Myrinha von Wolkenwolf (Auftakt der Dämmerung) ================================================================================ Das Namenlose Dorf ------------------ Windt verließ den Hof des alten Heilers und bog auf der sandigen Straße Richtung Süden ab. Er schlenderte unbekümmert an so manch weiterem Schrein vorbei und hob den Kopf, um einen kurzen Blick über ganz Kessl werfen zu können. An einer Kreuzung wies ein großer, in die Erde gegrabener Fels in verschiedene Richtungen, die Namen der Städte und Gegenden waren in seine raue Oberfläche gekratzt worden. Die Hügel des Vergessens begannen nicht weit entfernt der Straße, wenn man sich vom Haus des Kräuterheilers immer weiter rechts hielt. Allerdings war der Name auf dem Stein mit roter Farbe versehen worden, ein Hinweis darauf, dass dieser Ort gefährlich sein konnte. Selbstverständlich kannte Windt die Gerüchte, die man sich um die Wiesen um den Kobaltschatten herum erzählte. Angeblich verlor man sein Gedächtnis, wenn man sich länger dort aufhielt, bis man irgendwann sich selbst vergaß und nicht mehr zurück fand. Einige Dorfbewohner berichteten von Angehörigen, die sie auf diese Weise verloren hatten. Andere kehrten zwar von den Hügeln zurück, erkannten jedoch ihre Familien nicht mehr oder wurden zu Vagabunden. Windt glaubte, dass er ohnehin nicht mehr viel besaß, das sich zu vergessen lohnte. An die Gesichter seiner Eltern konnte er sich nicht erinnern, ebenso wenig, woher seine geliebte Laute stammen mochte oder warum er so anders aussah als alle anderen. Eines war ihm jedenfalls gewiss: Sein Zuhause, seinen Großvater und den alten, trägen Copper Kupferzahn würde er niemals vergessen, nicht einmal durch den mächtigsten Zauber. Als die Strasse in Richtung Dorf immer weiter abfiel und das nördliche Tor allmählich in Sicht kam, läutete die Kirchenglocke. Windt blickte auf. Der Kirchturm selbst ragte wie ein Dorn aus den eng aneinander gedrängten Häusern empor. An seiner Front befand sich die Gezeitenuhr – eine Erfindung der Monetarier. Sie läutete nicht nur zu jeder vollen Stunde, sondern zeigte mit farbenprächtigen Symbolen auch die Jahreszeiten und besondere, wichtige Feiertage an. Von Kessls Mittelpunkt, dem Steinernen Platz mit seinem Brunnen, ragten an diesem Tag bunte Fähnchen in die Höhe. Die festen Geschäfte und niedrigen Wohnhäuser schienen sich über den alten Brunnen zu beugen und höhnisch auf ihn herab zu stieren. Ja, es war Markttag im namenlosen Dorf, das aufgrund der Hügel des Vergessens so genannt wurde. Als Windt das Stadttor erreichte, an dem ebenfalls Fähnchen im Wind flatterten, ächzte er leise: Die Dorfmitte war zum Bersten angefüllt mit Menschen jeder Altersklasse. Bauern und Handwerker kehrten in Maelins Zuflucht ein, wo man für ein paar Bacalt ein frisches Bier von Helic bekommen konnte. Heute würde das Gasthaus bis spät in die Nacht geöffnet haben und alle Leute mit prall gefüllten Börsen herzlich empfangen. Das Gebrüll der Kaufleute, Marktschreier und Feilbieter übertönte alles andere. Kinder tollten über den heißen Steinboden und die Frauen tauschten Neuigkeiten und Gerüchte aus oder verwandelten die Fülle in ihren Geldbeuteln in gähnende Leere. Zwischen den Ständen hingen Girlanden mit gelben und orangefarbenen Blüten, um das göttliche Geschwisterpaar der Sommermonate zu ehren. Windt passierte das Tor – um diese Zeit passte dort sowieso niemand auf – und hielt sich am Rand des Platzes auf, um sich umzusehen. Manchmal kamen Händler aus den entlegensten Winkeln Myrinhas nach Kessl und boten ihre exotischen Waren an. Die Gezeitenuhr schlug die zweite Stunde nach Mittag und die Bauern kehrten auf ihre Höfe und Felder vor dem Dorf zurück. Umso besser!, dachte Windt. Frauen und Kinder waren ein angemessenes Publikum und besonders am Markttag hatte immer jemand eine Münze für ihn übrig. Natürlich fürchteten sie die Magie, welche der Junge mit seinem Instrument beschwören konnte, aber Windt war ein Meister seines Fachs. Seine traurigen Waisen rührte die Menschen zu Tränen, brachten die Hunde zum Winseln. Windt beschloss, keine weitere Zeit zu verlieren. Gerade wollte er in dem Getümmel der fahrenden Händler verschwinden, als plötzlich etwas gegen seine Schulter krachte. Er taumelte ein paar Schritte vorwärts und wandte sich um. Das grimmige Lächeln eines Dorfbewohners starrte ihm entgegen. „Kannst du nicht aufpassen, Teufelsbalg?