bei Sonnenaufgang greifen wir an. Sie werden gar nicht wissen, wie ihnen geschieht... Die Schiffe bleiben vorerst hier vor Anker, sie müssen rund um die Uhr bewacht sein. Bildet eine Stadtwache. Die Hälfte des verbliebenen Heers kommt mit mir!“ „Zu Befehl, Herr Hauptmann!“ Der schuppige Lakai salutierte und machte sich dann über die Hauptstrasse in nördliche Richtung davon. Serias begutachtete sein Werk – die beiden Leichen der aufmüpfigen Räuber und das Blut, das mit dem Regen bis ins Hafenbecken die Straßen hinunterfloss. Seine Arbeit hier war vorerst getan. Das nächste Ziel würde also Burg Wurmfels sein, keine Tagesreise von Tadsel entfernt. Dort würden sie ihr Lager aufschlagen und dann ging es weiter nach Norden bis hin zur Flüsternden Stadt, über die Ebenen von Anémon nach Dandelion bis nach Talamhas, wenn es sein musste.  Serias ballte die berüstete Faust. Du kannst dich nicht vor mir verstecken. Irgendwann wird mich diese blutige Spur zu dir führen und dann bist du mir Antworten schuldig. Anderenfalls... giert mein Schwert nach einem weiteren Tanz... Auftakt ------- Sonnenstrahlen fielen durch die Krone des Kobaltschattens und sprenkelten alles sich darunter Befindende mit blassblauem Licht. Windt beobachtete das wundersame Schauspiel nun schon seit einigen Minuten. Auf seinem Schoß ruhte die Laute aus hellem Holz, die ihn überallhin begleitete. Er hob eine Hand, um die Augen gegen das Licht abzuschirmen und starrte versonnen in Richtung Kessl hinunter. Selbst von den Hügeln des Vergessens aus konnte man beobachten, wie auf dem großen Marktplatz zahlreiche Stände und Buden aufgebaut wurden. Provisorische Dächer aus buntem Tuch – grün, rot und purpur – verliehen dem sonst allgegenwärtigen Grau ein wenig Frische. Die Hitze war schier unerträglich, aber unter den tintenblauen Blättern des Kobaltschattens ließ es sich durchaus eine Weile aushalten. Windt lehnte den schweißnassen Rücken gegen den harten Stamm des Baumes und machte es sich bequem. Für ihn gab es dort unten nichts zu tun. Allmählich wanderten seine Hände wie von selbst zu dem Instrument, seinem besten und einzigen Freund. Vielleicht ließen sich Solana und Juneliar ein wenig beschwichtigen, wenn er ihnen ein Regenlied darbrachte? Rasch überprüfte Windt den Klang jeder einzelnen Saite, zog hier und da eine nach und probierte einzelne Akkorde aus. Es dauerte nicht lange und er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Eine bittersüße Melodie erhob sich in den Himmel, bat Sonne und Sommergöttin um Nachsicht und fragte nach dem Regen. Windt lächelte zufrieden in sich hinein. Er hatte schon immer die Musik für sich sprechen lassen, die auszudrücken vermochte, was er mit Worten niemals vermitteln konnte. Eine ganze Gefühlswelt konnte man in all die unterschiedlichen Klänge legen und Dinge in Minuten erzählen, für die Schreiberlinge Monate, wenn nicht gar Jahre gebraucht hätten. Die Luft hatte sacht zu flimmern begonnen. Windt schloss die Augen. Er hatte nichts übrig für derartige Phänomene. Er ignorierte die feuerroten Blumen, die während seines Spiels aus dem Boden geschossen waren und den Wind, der plötzlich wie ein verspieltes Kind über die Wiesen und Hügel tobte. Die herzförmigen Blätter über ihm schienen plötzlich zu flüstern. Das Kiemengras rings umher tanzte und wogte, die Vögel verstummten, der Baum hinter dem Jungen weinte harzige Tränen. Mit einer Hand brachte Windt die Laute abrupt zum Verstummen und der ganze Zauber war binnen eines Wimpernschlags vorüber. Seine Miene verfinsterte sich. Zu gern wäre er ein Junge wie alle anderen im Dorf gewesen, wäre zur Schule gegangen, hätte Mädchen nachgestellt und seinem Vater auf dem Feld bei der Arbeit geholfen. Dummerweise war Windt von diesem Zustand so weit entfernt, wie dieser vermaledeite Feuerball am Himmel von den Menschen selbst. Er besaß keinen Vater, keine Mutter und das Dorf, indem er aufgewachsen war, verschmähte in seiner gottesfürchtigen Art alles Magische. Seufzend fuhr sich Windt durchs Haar – es hatte die Farbe von schmutzigem Schnee – und zog das Stirnband zurecht. Er hatte, wie die meisten Menschen, keine Erinnerungen an seine Geburt, doch in Kessl gab es seit Jahren wilde Spekulationen darüber. Als seine Mutter niederkam, sei angeblich der Grimmige in das Neugeborene gefahren, worauf seine Eltern wahnsinnig geworden seien und keinen anderen Ausweg mehr gewusst hätten, als sich selbst umzubringen. Nebelsohn nannten sie ihn, Teufelsbalg, einen ketzerischen Taugenichts. Er selbst sah sich gerne als Spielmann, doch nicht einmal das fahrende Volk, das sich hin und wieder nach Kessl verirrte, wollte ihn bei sich haben. Wütend strich Windt mit etwas zu viel Kraft über die Saiten. Die Hitze schwoll augenblicklich an und ein winziges Flämmchen schoss zu seinen Füßen aus dem Gras. Hastig trat der Junge danach und erstickte das junge Feuer, bevor es größeren Schaden anrichten konnte als einen schwarzen, rauchenden Flecken Erde. Geräuschvoll atmete er aus und blickte noch einmal zum Treiben des Dorfes hinüber. Als er das letzte Mal vor Maelins Zuflucht spielen wollte, hatte der Brunnen auf dem Dorfplatz plötzlich begonnen, ununterbrochen Wasserfontänen zu speien. Inzwischen wurde Windt sogar für schlechte Träume und misslungene Ernten verantwortlich gemacht. Aus diesem Grund durfte er sich den Höfen und Feldern, welche die sandige Handelsstrasse in Richtung Süden säumten nicht mehr nähern. Die Kirchenglocke signalisierte die Mittagszeit und Windts Augen schweiften zu dem baufälligen Haus seines Großvaters ab. Es lag nur wenige Minuten von den Hügeln des Vergessens entfernt nahe eines kleinen Tannenwäldchens, zwischen weiteren zahlreichen Bauernhöfen. Jetzt stieg Rauch aus dem Schornstein der Hütte auf und vermutlich wartete der Alte bereits mit dem Essen auf ihn. Zu dumm! Eigentlich hätte er seinem Großvater ein bisschen zur Hand gehen können. Auf ihrem Hof, wo außer ihnen niemand lebte, gab es schließlich immer genug zu tun. Doch jetzt hatte er den ganzen Vormittag unter dem Kobaltschatten und mit Saitenspiel vertrödelt und über seinen finsteren Gedanken die Zeit vergessen. Windt grinste verlegen in sich hinein, streckte sich noch einmal und beschloss dann endlich aufzubrechen. Er verstaute die Laute mit einem Lederriemen auf seinem Rücken und stapfte schon die Hügel hinunter, als er noch einmal kurz stehenblieb. Langsam drehte sich der Junge zu dem einsamen Baum auf den Wiesen um, malte eine verschnörkelte Sechs als Zeichen für die Göttin Juneliar in die Luft und verbeugte sich vor dem hölzernen Riesen. Selbstverständlich war Windt von seinem Großvater nach Art seiner Heimat monetarisch erzogen worden, obgleich er weder an Götter, noch Dämonen oder Teufel glaubte. Trotzdem hallten in diesem Moment die Worte des alten Mannes in seinen Ohren wieder: Wir alle sind vom Gleichgewicht der Welt abhängig, mein Junge. Deshalb solltest du dankbar sein, für jede warme Mahlzeit, für jedes neue Morgenrot. Ja, selbst für den Schatten, den dieser verwunschene Baum spendet, wenn du unter ihm den Tag vergisst und mich mit der Arbeit alleine lässt. „Danke Solana, Juneliar. Und danke Kobaltschatten, für deinen Segen“, rief Windt den tintenblauen Blättern entgegen, drehte sich um und fügte murmelnd hinzu: „...der auch nichts besser macht“       Auf halbem Weg zum Hof seines Großvaters kam Windt auf der sandigen Strasse an einem der Steinfiguren vorbei, die überall des Weges für die Großen Zwölf aufgestellt worden waren. Als der Junge die Statue passierte, fiel sein Blick auf die Opfergaben, die dem Gott offenbar erst vor Kurzem gemacht worden zu sein schienen: Auf einem rotbraunen Stück Stoff lag eine Schale mit ungekochtem Reis, ein paar Pflaumen und drei verschrumpelte Buckelbirnen. Darüber starrte die Figur Ambars, die einen jungen Mann mit Fächer zeigte, in die Welt hinaus. Das typische Grinsen verriet den Humor des Herbstgottes, der laut den monetarischen Schriften den Sterblichen mit seinen schelmischen Winden so manchen Streich spielte. Unbekümmert griff Windt nach einer der Buckelbirnen. Sie lag warm und bereits etwas matschig in seiner Hand, schmeckte aber immer noch herrlich süß. Als ob er damit die Götter selbst verhöhnen würde, erwiderte der Junge das dümmliche Grinsen der Statue und ging weiter. Ein paar Minuten später erreichte Windt den Hof des alten Kräuterheilers, den man bereits an den zahlreichen Gerüchen erkennen konnte. Neben dem steinernen und mit Stroh gedeckten Wohnhaus befand sich das Kräuterbeet, von welchem Windts Großvater die Zutaten für seine Salben, Umschläge und Tränke bezog. Neben ganz typischen Heilpflanzen wie Pfefferminze, Sonnenkranz und Nebelwurz pflanzte der Alte auch Silberbeeren, die bei rohem Verzehr tödlich wirken konnten. Seit ungefähr einem Jahr waren außerdem Drachenfarn und Assassinenkraut hinzugekommen, aus denen man allerdings auch Gifte herstellen konnte. Seit jener Zeit hatte es nie wieder jemand gewagt, vom Beet des Kräuterheilers zu stehlen. Nebenan teilten sich Kartoffeln, Kürbisse, Strohrüben und anderes Gemüse einen Platz, aus denen Windts Großvater einen herrlichen Eintopf zu kochen verstand. Auch jetzt drang der Geruch auf den Hof hinaus und lockte den Jungen ins Innere. Copper Kupferzahn – ihr pechschwarzer Haushund mit den zerzausten Hängeohren gähnte verschlafen und wandte kurz träge den Kopf herum, als Windt die Hütte betrat. Meistens schlief er am Feuer oder tollte über die weitläufigen Wiesen, als Wachhund hingegen taugte er gar nichts. Trotzdem mochte Windt ihn gern und auch jetzt gesellte er sich zu ihm an die Feuerstelle, über der ein alter, rostiger Kessel hing, in dem der Eintropf schon genüsslich vor sich hin brodelte. Ein Stapel frisch aufgeschichtetes Hellebardenholz lagerte nicht unweit daneben. Vermutlich war der Alte heute also im nahegelegenen Wäldchen unterwegs gewesen, obwohl Windt ihm immer wieder riet, sich zu schonen und allmählich zur Ruhe zu setzen. Er war gerade dabei, den Inhalt des Kessels zu inspizieren, als sich die Tür hinter ihm mit einem leisen Quietschen öffnete. „Hm... der einsame Krieger ist also endlich aus seinen Tagträumereien zurück nachhause gekommen...