Belle Époque von MadameFleurie (Was letztendlich bleibt...) ================================================================================ Kapitel 1: Liam. ---------------- Es war ohrenbetäubender Lärm, der Liams Bewusstsein zurück in die echte Welt riss. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er ins Dunkel, lauschte dem raschen Schlag seines Herzens und versuchte sich daran zu erinnern, wo es ihn hinverschlagen hatte. Die schnellen Ortswechsel der vergangenen Tage hatten seinen sonst zuverlässigen Orientierungssinn benebelt, ihm vor die Augen geführt, dass es Zeit wurde, eine Pause zu machen, irgendwo länger zu verweilen, auszuruhen. Ein kurzer Schauer jagte über seinen Rücken, ließ ihn zusammenzucken. Obschon er unter einer groben Steppdecke lag, war es eiskalt. Wieder lärmte es, dumpf und durchdringend. Jemand schien mit ganzer Kraft gegen etwas zu hämmern, so glaubte er, und nur Sekundenbruchteile später wurde ihm bewusst, an welchem Ort er sich befand. Das Pochen verstummte. Schritte näherten sich. Eine Tür wurde aufgeschoben und ein Schalter lautstark betätigt. Künstliches Licht erfüllte augenblicklich den Raum, fiel Liam ins Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und erkannte im Schein der Lampen einen fetten, ungewaschenen Mann, dessen winzige Pupillen im grellen Flackern des Lichtes blitzten. Kaum hatte er die Tür aufgeschoben, begann er, mit seiner riesigen Faust gegen die Zimmertür zu hämmern, welche, notdürftig hergestellt, aus miteinander verschweißten Metallplatten bestand. Sie war verbogen und unglaublich rostig - insbesondere an der Stelle, die seinem ständigen Klopfen standhalten musste - hielt sich aber erstaunlich stabil in ihren Angeln. „Ja“, brummte Liam und setzte sich auf. „Ja. Hör auf. Mein Gott, jetzt hör schon auf, ich bin wach." Seine Stimme war kaum mehr als ein wütendes Knurren. Er hatte für das Bett bezahlt, kein Grund, ihm bereits so früh auf die Nerven zu gehen. Der Dicke verstummte und wischte sich die Faust an einer speckigen Leinenschürze ab, die er um seinen voluminösen Bauch gebunden hatte. Darunter trug er ein vergilbtes, graugelbes Hemd, dessen Ärmel er bis zum Ellenbogen hochgekrempelt hatte, und das an seinen stämmigen, haarigen Armen spannte. Er war schlampig rasiert, die Wangen glänzten rot vom Suff des vergangenen Abends. Ihm gehörte dieser Platz, eine kleine Gaststätte mitten im Nirgendwo. Liam schätzte ihn auf etwa Mitte dreißig. Ein widerlicher, stinkender Kerl. „Steh auf", knurrte der Wirt mit einer tiefen, sonoren Stimme, die deutlich machte, dass er keinen Widerspruch duldete. Viel mehr kündete sie davon, dass er auch mit ausgewachsenen Unruhestiftern zurechtkam, man also besser die Schnauze hielt und tat, was er von einem verlangte. Sie war tief, kräftig und voller Nachdruck. „Pack dein Zeug. In der Schänke gibt's Frühstück, dann will ich, dass du verschwindest. Brauch' das Bett und so." Für Liam klang das alles nach einer billigen Ausrede - jedenfalls leuchtete ihm nicht ein, warum um alles in der Welt man um diese Uhrzeit ein Bett brauchen sollte - aber er sagte nichts. Statt dessen nickte kaum merklich und beobachtete still, wie der Andere seinen voluminösen Körper aus dem Raum schleppte. Ein unsympathischer, fetter Kerl, selbst für hiesige Verhältnisse. Liam hatte ihn gestern Abend auf Anhieb nicht leiden können. Erneut rieb er sich mit den Fingerspitzen über die kalte, trockene Stirn, suchte nach den Gründen, die ihn an diesen Ort getrieben hatten. Er war gen Norden gereist. Die vergangenen zehn Tage hatten ihn immer weiter in diese Richtung getrieben, flussaufwärts, wenn auch die Hinweise wie immer dürftig, viel mehr kaum vorhanden waren. Vor zwei Tagen war ihm der Proviant ausgegangen, und er war hier gestrandet, in einer winzigen