“ Der Fremde stieß Windt mit der flachen Hand gegen die Brust. Seine Begleiter – vier weitere Männer vom übelsten Schlag, lachten hämisch und stimmten ihm zu. „Was ist jetzt, Mateus? Du hast gesagt, du gibst ne’ Runde aus. Meine Kehle ist schon ganz trocken.“ „Ich hab ne’ bessere Idee!“, antwortete der Mann, der Windt angerempelt hatte und klatschte in die Hände. „Der Junge hier soll uns einen ausgeben, als Entschuldigung, dass er mich angerempelt hat.“ „Ich habe kein Geld...“, sagte Windt leise und senkte den Kopf. Er wollte nicht wissen, welche Abgründe sich in den Augen dieser Männer verbargen. „Wir verkaufen seine Laute!“, schlug der Kleinste aus der Gruppe vor. „Für ein paar Buckelbier wird’s reichen.“ Mateus, der den Jungen noch immer angrinste, streckte die Hand aus. „Du hast’s gehört, Junge. Her damit, oder muss ich sie mir holen kommen?“ Windt schaute sich um. Auf dem Marktplatz herrschte noch immer dichtes Gedränge und der Lärm war ohrenbetäubend. Irgendjemand musste ihm doch zu Hilfe eilen. Er suchte den Blick einer vorbeieilenden Magd, doch sie schlug nur die Augen nieder und ging in eine andere Richtung davon. „Hey, bist du taub? Gib’ mir das Ding und verzieh dich, dann gibt’s auch keinen Ärger. Meine Freunde und ich sind durstig.“ Sie lachten und waren im Begriff, ihn einzukreisen. Für eine Flucht war es inzwischen zu spät. Er machte einen Schritt nach hinten, ließ den hilfesuchenden Blick mal hierhin, mal dorthin schweifen. Mateus stand jetzt unmittelbar vor ihm. Windt konnte seinen fauligen Atem riechen und auch ein Bad hätte der Saufkopf bitter nötig gehabt. „Nein...“, stammelte er kleinlaut. Etwas kratzte in seiner Kehle und ihm wurde mit einem Mal schrecklich heiß. Die Männer schienen nicht bemerkt zu haben, dass die Luft um sie herum kaum merklich zu flimmern begonnen hatte. Nein! Nicht ausgerechnet jetzt... „Was hast du gesagt?“ Mateus gab ihm eine Ohrfeige „Ich rate dir, besser nicht frech zu werden. Soll ich mir die Laute jetzt holen oder rückst du sie freiwillig raus?“ „Ich...“ Windt hielt es nicht länger aus. Das Blut schien ihm in den Adern zu kochen. Schweiß trat ihm auf die Stirn und er hatte plötzlich das Gefühl, sich übergeben zu müssen. „Mir reicht’s jetzt!“ Die ausgemergelte Gestalt des Mannes streckte die Hand nach Windts Laute aus. „Ich sagte: Nein!“ Die Worte nahmen in seinem Kopf gestalt an, doch seine Zunge formte etwas anderes. Als der Junge den Mund öffnete, schoss ein Feuerschwall zwischen seinen Lippen hervor und versengte Mateus’ ohnehin schütteres Haupthaar. Der Trunkenbold kreischte und begann auf der Stelle einen verrückten Tanz aufzuführen. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf und versuchte, die Flammen auszuklopfen. Einer seiner Kumpane riss sich den Umhang herunter und drosch damit auf den Brennenden ein. Windt hustete und röchelte. Noch immer drang Feuer aus seinem Mund und er schlug sich die Hände vors Gesicht, schrie auf, als er sich augenblicklich verbrannte. Panische Angst hatte die Umstehenden erfüllt und sie wichen hektisch von dem Jungen zurück. Mateus schmerzerfülltes Geschrei war einem Wimmern gewichen. Er lag auf dem Boden, den Mantel des anderen über seinem Gesicht. Seine Männer schauten zwischen ihm und dem Jungen hin und her, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände auf den Mund presste. „Sieh nur, was du angerichtet hast, du Scheusal!“ Der Besitzer des Umhangs kniete sich neben den winselnden Mateus und begutachtete ihn ausführlich. „Dieses Monster hat ihm fast alle Haare versengt!“, rief er den anderen zu. „Und was willst du jetzt machen, Gelvin?“, keifte ein anderer zurück. „Ich fass das Teufelsbalg nicht an. Schau doch, ihm quillt noch Rauch aus der Nase!“ Tatsächlich roch es stark nach beißendem Rauch. Windts Kehle fühlte sich an, als hätte er die Flammen getrunken statt gespuckt. „Mir reicht’s! Mit dem Bengel hat man nichts als Ärger. Los, wir schauen mal, ob Helic heute anschreiben lässt.