“, der alte Kräuterheiler gluckste und schob sich durch den niedrigen Türrahmen ins Wohnzimmer. „Oder dringt der Geruch meines Eintopfs schon bis an jenen Ort, dort droben auf den Hügeln?“ Windts Großvater war selbst in seinem Alter noch ein stattlicher Mann. Seine kräftige Statur kündete von den Tagen, als er als Soldat für Myrinha in die Schlacht zog – damals, als die Aufstände der Chimären im ganzen Königreich wüteten. Im Laufe der Jahre allerdings hatte er sich von Krieg und Königreich zurückgezogen, um die uralten Geheimnisse der Pflanzenheilkunde zu studieren. Jetzt perlte der Schweiß von seiner Stirn und Staub und Dreck klebten an seinen Kleidern. In seinem Gürtel trug er die alte Holzfälleraxt. Lächelnd wandte Windt den Kopf und begrüßte seinen Großvater. Seine Miene verfinsterte sich, als er den abgekämpften Eindruck des Alten erkannte. „Wieso hast du Copper nicht zu mir geschickt?“, fragte er tadelnd. „Ich hätte dir doch helfen können. Auf deine alten Tage solltest du dich wirklich nicht noch mit so anstrengenden Arbeiten abmühen!“ „Auf meine alten Tage!?“, hob der Kräuterheiler die knarzige Stimme. „Bei Augustus, vermutlich sollte ich meine Zeit besser damit verbringen, herumzulungern und Saiten zu zupfen, wie?“ Er grunzte amüsiert. „Muss ich dich daran erinnern, wer unser Haus fast monatlich vor dem endgültigen Einsturz bewahrt? Verdammtes Eulenbaumholz...“, murmelte er, „Überall so billig zu haben und dann ist es schon nach ein paar Wochen völlig morsch!“ „Dann darf ich dich daran erinnern“, erwiderte Windt mit einem Grinsen im Gesicht, „dass der Tisch schon seit deiner letzten Rettungsaktion völlig schief steht?“ Der Alte grummelte etwas Unverständliches und setzte sich an den grob gezimmerten Esstisch, der sich tatsächlich ein wenig zur Seite neigte. Er hatte ihn vor einer schieren Ewigkeit angefertigt, doch nun war er wie alles andere im Haus nahe daran, langsam auseinanderzufallen. Die mit Falten umrahmten Augen seines Großvaters wanderten zu Windt hinüber und verfingen sich schließlich in den Flammen der kleinen Feuerstelle. „Du solltest es besser wissen, mein Junge... Es erwartet uns soviel jenseits dieses Dorfes und du verbringst deine kostbare Jugend damit, unter einem Baum zu sitzen und zu träumen. Fällt dir denn wirklich nichts Besseres ein...?“, fragte er traurig. „Wie oft willst du mir das noch vorhalten?“, murmelte Windt gereizt. „Ich werde auf dich aufpassen, klar?! Immer! Ich will einfach nur hier bleiben, hier bei dir... und Copper.“ Er kraulte das pechschwarze Tier hinter seinen ungewöhnlich langen Schlappohren. „Aber auch ich lebe nicht ewig, Windt...“, fügte der Alte bitter hinzu. Als er von Neuem ansetzte, lag ein angefachter Eifer im Gesicht des Alten: „ Ich habe ein wenig Geld angespart, damit könntest du nächsten Sommer nach Agnorm ziehen und bei einem richtigen Lehrmeister lernen. Es wäre ja nicht für ewig und bis es soweit ist, kann ich dir beibringen, wie man Kräuter mischt und wo sie wachsen, welche giftig sind. Du würdest einen prächtigen Heiler abgeben, könntest durch die Lande reisen und jede nur erdenkliche Krankheit heilen. Vielleicht würden dich sogar die Dalzar’ und Könige auf ihre Burgen und Festungen bitten, damit du dich um ihre Leiden kümmerst. Du könntest es weit bringen, vielleicht sogar bis zu einem königlichen Hofarzt!“ „Immer dasselbe, Großvater...“, maulte Windt. Er zog die Knie an, verschränkte die Arme und bettete seinen Kopf darauf, nachdem er an dem Inhalt des Kessels geschnuppert hatte. „Aber ich will kein Kräuterheiler sein und die Könige und Dalzar’ interessieren mich einen Dreck! Ich hab keine Lust, mich um Leute zu kümmern, denen es selbst mit einer Vergiftung noch besser geht als uns!“ Der Alte seufzte resigniert. Doch der Junge wusste, dass er selbst manchmal ähnliche Gedanken hegte und oft genug über die reichen Herrschaften schimpfte, auch wenn er es nicht zugeben wollte. „Vielleicht bin ich inzwischen wirklich etwas in die Jahre gekommen... Und begreife nicht mehr, was in den Köpfen des jungen Volkes so vor sich geht...“, gestand er ein und machte eine kurze Pause. Eine peinliche Stille legte sich über ihre Köpfe, nur hin und wieder unterbrochen von den knisternden und knackenden Holzscheiten und dem leisen Köcheln des Eintopfs im Kessel. „Nun gut!“, Windts Großvater hatte zu seiner besseren Laune zurückgefunden. „Ich weiß ja, dass derlei Unterhaltungen uns beide noch nie zu etwas geführt haben, nicht wahr? Dafür sind wir beide einfach zu dickköpfig.“ Mit einem väterlichen Lächeln trat er an die Seite seines Enkels und strich ihm sanft durch das zerzauste Haar. Windt fing den Geruch seiner Hände auf – süß, würzig, aromatisch, wie das Kräuterbeet draußen vor dem Haus. „Du wirst deinen Weg schon selbst wählen...“, murmelte der Alte. „Komm, lass uns jetzt erst einmal essen! Ich hab bei Pedrun etwas Schnappwolfsfleisch für Copper herausschlagen können. Diese verdammten Viecher machen wohl mal wieder die Herden draußen vorm Dorf unsicher!“ Windt deckte den Tisch, während sein Großvater die letzten Verfeinerungen an seinem berühmten Strohrübeneintopf vornahm. Zwar war es kein Festmahl – das war es nie! – doch der alte Kräuterheiler kochte meisterhaft, sodass sie den Tisch an jedem Tag mit gefüllten Bäuchen verlassen konnten. Sie aßen gemütlich zusammen, während der Alte Geschichten aus der Zeit erzählte, als er als Soldat für Myrinha in die Schlacht gezogen war. Er spottete über die Leute im Dorf, die ihn angeblich wegen jeder noch so winzigen Kleinigkeit zu sich bestellten, sprach über die Zeit aus seiner Jugend und was er auf seinen Reisen durch das Königreich erlebt hatte. Windt genoss diese gemeinsame Zeit mit denen, die ihm am wichtigsten im Leben waren und lauschte den Worten seines Großvaters aufmerksam. Dies war der einzige Ort, an dem er leben wollte, solange es die Dorfbewohner zulassen würden. Als ihre Mägen gefüllt und der verbeulte Suppenkessel bis zum letzten Rest geleert worden war, erhob sich Windt von seinem Platz und schritt gemächlich zur Tür. „Danke, Großvater. Ich mach mich dann mal auf den Weg runter ins Dorf. Mal sehen, vielleicht gibt’s was Neues!“ Der Alte nickte beschwichtigend. „Ja, ich weiß, es ist Markttag. Pass aber auf, dass du nicht wieder an irgendwelche Gauner gerätst. Und halte dich von Maelins Zuflucht fern! Helic prahlt neuerdings damit, ein paar wirkliche außergewöhnliche Gäste beherbergen zu dürfen.“ „Vertraust du immer noch auf die Märchen von diesem stinkenden Fettwanst?“, Windt schnaubte verächtlich. „Sei trotzdem vorsichtig...“, bat sein Großvater und schaute ihm nach. „Mein altes Herz könnt’s nicht ertragen, würde dir etwas zustoßen. Hörst du, Windt?!“ Doch da war der Junge schon zur Tür hinaus und machte sich gemeinsam mit seiner geliebten Laute auf dem Rücken auf den Weg zum Marktplatz. Das Namenlose Dorf ------------------ Windt verließ den Hof des alten Heilers und bog auf der sandigen Straße Richtung Süden ab. Er schlenderte unbekümmert an so manch weiterem Schrein vorbei und hob den Kopf, um einen kurzen Blick über ganz Kessl werfen zu können. An einer Kreuzung wies ein großer, in die Erde gegrabener Fels in verschiedene Richtungen, die Namen der Städte und Gegenden waren in seine raue Oberfläche gekratzt worden. Die Hügel des Vergessens begannen nicht weit entfernt der Straße, wenn man sich vom Haus des Kräuterheilers immer weiter rechts hielt. Allerdings war der Name auf dem Stein mit roter Farbe versehen worden, ein Hinweis darauf, dass dieser Ort gefährlich sein konnte. Selbstverständlich kannte Windt die Gerüchte, die man sich um die Wiesen um den Kobaltschatten herum erzählte. Angeblich verlor man sein Gedächtnis, wenn man sich länger dort aufhielt, bis man irgendwann sich selbst vergaß und nicht mehr zurück fand. Einige Dorfbewohner berichteten von Angehörigen, die sie auf diese Weise verloren hatten. Andere kehrten zwar von den Hügeln zurück, erkannten jedoch ihre Familien nicht mehr oder wurden zu Vagabunden. Windt glaubte, dass er ohnehin nicht mehr viel besaß, das sich zu vergessen lohnte. An die Gesichter seiner Eltern konnte er sich nicht erinnern, ebenso wenig, woher seine geliebte Laute stammen mochte oder warum er so anders aussah als alle anderen. Eines war ihm jedenfalls gewiss: Sein Zuhause, seinen Großvater und den alten, trägen Copper Kupferzahn würde er niemals vergessen, nicht einmal durch den mächtigsten Zauber. Als die Strasse in Richtung Dorf immer weiter abfiel und das nördliche Tor allmählich in Sicht kam, läutete die Kirchenglocke. Windt blickte auf. Der Kirchturm selbst ragte wie ein Dorn aus den eng aneinander gedrängten Häusern empor. An seiner Front befand sich die Gezeitenuhr – eine Erfindung der Monetarier. Sie läutete nicht nur zu jeder vollen Stunde, sondern zeigte mit farbenprächtigen Symbolen auch die Jahreszeiten und besondere, wichtige Feiertage an. Von Kessls Mittelpunkt, dem Steinernen Platz mit seinem Brunnen, ragten an diesem Tag bunte Fähnchen in die Höhe. Die festen Geschäfte und niedrigen Wohnhäuser schienen sich über den alten Brunnen zu beugen und höhnisch auf ihn herab zu stieren. Ja, es war Markttag im namenlosen Dorf, das aufgrund der Hügel des Vergessens so genannt wurde. Als Windt das Stadttor erreichte, an dem ebenfalls Fähnchen im Wind flatterten, ächzte er leise: Die Dorfmitte war zum Bersten angefüllt mit Menschen jeder Altersklasse. Bauern und Handwerker kehrten in Maelins Zuflucht ein, wo man für ein paar Bacalt ein frisches Bier von Helic bekommen konnte. Heute würde das Gasthaus bis spät in die Nacht geöffnet haben und alle Leute mit prall gefüllten Börsen herzlich empfangen. Das Gebrüll der Kaufleute, Marktschreier und Feilbieter übertönte alles andere. Kinder tollten über den heißen Steinboden und die Frauen tauschten Neuigkeiten und Gerüchte aus oder verwandelten die Fülle in ihren Geldbeuteln in gähnende Leere. Zwischen den Ständen hingen Girlanden mit gelben und orangefarbenen Blüten, um das göttliche Geschwisterpaar der Sommermonate zu ehren. Windt passierte das Tor – um diese Zeit passte dort sowieso niemand auf – und hielt sich am Rand des Platzes auf, um sich umzusehen. Manchmal kamen Händler aus den entlegensten Winkeln Myrinhas nach Kessl und boten ihre exotischen Waren an. Die Gezeitenuhr schlug die zweite Stunde nach Mittag und die Bauern kehrten auf ihre Höfe und Felder vor dem Dorf zurück. Umso besser!, dachte Windt. Frauen und Kinder waren ein angemessenes Publikum und besonders am Markttag hatte immer jemand eine Münze für ihn übrig. Natürlich fürchteten sie die Magie, welche der Junge mit seinem Instrument beschwören konnte, aber Windt war ein Meister seines Fachs. Seine traurigen Waisen rührte die Menschen zu Tränen, brachten die Hunde zum Winseln. Windt beschloss, keine weitere Zeit zu verlieren. Gerade wollte er in dem Getümmel der fahrenden Händler verschwinden, als plötzlich etwas gegen seine Schulter krachte. Er taumelte ein paar Schritte vorwärts und wandte sich um. Das grimmige Lächeln eines Dorfbewohners starrte ihm entgegen. „Kannst du nicht aufpassen, Teufelsbalg?