Belle Époque von MadameFleurie (Was letztendlich bleibt...) ================================================================================ Kapitel 1: Liam. ---------------- Es war ohrenbetäubender Lärm, der Liams Bewusstsein zurück in die echte Welt riss. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er ins Dunkel, lauschte dem raschen Schlag seines Herzens und versuchte sich daran zu erinnern, wo es ihn hinverschlagen hatte. Die schnellen Ortswechsel der vergangenen Tage hatten seinen sonst zuverlässigen Orientierungssinn benebelt, ihm vor die Augen geführt, dass es Zeit wurde, eine Pause zu machen, irgendwo länger zu verweilen, auszuruhen. Ein kurzer Schauer jagte über seinen Rücken, ließ ihn zusammenzucken. Obschon er unter einer groben Steppdecke lag, war es eiskalt. Wieder lärmte es, dumpf und durchdringend. Jemand schien mit ganzer Kraft gegen etwas zu hämmern, so glaubte er, und nur Sekundenbruchteile später wurde ihm bewusst, an welchem Ort er sich befand. Das Pochen verstummte. Schritte näherten sich. Eine Tür wurde aufgeschoben und ein Schalter lautstark betätigt. Künstliches Licht erfüllte augenblicklich den Raum, fiel Liam ins Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und erkannte im Schein der Lampen einen fetten, ungewaschenen Mann, dessen winzige Pupillen im grellen Flackern des Lichtes blitzten. Kaum hatte er die Tür aufgeschoben, begann er, mit seiner riesigen Faust gegen die Zimmertür zu hämmern, welche, notdürftig hergestellt, aus miteinander verschweißten Metallplatten bestand. Sie war verbogen und unglaublich rostig - insbesondere an der Stelle, die seinem ständigen Klopfen standhalten musste - hielt sich aber erstaunlich stabil in ihren Angeln. „Ja“, brummte Liam und setzte sich auf. „Ja. Hör auf. Mein Gott, jetzt hör schon auf, ich bin wach." Seine Stimme war kaum mehr als ein wütendes Knurren. Er hatte für das Bett bezahlt, kein Grund, ihm bereits so früh auf die Nerven zu gehen. Der Dicke verstummte und wischte sich die Faust an einer speckigen Leinenschürze ab, die er um seinen voluminösen Bauch gebunden hatte. Darunter trug er ein vergilbtes, graugelbes Hemd, dessen Ärmel er bis zum Ellenbogen hochgekrempelt hatte, und das an seinen stämmigen, haarigen Armen spannte. Er war schlampig rasiert, die Wangen glänzten rot vom Suff des vergangenen Abends. Ihm gehörte dieser Platz, eine kleine Gaststätte mitten im Nirgendwo. Liam schätzte ihn auf etwa Mitte dreißig. Ein widerlicher, stinkender Kerl. „Steh auf", knurrte der Wirt mit einer tiefen, sonoren Stimme, die deutlich machte, dass er keinen Widerspruch duldete. Viel mehr kündete sie davon, dass er auch mit ausgewachsenen Unruhestiftern zurechtkam, man also besser die Schnauze hielt und tat, was er von einem verlangte. Sie war tief, kräftig und voller Nachdruck. „Pack dein Zeug. In der Schänke gibt's Frühstück, dann will ich, dass du verschwindest. Brauch' das Bett und so." Für Liam klang das alles nach einer billigen Ausrede - jedenfalls leuchtete ihm nicht ein, warum um alles in der Welt man um diese Uhrzeit ein Bett brauchen sollte - aber er sagte nichts. Statt dessen nickte kaum merklich und beobachtete still, wie der Andere seinen voluminösen Körper aus dem Raum schleppte. Ein unsympathischer, fetter Kerl, selbst für hiesige Verhältnisse. Liam hatte ihn gestern Abend auf Anhieb nicht leiden können. Erneut rieb er sich mit den Fingerspitzen über die kalte, trockene Stirn, suchte