“ Zwei von Mateus Saufkumpanen hoben ihn an und trugen ihn in Richtung Schänke davon, die anderen trotten schweigsam hinterher. Der Schock über das soeben Geschehene schien ihn noch immer in den Knochen zu sitzen. Nichts, was ein kaltes Bier nicht kurieren würde. Als Mateus an dem Jungen vorübergetragen wurde, hob er kurz den Kopf, in seinen Augen stand Mordlust. Der Geruch von verbranntem Haar klebte an ihm, sein Gesicht war voller rußiger Flecken und das vorher schulterlange Haupthaar vom Feuer merklich angefressen worden. „Der Grimmige soll dich holen!“, raunte er mit höherer, dünnerer Stimme als zuvor. Windt zitterte am ganzen Leib. Nach einer schieren Ewigkeit und erst, als die Saufbolde im Inneren von Maelins Zuflucht verschwunden waren, schaffte er es, aufzustehen. Vorsichtig torkelte er zum Brunnen in der Mitte des Steinernen Platzes, ausnahmslos jeder ließ ihn vorbei. Gierig griff der Junge nach dem Eimer, in dem noch Reste von kürzlich hoch geholtem Wasser zu finden waren und trank alles in einem Zug aus. Der Zauber, den er in seiner Wut und Verzweiflung wirkte, hatte sich gegen ihn gewandt. Er starrte auf seine Hände, die mit Brandblasen übersät waren. Ganz langsam, Stück für Stück ließ er den Eimer in den Brunnen hinunter, um sich frisches Wasser zu besorgen. Er stöhnte kurz auf, als seine Hände in das kalte Nass glitten, das den Schmerz für ein paar Sekunden erträglicher machte. Dann hob er den Eimer an die Lippen und stürzte den Rest gierig hinunter. Die Geräusche vom Markt drangen wie eine dichte, misstönende Klangwand an Windts Ohren. Er blieb kurz am Brunnenrand sitzen und genoss die Wärme der Sonne in seinem Nacken. Verdammt... Ohne sich noch einmal zwischen den einzelnen Buden und Ständen umzuschauen, erhob sich der Junge und marschierte schweigsam auf Maelins Zuflucht zu. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass ihm die feindseligen Blicke, all das Misstrauen, erspart blieben. Kein Händler versuchte auch nur, ihm etwas aufzuschwatzen oder bat darum, näherzutreten.  Neben dem knarrenden Treppchen zur Schänke befand sich eine Stelle mit vertrocknetem Kiemengras. Windt steuerte direkt darauf zu, schnallte sich die Laute vom Rücken und lehnten selbigen an den geduldigen Stein des Gasthauses. Langsam ließ er sich zu Boden gleiten und fing den Markt noch einmal aus einem anderen Blickwinkel ein. Die Leute gingen ihrem Treiben nach, wer an ihm vorüber schritt, senkte den Blick. Das war etwas ganz normales, eine Tatsache wie das Blau des Himmels oder das Leuten der Gezeitenuhr zu jeder Stunde. Tu so, als wäre gar nichts passiert. Mach einfach so weiter, wie jeden Tag und versuch das Beste daraus zu machen. Er spitzte die Ohren. Wenn sein Saitenspiel heute schlecht ausfiel, würde er ohne eine einzige Münze nachhause zurückkehren. Schon an so manchem Tag war dies der Fall gewesen und er hatte stattdessen versucht, die Obst- und Gemüsehändler in einem unachtsamen Augenblick um ein paar Schleieräpfel zu erleichtern. Wenn man in diesem Dorf und mit ihrem Stand überleben wollte, so glaubte Windt, hatte er keine andere Wahl, als zu stehlen. Auch wenn sein Großvater es mit keinem einzigen Wort gutheißen mochte und ihn jedes Mal schrecklich schilt, wenn er mit gestohlenen Dingen auf ihren gemeinsamen Hof zurückkehrte. Genug davon!, schüttelte Windt die bitteren Gedanken fort. Es wurde Zeit, dem üblichen Tagewerk nachzugehen und die Leute auf dem Platz mit klagendem Saitenspiel zu erfreuen. Er konnte nur hoffen, dass die vielen Frauen, Mägde und Burschen heute ein offenes Ohr für schöne Melodien hatten und dafür bereit waren, ein paar Bacalt springen zu lassen. Er zuckte zusammen, als seine Finger über die Saiten strichen und sich der Schmerz augenblicklich zurückmeldete. Was für ein verkorkster Tag. Windt biss die Zähne zusammen und versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Die Melodie kam zaghaft, immer wieder musste er innehalten und warten, bis das Brennen ein wenig nachließ. Irgendwie schaffte Windt es dann doch, sich zwischen den Klängen zu verlieren. Traurig und schwer hallten sie über den Platz, trugen Einsamkeit und Kummer mit sich. Schleich dich in die Herzen der Menschen. Berühre sie dort, wo keine Rüstung sie schützen kann. Schmerz und Leid dringt tiefer als jede Freude. Schau auf, wenn jemand vorübergeht, wenn jemand stehenbleibt. Schau ihnen in die Augen wie der geprügelte Hund, der du bist. Er hatte es noch jedes Mal geschafft.       