“ Der Fremde stieß Windt mit der flachen Hand gegen die Brust. Seine Begleiter – vier weitere Männer vom übelsten Schlag, lachten hämisch und stimmten ihm zu. „Was ist jetzt, Mateus? Du hast gesagt, du gibst ne’ Runde aus. Meine Kehle ist schon ganz trocken.“ „Ich hab ne’ bessere Idee!“, antwortete der Mann, der Windt angerempelt hatte und klatschte in die Hände. „Der Junge hier soll uns einen ausgeben, als Entschuldigung, dass er mich angerempelt hat.“ „Ich habe kein Geld...“, sagte Windt leise und senkte den Kopf. Er wollte nicht wissen, welche Abgründe sich in den Augen dieser Männer verbargen. „Wir verkaufen seine Laute!“, schlug der Kleinste aus der Gruppe vor. „Für ein paar Buckelbier wird’s reichen.“ Mateus, der den Jungen noch immer angrinste, streckte die Hand aus. „Du hast’s gehört, Junge. Her damit, oder muss ich sie mir holen kommen?“ Windt schaute sich um. Auf dem Marktplatz herrschte noch immer dichtes Gedränge und der Lärm war ohrenbetäubend. Irgendjemand musste ihm doch zu Hilfe eilen. Er suchte den Blick einer vorbeieilenden Magd, doch sie schlug nur die Augen nieder und ging in eine andere Richtung davon. „Hey, bist du taub? Gib’ mir das Ding und verzieh dich, dann gibt’s auch keinen Ärger. Meine Freunde und ich sind durstig.“ Sie lachten und waren im Begriff, ihn einzukreisen. Für eine Flucht war es inzwischen zu spät. Er machte einen Schritt nach hinten, ließ den hilfesuchenden Blick mal hierhin, mal dorthin schweifen. Mateus stand jetzt unmittelbar vor ihm. Windt konnte seinen fauligen Atem riechen und auch ein Bad hätte der Saufkopf bitter nötig gehabt. „Nein...“, stammelte er kleinlaut. Etwas kratzte in seiner Kehle und ihm wurde mit einem Mal schrecklich heiß. Die Männer schienen nicht bemerkt zu haben, dass die Luft um sie herum kaum merklich zu flimmern begonnen hatte. Nein! Nicht ausgerechnet jetzt... „Was hast du gesagt?“ Mateus gab ihm eine Ohrfeige „Ich rate dir, besser nicht frech zu werden. Soll ich mir die Laute jetzt holen oder rückst du sie freiwillig raus?“ „Ich...“ Windt hielt es nicht länger aus. Das Blut schien ihm in den Adern zu kochen. Schweiß trat ihm auf die Stirn und er hatte plötzlich das Gefühl, sich übergeben zu müssen. „Mir reicht’s jetzt!“ Die ausgemergelte Gestalt des Mannes streckte die Hand nach Windts Laute aus. „Ich sagte: Nein!“ Die Worte nahmen in seinem Kopf gestalt an, doch seine Zunge formte etwas anderes. Als der Junge den Mund öffnete, schoss ein Feuerschwall zwischen seinen Lippen hervor und versengte Mateus’ ohnehin schütteres Haupthaar. Der Trunkenbold kreischte und begann auf der Stelle einen verrückten Tanz aufzuführen. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf und versuchte, die Flammen auszuklopfen. Einer seiner Kumpane riss sich den Umhang herunter und drosch damit auf den Brennenden ein. Windt hustete und röchelte. Noch immer drang Feuer aus seinem Mund und er schlug sich die Hände vors Gesicht, schrie auf, als er sich augenblicklich verbrannte. Panische Angst hatte die Umstehenden erfüllt und sie wichen hektisch von dem Jungen zurück. Mateus schmerzerfülltes Geschrei war einem Wimmern gewichen. Er lag auf dem Boden, den Mantel des anderen über seinem Gesicht. Seine Männer schauten zwischen ihm und dem Jungen hin und her, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände auf den Mund presste. „Sieh nur, was du angerichtet hast, du Scheusal!“ Der Besitzer des Umhangs kniete sich neben den winselnden Mateus und begutachtete ihn ausführlich. „Dieses Monster hat ihm fast alle Haare versengt!“, rief er den anderen zu. „Und was willst du jetzt machen, Gelvin?“, keifte ein anderer zurück. „Ich fass das Teufelsbalg nicht an. Schau doch, ihm quillt noch Rauch aus der Nase!“ Tatsächlich roch es stark nach beißendem Rauch. Windts Kehle fühlte sich an, als hätte er die Flammen getrunken statt gespuckt. „Mir reicht’s! Mit dem Bengel hat man nichts als Ärger. Los, wir schauen mal, ob Helic heute anschreiben lässt.“ Zwei von Mateus Saufkumpanen hoben ihn an und trugen ihn in Richtung Schänke davon, die anderen trotten schweigsam hinterher. Der Schock über das soeben Geschehene schien ihn noch immer in den Knochen zu sitzen. Nichts, was ein kaltes Bier nicht kurieren würde. Als Mateus an dem Jungen vorübergetragen wurde, hob er kurz den Kopf, in seinen Augen stand Mordlust. Der Geruch von verbranntem Haar klebte an ihm, sein Gesicht war voller rußiger Flecken und das vorher schulterlange Haupthaar vom Feuer merklich angefressen worden. „Der Grimmige soll dich holen!“, raunte er mit höherer, dünnerer Stimme als zuvor. Windt zitterte am ganzen Leib. Nach einer schieren Ewigkeit und erst, als die Saufbolde im Inneren von Maelins Zuflucht verschwunden waren, schaffte er es, aufzustehen. Vorsichtig torkelte er zum Brunnen in der Mitte des Steinernen Platzes, ausnahmslos jeder ließ ihn vorbei. Gierig griff der Junge nach dem Eimer, in dem noch Reste von kürzlich hoch geholtem Wasser zu finden waren und trank alles in einem Zug aus. Der Zauber, den er in seiner Wut und Verzweiflung wirkte, hatte sich gegen ihn gewandt. Er starrte auf seine Hände, die mit Brandblasen übersät waren. Ganz langsam, Stück für Stück ließ er den Eimer in den Brunnen hinunter, um sich frisches Wasser zu besorgen. Er stöhnte kurz auf, als seine Hände in das kalte Nass glitten, das den Schmerz für ein paar Sekunden erträglicher machte. Dann hob er den Eimer an die Lippen und stürzte den Rest gierig hinunter. Die Geräusche vom Markt drangen wie eine dichte, misstönende Klangwand an Windts Ohren. Er blieb kurz am Brunnenrand sitzen und genoss die Wärme der Sonne in seinem Nacken. Verdammt... Ohne sich noch einmal zwischen den einzelnen Buden und Ständen umzuschauen, erhob sich der Junge und marschierte schweigsam auf Maelins Zuflucht zu. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass ihm die feindseligen Blicke, all das Misstrauen, erspart blieben. Kein Händler versuchte auch nur, ihm etwas aufzuschwatzen oder bat darum, näherzutreten.  Neben dem knarrenden Treppchen zur Schänke befand sich eine Stelle mit vertrocknetem Kiemengras. Windt steuerte direkt darauf zu, schnallte sich die Laute vom Rücken und lehnten selbigen an den geduldigen Stein des Gasthauses. Langsam ließ er sich zu Boden gleiten und fing den Markt noch einmal aus einem anderen Blickwinkel ein. Die Leute gingen ihrem Treiben nach, wer an ihm vorüber schritt, senkte den Blick. Das war etwas ganz normales, eine Tatsache wie das Blau des Himmels oder das Leuten der Gezeitenuhr zu jeder Stunde. Tu so, als wäre gar nichts passiert. Mach einfach so weiter, wie jeden Tag und versuch das Beste daraus zu machen. Er spitzte die Ohren. Wenn sein Saitenspiel heute schlecht ausfiel, würde er ohne eine einzige Münze nachhause zurückkehren. Schon an so manchem Tag war dies der Fall gewesen und er hatte stattdessen versucht, die Obst- und Gemüsehändler in einem unachtsamen Augenblick um ein paar Schleieräpfel zu erleichtern. Wenn man in diesem Dorf und mit ihrem Stand überleben wollte, so glaubte Windt, hatte er keine andere Wahl, als zu stehlen. Auch wenn sein Großvater es mit keinem einzigen Wort gutheißen mochte und ihn jedes Mal schrecklich schilt, wenn er mit gestohlenen Dingen auf ihren gemeinsamen Hof zurückkehrte. Genug davon!, schüttelte Windt die bitteren Gedanken fort. Es wurde Zeit, dem üblichen Tagewerk nachzugehen und die Leute auf dem Platz mit klagendem Saitenspiel zu erfreuen. Er konnte nur hoffen, dass die vielen Frauen, Mägde und Burschen heute ein offenes Ohr für schöne Melodien hatten und dafür bereit waren, ein paar Bacalt springen zu lassen. Er zuckte zusammen, als seine Finger über die Saiten strichen und sich der Schmerz augenblicklich zurückmeldete. Was für ein verkorkster Tag. Windt biss die Zähne zusammen und versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Die Melodie kam zaghaft, immer wieder musste er innehalten und warten, bis das Brennen ein wenig nachließ. Irgendwie schaffte Windt es dann doch, sich zwischen den Klängen zu verlieren. Traurig und schwer hallten sie über den Platz, trugen Einsamkeit und Kummer mit sich. Schleich dich in die Herzen der Menschen. Berühre sie dort, wo keine Rüstung sie schützen kann. Schmerz und Leid dringt tiefer als jede Freude. Schau auf, wenn jemand vorübergeht, wenn jemand stehenbleibt. Schau ihnen in die Augen wie der geprügelte Hund, der du bist. Er hatte es noch jedes Mal geschafft.       Als das erste Lied, welches der Junge die „Bettlerballade“ getauft hatte, endete und Windt mit der flachen Hand die Saiten verstummen ließ, lag noch immer keine einzige Münze zu seinen Füßen. Missmutig fiel sein Blick auf den weitläufigen Marktplatz, auf den die Menschen mit leeren Körben eilten und mit gefüllten wieder verschwanden. Seine Ohren zuckten kaum merklich, als er das Getratschte der Frau hinter dem Gemüsestand auffing, welche gerade eine Kundin bediente. „Habt Ihr das Neueste schon gehört?“, hörte er sie flüstern. Verschwörerisch senkte sie die Stimme, als könnte es sie sonst die Zunge kosten. „Habt Ihr von diesem Mann gehört, diesem...“ „Ihr meint diesen unheimlichen Kerl aus der Schänke?