Blur - Ancient Curse von AraniShadon ([Aoi & Kai] [Ruki & Uruha] [Karyu & Zero] [MC] [Singlework]) ================================================================================ Kapitel 7: 6 ------------ 6 Aoi hatte sich in das alte Haus des Dämonen Kova zurückgezogen. Von außen hatte es die gleiche freundliche und filigrane Fassade wie alle Gebäude in Elbaro, doch das Innere war rustikaler ausgestattet. Die Farben waren zwar warm, aber dunkler. Statt all dem Sandstein, Marmor und Granit herrschte im Inneren Holz in Kombination mit Fellen und großen bestickten Kissen vor. Es entspannte ihn, was durch die Stille unterstützt wurde, die es ihm erlaubte, einen Schritt, von dem immer präsenten Bild, Macht und Stärke zu demonstrieren, zurückzutreten. Er schloss die Augen, nachdem er sich auf einen der großen Sessel gesetzt hatte, rieb mit dem Zeigefinger über sein Nasenbein. Seit der Prophezeiung gab es in seinem Unterbewusstsein dies dunkle Gefühl, das dort beständig nagte, immer wieder wisperte, dass dies hier nur sein Fehler war. Wenn er Zero nicht mit dem Artefakt hätte entkommen lassen, wenn er ihn hätte finden können... Schuldzuweisungen und Selbstzweifel, die ihn all die Jahre über begleitet hatten – nun schienen sie übermächtig, nährten seinen Zorn, seine Unbeherrschtheit. Sie ließen ihn sich machtlos fühlen; er hasste es. Er wollte ein Schwert nehmen und sich in das Gefecht stürzen, nur, dass es keinen Kampf zu schlagen gab. Alles was er hatte, waren eine paar vage Vorstellungen, gerade was das Artefakt anging. Ja, er hatte Ruki beauftragt, nach allen zu suchen, was sich als brauchbar heraus stellte. Aber er war realistisch genug, um zu wissen, dass es nur das sein würde, was sie schon bei der allerersten Suche zusammengetragen hatten. Es wäre ein Wunder, wenn es mehr gäbe. Und Aoi glaubte nicht an Wunder. Viele der Elfen hatten ihm gesagt, dass Zero solch eine Waffe niemals würde benutzen können; einzig Kyô war seiner Ansicht gewesen, dass Zero verbissen genug war, es so lange zu versuchen, bis es ihm gelang. Für den Geist gab es nur ein Ziel und wie viele Leichen seinen Weg dahin säumten war diesem egal. Er hatte seinen Geliebten über alles gestellt; eine Tatsache, die Aoi nicht nachvollziehen konnte und doch auf gewisse Weise bewunderte. Wie zäh musste man sein, über all diese Jahrhunderte auszuharren? Wie tief gingen die Gefühle für dieses eine andere Wesen? Aoi liebte Kai ebenfalls. Und das mit einer feurigen Intensität, die ihn durchaus so manche Grenze vergessen oder gar brechen ließ. Aber Kai als einzigen Mittelpunkt in seinem Leben setzen? Aoi war sich nicht sicher, ob er dies jemals tun konnte. Seine Augen schlossen sich; allein durch diesen Gedanken hatte er das Gefühl, Kai zu verraten und herunter zu stufen. Er zwang seinen Geist in eine andere Richtung. Wenn es wirklich Zero war, der nach Kai gerufen hatte, zu welchem Zweck war es geschehen? Wer war das tatsächliche Ziel des Geistes? Oder brauchte dieser wirklich Kai an sich? Der Mensch besaß eine gewisse Unschuld und vor allem eine reine Seele, die in vielen dunklen Ritualen gebraucht wurde. Nur weil sie kein magisches Potential enthielt, bedeutete dies nicht, dass sie weniger wertvoll war. Welche Fakten hatten sie? 'Denk nach, Aoi!' Da waren die Monde; sie würden in vier Tagen eine Linie bilden und damit enorme magische Kraft freisetzen. Zero besaß das Artefakt der Zeit und hatte sich möglicherweise entschlossen, genau jetzt zu agieren. Die Prophezeiung sprach von einer reinen Seele. Kai war gerufen worden. Ihm war gesagt worden, dass er etwas besaß, das nur er geben konnte. Der Dämon öffnete die Augen, erhob sich und eilte mit sicherem, zielstrebigen Gang zu den Hallen der Schriften, in welchen er Ruki finden würde. Der Geist plante eine Art Ritual. Welches, das war völlig unklar, doch sie hatten etwas, nachdem sie suchen konnten. Eine Möglichkeit, ihr Ziel einzugrenzen. Die Elfen senkten respektvoll den Kopf, als er das große Gebäude erreichte; Aoi registrierte es kaum, er pflügte zielstrebig durch die Haupthalle in die Bibliothek, in welcher er Ruki hinter einem der großen Tische sitzen sah, die Brauen zusammengezogen und Dutzende von Schriften und Büchern um sich herum. Sie schienen den kleineren Mann regelrecht