Als das erste Lied, welches der Junge die „Bettlerballade“ getauft hatte, endete und Windt mit der flachen Hand die Saiten verstummen ließ, lag noch immer keine einzige Münze zu seinen Füßen. Missmutig fiel sein Blick auf den weitläufigen Marktplatz, auf den die Menschen mit leeren Körben eilten und mit gefüllten wieder verschwanden. Seine Ohren zuckten kaum merklich, als er das Getratschte der Frau hinter dem Gemüsestand auffing, welche gerade eine Kundin bediente. „Habt Ihr das Neueste schon gehört?“, hörte er sie flüstern. Verschwörerisch senkte sie die Stimme, als könnte es sie sonst die Zunge kosten. „Habt Ihr von diesem Mann gehört, diesem...“ „Ihr meint diesen unheimlichen Kerl aus der Schänke?“, erkundigte sich die Frau vor ihrem Stand, während sie hastig ein paar rote Zwiebeln in ihren Korb stopfte. „Ja, er soll ein Magier aus Dandelion sein, ein Ketzer! Bei Oktavia, habt Ihr seine Hände gesehen? Voller dunkelblauer Flecke sind sie, wie die Blätter von diesem verfluchten Baum auf den Hügeln. Ich sag Euch, der Grimmige selbst hat ihm das verpasst!“ Windt seufzte in sich hinein. Wenn die Leute auf den Straßen ängstlich von Magie und Zauberei sprachen, kamen sie ihm noch dümmer vor, als sonst. Dennoch spitzte er ein weiteres Mal die Ohren, als die Stimmen der beiden Frauen erneut erklangen. „Und dann noch dieser finstere Fremde mit seiner Rüstung. Allein sein Anblick soll ja tödlich sein! Er ist heute hier angekommen. Ich wette, er ist ein Mörder, so wie er aussieht. Sein Haar ist lang und so rot wie Blut!“ „Das ist das Blut seiner dahin gemetzelten Opfer!“, klagte die Frau vor dem Gemüsestand. „Und jetzt ist er gekommen, um auch uns alle heimtückisch im Schlaf zu erdolchen!“ „Dann verriegelst du besser alle Fenster und Türen!“, plapperte die Gemüsefrau. „Pass bloß auf, dass dir nichts geschieht. Schau dich noch einmal auf dem Marktplatz um. Ich glaube, so ein älterer Herr verkauft hier Talismane gegen Unglück.“ Ihre Kundin bedankte sich murmelnd, malte das Zeichen der Zwölf in die Luft und machte sich anschließend auf den Weg. Windt brauchte ihr nicht nachzusehen, um zu wissen, wohin sie es so eilig hatte. Angewidert rollte er mit den Augen. Dummes Geschwätz, sinnlose Angstmacherei!, dachte er im Stillen, während er hier und da eine Saite seines Instrumentes nachspannte. Ein seltsam berüsteter Mörder mit blutigen Haaren und ein finsterer Magier mit Tintenfingern... Nach unbestimmter Zeit angestrengten Lauschens und mühseligen Lautenspiels verfluchte Windt den Tag und wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als der Steinerne Platz plötzlich mit buntem Treiben angefüllt wurde. Die Zeit der Gaukler und Spielleute war angebrochen. Einmal in der Woche konnte man ihre schelmischen Künste bestaunen. Mal waren es mehr, mal weniger, doch ihre Fähigkeiten blieben immer vielfältig: Von Jongleuren und Schwertschluckern über Feuerspuckern, Barden und Narren schien alles vertreten zu sein und sie verstanden es meisterhaft, das einfache Volk von seiner Schwermut zu befreien. Zumindest für eine Weile. Eine kleine Gruppe, mit Harfen, Klampfen und anderlei lustiger Instrumente bewaffneter Spielleute hatte Windt aufs Korn genommen. Wie einsam und verloren er scheinen musste, in der kleinen Ecke neben der Schänke, in der die Leute stetig ein- und ausgingen, als würden sie ihn gar nicht bemerken. Die letzten klagenden Melodien der Saiten verstummten, als sie sich vor ihm aufbauten, bestens gelaunt, als bestünde die Welt aus einem einzigen Narrenparadies. „Hey, junger Freund!“, begrüßte ihn der Vorderste, dessen froschgrünes Glöckchengewand bei jeder Bewegung klingelte. „Welch herzergreifende Klänge du da von dir gibst!“ „Und Ambar zwick mich, was für ein außergewöhnlich schönes Instrument!“, stimmte sein Kollege ein, dessen Federkappe Windt an jene Räuber erinnerte, von denen man gelegentlich hörte. Jene, die von den Reichen nahmen und mit den Armen teilten. Trotzdem musterte er die Narren mit großem Argwohn. Auch wenn er sich selbst fast zu einem der ihren zählte, im Augenblick störten sie ihn. „Wie wär’s? Spielst du morgen mit uns auf dem Salirfest?“ Das war der Glöckchenmann. „Das Sommerfest ist morgen?“, fragte Windt verblüfft und seine Augen verloren jeden Groll vor Überraschung. „Na klar, kleiner Spielmannsbube!