“, erkundigte sich die Frau vor ihrem Stand, während sie hastig ein paar rote Zwiebeln in ihren Korb stopfte. „Ja, er soll ein Magier aus Dandelion sein, ein Ketzer! Bei Oktavia, habt Ihr seine Hände gesehen? Voller dunkelblauer Flecke sind sie, wie die Blätter von diesem verfluchten Baum auf den Hügeln. Ich sag Euch, der Grimmige selbst hat ihm das verpasst!“ Windt seufzte in sich hinein. Wenn die Leute auf den Straßen ängstlich von Magie und Zauberei sprachen, kamen sie ihm noch dümmer vor, als sonst. Dennoch spitzte er ein weiteres Mal die Ohren, als die Stimmen der beiden Frauen erneut erklangen. „Und dann noch dieser finstere Fremde mit seiner Rüstung. Allein sein Anblick soll ja tödlich sein! Er ist heute hier angekommen. Ich wette, er ist ein Mörder, so wie er aussieht. Sein Haar ist lang und so rot wie Blut!“ „Das ist das Blut seiner dahin gemetzelten Opfer!“, klagte die Frau vor dem Gemüsestand. „Und jetzt ist er gekommen, um auch uns alle heimtückisch im Schlaf zu erdolchen!“ „Dann verriegelst du besser alle Fenster und Türen!“, plapperte die Gemüsefrau. „Pass bloß auf, dass dir nichts geschieht. Schau dich noch einmal auf dem Marktplatz um. Ich glaube, so ein älterer Herr verkauft hier Talismane gegen Unglück.“ Ihre Kundin bedankte sich murmelnd, malte das Zeichen der Zwölf in die Luft und machte sich anschließend auf den Weg. Windt brauchte ihr nicht nachzusehen, um zu wissen, wohin sie es so eilig hatte. Angewidert rollte er mit den Augen. Dummes Geschwätz, sinnlose Angstmacherei!, dachte er im Stillen, während er hier und da eine Saite seines Instrumentes nachspannte. Ein seltsam berüsteter Mörder mit blutigen Haaren und ein finsterer Magier mit Tintenfingern... Nach unbestimmter Zeit angestrengten Lauschens und mühseligen Lautenspiels verfluchte Windt den Tag und wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als der Steinerne Platz plötzlich mit buntem Treiben angefüllt wurde. Die Zeit der Gaukler und Spielleute war angebrochen. Einmal in der Woche konnte man ihre schelmischen Künste bestaunen. Mal waren es mehr, mal weniger, doch ihre Fähigkeiten blieben immer vielfältig: Von Jongleuren und Schwertschluckern über Feuerspuckern, Barden und Narren schien alles vertreten zu sein und sie verstanden es meisterhaft, das einfache Volk von seiner Schwermut zu befreien. Zumindest für eine Weile. Eine kleine Gruppe, mit Harfen, Klampfen und anderlei lustiger Instrumente bewaffneter Spielleute hatte Windt aufs Korn genommen. Wie einsam und verloren er scheinen musste, in der kleinen Ecke neben der Schänke, in der die Leute stetig ein- und ausgingen, als würden sie ihn gar nicht bemerken. Die letzten klagenden Melodien der Saiten verstummten, als sie sich vor ihm aufbauten, bestens gelaunt, als bestünde die Welt aus einem einzigen Narrenparadies. „Hey, junger Freund!“, begrüßte ihn der Vorderste, dessen froschgrünes Glöckchengewand bei jeder Bewegung klingelte. „Welch herzergreifende Klänge du da von dir gibst!“ „Und Ambar zwick mich, was für ein außergewöhnlich schönes Instrument!“, stimmte sein Kollege ein, dessen Federkappe Windt an jene Räuber erinnerte, von denen man gelegentlich hörte. Jene, die von den Reichen nahmen und mit den Armen teilten. Trotzdem musterte er die Narren mit großem Argwohn. Auch wenn er sich selbst fast zu einem der ihren zählte, im Augenblick störten sie ihn. „Wie wär’s? Spielst du morgen mit uns auf dem Salirfest?“ Das war der Glöckchenmann. „Das Sommerfest ist morgen?“, fragte Windt verblüfft und seine Augen verloren jeden Groll vor Überraschung. „Na klar, kleiner Spielmannsbube!“ Herr Federkappe grinste und sein spitz gezwirbelter Schnurrbart dehnte sich zu beiden Seiten aus. Seine Zähne waren makellos. „Gesell dich doch zu uns! Gemeinsam liefern wir den Leuten ein Spektakel, das sie nie vergessen werden und von den verdienten Bacalt lässt sich’s bestimmt ein paar Wochen aushalten! Was meinst du?“ Der Junge hatte noch nicht einmal den Mund zu einer Antwort geöffnet, als aus Maelins Zuflucht plötzlich eine nie vernommene Flötenmelodie auf den Platz nach draußen drang. Windt staunte nicht schlecht. Wer immer da in der Schänke auf seinem Instrument spielte – er beherrschte seine Kunst so meisterhaft, wie der Junge das Lautenspiel. Wenn nicht sogar besser..., dachte er. Auch glaubte Windt, in den lieblichen Klängen dieselbe Schwermut, dieselbe Sehnsucht heraushören zu können, welche er in sein eigenes Spiel legte und sein Magen schien sich in diesem Augenblick krampfhaft zusammenzuziehen. „Das wird ja immer besser!“, jubelte der Glöckchenmann und eilte mit wenigen Sätzen die steinernen Stufen hinauf. Seine Kameraden folgten ihm eilig. Die Instrumente – Trommeln, Flöten, Geigen, Harfen und dergleichen mehr – welche sie ihrerseits auf dem Rücken, am Gürtel oder in den Tiefen ihre Taschen mit sich trugen, gaben bei jedem Schritt ihre leisen Klänge von sich. Die Federkappe hielt noch kurz inne, bevor auch sie im Inneren des Gasthauses verschwinden konnte und wandte ihr Gesicht mit einem niemals fröhlicheren Grinsen dem Jungen zu, der immer noch wie eine Statue neben der Schänke auf dem Boden saß: „Also, wir sehen uns morgen, Spielmannsbube! Sag einfach, Rubin schickt dich, das Volk zu unterhalten. Dann bist du willkommen!“, und schon war auch er in der Schänke verschwunden, aus der nur kurze Zeit später angeheitertes Gegröle nach draußen drang. Windt seufzte leise in sich hinein. Seine Sinne folgten der Flötenmelodie und er wandte den Kopf, um zu dem Fenster ein paar Meter über ihm aufschauen zu können. Seine Augen weiteten sich, als er das Flackern in der Luft erspürte. Das darf doch nicht wahr sein! In diesem Moment kletterte eine Weinrebe, angeregt von dem lieblichen Instrument, an der Häuserwand empor. Sie schlängelte über dem Fenster bis hin zu dem verwitterten Holzschild, auf den in verblassten, orangefarbenen Lettern „Maelins Zuflucht“ geschrieben stand. Sommerwinde frischten auf und brachten die Girlanden und Fähnchen auf dem Marktplatz zum Tanzen. Staunend verfolgte Windt das Schauspiel, zählte zahlreiche Wunder, bis das Flötenspiel verebbte und die Wirklichkeit zurückbrachte. Der Junge blinzelte ein paar Mal, doch er konnte sich einfach nicht getäuscht haben. Die Kletterpflanze liebkoste wie in zärtlicher Umarmung das Schild über der Tür zur Schänke. Neugierig schnallte sich Windt die Laute auf den Rücken und erhob sich aus dem Gras. Leider war er zu klein oder das Fenster lag zu weit oben, als dass er einen Blick in den Schankraum hätte riskieren können. Vorsichtig glitten seine Augen nach links, hin zur Tür, wo in unregelmäßigen Abständen Gäste ein- und ausgingen. Sollte er es wagen, sich hineinzuschleichen? Seit er einmal versucht hatte, in Maelins Zuflucht zu spielen, hatte er die Schänke nie wieder betreten. Bierkrüge und Weinkelche waren nur ganz knapp an seinem Kopf vorbei gesegelt und nach einigen kurzen Rangeleien hatte der Wirt ihn vor die Tür setzen müssen. Trotzdem, er wollte ihn doch nur einmal sehen, jenen Flötenspieler, der dieselben Gefühle in den Herzen der Menschen erwecken konnte, so wie Windt es mit seiner Musik schon etliche Male getan hatte. Die Gemüsefrau hatte sich nicht geirrt, das wusste er jetzt. Ein Magier hatte sich Zutritt nach Kessl verschafft – ein Zauberer, der ähnliche Kräfte besaß wie Windt selbst. Und jetzt, zu dieser Stunde saß er in Maelins Zuflucht! Hastig griff Windt nach seiner Laute, setzte einen Fuß auf die unterste Stufe und schlich sich dann vorsichtig Stück für Stück die verwitterte Treppe hinauf. Die Tür unter dem Namensschild der Schänke knarrte, als Windt sie vorsichtig einen spaltbreit öffnete und verstohlen in den Schankraum lugte. Es roch genau wie damals - nach altem Hellebardenholz, Schweiß, Buckelbier und vereinzelt nach den widerlichen Speisen, die Helic in seiner Küche zubereitete. Die dunklen, grob gezimmerten Tische passten zu den Gestalten, die an ihnen saßen. Schwermut zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab. Windt hatte einmal gehört, dass die meisten sich in der Schänke betranken, um „etwas loszuwerden“ – mal abgesehen von dem Geld in ihren Taschen. Doch es gab auch andere... Zu dieser Stunde saß ein Mann in Maelins Zuflucht, direkt am Tisch gegenüber der Tür, eine Schar wild gestikulierender Männer um sich versammelt. Sein ausdrucksloses Gesicht hätte jedem noch so sehr beherzten Mann einen Schauer über den Rücken gejagt. Und es war nicht nur sein Gesicht… Die Augen des Fremden, soweit Windt es durch den Türspalt erkennen konnte, leuchteten honigfarben, trotzdem sie so kalt wirkten wie Eis. Vorsichtig schob der Junge seinen Kopf durch die Tür. Was war nur an diesem Mann, dass es ihn so faszinierte, dass es ihm in den Fingern juckte, jeden Augenblick zu ihm herüberzugehen und ihm einen ganzen Haufen wilder Fragen an den Kopf zu werfen? Aber das musste er sein, jener andere Fremde, von dem auf dem Platz so ehrfürchtig geflüstert wurde. Sein langes, stolzes Haar wand sich wie ein Wasserfall tiefroten Blutes bis über seine Schultern. Das alte Holz der Eingangstür ächzte leise, als Windt sich mit eingezogenem Kopf in den Schankraum schlich. Er warf einen schnellen Blick zum Tresen – von Helic war nichts zu sehen. Für den Augenblick erleichtert, ließ der Junge die Tür zurück ins Schloss fallen und kauerte sich rechts vor der Schanktheke auf den Boden. Sein Rücken berührte die kalte Steinwand der Schänke. Dort würde der Wirt ihn nicht sofort bemerken und er konnte in Ruhe seinen Beobachtungen nachgehen. Als Windt den Blick zurück in Richtung des rothaarigen Fremden schweifen ließ, erkannte er sie auch – die Rüstung. Im Licht der Kerzen und Lampen im Raum strahlte sie wie ein nagelneuer Soblin und der Junge glaubte nie etwas Prachtvolleres gesehen zu haben. Sie war mit weiß glänzenden Schnörkeln verziert und wirkte bereits von weitem unglaublich schwer. Darüber trug der Fremde einen schneeweißen, mit himmelblauen Ornamenten verzierten Umhang. Hinter seinem Kopf erkannte Windt den Griff eines mächtigen Schwerts. Dann plötzlich starrte der Bluthaarige zu ihm herüber, ihre Augen trafen sich, nur sekundenlang, und trotzdem glaubte Windt die beklemmende Ehrfurcht in seinem Herzen spüren zu können, auch wenn sie noch so leise flüsterte. Dieser Kerl konnte