nach den Gründen, die ihn an diesen Ort getrieben hatten. Er war gen Norden gereist. Die vergangenen zehn Tage hatten ihn immer weiter in diese Richtung getrieben, flussaufwärts, wenn auch die Hinweise wie immer dürftig, viel mehr kaum vorhanden waren. Vor zwei Tagen war ihm der Proviant ausgegangen, und er war hier gestrandet, in einer winzigen Siedlung von kaum einem Dutzend Baracken, mit wortkargen Menschen, deren Gesichter gezeichnet waren von jahrzehntelanger Strahlung und Inzest. Man nannte diesen Flecken Erde „Kraterseits“ - und Liam glaubte zu wissen, warum. Die Baracken befanden sich rund einen halben Tagesmarsch östlich vom Fluss, mit ihm durch einen winzigen, schwach ausgeschilderten Trampelpfad verbunden, und bildeten einen rostigen Quell an Leben am Grunde eines alten Bombenkraters. Liams Geigerzähler hatte rebelliert, als er hinabgestiegen war, aber eine Nacht voller Strahlung war ihm lieber als das rastlose Unterfangen, die Dunkelheit in der Steppe lebend zu überstehen. Voller Unmut schlug er die Decke zurück und setzte seine in dicke Socken gepackten Füße auf den feuchten Grund des Steinbodens, ehe er, noch steif von der vergangenen Nacht, das Gewicht auf seine Beine verlagerte und schwankend aufstand. Es dämmerte ihm, dass er allmählich zu alt wurde, für diese langen, feuchtkalten Abende auf zugigen Pritschen. Sein Rücken erschien ihm wie ein Trümmerhaufen - er streckte sich und lauschte dem leisen Geräusch einrastender Wirbel. Kraterseits Motel war nichts weiter als ein in den Boden geschlagenes Loch aus einigen Fluren und Räumen, in denen es selbst im Sommer kaum wärmer wurde als fünfzehn Grad Celsius. Es war dunkel und feucht - das Wasser tropfte von den steinigen Wänden - und führte, wenn man nicht auf sich Acht gab, über kurz oder lang schnell zu dem langwierigen Lungenschleim oder dem gefürchteten Blutigen Husten. Liam konnte es kaum erwarten, diesen Ort zu verlassen, auch wenn es bedeutete, dass er sich langen Märschen durch aufgeheiztes Gelände stellen musste. Bloß die Wasservorräte auffüllen, vielleicht noch einen Job absahnen - und dann nichts wie weg hier. Er neigte den Kopf nach links und rechts und konnte spüren, wie seine Sehnen wieder in die rechte Position sprangen. Das klang ungesund, verschaffte aber Linderung. Anschließend begann er, sein Hab und Gut zusammen zu packen. Es gab nicht viel, an das er denken musste - die wichtigsten Utensilien befanden sich in einem alten, aus Canvas genähten Seesack auf dem Boden. Neben der Pritsche auf einem unscheinbaren Stuhl lagen dort ein Paar abgetragener, brauner Lederstiefel ohne Absatz - Größe 45 - eine fleckige, dunkelgrüne Hose, auf welche die Zeit allerlei Taschen und Flicken genäht hatte, ein staubfarbenes Hemd aus Leinen, dass er einst einem kreuzenden Steppenbürger abgenommen hatte, der von weniger Glück gesegnet war als Liam selbst, und ein grauer, oft geflickter, grauer Pullover, der ihm selbst zu groß war und dessen äußere Erscheinung durch Löcher und rote Flecken auf ein hartes Leben voller Ärger schließen ließ. Auf der Stuhllehne hing eine braune Fischerweste, Fingerlinge aus Leder und ein rotes Halstuch aus inzwischen rissig gewordener Baumwolle. Daneben eine Sonnenbrille in Metallbindung, ein alter Stahlhelm, und, sein ganzer Stolz, eine recht gut erhaltene AK47 aus den Tagen des großen Sterbens. Noch etwas steif zog er alles an, griff nach dem Rucksack, der, bis auf Essgeschirr