“ Herr Federkappe grinste und sein spitz gezwirbelter Schnurrbart dehnte sich zu beiden Seiten aus. Seine Zähne waren makellos. „Gesell dich doch zu uns! Gemeinsam liefern wir den Leuten ein Spektakel, das sie nie vergessen werden und von den verdienten Bacalt lässt sich’s bestimmt ein paar Wochen aushalten! Was meinst du?“ Der Junge hatte noch nicht einmal den Mund zu einer Antwort geöffnet, als aus Maelins Zuflucht plötzlich eine nie vernommene Flötenmelodie auf den Platz nach draußen drang. Windt staunte nicht schlecht. Wer immer da in der Schänke auf seinem Instrument spielte – er beherrschte seine Kunst so meisterhaft, wie der Junge das Lautenspiel. Wenn nicht sogar besser..., dachte er. Auch glaubte Windt, in den lieblichen Klängen dieselbe Schwermut, dieselbe Sehnsucht heraushören zu können, welche er in sein eigenes Spiel legte und sein Magen schien sich in diesem Augenblick krampfhaft zusammenzuziehen. „Das wird ja immer besser!“, jubelte der Glöckchenmann und eilte mit wenigen Sätzen die steinernen Stufen hinauf. Seine Kameraden folgten ihm eilig. Die Instrumente – Trommeln, Flöten, Geigen, Harfen und dergleichen mehr – welche sie ihrerseits auf dem Rücken, am Gürtel oder in den Tiefen ihre Taschen mit sich trugen, gaben bei jedem Schritt ihre leisen Klänge von sich. Die Federkappe hielt noch kurz inne, bevor auch sie im Inneren des Gasthauses verschwinden konnte und wandte ihr Gesicht mit einem niemals fröhlicheren Grinsen dem Jungen zu, der immer noch wie eine Statue neben der Schänke auf dem Boden saß: „Also, wir sehen uns morgen, Spielmannsbube! Sag einfach, Rubin schickt dich, das Volk zu unterhalten. Dann bist du willkommen!“, und schon war auch er in der Schänke verschwunden, aus der nur kurze Zeit später angeheitertes Gegröle nach draußen drang. Windt seufzte leise in sich hinein. Seine Sinne folgten der Flötenmelodie und er wandte den Kopf, um zu dem Fenster ein paar Meter über ihm aufschauen zu können. Seine Augen weiteten sich, als er das Flackern in der Luft erspürte. Das darf doch nicht wahr sein! In diesem Moment kletterte eine Weinrebe, angeregt von dem lieblichen Instrument, an der Häuserwand empor. Sie schlängelte über dem Fenster bis hin zu dem verwitterten Holzschild, auf den in verblassten, orangefarbenen Lettern „Maelins Zuflucht“ geschrieben stand. Sommerwinde frischten auf und brachten die Girlanden und Fähnchen auf dem Marktplatz zum Tanzen. Staunend verfolgte Windt das Schauspiel, zählte zahlreiche Wunder, bis das Flötenspiel verebbte und die Wirklichkeit zurückbrachte. Der Junge blinzelte ein paar Mal, doch er konnte sich einfach nicht getäuscht haben. Die Kletterpflanze liebkoste wie in zärtlicher Umarmung das Schild über der Tür zur Schänke. Neugierig schnallte sich Windt die Laute auf den Rücken und erhob sich aus dem Gras. Leider war er zu klein oder das Fenster lag zu weit oben, als dass er einen Blick in den Schankraum hätte riskieren können. Vorsichtig glitten seine Augen nach links, hin zur Tür, wo in unregelmäßigen Abständen Gäste ein- und ausgingen. Sollte er es wagen, sich hineinzuschleichen? Seit er einmal versucht hatte, in Maelins Zuflucht zu spielen, hatte er die Schänke nie wieder betreten. Bierkrüge und Weinkelche waren nur ganz knapp an seinem Kopf vorbei gesegelt und nach einigen kurzen Rangeleien hatte der Wirt ihn vor die Tür setzen müssen. Trotzdem, er wollte ihn doch nur einmal sehen, jenen Flötenspieler, der dieselben Gefühle in den Herzen der Menschen erwecken konnte, so wie Windt es mit seiner Musik schon etliche Male getan hatte. Die Gemüsefrau hatte sich nicht geirrt, das wusste er jetzt. Ein Magier hatte sich Zutritt nach Kessl verschafft – ein Zauberer, der ähnliche Kräfte besaß wie Windt selbst. Und jetzt, zu dieser Stunde saß er in Maelins Zuflucht! Hastig griff Windt nach seiner Laute, setzte einen Fuß auf die unterste Stufe und schlich sich dann vorsichtig Stück für Stück die verwitterte Treppe hinauf. Die Tür unter dem Namensschild der Schänke knarrte, als Windt sie vorsichtig einen spaltbreit öffnete und verstohlen in den Schankraum lugte. Es roch genau wie damals - nach altem Hellebardenholz, Schweiß, Buckelbier und vereinzelt nach den widerlichen Speisen, die Helic in