Siedlung von kaum einem Dutzend Baracken, mit wortkargen Menschen, deren Gesichter gezeichnet waren von jahrzehntelanger Strahlung und Inzest. Man nannte diesen Flecken Erde „Kraterseits“ - und Liam glaubte zu wissen, warum. Die Baracken befanden sich rund einen halben Tagesmarsch östlich vom Fluss, mit ihm durch einen winzigen, schwach ausgeschilderten Trampelpfad verbunden, und bildeten einen rostigen Quell an Leben am Grunde eines alten Bombenkraters. Liams Geigerzähler hatte rebelliert, als er hinabgestiegen war, aber eine Nacht voller Strahlung war ihm lieber als das rastlose Unterfangen, die Dunkelheit in der Steppe lebend zu überstehen. Voller Unmut schlug er die Decke zurück und setzte seine in dicke Socken gepackten Füße auf den feuchten Grund des Steinbodens, ehe er, noch steif von der vergangenen Nacht, das Gewicht auf seine Beine verlagerte und schwankend aufstand. Es dämmerte ihm, dass er allmählich zu alt wurde, für diese langen, feuchtkalten Abende auf zugigen Pritschen. Sein Rücken erschien ihm wie ein Trümmerhaufen - er streckte sich und lauschte dem leisen Geräusch einrastender Wirbel. Kraterseits Motel war nichts weiter als ein in den Boden geschlagenes Loch aus einigen Fluren und Räumen, in denen es selbst im Sommer kaum wärmer wurde als fünfzehn Grad Celsius. Es war dunkel und feucht - das Wasser tropfte von den steinigen Wänden - und führte, wenn man nicht auf sich Acht gab, über kurz oder lang schnell zu dem langwierigen Lungenschleim oder dem gefürchteten Blutigen Husten. Liam konnte es kaum erwarten, diesen Ort zu verlassen, auch wenn es bedeutete, dass er sich langen Märschen durch aufgeheiztes Gelände stellen musste. Bloß die Wasservorräte auffüllen, vielleicht noch einen Job absahnen - und dann nichts wie weg hier. Er neigte den Kopf nach links und rechts und konnte spüren, wie seine Sehnen wieder in die rechte Position sprangen. Das klang ungesund, verschaffte aber Linderung. Anschließend begann er, sein Hab und Gut zusammen zu packen. Es gab nicht viel, an das er denken musste - die wichtigsten Utensilien befanden sich in einem alten, aus Canvas genähten Seesack auf dem Boden. Neben der Pritsche auf einem unscheinbaren Stuhl lagen dort ein Paar abgetragener, brauner Lederstiefel ohne Absatz - Größe 45 - eine fleckige, dunkelgrüne Hose, auf welche die Zeit allerlei Taschen und Flicken genäht hatte, ein staubfarbenes Hemd aus Leinen, dass er einst einem kreuzenden Steppenbürger abgenommen hatte, der von weniger Glück gesegnet war als Liam selbst, und ein grauer, oft geflickter, grauer Pullover, der ihm selbst zu groß war und dessen äußere Erscheinung durch Löcher und rote Flecken auf ein hartes Leben voller Ärger schließen ließ. Auf der Stuhllehne hing eine braune Fischerweste, Fingerlinge aus Leder und ein rotes Halstuch aus inzwischen rissig gewordener Baumwolle. Daneben eine Sonnenbrille in Metallbindung, ein alter Stahlhelm, und, sein ganzer Stolz, eine recht gut erhaltene AK47 aus den Tagen des großen Sterbens. Noch etwas steif zog er alles an, griff nach dem Rucksack, der, bis auf Essgeschirr und einiger weiterer wichtiger Dinge, leer war, schulterte die Waffe und verließ den winzigen Raum, der neben seinem Bett noch vier weitere Pritschen beherbergte, in Richtung Schänke. Dieser war knapp doppelt so groß wie der Schlafsaal, beinhaltete eine Theke aus spröden, rostbraunen Metallteilen, etwa vier Tische und ein gutes Dutzend Stühle jeder Form und Farbe. Liam hätte gestern fast Ärger mit dem Wirt angefangen - man hatte ihm hier den verwässertsten Whiskey seines Lebens vorgesetzt - hatte sich glücklicherweise rechtzeitig eines Besseren besonnen und inne gehalten. Auf einem der Theke am nächsten stehenden Tische befand eine kleine Schale aus Aluminium, deren Inhalt munter vor sich hin