und einiger weiterer wichtiger Dinge, leer war, schulterte die Waffe und verließ den winzigen Raum, der neben seinem Bett noch vier weitere Pritschen beherbergte, in Richtung Schänke. Dieser war knapp doppelt so groß wie der Schlafsaal, beinhaltete eine Theke aus spröden, rostbraunen Metallteilen, etwa vier Tische und ein gutes Dutzend Stühle jeder Form und Farbe. Liam hätte gestern fast Ärger mit dem Wirt angefangen - man hatte ihm hier den verwässertsten Whiskey seines Lebens vorgesetzt - hatte sich glücklicherweise rechtzeitig eines Besseren besonnen und inne gehalten. Auf einem der Theke am nächsten stehenden Tische befand eine kleine Schale aus Aluminium, deren Inhalt munter vor sich hin dampfte. Mit einem Ruck zog Liam den erstbesten Stuhl zurück, setzte sich und griff nach dem bereitgelegten, vor Rost strotzenden Löffel. Bei der dampfenden Masse handelte es sich um einen graubraunen, formlosen Brei, von dem Liam ausging, dass es sich mit aller Wahrscheinlichkeit um Bohnen handelte. Zaghaft nahm er einen ersten Bissen, dann begann er, alles so schnell wie möglich in sich hinein zu schaufeln. Es scheckte pappig, ein wenig bohnig. Samt der mürben Konsistenz machte das Gericht seinem Aussehen alle Ehre. Beinahe mochte er es. Als er den letzten Rest vom Boden gekratzt hatte, warf er den Löffel zurück auf den Tisch und lehnte sich zurück. Sein Magen ließ einige missmutige Geräusche ertönen, verstummte dann aber resignierend. Von ihm aus hätte es mehr sein können, er war bei weitem noch nicht satt, aber es war besser als nichts. Wenige Minuten später öffnete sich eine der Türen und der Wirt betrat den Raum. Auf dem Arm hielt er ein Paar staubiger Flaschen und Dosen, von denen letztere einige deutliche Macken aufwiesen. Liam wischte sich die Reste des Frühstücks mit dem Handrücken aus dem Gesicht und stand auf. Der hölzerne Stuhl kratzte über den steinigen Boden. „Wirt.“ Dieser hatte gerade die Flaschen abgestellt und war im Begriff, den Schankraum wieder Richtung Lager zu verlassen. Liam lehnte sich an die Theke und trommelte mit den Fingerspitzen auf das kalte Metall. Dieser zeigte keinerlei Reaktion und schritt munter gen Ausgang. „He, warte“, rief er fast, ein wenig nachdrücklicher. Der Wirt wandte sich um, die Haut fettglänzend im schwachen Licht. Er schein alles andere als erfreut, dass ihn jemand störte, und generell hatte Liam den Eindruck, als sei er jemand, der nicht gerne mit Menschen sprach. Wie man dann ausgerechnet auf die Idee kam, ein Motel zu betreiben, war Liam nicht nachvollziehbar, aber manchmal konnte man sich seinen Beruf nicht aussuchen. „Was ist?“ Er kaute auf etwas, das, durch den offenen Mund betrachtet, sehr nach Kautabak aussah. „Ich suche Arbeit“, antwortete Liam, während er seinen Gegenüber kaum für eine Sekunde aus den Augen ließ. Der Wirt zuckte mit den Schultern und rümpfte seine kleine, viel zu rund geratene Nase. „Was geht mich das an?“, grunzte er mit seiner tiefen Stimme. Dann wischte er seine Stirn, schwitzig durch das ganze Geschleppe, an der speckigen Schürze ab. Liam gab ein kleines, gehässiges Schnauben von sich und schürzte die Lippen. „Erzähl mir nichts“, antwortete er leise. „Ihr Kneipenleute wisst immer, wo es was zu tun gibt. Ich bin pleite und mache fast alles. Ohne Geld komm’ ich hier nicht weg. Also, weißt du was?