seiner Küche zubereitete. Die dunklen, grob gezimmerten Tische passten zu den Gestalten, die an ihnen saßen. Schwermut zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab. Windt hatte einmal gehört, dass die meisten sich in der Schänke betranken, um „etwas loszuwerden“ – mal abgesehen von dem Geld in ihren Taschen. Doch es gab auch andere... Zu dieser Stunde saß ein Mann in Maelins Zuflucht, direkt am Tisch gegenüber der Tür, eine Schar wild gestikulierender Männer um sich versammelt. Sein ausdrucksloses Gesicht hätte jedem noch so sehr beherzten Mann einen Schauer über den Rücken gejagt. Und es war nicht nur sein Gesicht… Die Augen des Fremden, soweit Windt es durch den Türspalt erkennen konnte, leuchteten honigfarben, trotzdem sie so kalt wirkten wie Eis. Vorsichtig schob der Junge seinen Kopf durch die Tür. Was war nur an diesem Mann, dass es ihn so faszinierte, dass es ihm in den Fingern juckte, jeden Augenblick zu ihm herüberzugehen und ihm einen ganzen Haufen wilder Fragen an den Kopf zu werfen? Aber das musste er sein, jener andere Fremde, von dem auf dem Platz so ehrfürchtig geflüstert wurde. Sein langes, stolzes Haar wand sich wie ein Wasserfall tiefroten Blutes bis über seine Schultern. Das alte Holz der Eingangstür ächzte leise, als Windt sich mit eingezogenem Kopf in den Schankraum schlich. Er warf einen schnellen Blick zum Tresen – von Helic war nichts zu sehen. Für den Augenblick erleichtert, ließ der Junge die Tür zurück ins Schloss fallen und kauerte sich rechts vor der Schanktheke auf den Boden. Sein Rücken berührte die kalte Steinwand der Schänke. Dort würde der Wirt ihn nicht sofort bemerken und er konnte in Ruhe seinen Beobachtungen nachgehen. Als Windt den Blick zurück in Richtung des rothaarigen Fremden schweifen ließ, erkannte er sie auch – die Rüstung. Im Licht der Kerzen und Lampen im Raum strahlte sie wie ein nagelneuer Soblin und der Junge glaubte nie etwas Prachtvolleres gesehen zu haben. Sie war mit weiß glänzenden Schnörkeln verziert und wirkte bereits von weitem unglaublich schwer. Darüber trug der Fremde einen schneeweißen, mit himmelblauen Ornamenten verzierten Umhang. Hinter seinem Kopf erkannte Windt den Griff eines mächtigen Schwerts. Dann plötzlich starrte der Bluthaarige zu ihm herüber, ihre Augen trafen sich, nur sekundenlang, und trotzdem glaubte Windt die beklemmende Ehrfurcht in seinem Herzen spüren zu können, auch wenn sie noch so leise flüsterte. Dieser Kerl konnte unmöglich ein Mensch sein! Mit einem Ausdruck im Gesicht, als würde er in Windt nichts anderes sehen als eine stinkende fette Sumpfratte, hob er den Kelch, der zu seiner Linken auf dem Tisch stand und nippte an dessen Inhalt. In diesem Moment wurde Windt bewusst, wie unverhohlen er den Fremden begaffte und schnell wandte er die Augen ab von dem, was er noch Stunden hätte bestaunen können. Hoffentlich habe ich ihn nicht verärgert... Hoffentlich kommt er nicht herüber!, schoss es ihm durch den Kopf. Es würde doch gewiss keine Seele bekümmern, wenn ihn dieses Wesen mit einem einzigen Streich seiner Klinge niederstreckte! Doch die Reaktion blieb aus und Windt atmete erleichtert auf. Als Nächstes wanderte sein Blick über die Gefährten des unheimlichen Fremden. Ihre Gesichter waren größtenteils von den Kapuzen ihrer Umhänge verborgen. Die Rüstungen unter ihren Wappenröcken waren aus Leder und nicht annähernd so prächtig wie die des Bluthaarigen. Erst kurze Zeit später erkannte Windt das goldene Sonnensymbol, das jeder von ihnen auf der Brust zu tragen schien. Ein Wappen vielleicht? Wie auch immer, er hatte wirklich keine Lust herauszufinden, warum diese Männer wirklich hier waren, sie sollten einfach nur schnell wieder verschwinden. Männer in Rüstungen brachten meist nichts als Ärger, das sagte selbst sein Großvater immer wieder. Hüte dich vor den Berüsteten, denn sie führen den eisigen Hauch des Todes mit sich. Erst jetzt bemerkte Windt, wie sehr seine Beine vom Knien schmerzten und er ließ sich vorsichtig auf dem steinernen Boden nieder. Nun fiel ihm auch wieder ein, weshalb er eigentlich erst an diesen muffigen Ort gekommen war: der Flötenspieler! Die Spielleute hatten sich ganz rechts an den einzigen Tisch am Fenster gesetzt. Ihre Taschen schienen voll zu sein, denn jeder hatte