dampfte. Mit einem Ruck zog Liam den erstbesten Stuhl zurück, setzte sich und griff nach dem bereitgelegten, vor Rost strotzenden Löffel. Bei der dampfenden Masse handelte es sich um einen graubraunen, formlosen Brei, von dem Liam ausging, dass es sich mit aller Wahrscheinlichkeit um Bohnen handelte. Zaghaft nahm er einen ersten Bissen, dann begann er, alles so schnell wie möglich in sich hinein zu schaufeln. Es scheckte pappig, ein wenig bohnig. Samt der mürben Konsistenz machte das Gericht seinem Aussehen alle Ehre. Beinahe mochte er es. Als er den letzten Rest vom Boden gekratzt hatte, warf er den Löffel zurück auf den Tisch und lehnte sich zurück. Sein Magen ließ einige missmutige Geräusche ertönen, verstummte dann aber resignierend. Von ihm aus hätte es mehr sein können, er war bei weitem noch nicht satt, aber es war besser als nichts. Wenige Minuten später öffnete sich eine der Türen und der Wirt betrat den Raum. Auf dem Arm hielt er ein Paar staubiger Flaschen und Dosen, von denen letztere einige deutliche Macken aufwiesen. Liam wischte sich die Reste des Frühstücks mit dem Handrücken aus dem Gesicht und stand auf. Der hölzerne Stuhl kratzte über den steinigen Boden. „Wirt.“ Dieser hatte gerade die Flaschen abgestellt und war im Begriff, den Schankraum wieder Richtung Lager zu verlassen. Liam lehnte sich an die Theke und trommelte mit den Fingerspitzen auf das kalte Metall. Dieser zeigte keinerlei Reaktion und schritt munter gen Ausgang. „He, warte“, rief er fast, ein wenig nachdrücklicher. Der Wirt wandte sich um, die Haut fettglänzend im schwachen Licht. Er schein alles andere als erfreut, dass ihn jemand störte, und generell hatte Liam den Eindruck, als sei er jemand, der nicht gerne mit Menschen sprach. Wie man dann ausgerechnet auf die Idee kam, ein Motel zu betreiben, war Liam nicht nachvollziehbar, aber manchmal konnte man sich seinen Beruf nicht aussuchen. „Was ist?“ Er kaute auf etwas, das, durch den offenen Mund betrachtet, sehr nach Kautabak aussah. „Ich suche Arbeit“, antwortete Liam, während er seinen Gegenüber kaum für eine Sekunde aus den Augen ließ. Der Wirt zuckte mit den Schultern und rümpfte seine kleine, viel zu rund geratene Nase. „Was geht mich das an?“, grunzte er mit seiner tiefen Stimme. Dann wischte er seine Stirn, schwitzig durch das ganze Geschleppe, an der speckigen Schürze ab. Liam gab ein kleines, gehässiges Schnauben von sich und schürzte die Lippen. „Erzähl mir nichts“, antwortete er leise. „Ihr Kneipenleute wisst immer, wo es was zu tun gibt. Ich bin pleite und mache fast alles. Ohne Geld komm’ ich hier nicht weg. Also, weißt du was?“ Der Dicke musterte ihn fast unverschämt offen, während er ein schmutziges Glas aus der Spüle nahm und es mit der Schürze zu polieren begann. „Kostet“, murmelte er beinahe lautlos. Liam runzelte die Stirn und beugte sich über die Theke. „Was?“ „Das kostet“, wiederholte er in verärgertem Tonfall. Offensichtlich glaubte er Liam nicht. Dieser griff nach seiner Tasche und knallte sie auf den Tresen. Leer, wie sie war, machte sie einen erstaunlich traurigen Eindruck. „Negativ. Ich sagte ja, ich bin pleite. Hab’ gestern meine letzten Sachen bei dir gelassen.“ Der Wirt warf einen flüchtigen Blick in die Tasche und polierte weiter. „Was ist mit den Filtern? Von deiner Maske. Die scheinen ganz gut was wert zu sein.“ „Willst du mich umbringen?“ Liam lachte kalt. „Ohne die Filter komme ich hier nie wieder weg. Die behalte ich, keine Chance. Und jetzt komm bloß nicht auf die Idee, nach meiner AK zu fragen, die Antwort bleibt die gleiche.“ Ganz allmählich begann sich ein schwerer Klumpen Ärger in seiner Magengrube zu bilden. Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und legte die Finger, die bis vor wenigen Sekunden noch nervös getrommelt hatten, flach auf den Tisch. Dieser Wirt schlug ihm auf die Nerven. Er gab der ganzen Angelegenheit noch zwei Minuten, dann würde er seine Sachen packen und den Ort auf eigene Faust nach Arbeit durchkämmen. Beide verfielen in angespanntes Schweigen. Der Wirt polierte seine Gläser, während seine Augen verbissen in die Luft starrten. Er schien zu überschlagen, ob es nicht doch noch einen Weg für ihn gab, Profit aus Liams Situation zu schlagen, schien aber zu dem Schluss zu kommen, dass dies unwahrscheinlich war. Er stellte das Glas zur Seite - es war kaum sauberer als vorher. „Der alte Mechaniker Hartmann sucht seit Wochen jemanden, der für ihn einen Botengang übernimmt.“ „Warum macht er ihn nicht selbst?“ Liam runzelte die Stirn. „Hat die Hosen voll, schätz’ ich. Hör mal, wenn das ganze ein Kinderspiel wär’, würde er’s wahrscheinlich selbst machen. Jedenfalls zahlt er ganz ordentlich, der alte Sack. Hat’s hier irgendwie zu Wohlstand gebracht, weiß der Teufel wie.“ „Wo finde ich ihn?“ „Straße runter, erste links. Zweites Haus von rechts. Kannst es nicht verfehlen.“ Liam nickte und schulterte die Tasche, die federleicht auf seiner Schulter hängen blieb. Er nickte dem Wirt zu und wandte sich zum Gehen. „Warte kurz“, sagte dieser plötzlich, als habe er etwas wichtiges vergessen. Liam, der sich kaum zwei Schritte entfernt hatte, hielt inne und wartete ungeduldig darauf, das sein Gegenüber aussprach, was er noch zu sagen hatte. „Was verschlägt einen Vogel wie dich in diese abgegraste Gegend?“ Liam sah den Wirt lange an, ehe er antwortete. „Das geht dich einen feuchten Kericht an“, presste er schließlich zwischen den Zähnen hervor und der Wirt brach in hallendes Gelächter aus. Es war ein gehässiges, aber volles Lachen, als habe er noch nie eine derart dumme Antwort vernommen. Sein Bauch hob und senkte sich wie eine Packung ‚Waldmeisters wackelnder Wibbelpudding‘, was Liam zu seinem Abscheu bemerkte. „Was willst du sein? Ein Söldner auf der Flucht vor seiner schäbigen Vergangenheit?“ Presste der Andere hervor und wischte sich einige kleine Tränen von den fetten Wangen. „Vielleicht“, antwortete Liam, der spürte, wie sich die Muskeln unter der aufkeimenden Wut verhärteten und verließ den Schankraum, ohne auch nur eine weitere Sekunde seines Lebens an diesen, wie er ihn für sich nannte, Mistkerl zu verschwenden. Kapitel 2: Johanna Fiersen, man nennt mich Jo. ---------------------------------------------- Starr vor Schreck riss sie die Augen auf und durchschnitt mit ihren Pupillen die schwarze, eiskalte Luft über ihr. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wie ein Kind, dass zum ersten Mal eine Trommel in der Hand hielt, dröhnte der Puls in ihren Ohren, nervtötend und derb. Die Lungen lagen wie zugeschnürt in ihrem Brustkorb, begleitet von dem schweren, einschläfernden Rasseln, dass immer mit ihrem Atem einherging. Schlaftrunken fasste sie sich ins Gesicht, tastete eine Weile hektisch herum und riss eine dunkle, schwere Maske aus schwarzem Kunststoff herunter, die ihr das Luft holen mit ihren alten Filtern so erschwerte. Mit einem dumpfen Klatschen erreichte sie den grauen Betonboden, rollte zur Seite und blieb liegen, ein Gegenstand, der, augenscheinlich notwendig, und doch ungeliebt war. Jos Stirn war ganz feucht vom Schweiß der vergangenen Nacht. Ganz zittrig wischte sie ihn sich mit dem Rücken ihrer linken Hand aus dem Gesicht. Er war kalt und klebrig. Dann ließ sie den Arm zurück in ihren Schoß sinken und verblieb aufrecht sitzend, während sie langsam, Stück für Stück, immer weiter in sich zusammen sank. Ihr Brustkorb schien zu beben. Gierig drückte sie Luft in ihre nackten Lungen. Sie war sich darüber im Klaren, dass es keine gute Idee war, derart ungeschützt zu Atmen, vor allem hier, mitten im ehemaligen Stadtgebiet. Dennoch