unmöglich ein Mensch sein! Mit einem Ausdruck im Gesicht, als würde er in Windt nichts anderes sehen als eine stinkende fette Sumpfratte, hob er den Kelch, der zu seiner Linken auf dem Tisch stand und nippte an dessen Inhalt. In diesem Moment wurde Windt bewusst, wie unverhohlen er den Fremden begaffte und schnell wandte er die Augen ab von dem, was er noch Stunden hätte bestaunen können. Hoffentlich habe ich ihn nicht verärgert... Hoffentlich kommt er nicht herüber!, schoss es ihm durch den Kopf. Es würde doch gewiss keine Seele bekümmern, wenn ihn dieses Wesen mit einem einzigen Streich seiner Klinge niederstreckte! Doch die Reaktion blieb aus und Windt atmete erleichtert auf. Als Nächstes wanderte sein Blick über die Gefährten des unheimlichen Fremden. Ihre Gesichter waren größtenteils von den Kapuzen ihrer Umhänge verborgen. Die Rüstungen unter ihren Wappenröcken waren aus Leder und nicht annähernd so prächtig wie die des Bluthaarigen. Erst kurze Zeit später erkannte Windt das goldene Sonnensymbol, das jeder von ihnen auf der Brust zu tragen schien. Ein Wappen vielleicht? Wie auch immer, er hatte wirklich keine Lust herauszufinden, warum diese Männer wirklich hier waren, sie sollten einfach nur schnell wieder verschwinden. Männer in Rüstungen brachten meist nichts als Ärger, das sagte selbst sein Großvater immer wieder. Hüte dich vor den Berüsteten, denn sie führen den eisigen Hauch des Todes mit sich. Erst jetzt bemerkte Windt, wie sehr seine Beine vom Knien schmerzten und er ließ sich vorsichtig auf dem steinernen Boden nieder. Nun fiel ihm auch wieder ein, weshalb er eigentlich erst an diesen muffigen Ort gekommen war: der Flötenspieler! Die Spielleute hatten sich ganz rechts an den einzigen Tisch am Fenster gesetzt. Ihre Taschen schienen voll zu sein, denn jeder hatte einen gut gefüllten Krug vor sich und ihre Trinklieder erfüllten den ganzen Raum. Bei ihnen saß eine gänzlich in Schwarz gehüllte Gestalt und nippte an einem Becher mit dampfender Flüssigkeit. Windt vermochte nicht einmal zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Die Kapuze ihres Mantels verdeckte das Gesicht dieser unheimlichen Gestalt, doch so langsam dämmerte es dem Jungen, mit wem er es hier zu tun haben musste. Die Frauen draußen auf dem Marktplatz hatten von einem dandelischen Magier gesprochen und kurz darauf war jene liebliche Flötenmelodie aus Maelins Zuflucht auf den Platz geströmt. Handelte es sich bei demjenigen, den sie den Tintenfinger nannten und dem geheimnisvollen Flötenspieler um ein und dieselbe Person? Auch diese Frage würde man Windt schuldig bleiben, denn von einer Flöte war weit und breit nichts zu sehen. Einzig eine schwarze Umhängetasche, ähnlich der eines Gaéshas – eines myrinha’schen Botschafters ruhte neben der Gestalt auf der hölzernen Bank. Die ganz in Schwarz gewandete Gestalt nahm noch ein paar weitere Züge aus dem dampfenden Becher, schien sich ansonsten jedoch nichts anmerken zu lassen. Von den lauthals feixenden Spielleuten schien sie beinahe gar nicht beachtet zu werden. Unweigerlich fiel Windts Aufmerksamkeit noch einmal auf den rothaarigen Fremden zurück, dessen Platz sich nicht verändert hatte. Sein Kelch war leer und auch seine Lakaien schienen allen Sold versoffen zu haben. Ihr Lallen drang zu Windt herüber und ein weiteres Mal stahl sich die Angst in sein Herz. Trunkene Männer neigten häufig dazu, die Kontrolle über sich zu verlieren. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht zur Zielscheibe machten. Gewiss, er hätte sich wehren können, doch würde das etwas nützen? Immerhin trugen sie alle, jeder von ihnen, ein Schwert am Gürtel und wenn erst ihr Herr einschritt, wäre sowieso alle Hoffnung verloren. Als hätte er Windts Gedanken vernommen, erhob sich der rothaarige Fremde von seinem Platz und schritt auf den Wirt zu, der inzwischen hinter seine Theke zurückgekehrt war und dort pfeifend vor sich hin arbeitete. Die Rüstung klapperte bei jedem Schritt. Bei der unverfrorenen Eleganz, die dieser Fremde ausstrahlte, hätte Windt dahinschmelzen mögen. Jeder seiner Schritte war bestimmt, keine einzige Bewegung dem Zufall überlassen. Der Fremde musterte Helic mit einem adlerartigen Blick und der dicke Wirt blinzelte erwartungsvoll zurück. Die Maus vor der Schlange, dachte Windt ehrfürchtig. Ohne ein Wort knallte der Bluthaarige eine Hand voll Soblin auf den Tisch - selbst seine Hände waren berüstet - und wandte sich dann stumm an seine angetrunkenen Kameraden. Diese verstanden sofort und räumten ohne auch nur einen Moment zu zögern ihre Bänke. „Beehrt uns bald wieder, edle Herren!“, schnurrte Helic. Für eine Hand voll Silber küsst dieses Lästermaul noch jedem die Füße, dachte Windt angewidert. Bevor sich der Fremde zum Gehen wandte, ließ er seinen Adlerblick noch einmal durch den ganzen Raum schweifen, als ob er etwas wichtiges vergessen hätte. „Ihr da!“, erklang seine Stimme so scharf und plötzlich, dass Windt beinahe zusammengefahren wäre. Sein Anliegen galt den Spielleuten in der Fensterecke und trotzdem er sich Mühe gab, seine Stimme nicht allzu kalt klingen zu lassen, meinte der Junge die Verachtung heraushören zu können. „Ihr Spielleute! Stammt ihr aus diesem Dorf?“ Die Gaukler starrten höhnisch zu ihm herüber, die Gesichter rot vom Alkohol. „Nein, werter Herr, wir sind nur auf der Durchreise. Verzeiht!“ „Ich stamme aus diesem Dorf!“ Windt hätte sich augenblicklich auf die Zunge beißen mögen. In Sekundenschnelle hatte er alle Aufmerksamkeit im Raum auf sich gezogen. Nun war es auch egal, solange der Fremde hier war, würden sie ihre Zungen im Zaum halten. Helic jedoch machte ihm einen Strich durch die Rechnung: „Bei Augustus, du schon wieder! Was fällt dir eigentlich ein, hier herum zu lungern! Verschwinde sofort aus meinem Gasthaus, du Sohn einer ver...!“. „Schweigt!“, unterbrach ihn eine schneidende Stimme. Windts Gedanken überschlugen sich, als er bemerkte, dass es der bluthaarige Fremde war, der ihn zu verteidigen versuchte. Sogar eine Hand hatte er erhoben und Helic hatte sein Lästermaul tatsächlich ohne zu zögern zum Schweigen gebracht. Der Junge erhob sich hastig und senkte demütig den Kopf, als ihm der Mann mit der Silberrüstung entgegen trat. Er konnte spüren, wie ihn der Blutschopf mit abschätzigem Blick musterte. „Die Farbe deines Haars... Äußerst ungewöhnlich...“ „Ich rate Euch, lasst Euch nicht mit diesem Nebelsohn ein!“, versuchte Helic es noch einmal. „Der Bengel macht nichts als Ärger – stiehlt, rauft, spuckt auf die Großen Zwölf und unsere Kirche...“ Ein einziger, warnender Blick des fremden Kriegers genügte und Windt hätte schwören mögen, dass der Gasthausbesitzer in diesem Augenblick seine Zunge verschluckt hatte. „Du stammst also aus diesem Dorf?“, wandte sich der Blutschopf wieder an ihn, unverhohlenes Misstrauen in der Stimme. „Wie ist dein Name, Junge?“ „Windt!“, schoss es ruckartig aus dem Jungen heraus. „Ja, mein Herr, so ist es. Was... Wie kann ich... Euch zu Diensten sein?“ Die Worte schienen einfach zu kommen, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. „Nun...“, der unheimliche Fremde ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Auf einmal schien Windt die Schänke so still. Totenstill. „Ich bin auf der Suche nach jemanden, der sich - und sei es auch nur stümperhaft - mit dem Heilen von Krankheiten und derlei auskennt. Gibt es so jemanden in eurem Dorf?“ Der Fremde sprach langsam und deutlich, seine Stimme hätte den Frauen auf dem Marktplatz gefallen. Der Junge jedoch glaubte in jedem Wort eine eiskalte Verachtung hören zu können. „Mein... Großvater.“, murmelte Windt bedächtig. Ein falsches Wort, Windt, nur ein falsches Wort und er schneidet dir den Kopf ab! „Fantastisch!“ Das Wort kam dem Fremden ohne jede Begeisterung über die schmalen Lippen. „Würdest du mich zu ihm führen? Ich schätze, wir müssen seine Dienste in Anspruch nehmen. Doch wenn er seine Sache gut macht, dürft ihr mit meiner Großzügigkeit rechnen.“ „Gewiss doch, Herr... Bitte folgt mir.“ Ohne den Kopf zu heben, schlurfte der Junge aus der Schänke - den Wirt, die Spielleute, die schwarzgekleidete Gestalt, alles hinter sich zurücklassend. Für ihn zählte nur noch, dass er seinem Großvater soeben einen großen Auftrag beschert hatte, mit dem sich sicherlich ein paar Soblin, wenn nicht gar Dalmadt verdienen ließ und, laut den Worten des Bluthaarigen zu urteilen, bestimmt nicht zu wenig. Die Euphorie in seinem Herzen wich jedoch schon bald einem zarten Hauch von Angst und Ehrfurcht. Das Einzige, was ihm signalisierte, dass ihm der Blutschopf folgte, war das im Takt klappernde Geräusch seiner Rüstung und dem angeregten Tuscheln seiner Lakaien und doch... Windt spürte sie immer noch, diese ungebändigte, gewaltige Kraft, welche von diesem Fremden auszugehen schien. Es war, als würde man einem berühmten Volkshelden in die Augen blicken, um dabei seine Taten sehen zu können, wie heroisch und edelmütig er zahlreiche Ungeheuer bekämpft, die Völker aus unzähligen Welten ein ums andere Mal von Tod und Unterdrückung befreit hatte. Doch war es bei diesem Blutschopf eben nicht genau jenes Gefühl. Wahrlich, man spürte einen Helden in diesem Mann, aber da war auch noch etwas anderes, ein Gefühl, dass Windt unweigerlich die Bilder von rotem Blut in den Kopf trieb, von Bergen gebrochener Herzen und Knochen, ein Gefühl, dass ihn bis ins tiefste Innere seines Körpers schaudern ließ. Der eisige Blick des Blutschopfes tat sein übriges, um jene Ehrfurcht, jene Beklommenheit heraufzubeschwören. Unzählige Male nach jenem schicksalhaften Tag hatte sich Windt gefragt, wieso er seinem Gefühl nicht vertraut hatte, wo er es doch sonst immer tat. Als die Dorfbewohner auf dem Platz die Berüsteten erblickten, neigten viele ehrfürchtig die Köpfe, einige malten das Zeichen der Zwölf zum Schutz vor Unglück in die Luft. Wieder andere flüchteten, so unauffällig es die Beine geboten, in ihre Hütten. Windt hörte die Gemüsefrau ängstlich flüstern: „Ich habe es immer gewusst! Dieser Junge wird uns eines Tages alle ins Grab bringen! Die Götter stehen uns bei...