einen gut gefüllten Krug vor sich und ihre Trinklieder erfüllten den ganzen Raum. Bei ihnen saß eine gänzlich in Schwarz gehüllte Gestalt und nippte an einem Becher mit dampfender Flüssigkeit. Windt vermochte nicht einmal zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Die Kapuze ihres Mantels verdeckte das Gesicht dieser unheimlichen Gestalt, doch so langsam dämmerte es dem Jungen, mit wem er es hier zu tun haben musste. Die Frauen draußen auf dem Marktplatz hatten von einem dandelischen Magier gesprochen und kurz darauf war jene liebliche Flötenmelodie aus Maelins Zuflucht auf den Platz geströmt. Handelte es sich bei demjenigen, den sie den Tintenfinger nannten und dem geheimnisvollen Flötenspieler um ein und dieselbe Person? Auch diese Frage würde man Windt schuldig bleiben, denn von einer Flöte war weit und breit nichts zu sehen. Einzig eine schwarze Umhängetasche, ähnlich der eines Gaéshas – eines myrinha’schen Botschafters ruhte neben der Gestalt auf der hölzernen Bank. Die ganz in Schwarz gewandete Gestalt nahm noch ein paar weitere Züge aus dem dampfenden Becher, schien sich ansonsten jedoch nichts anmerken zu lassen. Von den lauthals feixenden Spielleuten schien sie beinahe gar nicht beachtet zu werden. Unweigerlich fiel Windts Aufmerksamkeit noch einmal auf den rothaarigen Fremden zurück, dessen Platz sich nicht verändert hatte. Sein Kelch war leer und auch seine Lakaien schienen allen Sold versoffen zu haben. Ihr Lallen drang zu Windt herüber und ein weiteres Mal stahl sich die Angst in sein Herz. Trunkene Männer neigten häufig dazu, die Kontrolle über sich zu verlieren. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht zur Zielscheibe machten. Gewiss, er hätte sich wehren können, doch würde das etwas nützen? Immerhin trugen sie alle, jeder von ihnen, ein Schwert am Gürtel und wenn erst ihr Herr einschritt, wäre sowieso alle Hoffnung verloren. Als hätte er Windts Gedanken vernommen, erhob sich der rothaarige Fremde von seinem Platz und schritt auf den Wirt zu, der inzwischen hinter seine Theke zurückgekehrt war und dort pfeifend vor sich hin arbeitete. Die Rüstung klapperte bei jedem Schritt. Bei der unverfrorenen Eleganz, die dieser Fremde ausstrahlte, hätte Windt dahinschmelzen mögen. Jeder seiner Schritte war bestimmt, keine einzige Bewegung dem Zufall überlassen. Der Fremde musterte Helic mit einem adlerartigen Blick und der dicke Wirt blinzelte erwartungsvoll zurück. Die Maus vor der Schlange, dachte Windt ehrfürchtig. Ohne ein Wort knallte der Bluthaarige eine Hand voll Soblin auf den Tisch - selbst seine Hände waren berüstet - und wandte sich dann stumm an seine angetrunkenen Kameraden. Diese verstanden sofort und räumten ohne auch nur einen Moment zu zögern ihre Bänke. „Beehrt uns bald wieder, edle Herren!“, schnurrte Helic. Für eine Hand voll Silber küsst dieses Lästermaul noch jedem die Füße, dachte Windt angewidert. Bevor sich der Fremde zum Gehen wandte, ließ er seinen Adlerblick noch einmal durch den ganzen Raum schweifen, als ob er etwas wichtiges vergessen hätte. „Ihr da!“, erklang seine Stimme so scharf und plötzlich, dass Windt beinahe zusammengefahren wäre. Sein Anliegen galt den Spielleuten in der Fensterecke und trotzdem er sich Mühe gab, seine Stimme nicht allzu kalt klingen zu lassen, meinte der Junge die Verachtung heraushören zu können. „Ihr Spielleute! Stammt ihr aus diesem Dorf?“ Die Gaukler starrten höhnisch zu ihm herüber, die Gesichter rot vom Alkohol. „Nein, werter Herr, wir sind nur auf der Durchreise. Verzeiht!“ „Ich stamme aus diesem Dorf!“ Windt hätte sich augenblicklich auf die Zunge beißen mögen. In Sekundenschnelle hatte er alle Aufmerksamkeit im Raum auf sich gezogen. Nun war es auch egal, solange der Fremde hier war, würden sie ihre Zungen im Zaum halten. Helic jedoch machte ihm einen Strich durch die Rechnung: „Bei Augustus, du schon wieder! Was fällt dir eigentlich ein, hier herum zu lungern! Verschwinde sofort aus meinem Gasthaus, du Sohn einer ver...!“. „Schweigt!“, unterbrach ihn eine schneidende Stimme. Windts Gedanken überschlugen sich, als er bemerkte, dass es der bluthaarige Fremde war, der ihn zu verteidigen versuchte. Sogar eine Hand hatte er erhoben und Helic hatte sein Lästermaul tatsächlich ohne zu zögern zum Schweigen gebracht. Der Junge erhob sich hastig und senkte demütig den Kopf, als ihm der Mann mit der Silberrüstung entgegen trat. Er konnte spüren, wie ihn der Blutschopf mit abschätzigem Blick musterte. „Die Farbe deines Haars... Äußerst ungewöhnlich...