ließ sie den Instinkt über die Vernunft siegen. Manchmal, so schien es ihr, wog die Befriedigung die Unvernunft wieder auf. Vor ihren Pupillen zuckten die Spuren des jüngsten, just zu Ende gegangenen Traumes. Noch immer dröhnte ihr das Rauschen in den Ohren, das Knirschen berstenden Betons und das wütende Fauchen des Windes, das Splittern von Glas. Jo schloss die Augen und verjagte die flüchtigen, wohlbekannten Bilder aus ihrem inneren Auge. Sie waren wie ein alter Freund, der flüchtigen Kontakt hielt und immer mal wieder vorbeischaute - wohlbekannt und unangekündigt zu Besuch. Sie ließ sich zurück auf den Rücken fallen und rutschte tiefer in den alten, mitgenommen wirkenden Schlafsack, der sie vor der Kälte schützte, seit sie denken konnte. Das hellblaue Nylon, aus den man ihn einst nähte, wies dunkle Stellen und Löcher auf, von denen einige mit groben Flicken und Stichen zusammengehalten wurden. Der Reißverschluss war schon seit Jahren kaputt, stattdessen hatte sie die Seiten einst mit Panzertape und groben Garn zusammengesteppt. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und drückte die Nase in das helle, abgewetzte Futter, dessen Inneres süß und muffig roch. Es war der einzige Geruch, der sie seit jeher begleitet hatte. Wenn es etwas gab, dass Ruhe und Geborgenheit ausstrahlte, dann dieser Duft. Sie verharrte einige Sekunden, dann schob sie den linken Arm zurück in die Kälte und tastete nach der Gummimaske, die sie eben noch so abweisend von sich genommen hatte. Wenige Zentimeter links von ihrer Hüfte wurde sie fündig. Vorsichtig griff sie nach dem weichen, fast klebrigen Kunststoff, leise seufzend, ehe sie die Maske vorsichtig zurück auf Mund und Nase drückte und ihr Atem das rasselnde Geräusch annahm, das ihr so vertraut schien, als würde es durch ihren eigenen Körper erzeugt und nicht durch die undurchlässigen, aufbereitenden Filter. Der Druck auf der Brust trieb ihr die Tränen in die Augen. Keuchend nahm sie einige tiefe Atemzüg und krallte die Finger in den hellblauen Schlafsack, bis sich ihr Körper wieder an die zusätzliche Belastung gewöhnt hatte. Wie sie dieses Ding hasste. Und doch half es nichts. Mit den Fingerspitzen rieb sie ein wenig über die zwei dreieckigen, mit Plastik ausgekleideten Schlitze für die Augen, die sich schnell mit Schmutz und Staub zusetzten und somit das Sehen erschwerten. Dann kontrollierte sie den korrekten Sitz der zwei seitlich angebrachten Filter und schloss letztendlich den kleinen Riemen an ihrem Hinterkopf, der verhinderte, dass die Maske wieder aus ihrem Gesicht fiel. Immer wieder verhedderten sich ihre Haare in dem Verschluss. Letztendlich zerrte sie diese entnervt aus den Ösen und beschloss, es fürs diesen Morgen dabei zu belassen. Schließlich hob sie den Kopf und blickte nach oben. Müde ließ sie ihre Augen über den Himmel wandern. Sie hatte es immer gehasst, im Freien zu Schlafen, gerade hier, in einer Gegend, die durchzogen wurde von menschlichem und mutierten Unrat jeder Art. Die Nacht durchzumarschieren wäre ihr trotzdem nie in den Sinn gekommen. In der Nacht sahen alle mehr als man selbst, und die eigene Schutzlosigkeit stieg ins Unermessliche. Bisher hatte sie die Gefahr eines frei improvisierten Lagers als geringer eingestuft als eine nächtliche Wanderung auf eigene Faust, und bisher war sie damit gut durch die Steppe gekommen. Nun waren gelaufen, bis sie das Schicksal an die Grundmauern eines zusammengestürzten Hauses geführt hatte, und dort hatten sie ihren notdürftigen Schlafplatz für die Nacht errichtet. Dünne Schleier violetten Lichts hingen bereits am Horizont. Es dämmerte. Jo versuchte, den beißenden Geruch, der vom Inneren der Maske ausging, zu ignorieren, und setzte sich wieder auf. Leise raschelnd befreite sie sich umständlich aus dem provisorischen