zu begraben und immer wieder eilte ein schmächtiger Elf zu ihm und brachte noch mehr Bücher. Aoi ging noch ein, zwei Schritte, im Begriff seinen Mund zu öffnen – da fühlte er es. Magie. Derart heftig, dass sie ihn wie ein physischer Schlag in der Mitte der Brust traf, was ihn kurz zurück straucheln ließ. Ruki erging es ebenso, er hörte das scharfe Einatmen des Dunkelelfen, doch er ignorierte ihn. Stattdessen wirbelte er herum, sprintete aus den Hallen und in die Richtung aus welcher er die Entladung gefühlt hatte. Das Haus des Traumtänzers. Kai. Die ersten beiden Dinge, die in seinem Geist registrierten, waren die Tatsachen, dass Kyô anwesend war und das alles in einem Umkreis von gut zehn Metern mit einer Substanz behaftet war, die wie Diamantenstaub aussah und es enorm schwer machte, überhaupt etwas zu erkennen. Die Luft war heiß, wie nach einer Explosion, die Erde war aufgerissen, zentimetertiefe Spalten, die vom Haus des Traumtänzers fort führten. Das Gebäude selbst war abgesunken, stand nun merkwürdig asymmetrisch in der sonst perfekten Landschaft. Teile des Daches fehlten und Aoi hörte das Summen weißer, herrenloser Magie. Kyôs dunkle Augen trafen einen Moment die seinen, dann fuhr der Hoheelf in seinem Handeln fort, wisperte einen Zauber, der die Sicht erleichterte und begann, die freie Kraft einzufangen. Aoi half seinerseits, das Haus des Traumtänzers zu stabilisieren und bahnte sich anschließend einen Weg hinein; Ruki dicht hinter ihm. Die Atmung des Dunkelelfen war gepresst; er litt unter der hellen Magie, doch Aoi brauchte ihn, um die Trümmer beiseite zu schaffen, Zauber konnten sie hier drinnen nicht anwenden, dann würden sie einen weiteren Einsturz riskieren. Den ersten, den sie fanden, war Uruha. Das Meerwesen blinzelte immer wieder, seine Bewegungen träge und benommen. Blut tropfte aus einer Wunde am Haaransatz, lief über Schläfe, Wange und Ohr. Ruki fluchte, fiel neben dem Langhaarigen auf die Knie, zerriss Stoff, den er zusammenwickelte und gegen die Wunde presste. Aoi indes arbeitete sich weiter vor, zwängte sich zwischen zwei Balken hindurch und stieß wenig später auf Kai und den Traumtänzer. Beide schienen unverletzt; sie schwebten zusammen einige handbreit über dem Boden, beide wie kleine Kinder zusammengerollt. Kurz schloss der Dämon die Augen, gab sich diese paar Sekunden der Erleichterung, dann berührte er Kai am Arm, zog den schwebenden Mann zu sich. Es hatte den Effekt, dass sich der Zauber, oder was immer es war, das den Braunhaarigen umhüllt hatte, löste und Aoi mit einem Mal das gesamte Gewicht zu halten hatte. Es gelang ihm in seiner ungünstig gezwungenen Position nur geringfügig; den Kopf und die Schultern konnte er schützen, doch vor allem Beine und Füße schlugen hart auf den Untergrund. Aoi zischte in Sympathie, doch Kai interessierte es nicht. Er blieb genauso still und unbewegt wie auch zuvor. „Ruki.“ „Ich bin hier.“ Das Gesicht des kleineren Mannes tauchte bei den Balken auf, derweil Aoi das Handgelenk bewegte, um eine Lichtkugel in die Luft zu bringen, die seine Umgebung erhellte. „Die Balken müssen weg, sonst können wir keinen von ihnen bergen, es ist unmöglich hier drinnen genug zu manövrieren.“ Sein General nickte, verschwand und statt seiner erschien Uruha. „Aoi? Sind sie in Ordnung?“ „Körperlich scheint dem so. Alles andere kann ich nicht sagen. Was ist mit dir?“ „Nur ein Kratzer, nicht der Rede wert. Ich habe ihn bereits mit einem Heilzauber belegt.“ Der Dämon nickte, bewegte Kai in eine möglichst stabile Position, bevor er nach Die griff und diesen ebenfalls auf den Untergrund legte, bevor der Zauber außer Kontrolle geraten konnte. Wie auch bei Kai reagierte Die nicht weiter und die Brauen zusammengezogen strich Aoi mit den Händen über beide Körper. Er nutzte seine weiße Magie nicht oft, weswegen es etwas länger dauerte, als bei einem Heiler, aber nach einigen Minuten stellte er fest, dass es keine gebrochenen Knochen gab und nichts, das auf ein Schädeltrauma hinweisen würde. Atmung und Puls waren stabil – wenn Aoi es nicht besser wüsste, dann würde er glauben, dass beide nur ein kleines Nickerchen hielten. Über ihm krachte und knackte es, Steine rollten davon, als Staub auf ihn hinab rieselte. Er konnte Magie fühlen – Kyôs Magie, um genau zu sein. Der Hoheelf trug das Haus von oben ab, setzte Stück für Stück in der unmittelbaren Nähe ab; Aoi konnte die Erde beben fühlen, wann immer ein Block aufsetzte. Es ging zügig, wenig später drang Tageslicht zu ihm und dann bewegten sich die Balken. Kaum, dass der Weg frei war, half Uruha Die zu heben und brachte diesen fort, Kai nahm Aoi selbst hoch, kletterte über die Ruine des Hauses bis er ebenen Grund erreichte. Dort erwarteten ihn Elfen mit Wasser und einer Decke, die sie zusammengerollt unter Kais Kopf schoben, sich aber sonst von dem Dämon fern hielten, welcher mit dem Handrücken langsam über Kais Wange strich. »Kai.