“ Mit gemischten Gefühlen steuerte der Junge mit der im Gänsemarsch wandernden Gruppe den sandigen Pfad an, der sich nördlich des Steinernen Platzes zwischen den angrenzenden Hügeln des Vergessens zum Hof seines Großvaters hinaufschlängelte. Der gefallene Elf ----------------- Zufrieden hockte der alte Heiler über seinem Kräuterbeet und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Die Handschuhe, die er sich zum Schutz vor Schnappnesseln angezogen hatte, standen vor Erde und Dreck. Nichtsdestotrotz war er zufrieden mit seiner Arbeit. In einigen Monaten würde es eine reiche Ernte geben, einige Kräuter würde er wahrscheinlich sogar schon früher verarbeiten können. Gerade wenn Zamberl in seinem Mantel aus Bärenpelz erwachte, um den Winter in der Welt einzuleiten, waren viele Leute auf Heiler angewiesen. Ein leises Lächeln fuhr über das Gesicht des Alten. Er hatte in den letzten Tagen und Wochen viel von dem Geld, das er für seine Dienste bekommen hatte, angespart und in der nächsten Woche würde er den Jungen damit überraschen und mit ihm zusammen eine Reise nach Agnorm unternehmen. Der Alte würde es so aussehen lassen, als müsse er dort noch ein paar weitere Zutaten einkaufen – Fieberschneckenschleim zum Beispiel und Königinnenkraut gegen Frostbeulen. Gleichzeitig konnte er seinem Spross die Stadt zeigen und ihn vielleicht bei dem einen oder anderen Lehrmeister vorstellen. Er seufzte vor sich hin. Wie oft in der Woche beschwerte sich Windt darüber, dass er viel zu selten Geld von den Dorfbewohnern forderte? Manchmal gaben sie ihm Brot für seine Dienste, Obst, Gemüse oder in den kalten Monaten auch warme Decken. Das war ihm als Bezahlung stets genug, er war nicht geizig, auch wenn er sich über jeden eingenommenen Bacalt freuen konnte. Ächzend erhob sich der ehemalige Soldat, nahm den Protest von Gliedern und Rücken ungerührt hin und schaute zu dem aufgeschichteten Brennholzstapel hinüber. Es wurde bald Zeit für das Abendessen und wenn er mit seiner üblichen Arbeit fertig war, konnte er sich nun auch genau so gut ans Gemüseschneiden machen. Copper trat aus dem Haus und wedelte mit dem buschigen Schwanz. Im Vorbeigehen streichelte ihn der Heiler vom Kopf über den Rücken und wollte gerade ins Haus gehen, als der Hund aufgeregt zu bellen begann. Der Alte hielt an der Tür inne und blinzelte in das allmählich sinkende Sonnenlicht. Dann erspähte er Windt, der sich an die Spitze einer kleinen Prozession gesetzt hatte und mit kaum merklich eingezogenem Kopf auf ihren Hof zusteuerte. Seine Begleiter trugen helle Waffenröcke und wallende Kapuzenumhänge – vermutlich waren es Reisende, die auf dem Weg nach Agnorm ihren Vorrat an Kräutern aufstocken wollten. Sollten sie nur, er würde sie nicht aufhalten. Das Essen reichte kaum für zwei und außerdem war er müde und wollte sich in seiner gemütlichen Stube von der schweißtreibenden Arbeit erholen. Den ganzen Tag hatte er Unkraut gejätet, Gemüse eingesammelt, Holz aufgeschichtet und hier und da im Haus einige Reparaturen vorgenommen. Für heute war es genug! „Seid gegrüßt, die Herren! Wenn Ihr vorhabt, nach Agnorm weiterzureisen, werdet Ihr vermutlich erst morgen Abend dort ankommen!“, rief er den Fremden zu. „Zumindest wenn Ihr zu Pferde unterwegs seid. Windt, du kannst schon mal ins Haus gehen und mit dem Gemüseschneiden anfangen, wir essen heute zeitig! Ich bin zum Umfallen müde...“ Der Junge ließ die Gruppe am Hofeingang stehen und eilte zu ihm herüber, Aufregung auf dem Gesicht. „Großvater, diese Herren wünschen, deine Dienste in Anspruch zu nehmen!“, rief er begeistert. „Sie suchen einen Heiler und ich war zufällig in der Nähe und...“ „Ist schon gut, Junge“, grummelte der Alte ergeben. „Dann kümmere ich mich schnell darum und dann machen wir uns ans Essen, einverstanden?“ Der Kräuterheiler schaute zu den versammelten Weißmänteln hinüber. Sie hatten sich die Kapuzen so dicht ins Gesicht geschoben, dass man sie für Geister hätte halten können. Im Dorf mussten sie für einiges Aufsehen gesorgt haben. „Tretet näher!“, winkte er sie heran und erkannte den Rothaarigen in seiner Rüstung als ihren Hauptmann. „Mit wem habe ich die Ehre, was kann ich für Euch tun?“ Vor seinen alten Augen schob sich der Berüstete in die Höhe und als er leibhaftig vor ihm stand, war er zu einem wahren Hünen geworden, der den Alten um bestimmt zwei Haupteslängen überragte. Misstrauisch nahm der Heiler den Harnisch des Hauptmanns genauer in Augenschein. Ein Abgesandter des Dalzar aus Dandelion oder Lindtheim konnte er nicht sein. Die Verzierungen auf der polierten Oberfläche sprachen dafür, dass diese Fremden von weit her kamen, sehr weit her. Dies war eine Prunkrüstung, die dafür gedacht war, Eindruck zu schinden. Er selbst hatte nie so etwas Kostbares besessen – und wozu auch? Er hatte als einfacher Soldat in Schlachten gekämpft und war niemals an die Tische der Großen geladen worden. „Wenn Ihr gestattet...“, entgegnete der Blutschopf und bei seiner Stimme regte sich etwas im Inneren des alten Mannes. „Lord Serias To’Nihlin. Ich bin mit meinen Männern auf der Suche nach den Erben der Gläsernen Druiden und meine Suche hat mich in Euer Dorf geführt. Ich nehme an, der Junge hat nicht gelogen und ihr seid ein Heiler, nicht wahr?“ Als der Großvater den Namen des Fremden vernahm, wich ihm das Blut aus dem Gesicht. Er nahm den Hünen mit dem langen, roten Haupthaar genau in Augenschein, musterte sein Antlitz und kniff dann die Augen misstrauisch zusammen. „Serias To’Nihlin, sagtet Ihr?“, fragte er langsam und leise, bevor er mit todernster Miene an seinen Enkel wandte: „Windt, geh ins Haus! Verriegele die Tür und bleib bei Copper!“ Der Junge schaute verdutzt – natürlich! Er hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging und wenn es nach dem Willen des Alten ging, sollte das vorerst auch so bleiben. „Aber... ich... Großvater? Ich wollte doch nur...“, stotterte der Junge, doch der alte Heiler schob ihn beiseite und baute sich vor dem Hauptmann der kleinen Gruppe auf. „Mach schon, Junge! Geh ins Haus und bleib dort, bis ich dich holen komme!“, befahl er noch einmal und diesmal gehorchte Windt. Sein Großvater wartete, bis der Junge im Haus verschwunden war und er den Riegel hörte, der auf der anderen Seite der Tür vorgeschoben wurde. Erst dann begann er mit Serias zu sprechen, sorgfältig darauf achtend, die Worte langsam und mit Bedacht zu wählen. „Es ist lange her...“ „Fünfzig Jahre, wenn nicht mehr“, bestätigte der Blutschopf. „Ihr habt einiges von Eurer einstigen Statur und Kraft eingebüßt, wie ich sehe...“ „Und Ihr seid noch am Leben...“, erwiderte der Großvater kalt. Auf dem Gesicht des Hauptmanns erschien ein Lächeln, in seinen Augen lag ein unheilvolles Leuchten. „Seine Majestät wird entzückt sein. Endlich habe ich Euch gefunden, einen der letzten menschlichen Erben der Gläsernen Druiden. Für den Rest der Welt ist Euresgleichen offenbar schon vor langer Zeit tot und begraben worden.“ Er rümpfte die Nase und wandte den Blick zu dem kleinen Dorf im Süden hinüber. „Sie fürchten uns, ohne dass wir ihnen einen Grund dafür gegeben hätten.“ „Was vermutlich eher nach Eurem Geschmack gewesen wäre, wie ich vermute.“, warf der alte Heiler an und ließ den Gefallenen nicht aus den Augen. „Versteht mich nicht falsch. Manchmal kann es auch ganz amüsant sein, all das Blut gegen ein kühles Buckelbier zu tauschen, um der alten Heimat Willen. Abgesehen davon stellt so ein armseliges Dorf für mich wohl kaum eine Bedrohung dar. Ich hatte ehrlich nicht vermutet, dass es überhaupt noch existiert.“ Jetzt glitt Serias Blick über den Hof, das Beet, den verwaisten Stall neben dem Haus und sein seltenes Lächeln wurde zu einem noch selteneren Grinsen. „Ihr habt es also endlich geschafft, Euch niederzulassen. Na ja, wenn man das so nennen kann...“ Der Großvater starrte ihm unbeirrt entgegen. War es wirklich schon fünfzig Jahre her? Für einen Menschen mochte dies eine halbe Ewigkeit bedeuten, für den Elf, der Serias To’Nihlin einst gewesen war, vermutlich nur ein paar unbedeutende Augenblicke. Einst waren sie Waffenbrüder gewesen, die unter einem gemeinsamen Banner gedient hatten. Doch dann hatte der Wahnsinn Serias Geist vergiftet, er war zu einem Gefallenen geworden, wie viele andere Elfen auch. Bis heute hatte der alte Kräuterheiler geglaubt, sie wären mit dem Ende des letzten Krieges untergegangen, doch nun hatte der Grimmige den Schlimmsten unter ihnen von der Kette gelassen. „Sagt mir einfach, was Ihr wollt und dann verschwindet aus unserem Dorf, Blutelf!“, knurrte der ehemalige Soldat. Er wusste, dass er diesem To’Nihlin im Ernstfall nichts entgegenzusetzen hatte. Serias mochte mittlerweilen an die dreihundert Jahre alt sein, doch im Gegensatz zu ihm schien er kaum an Kraft eingebüßt zu haben. Der Gefallene schob sich das blutrote Haar hinter die spitzen Ohren. „Nun gut, kommen wir also zum Grund meines Besuches. Wie bereits erwähnt, bin ich auf der Suche nach den Erben der Gläsernen Druiden. Nur mit ihnen haben die Wälder das Geheimnis um das mächtigste aller Elixiere geteilt, das aus der Essenz des Dostarsiels gewonnen wird – des Pilzkaisers. Euer Vater wusste um dieses Geheimnis und er war ein Gläserner Druide. Er muss sein Wissen an Euch weitergegeben haben, so wie es die Tradition verlangt!“ „So viele Jahre gingen ins Land und Ihr habt Euch kein Bisschen verändert. Noch immer strebt Ihr nach dem, was unerreichbar ist, noch immer jagt Ihr alten Wundern hinterher und lasst euch blenden von der Gier, der Ihr verfallen seid, als Ihr ein Gefallender wurdet. Der Pilz von dem Ihr sprecht, ist ein Mythos, eine Legende... Und selbst wenn ich wüsste, wo er zu finden ist oder wie man aus ihm ein Erzelixier herstellt, wäret Ihr der Letzte, dem ich davon erzählen würde.“ „Nun seid doch nicht so stur!“, entgegnete Serias mit erhobener Stimme. „Ich weiß genau, dass Ihr mir etwas verschweigt. Das Wissen der Druiden muss an einen Blutsverwandten weitergegeben werden! Ihr müsst etwas wissen!“ „Für Gefallene haben wir hier keinen Platz, Serias. Ich denke, die Welt wird es verkraften, solltet Ihr vor Eurem Herrn in Ungnade fallen... Und jetzt verlasst meinen Hof, lasst Euch hier nie wieder blicken!“ „Du wagst es, mir zu drohen?