Nachtlager. Zeit, die Sachen zu packen und aufzubrechen. Sobald die Sonne am Himmel stand, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser Ort unangenehme Gesellschaft anzog. Zu diesem Zeitpunkt wollte sie schon nicht mehr hier sein. Obschon sie, wie immer, vollkommen angezogen geschlafen hatte, fand sie sich steif und durchgefroren. Normalerweise verzichtete darauf, für die dunklen Stunden ein Feuer zu entfachen, denn wer Licht und Wärme verbreitete, der blieb nicht lange allein. Die Kälte war anstrengend, erwies sich im direkten Vergleich jedoch als ungefährlich. Sie streckte sich, spürte, wie die Sehnen in ihrem steifen Nacken spannten, löste diese durch wiederholtes, lautes Knacken und begann, benebelt vor Kälte und Müdigkeit, nach ihren braunen Lederstiefeln zu tasten. Aus den Augenwinkeln nahm tastete sie wachsam die Umrisse ihrer kleinen Behausung ab. Von dem Gebäude, in dem sie sich niedergelassen hatte, waren nicht mehr als die Grundmauern verblieben. Hier und dort fanden sich Überreste verkohlten Mobiliars, angesengte Bücher und Plastikteile, deren ursprüngliche Form nicht mehr zu erkennen war. Unter Schutt und Dreck fanden sich vereinzelte, mit Parkett und Teppichboden verkleidete Stellen, die einst einen schönen Wohnzimmerboden gebildet haben mussten. Überreste einer steinernen Treppe führten in ein erstes Stockwerk, dass es nicht mehr gab. Wenige Meter neben Jos Schlafstädte lag der Rahmen eines Fensters, dessen Glas geborsten war. Hier und da glitzerten Scherben im aufziehenden Sonnenlicht. Jo war die Ruine schon am Vorabend nach nützlichen Dingen durchgegangen, aber die Ausbeute war gering gewesen. Ein bisschen Besteck, zwei Konservendosen - eine große, eine klein, beide ohne Etikett - ein paar Knochen, deren Herkunft Jo sich nicht weiter ausgemalt hatte, eine halbe Packung Schmerzmittel, leere Putzmittelflaschen und dicke Ordner vollgestopft mit vergilbtem, beschrifteten Papier, die sie nicht hatte entziffern können. Die Dosen und das Schmerzmittel hatte sie eingesteckt, um den Rest hatte sie einen großen Bogen gemacht. Noch auf dem Boden sitzend, glitten ihre Finger über den teilweise abgeplatzten, verputzten Boden. Die meisten der weißen Fliesen waren gesplittert, einige fehlten schon lange. Darunter gähnte der blanke Beton. Aus den Wänden herausragende Streben und Rohre, als auch die alte Duschwanne in der Ecke, deuteten darauf hin, dass hier einst ein Badezimmer gewesen sein musste. Jo liebte das Gefühl der glatten, kalten Fliesen an ihrer Haut. Selbst hier unter Schutt und Trümmern leuchteten sie hell und sauber. Es schien ihr, als seien Fliesen das sauberste Gut inmitten all des Schmutzes und Unrats, dem sie sich tagtäglich ausgesetzt sah. Es faszinierte sie. Jo fand ihre Stiefel neben den Überresten eines maroden Holzschränkchens. Anschließend rollte sie den Schlafsack zu einem dicken Knäuel zusammen und zerrte ihn an dem großen, oft geflickten und mit diversen Fächern und Täschchen erweiterten Rucksack fest. Er war aus dunkelgrünem Canvas gefertigt. Manche Nähte waren ausgefranst, hier und da fanden sich dunkelbraune Flecken und Risse, die entweder genäht oder überklebt worden waren. Am Rückenteil gab es ein daumennagelgroßes Loch und eingetrocknete Reste dunkelroten Blutes. Ein augenzwinkernder Gruß des Vorbesitzers. Daneben lag eine dunkelbraune Weste mit aufgesetzten Taschen, ein Gürtel von gleicher Machart und ein blassgrüner, oftmals ausgebesserter und vor Dreck stehender Parka mit großer, ausgefranster Kapuze. Sie zupfte zurecht, was sie aus der vergangenen Nacht noch am Körper trug, leckte sich über die feuchten Lippen und zog den Ledergürtel, den sie für die Nacht gelockert hatte, wieder fest. Damals, als sie ihn bekommen hatte, hatte sie mit einem Schraubenzieher zusätzliche