“ „Ich rate Euch, lasst Euch nicht mit diesem Nebelsohn ein!“, versuchte Helic es noch einmal. „Der Bengel macht nichts als Ärger – stiehlt, rauft, spuckt auf die Großen Zwölf und unsere Kirche...“ Ein einziger, warnender Blick des fremden Kriegers genügte und Windt hätte schwören mögen, dass der Gasthausbesitzer in diesem Augenblick seine Zunge verschluckt hatte. „Du stammst also aus diesem Dorf?“, wandte sich der Blutschopf wieder an ihn, unverhohlenes Misstrauen in der Stimme. „Wie ist dein Name, Junge?“ „Windt!“, schoss es ruckartig aus dem Jungen heraus. „Ja, mein Herr, so ist es. Was... Wie kann ich... Euch zu Diensten sein?“ Die Worte schienen einfach zu kommen, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. „Nun...“, der unheimliche Fremde ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Auf einmal schien Windt die Schänke so still. Totenstill. „Ich bin auf der Suche nach jemanden, der sich - und sei es auch nur stümperhaft - mit dem Heilen von Krankheiten und derlei auskennt. Gibt es so jemanden in eurem Dorf?“ Der Fremde sprach langsam und deutlich, seine Stimme hätte den Frauen auf dem Marktplatz gefallen. Der Junge jedoch glaubte in jedem Wort eine eiskalte Verachtung hören zu können. „Mein... Großvater.“, murmelte Windt bedächtig. Ein falsches Wort, Windt, nur ein falsches Wort und er schneidet dir den Kopf ab! „Fantastisch!“ Das Wort kam dem Fremden ohne jede Begeisterung über die schmalen Lippen. „Würdest du mich zu ihm führen? Ich schätze, wir müssen seine Dienste in Anspruch nehmen. Doch wenn er seine Sache gut macht, dürft ihr mit meiner Großzügigkeit rechnen.“ „Gewiss doch, Herr... Bitte folgt mir.“ Ohne den Kopf zu heben, schlurfte der Junge aus der Schänke - den Wirt, die Spielleute, die schwarzgekleidete Gestalt, alles hinter sich zurücklassend. Für ihn zählte nur noch, dass er seinem Großvater soeben einen großen Auftrag beschert hatte, mit dem sich sicherlich ein paar Soblin, wenn nicht gar Dalmadt verdienen ließ und, laut den Worten des Bluthaarigen zu urteilen, bestimmt nicht zu wenig. Die Euphorie in seinem Herzen wich jedoch schon bald einem zarten Hauch von Angst und Ehrfurcht. Das Einzige, was ihm signalisierte, dass ihm der Blutschopf folgte, war das im Takt klappernde Geräusch seiner Rüstung und dem angeregten Tuscheln seiner Lakaien und doch... Windt spürte sie immer noch, diese ungebändigte, gewaltige Kraft, welche von diesem Fremden auszugehen schien. Es war, als würde man einem berühmten Volkshelden in die Augen blicken, um dabei seine Taten sehen zu können, wie heroisch und edelmütig er zahlreiche Ungeheuer bekämpft, die Völker aus unzähligen Welten ein ums andere Mal von Tod und Unterdrückung befreit hatte. Doch war es bei diesem Blutschopf eben nicht genau jenes Gefühl. Wahrlich, man spürte einen Helden in diesem Mann, aber da war auch noch etwas anderes, ein Gefühl, dass Windt unweigerlich die Bilder von rotem Blut in den Kopf trieb, von Bergen gebrochener Herzen und Knochen, ein Gefühl, dass ihn bis ins tiefste Innere seines Körpers schaudern ließ. Der eisige Blick des Blutschopfes tat sein übriges, um jene Ehrfurcht, jene Beklommenheit heraufzubeschwören. Unzählige Male nach jenem schicksalhaften Tag hatte sich Windt gefragt, wieso er seinem Gefühl nicht vertraut hatte, wo er es doch sonst immer tat. Als die Dorfbewohner auf dem Platz die Berüsteten erblickten, neigten viele ehrfürchtig die Köpfe, einige malten das Zeichen der Zwölf zum Schutz vor Unglück in die Luft. Wieder andere flüchteten, so unauffällig es die Beine geboten, in ihre Hütten. Windt hörte die Gemüsefrau ängstlich flüstern: „Ich habe es immer gewusst! Dieser Junge wird uns eines Tages alle ins Grab bringen! Die Götter stehen uns bei...“ Mit gemischten Gefühlen steuerte der Junge mit der im Gänsemarsch wandernden Gruppe den sandigen Pfad an, der sich nördlich des Steinernen Platzes zwischen den angrenzenden Hügeln des Vergessens zum Hof seines Großvaters hinaufschlängelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)