“, raunte der Blutelf leise. Zorn wallte in seiner Stimme und er ballte die Hände zu Fäusten, wohl bemüht, nicht augenblicklich nach seinem Schwert zu greifen. „Ich glaube, Ihr habt vergessen, wer hier vor Euch steht, alter Mann! Auch als To’Nihlin bin ich immer noch ein Elf. Selbst in Euren besten Jahren hättet Ihr Euch nicht mit mir messen können, nun seid Ihr alt und schwach, wie es seit je des Menschen Schicksal ist. Was hindert mich daran, Euch mitsamt Eures Dorfes von der Landkarte zu tilgen!?“ Seine Lakaien schienen sich von seiner Unruhe anstecken zu lassen. Sie bellten dem Alten Flüche in einer ihm unbekannten Sprache entgegen, einige wenige griffen zu den Waffen. „Ich habe Euch nichts entgegen zu setzen, das ist wahr...“, erwiderte der Heiler müde. „Aber durch meinen Tod würdet Ihr Eure Suche nur verlängern und das Dorf stellt, wie Ihr bereits angemerkt habt, keine Bedrohung für einen gefallenen Elfen dar. Und wenn Ihr um die Gläsernen Druiden wisst, dann solltet Ihr auch wissen, dass sie ihre Geheimnisse nicht einmal unter der schlimmsten Folter je preisgegeben haben.“ Er wandte dem Blutelf den Rücken zu und ging zum Haus hinüber. „Nehmt das letzte an Ehre, das Euch geblieben ist und geht in Frieden, Serias Blutelf. Mit Euch habe ich nichts mehr zu schaffen.“ Es blieb still. Dann knirschte der Sand unter den Stiefeln des Hauptmanns, als sich Serias tatsächlich zum Gehen wandte. Der Großvater verfolgte seine Schritte mit den Ohren und war erleichtert, unendlich erleichtert. Am Hofeingang blieb der Hüne ein letztes Mal stehen und schaute zu seinem einstigen Freund und Waffenbruder zurück. „Das wirst du bereuen, alter Mann. Deine Kräfte sind versiegt, zum Kämpfen taugst du nicht mehr. Wir werden dieses Gewächs bekommen – und auf meinen Reisen habe ich Foltermethoden kennengelernt, die selbst einem Gefallenen das Blut in den Adern gefrieren lassen.“ Sein Blick fiel zum Haus, in dem der Junge durch die langsam aufziehende Dämmerung Licht gemacht hatte. „Einen stattlichen Burschen habt Ihr da übrigens aufgezogen. Gebt gut auf ihn Acht, sonst könnte ihm eines Tages vielleicht etwas Schlimmes zustoßen...“ „Der Nebel Isagals soll dich verschlingen!“, brüllte der Alte und griff nach einem Holzscheit, um auf den Blutelfen zu werfen. „Wenn du meinem Jungen auch nur ein Haar krümmst, bekommst du meinen Zorn zu spüren, Serias Blutelf!“       Ein Gefallener? Windts Augen weiteten sich bei dem Gedanken daran, was das für sie bedeutete. Der Wirt von Maelins Zuflucht, die Gemüsefrau auf dem Markt, die Spielleute, selbst sein Großvater – sie alle erzählten sich die haarsträubendsten Geschichten über diese Wesen. Begonnen hatte alles bei der Großen Siedlung, dem sagenumwobenen Ort der östlichen Wälder, an dem die Clans der Baum- und Waldelfen lebten. Normalerweise trauten sich nur wenige von ihnen auf die Ländereien Myrinhas in die Städte, wo sich ihre Körper – fernab des Waldes und der Natur – veränderten und sie zu Weiß- und Staubelfen wurden. Vor einigen Jahrhunderten jedoch war das noch ganz anders gewesen. Zu jener Zeit herrschte das Volk der Elfen uneingeschränkt über Myrinha und machte es zu dem Königreich, das es heute war. Nach dem zweiten Großen Elfenkrieg, bei dem die Zwerge aus dem Infantinengebirge einen Großteil ihrer Heimat verloren, geschah ein Wandel in den Reihen der Elfen. Windt hatte nur Geschichten gehört – allesamt alt und aus Tagen, welche die Menschen heute lieber vergessen wollten. Begonnen hatte es damit, dass einige unter den Elfen nur noch für den Krieg und die Schlachten zu leben begannen. Manche von ihnen verfielen dem Wahnsinn und wurden selbst gegenüber ihren eigenen Stammesgenossen misstrauisch.  Als sich schließlich die ersten Elfen verwandelten, war es bereits zu spät. Eine neue Art ihrer Rasse war geboren, welche man zu dieser Zeit Blutelfen taufte. Sie ließen sich weltweit als Söldner anheuern, reisten als Barbaren durchs Land und weideten sich am Blut ihrer Opfer. Vor ihrem eigenen Volk in Ungnade gefallen, begann sich ihr Haar rot zu färben, so rot wie das Blut, das an ihren Händen klebte. Von ihren Stämmen und ihrer Heimat verstoßen, waren sie fortan als arme Seelen gebrandmarkt, die plündernd und mordend durch die Lande zogen, gierig nach dem Tod und nach Blut. Allein sein Geruch solle sie anziehen. Nun verstand Windt auch die Angst in seinem Herzen. Es hatte ihn warnen wollen, warnen, vor diesem gefährlichen Fremden, dessen Antlitz doch seine schrecklichen Taten verriet und nun hatte er ihn hierher geführt, in sein Zuhause. Er hätte sich ohrfeigen mögen... Der Junge saß vor der ausgebrannten Feuerstelle, als sein Großvater ins Haus zurückkehrte und sorgfältig die Tür hinter sich abschloss. Copper hockte neben ihm und ließ sich hinter den ungewöhnlich langen Schlappohren kraulen. Dem Gesichtsausdruck des alten Mannes nach musste sich sein Herz wie ein Sack mit tausend Steinen anfühlen, als er sich ächzend am hölzernen Esstisch in der Mitte des kleinen Raumes niederließ. Windt gesellte sich zu ihm, sein Blick wirkte schmerzlich auffordernd. „Dir fallen noch die Augen aus dem Kopf...“, murmelte der alte Mann merklich erschöpft. Der Junge hatte ihn noch nie so aufgelöst erlebt. „Großvater...“ „Windt!“, unterbrach ihn der Alte. „Ich kann mir vorstellen, dass du einige Fragen auf dem Herzen hast, aber glaube mir, es ist besser, wenn du das meiste davon noch nicht erfährst.“ Sein Blick wirkte plötzlich sehr ernst. „So viel sei dir gesagt, mein Junge... dieser Mann war ein Gefallener, ein verstoßener Elf. Eine verdorbene Seele, der es nach den Schmerzen und den Qualen anderer gelüstet. Du tust gut daran, ihm nie wieder unter die Augen zu treten.“. „Was wollte er von dir, Großvater?“, fragte Windt dann doch, während er ungeduldig an seinem Halstuch zupfte. Sein Großvater fragte sich immer wieder, wie er dieses alte Ding selbst bei solchen Höllentemperaturen tragen konnte. „Er ist auf der Suche nach einer Medizin, die es nicht gibt und nun hör’ bitte auf zu fragen. Du wirst die Antworten erfahren, doch jetzt ist nicht der passende Augenblick dafür.“ Die alten Augen streiften Windts Hände, der Heiler hatte einen sechsten Sinn, was solche Sachen anbelangte. „Eine Verbrennung, hm? Warte kurz, wir haben noch etwas Fieberschneckensalbe übrig. Sie müsste noch gut sein, vielleicht zwei, drei Tage alt...“ Windt hätte noch tausend andere Fragen stellen mögen, doch er gehorchte dem Rat seines Großvaters und schwieg. Nachdenklich zupfte er sein Halstuch zurecht. Was hatte sein Großvater, der - so dachte er - keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte, mit einem Gefallenen zu schaffen, noch dazu mit einem so furchteinflößendem? Wer waren diese seltsamen Gläsernen Druiden, über die sie gesprochen hatten und weshalb war Serias wirklich in ihr Dorf gekommen? „Nun schau mal nicht so griesgrämig!“, riss ihn der Alte aus seinen Gedanken. In einem Regal über der Feuerstelle hatte er die Salbe gefunden und trug sie nun sorgfältig auf Windts Hände auf. „Morgen ist das Salirfest. Da kannst du dein Glück mit Saitenzupfen versuchen und wer weiß, vielleicht lernst du ja sogar jemanden kennen? Ein hübsches Mädchen vielleicht?“ „Ach, Großvater...“, seufzte Windt. Die Fieberschneckensalbe kühlte und linderte das Echo, das aus den Schmerzen von vor einigen Stunden übrig geblieben war. Zum ersten Mal an diesem Abend schmunzelte der Alte und fuhr Windt mit der sauberen Hand durch sein strubbeliges Haar. „Auf jeden Fall möchte ich, dass du dich nützlich machst, tust du mir diesen Gefallen? Hilf ihnen bei den Vorbereitungen im Dorf und geh - um Himmels Willen - bitte nicht wieder auf diese verfluchten Hügel. Es gibt wirklich Wichtigeres, Windt. Das weißt du!“ „Ja, Großvater... Ich weiß... Ich weiß...“ Der Anfang vom Ende ------------------- Ein jähes Geräusch riss Windt aus seinem Schlaf. Die vielen Jahre des Lautenspiels hatten seine Ohren geschult und jetzt wusste er: Da war jemand auf dem Hof. Wer auch immer zu dieser späten Stunde dort herum schlich, das Knirschen von Sand unter seinen Füssen, das sachte Quietschen beim Öffnen der Holztür am Zaun verriet ihn. Leise setzte Windt sich auf und spähte in die Dunkelheit. Sein Zimmer war nur eine kleine Kammer, gerade gross genug, um ein Bett und einen Schrank unterzubringen. Durch das Fenster hatte er einen guten Blick über das Kräuterbeet, doch der Eingang zum Hof und die Strasse nach Kessl blieben ihm verborgen. Trotzdem, irgendjemand war da draussen. Windt schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Die Schritte klangen jetzt näher, doch etwas war merkwürdig. Er runzelte die Stirn. Es schien fast, als wollte der nächtliche Besucher gehört werden. Überhaupt, welcher Dieb – aber was konnte es sonst sein? – käme durch die Vordertür ins Haus? Plötzlich wurde es still, aber nur einen kurzen Augenblick lang. Jemand räusperte sich. Dann wurde die Tür zum Wohnzimmer, das gleichzeitig auch Essbereich und Küche war, mit einer Wucht aufgeschlagen, dass es klang, als könnte sie jeden Moment aus den Angeln springen. Windt fuhr hoch und stiess sich beinahe den Kopf an der niedrigen Decke. Er eilte zur Zimmertür und griff im Gehen nach der Laute, die neben seinem Bett an der Wand lehnte. Weiter kam er jedoch nicht. Er blickte auf und eine finstere Gestalt stand im Türrahmen, ein Schwert in der rechten, eine Kerze in der linken Hand. Ihr Licht malte Schatten unter die boshaften Augen, die einer Eidechse erstaunlich ähnlich waren. Mit einem Tritt beförderte der Eindringling Windt zurück aufs Bett und trat ein, hielt jedoch jäh inne. „Wir haben ihn! Er ist hier!“ „Nein!“ „Grossvater!