Löcher stanzen müssen, um ihn überhaupt tragen zu können. Inzwischen drohte er schon wieder zu weit zu werden. An den Resten einer Wand glitzerten die spröden Bruchstücke eines Badezimmerspiegels. Sie steckten noch in seinem weiß lackierten Holzrahmen, von dem die Farbe größtenteils abgeplatzt war. Für einen kurzen Moment huschten Jos Pupillen über ihr Spiegelbild, das sich in den Splittern in unzählige Facetten aufspaltete, dann wandte sie sich aprubt ab, fischte Weste und Parka vom Boden und zog alles, ohne sich noch einmal umzudrehen, an. Sie hasste es. Dieses Bild. Das groteske Zerrbild ihrer, dass bestimmt wurde durch diese stets präsente Gummimaske, jagte ihr jedes Mal wieder einen entsetzlichen Schrecken ein. Darunter versteckte sich ein schmales, eingefallenes Gesicht mit großen, grünen Augen, die von dunklen Schatten und hellblauen, durch die weiße Haut schimmernden Äderchen eingerahmt wurden. Das spröde, rotblonde Haar fiel ihr strähnig bis auf die schmalen Schultern. An Augen und Mundwinkeln fanden sich winzige Fältchen, Ergebnis jahrelangen Mangels und ewiger Strapazen. Die dünnen Lippen waren an manchen Stellen aufgesprungen. Auf Wange, Stirn und Hals fanden sich dunkle Spuren dunkelbraunen Schmutzes. Den weißen, kugelrunden Motorradhelm mit schwarzem Lederfutter nahm sie nach Möglichkeit nicht einmal zum Schlafen ab, so unbequem er auch war. Wie oft schon hatte sie von Menschen gehört, die man schlafend erschlagen und anschließend ausgeraubt hatte. Heute hatte sie eine Ausnahme gemacht. Weiß glänzend stand er neben dem vollgepackten Rucksack. „He. Turbo.“ Ihre Stimme war hell, wie die eines jungen Mädchens, klang aber rau und belegt. Sie hatte nicht oft die Gelegenheit, sich mit anderen Menschen zu unterhalten, und wenn, dann waren die Gespräche kurz angebunden und grob. Ihr Tonfall war zweckmäßig, ohne explizite Freundlichkeit, wenn auch gespickt mit stiller Zuneigung. In einer in den Boden eingelassenen Duschwanne, deren Beschichtung von langen Rissen durchzogen war, zuckte etwas im Halbschlaf. Jo hob unbewusst die Schultern und griff in den großen Rucksack, aus dem sie eine faustgroße, stark verbeulte Konservendose, einen Löffel und einen Dosenöffner hervorkramte. Von der Dose war das Etikett verloren gegangen. Hier und da hatte Rost angesetzt. Anschließend kauerte sie sich auf den boden, die Beine zum Schneidersitz verkreutzt, und begann damit, die Dose unter leisem Stöhnen aufzuhebeln. Der Öffner war seit Jahren stumpf, und wenn sie einmal abrutschte, würden sie auch die fingerlosen, schwarzen Handschuhe nicht vor tiefen Schnittwunden bewahren. Die feinen, dünnen Narben, die sie an der rechten Hand mit sich trug, waren der stille Beweis. Auf einen passablen Ersatz war sie bisher noch nicht gestoßen. Dosenöffner waren ein begehrtes Gut. Als sie den Deckel mit den Fingerspitzen löste und zu Boden fallen ließ, zuckte es wieder in der Wanne. „Turbo, komm jetzt“, murrte Jo mit Nachdruck und fischte mit der rechten Hand nach dem zerkratzten Metalllöffel. Endlich erhob sich etwas und war mit wenigen, leichtfüßigen Schritten bei ihr angelangt. Es handelte sich um einen etwas mehr als kniehohen, struppigen Hund, der äußerlich von den alten Fotos, die Jo in manchen Büchern betrachtet hatte, eklatant abwich. Sein Fell war braungrau und spröde, und obschon er so wirkte, als habe er während seines gesamten Lebens hungern müssen, war er erstaunlich breit und kräftig geraten. Die hier und da blank durchschimmernde Haut umspannte Knochen und Muskeln, das abstehende Fell verlieh ihm einen imposanten Eindruck. Der buschige Schwanz war nur zur Hälfte ausgebildet, und aus der linken Schläfe des schmalen, knochigen Kopfes blickte ein drittes, vollkommen funktionsfähiges Auge. Von seiner bedrohlichen Gestalt einmal