“ Der Dicke musterte ihn fast unverschämt offen, während er ein schmutziges Glas aus der Spüle nahm und es mit der Schürze zu polieren begann. „Kostet“, murmelte er beinahe lautlos. Liam runzelte die Stirn und beugte sich über die Theke. „Was?“ „Das kostet“, wiederholte er in verärgertem Tonfall. Offensichtlich glaubte er Liam nicht. Dieser griff nach seiner Tasche und knallte sie auf den Tresen. Leer, wie sie war, machte sie einen erstaunlich traurigen Eindruck. „Negativ. Ich sagte ja, ich bin pleite. Hab’ gestern meine letzten Sachen bei dir gelassen.“ Der Wirt warf einen flüchtigen Blick in die Tasche und polierte weiter. „Was ist mit den Filtern? Von deiner Maske. Die scheinen ganz gut was wert zu sein.“ „Willst du mich umbringen?“ Liam lachte kalt. „Ohne die Filter komme ich hier nie wieder weg. Die behalte ich, keine Chance. Und jetzt komm bloß nicht auf die Idee, nach meiner AK zu fragen, die Antwort bleibt die gleiche.“ Ganz allmählich begann sich ein schwerer Klumpen Ärger in seiner Magengrube zu bilden. Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und legte die Finger, die bis vor wenigen Sekunden noch nervös getrommelt hatten, flach auf den Tisch. Dieser Wirt schlug ihm auf die Nerven. Er gab der ganzen Angelegenheit noch zwei Minuten, dann würde er seine Sachen packen und den Ort auf eigene Faust nach Arbeit durchkämmen. Beide verfielen in angespanntes Schweigen. Der Wirt polierte seine Gläser, während seine Augen verbissen in die Luft starrten. Er schien zu überschlagen, ob es nicht doch noch einen Weg für ihn gab, Profit aus Liams Situation zu schlagen, schien aber zu dem Schluss zu kommen, dass dies unwahrscheinlich war. Er stellte das Glas zur Seite - es war kaum sauberer als vorher. „Der alte Mechaniker Hartmann sucht seit Wochen jemanden, der für ihn einen Botengang übernimmt.“ „Warum macht er ihn nicht selbst?“ Liam runzelte die Stirn. „Hat die Hosen voll, schätz’ ich. Hör mal, wenn das ganze ein Kinderspiel wär’, würde er’s wahrscheinlich selbst machen. Jedenfalls zahlt er ganz ordentlich, der alte Sack. Hat’s hier irgendwie zu Wohlstand gebracht, weiß der Teufel wie.“ „Wo finde ich ihn?“ „Straße runter, erste links. Zweites Haus von rechts. Kannst es nicht verfehlen.“ Liam nickte und schulterte die Tasche, die federleicht auf seiner Schulter hängen blieb. Er nickte dem Wirt zu und wandte sich zum Gehen. „Warte kurz“, sagte dieser plötzlich, als habe er etwas wichtiges vergessen. Liam, der sich kaum zwei Schritte entfernt hatte, hielt inne und wartete ungeduldig darauf, das sein Gegenüber aussprach, was er noch zu sagen hatte. „Was verschlägt einen Vogel wie dich in diese abgegraste Gegend?“ Liam sah den Wirt lange an, ehe er antwortete. „Das geht dich einen feuchten Kericht an“, presste er schließlich zwischen den Zähnen hervor und der Wirt brach in hallendes Gelächter aus. Es war ein gehässiges, aber volles Lachen, als habe er noch nie eine derart dumme Antwort vernommen. Sein Bauch hob und senkte sich wie eine Packung ‚Waldmeisters wackelnder Wibbelpudding‘, was Liam zu seinem Abscheu bemerkte. „Was willst du sein? Ein Söldner auf der Flucht vor seiner schäbigen Vergangenheit?“ Presste der Andere hervor und wischte sich einige kleine Tränen von den fetten Wangen. „Vielleicht“, antwortete Liam, der spürte, wie sich die Muskeln unter der aufkeimenden Wut verhärteten und verließ den Schankraum, ohne auch nur eine weitere Sekunde seines Lebens an diesen, wie er ihn für sich nannte, Mistkerl zu verschwenden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)