“, rief Windt und sprang auf. Das war ganz eindeutig seine Stimme. Was hatten sie mit ihm vor? Wer waren diese Männer? In einem jähen Anflug von Übermut stiess Windt den Echsenmann zur Seite und eilte ins Wohnzimmer. Ein kurzer Blick in die Kammer seines Grossvaters genügte, um zu wissen, dass der Alte nicht mehr dort war. Eine Spur aus Blutstropfen zog sich durch den Raum auf den Hof hinaus. Als Windt dort ankam, stockte ihm der Atem. Eine Gruppe in weisse Kapuzenmäntel gehüllter Fremder hatte sich zwischen dem Holzzaun und dem Haus versammelt. Wie bei einer magischen Beschwörung standen sie da, bildeten einen Kreis und hoben Fackeln in den nächtlichen Himmel. In ihrer Mitte erkannte Windt eine weitere Gestalt. Der Schein der Fackeln fiel auf blutrotes Haar und liess es lodern, als stünde es selbst in Flammen. Mit einem wahnsinnigen Lächeln auf dem Gesicht, wandte sich der Gefallene zu ihm um. In der Rechten trug er sein Schwert, dass viel zu schwer schien, um es mit einer Hand halten zu können. In die breite Klinge waren in einer Reihe mehrere Sichel- und Halb- sowie in deren Mitte ein Vollmond eingraviert. Die Spitze der Klinge selbst verlief in zwei gabelartigen Zinken und bildete damit den letzten Sichelmond. Erst jetzt erkannte Windt, dass der Blutelf etwas Zappelndes in der anderen Hand nach oben reckte – etwas Lebendiges. Die gepanzerten Finger klammerten sich um die Kehle seines Grossvaters. „Grossvater...“, wimmerte Windt. Serias’ Lächeln erstarrte und verwandelte sich in Wut. Er richtete seine glitzernden Augen auf den Alten, das gewaltige Schwert fest umklammert. Sein Ruf klang wie ein Donnergrollen: „Wo ist der Dostarsiel!“ Der Heiler schüttelte den Kopf, so gut es ihm möglich war. Mit einem zornigen Aufschrei schleuderte ihn der Blutelf in den Staub. Windt sah in das angsterfüllte Gesicht seines Grossvaters. Blut sickerte ihm über die Lippen. Er streckte die Hand nach dem Jungen aus und versuchte ein Lächeln, als er ihn erkannte, versuchte, auf ihn zu zu kriechen. Jegliches Bemühen erstarb mit einem Ruck und ein Schwall frischen Blutes spritzte aus seinem Mund. Windt schaute auf. Das Breitschwert des Gefallenen ragte aus dem Rücken des Alten empor und Serias stand über ihm, das verteufelte Lächeln des Grimmigen auf dem Gesicht. „Mörder...“, hauchte Windt. Dann lauter: „Mörder!“ Das Wort erhob sich zu einem Schrei, einer Mischung aus heisser Wut und eiskaltem Hass. Er wiederholte es immer und immer wieder und als wäre Serias plötzlich geohrfeigt worden, wich er wie durch ein Wunder zurück. Jetzt schrie Windt, schrie dem Gefallenen das eine Wort entgegen und trieb ihn fort, über den Hof hinaus bis auf die Strasse. Noch einen Schritt wich der Blutelf zurück, dann blieb er stehen und schulterte sein Schwert, von dessen Klinge noch immer der Lebenssaft von Windts Grossvater tropfte. Er deutete auf Windt, einen undefinierbaren Ausdruck in den Augen. „Banagor!“       Mit einem gedämpften Aufschrei fuhr Windt aus dem Schlaf. Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster zu seiner Rechten herein, der Kräutergarten, der westlich des Hauses neben Obst und Gemüse wuchs, war in schönstes Tageslicht getaucht. Mit brennenden Augen umklammerte Windt die Bettdecke – und stellte entsetzt fest, dass seine Hände zitterten. Das Bild von den letzten Sekunden seines Grossvaters, sein angsterfüllter Blick, die weit aufgerissenen Augen in dem Moment seines Todes, war immer noch da. „Grossvater?“ Er schluckte, seine Kehle war staubtrocken. „Hey, alter Mann, bist du da?“ Niemand antwortete. Im nächsten Augenblick stieg Panik in ihm hoch und trotz der Hitze des Sommers fröstelte er. Wenn er jetzt in den Hof hinaus ging... Was würde er dort vorfinden? Aber es war doch nur ein Traum... Zugegeben, ein sehr realer und sehr schrecklicher, aber letztendlich doch nur... Windt schwang die Beine aus dem Bett. Das war doch albern. Träume waren letztendlich nur Einbildungen, die verschwanden, sobald die Nacht vorüber war. Er ärgerte sich über sein laut klopfendes Herz, als er die Tür ins Wohnzimmer öffnete. Das Haus lag verlassen da. Nur ein Bündel aus schwarzem, zottigen Fell, das sich bei näherer Betrachtung als Copper Kupferzahn herausstellte, lag vor dem Kamin und schnarchte leise. Auf dem Esstisch – der Kräuterheiler hatte zwei Bücher benutzt, um ein zu kurz gezimmertes Bein auszugleichen – lag ein Zettel:   Guten Morgen Krieger   Bin ins Dorf gerufen worden, nachdem jemand beim Beerenpflücken in einen Busch voller Schnappnesseln gestolpert ist. Mach dich bei den Vorbereitungen nützlich, wenn du kannst und kauf dir auf dem Markt etwas zu essen. Falls wir uns bis zum Abend nicht sehen, wünsche ich dir viel Spass auf dem Salirfest.   Pass auf dich auf Grossvater   Windt runzelte die Stirn und legte die Notiz zurück auf den Tisch. Es geht ihm gut, dachte er erleichtert. Er ist unten im Dorf und geht seiner Arbeit nach. Es ist alles in Ordnung. Und heute gibt es süsses Brot zum Frühstück! Er schmunzelte in sich hinein und schalt sich selbst noch einen Dummkopf, bevor er sich umwandte und zum Kamin hinüber schritt. Über dem Sims hingen Töpfe und Pfannen, standen Gläser mit getrockneten Kräutern und Gewürzen aus dem Garten oder das eine oder andere Kochbuch. Etwas ganz Besonderes jedoch waren die farbigen Büchsen mit dem schwarzen Steinsymbol darauf. „Bevor ich geboren wurde, gab es einmal einen Mann namens Obsilius, der als Reisender und Kräuterkundiger bekannt war. Man sagt, er sei durch ganz Myrinha gewandert und habe zahlreiche Wunder gesehen und Entdeckungen gemacht. Was uns von ihm erhalten geblieben ist – das Geschenk, das er dieser Welt gemacht hat – sind diese Teesorten!“, hatte Windts Grossvater ihm einmal erklärt und dabei ganz stolz auf diese Büchsen gezeigt. „Der fuchsrote Obsilian ist, wie der Name sagt, aus roten Beeren gemacht. Zu meiner Sammlung gehört ausserdem der rabenschwarze, der sehr bitter und kräftig ist, und der schneeweisse Obsilian. Der ist wiederum sehr mild – der reinste von allen, sagt man – und wird aus der weissen Rose gemacht, die eigentlich gar keine richtige Rose ist.“ Den ganzen Abend hatte der Alte von nichts anderem mehr gesprochen. Den Obsiliantee pflegte er immer dann aufzusetzen, wenn ein grosser Auftrag erfolgreich beendet wurde oder ihm und seinen Freunden etwas Gutes widerfahren war. Seit einigen Jahren jedoch war die Büchse vom schneeweissen Obsilian leer und wurde als geheimes Versteck für ihre Ersparnisse verwendet. Das Aroma der seltenen Teeblätter hatte sie allerdings behalten und auch jetzt sog Windt den Duft der weissen Nicht-Rose ein, als er die Schachtel öffnete. Doch als er sich anschliessend daran machen wollte, das Geld abzuzählen, staunte er nicht schlecht. Sein Grossvater musste in letzter Zeit eine Menge beiseite gelegt haben. Insgesamt über dreissig Dalmadt befanden sich in der Büchse – das war genug Geld, um ein stattliches Nebelross zu kaufen oder aber, um eine längere Reise zu machen. Was hatte der Alte mit so viel Geld vor? Und wieso hatte er seinem Enkel bisher nichts von ihrem kleinen Reichtum erzählt? Mit so vielen Goldmünzen konnte er es sich leisten – und da dämmerte es Windt allmählich – ...konnte er es sich leisten, einen Lehrmeister dafür zu bezahlen, einen Schüler aufzunehmen! War das etwa der Plan? Wollte er Windt fortschicken? Die Euphorie, die er soeben noch verspürt hatte, war mit einem Schlag verflogen. Lustlos klaubte sich Windt ein paar Münzen zusammen, um sein Frühstück zu bezahlen, legte den Rest zurück in die Büchse und stellte sie zu den anderen auf den Kaminsims. Aber... wieso hast du mir denn nichts gesagt? Er trottete in sein Zimmer zurück, um seine Laute zu holen. Auf dem Weg nach draussen kraulte er Copper, der immer noch schnarchte, zwischen den Schlappohren und machte sich dann auf in Richtung Dorf. Er kaufte sich ein süsses Brot, auf dem er lustlos herumkaute und bat den Zuckerbäcker anschliessend um Arbeit. Zu seiner Verbitterung taugte Windt in seiner derzeitigen Verfassung jedoch nicht als Gehilfe. Er verschleuderte das Mehl, bis nicht nur sein Haar schneeweiss war und der Meister ihn nach ein paar Stunden wutschnaubend entliess. Als er beim Aufbau der Stände für das Salirfest helfen wollte, schaffe er es irgendwie, die Balken in Brand zu stecken und als der Brunnen in der Dorfmitte hergerichtet werden sollte, beschwor er ungewollt einige Wasserfontänen herauf und bespritzte die übrigen Arbeiter mit Wasser. Irgendwann war jeder weitere Versuch des Guten zu viel und so wurde Windt zum Hof des alten Kräuterheilers zurückgeschickt. Wütend über sich selbst und alle anderen beschloss Windt, nicht nachhause zu gehen. Dort würde er letztendlich doch nur dem alten Kräuterheiler begegnen und der würde sich wundern, wieso er nicht im Dorf war und wie vereinbart mit anpackte. An der Kreuzung zu Agnorm verliess Windt die Sandstrasse und stapfte über die Hügel zum Kobaltschatten hinauf, bis der Hof hinter den grünen Buckeln nicht mehr zu sehen war. Dort fläzte er sich ins Gras und sah mit wachsender Abneigung den Bewohnern von Kessl bei der Arbeit zu. Seine Gedanken glitten – wie so oft, wenn er alleine war – zu den Eltern ab, die er nicht besass und wie das Leben sein würde, wenn er welche hätte. Wenn er auf dem Marktplatz die Laute spielte, hörte er die Kinder stolz von ihren Vätern sprechen, die so mutig und stark waren und einen Schnapphold mit blossen Händen erledigen konnten. Die Mädchen stritten sich darum, welche ihrer Mütter die hübscheste war und erzählten sich Geschichten, wie sich die Eltern kennengelernt hatten... Windt kannte keine solcher Geschichten. Natürlich hatte er seinen Grossvater irgendwann einmal gefragt, doch der Alte hatte wie so oft nur auf seine rätselhafte Weise den Kopf geschüttelt und gesagt: „Wenn die Zeit reif ist, mein Junge. Wenn die Zeit reif ist.“ Doch die Jahre vergingen und noch immer wusste Windt nichts über seine restliche Familie. Hatten sie vielleicht ebensolche Kräfte besessen wie er? Waren sie Spielleute gewesen oder Heiler wie sein Grossvater? Waren sie vielleicht gar nicht tot, sondern lebten einfach nur weit fort in irgendeinem fremden Land? Oder vielleicht wollte der Alte nur deswegen nichts erzählen, weil sie Assassinen waren?  Möglicherweise Räuber? Das würde erklären, wieso auch er so ein ausserordentliches Geschick darin besass, die Taschen der Leute im Dorf zu leeren ohne dass diese etwas davon merkten. Während Windt darüber grübelte, verging die Zeit. Die Sonne bahnte sich ihren Weg über den wolkenlosen Himmel und irgendwann döste der Junge ein. Er bemerkte nicht, wie sich der Himmel von Blau nach Orange und Rot und schliesslich Purpur färbte – und das Sommerfest mit jeder Stunde näher rückte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)