abgesehen stellte Turbo einen der angenehmsten und loyalsten Begleiter dar, der Jo je begegnet war. Turbo hatte sich schweigend neben sie gesetzt, und musterte sie nun still und erwartungsvoll aus seinen drei kastanienbraunen Augen. Er kannte das allmorgendliche Ritual. Jo späte in das Innere der Dose und atmete erleichtert auf. Graubrauner, fast farbloser Fleischbrei mit hellrosa Bohnen. Keine Ravioli, keine Nudeln, flüsterte sie sich selbst in Gedanken zu. Das war doch mal ein guter Start in den Tag. Mit dem großen, verbogenen Löffel schaufelte sie einen kleinen Haufen auf den kalten Fliesenboden, dann begann sie, still schmatzend, den kalten Brei gierig in sich hineinzuschaufeln. Sie hatte kaum Grund zur Eile, aber die Jahre des Futterneids und der mangelnden Nahrung hatten in jedem Steppenbürger seine Spuren hinterlassen. Turbo wartete einige Sekunden, dann tat er es ihr gleich. Es scheckte mürbe und salzig, und war von endlos schleimiger Konsistenz. Jo kaute kaum, ehe sie schluckte, hatte den Löffel schon wieder gefüllt, als sie noch am Kauen war. Währenddessen hatte sie die Augen stets überall, vor allem aber bei dem großen, struppigen Hund. Es war knapp drei Jahre zuvor gewesen, da hatte sie ihn, winzig und verloren, in einem Haufen rostiger Eisenrohre gefunden, halb verhungert. Das Muttertier, fast genau so groß wie er, hatte tot und ausgeweidet ein paar Meter abseits gelegen, und offensichtlich als schmackhafte Mahlzeit für einige vorbeikommende Wanderer gedient. Der restliche Wurf hatte gefehlt. Ihn hatte man offensichtlich zurückgelassen, mit seiner halben Rute und dem dritten Auge. Von einem inneren Bedürfnis gepackt hatte sie ihn in ihre Jackentasche gesteckt und mitgenommen. Er war schnell zu groß für ihre Jackentaschen geworden, nichtsdestotrotz waren sie seither zusammen unterwegs. „Du bist kein guter Wachhund, weißt du?“, murmelte sie schmatzend, während sie den Löffel wieder in die graubraune Pampe tauchte. „Wenn man uns jemals überfällt bist du der Letzte, der’s mitbekommt. Kannst froh sein, dass alle vor deiner Größe Angst haben, Turbo, du großer, fauler Köter.“ Sie lachte leise, dann kratzte sie den letzten Bissen aus der Dose heraus, die sie anschließend leise neben sich auf die Kacheln stellte. Turbo war zu sehr mit Fressen beschäftigt, um ihr Gehör zu schenken. Hungrig leckte er die letzten Reste vom Boden, dann hob er den Kopf und warf ihr einen empörten Blick zu, als sei seine Ration mal wieder viel zu klein ausgefallen. Jo streckte die Hand aus und fuhr ihm durch das graue Fell. Dann packte sie sein Gesicht in beide Hände und sah ihn ernst an. „Es hilft alles nichts, wir haben nicht mehr“, sagte sie ruhig und leise. „Du wirst uns schon was reissen müssen, wenn du mehr willst. Hätte ich übrigens nichts gegen. Wir sollten unsere Vorräte auffüllen, bevor wir zurück in die dichten Trümmergebiete kommen.“ Turbo gab ein lautes Brummen von sich und löste seinen Kopf aus ihren Händen. Sie seufzte. „Dann halt nicht.“ Sie kämpfte sich zurück auf die Beine, leckte den Löffel sauber und stopfte ihn zusammen mit dem Dosenöffner zurück in den Rucksack. Dann hob sie ihn hoch, frachtete ihn leise stöhnend auf den Rücken und zog die nach Gummi riechende Maske, die sie zum Essen hochgeschoben hatte, zurück auf ihr Gesicht. Zum Schluss fischte sie den weißen Motorradhelm vom Boden und setzte ihn auf ihren Kopf. Mit kalten Fingern brachte sie den Verschluss an ihrem Kinn zum Einrasten. Sie war bereit zum Aufbruch. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, wie sich der Himmel allmählich rot färbte. „Komm“, rasselte ihre Stimme unter dem Kunststoff der Maske. Turbo gab zur Antwort ein tiefes Bellen von sich. „Es wird Zeit, dass wir hier verschwinden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)