« Ein sanftes Seufzen entfloh den leicht geöffneten Lippen, dann blinzelte der Mensch, reagierte auf den eindringlich-mentalen Ruf. Sein Blick war nicht ganz zielgerichtet und Aoi legte die Finger gegen das Kinn, bewegte es, sodass Kai sein Gesicht fand. „Kai. Was ist passiert?“ Es dauerte einige Sekunden, dann schüttelte der Braunhaarige den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Er setzte sich mit Hilfe des Dämons auf, akzeptierte dankbar das Wasser, welches ihm gereicht wurde, dann sah er sich um. Ihr Umfeld wirkte, als wäre es einem Bombenangriff ausgesetzt gewesen. Er war so von dem Anblick schockiert, dass Aoi ihn mehrere Male ansprechen musste, bis er den Blick losreißen und sich statt dessen auf die Augen seines Geliebten konzentrieren konnte. „Kannst du dich an etwas erinnern?“ Abermals ein Kopfschütteln. Das Letzte, das er noch wusste, war, dass er sich auf Geheiß des Traumtänzers hingesetzt hatte. Er war eingeschlafen, aber dann war da nur noch Leere. „Geht es Die gut? Und Uruha?“ Aoi nickte, der Kiefer vor Anspannung hervor getreten und als Kai die Hand auf die Brust des Dämonen legte, konnte er den rasenden Herzschlag fühlen. Der Ältere hatte Angst um ihn, Kai. Er hatte befürchtet, dass ihm etwas zugestoßen war, ohne, dass er es hatte verhindern können. Es war das erste Mal, seit er Kistara betreten hatte, dass er an Aoi etwas anders, als dessen Stärke, Dominanz und Führung erlebte. Diese Situation – so normal sie sein sollte, bedachte man, dass sie einander liebten und von daher natürlich Sorge um den anderen empfinden sollten – erschütterte Kai so sehr, dass er Aoi die Arme um den Hals schlang, um ihn irgendwie zu beruhigen. Und zu seinem absoluten Erstaunen und entgegen allem sonstigen, vor allem öffentlichen, Handeln erwiderte Aoi die Umarmung, zog ihn so eng gegen sich, dass es beinahe weh tat. „Ich bin okay.“ Kai strich über Aois nackten Arm, küsste die Halsbeuge, bis sich der Dämon löste und sie sich beide erhoben. Unweit von ihnen stand Kyô; er beobachtete sie mit ruhigem, neutralen Blick, schien aber eindeutig auf sie, oder zumindest den Schwarzhaarigen, gewartet zu haben, denn er sprach, sobald er ihre Aufmerksamkeit hatte. „Die ist erwacht. Er konnte bestätigen, dass es Zero war, der einen Zauber nutzte und nach Kai rief. Und er konnte uns sagen, dass Zero das Artefakt der Zeit gemeistert hat. Er hat Die in eine Vision des Kristalls gestoßen, was auch das hier erklärt.“, der Hoheelf tat eine ausholende Bewegung mit der Hand. „Unfähig, sich zu befreien, hat Dies Magie agiert und eine Explosion ausgelöst, die ihn in die Realität zurück geholt hat. Es war eine instinktive Handlung; Die kann sich an nichts mehr erinnern. Aber er möchte Euch sehen und dich auch.“ Bei den letzten Worten war der Blick zu Kai herüber gewandert, welcher nickte, sich dabei aber die Arme rieb. Kyô war ihm noch immer unheimlich, auch wenn er dessen Handeln nach Uruhas Erklärung besser verstand. Da war einfach etwas an dem anderen Wesen, das er absolut nicht einschätzen konnte und ihn dementsprechend nervös machte. An seiner Seite senkte auch Aoi den Kopf, was als Dank genug aufgefasst wurde, denn Kyô drehte sich herum, führte sie zu dem Traumtänzer. Diesen hatte man, ganz wie Kai, auf der Erde abgelegt und dort saß dieser noch immer, bleicher und aufgewühlter als Kai es war; allerdings war das wohl verständlich. „Die?“ Der Mensch hockte sich neben den Rothaarigen, griff nach dessen Hand; sie wurde mit einem erleichterten Lächeln ergriffen. „Kai. Geht es dir gut?“ Er summte, währenddessen auch Aoi in die Knie ging und die Unterarme locker über die Oberschenkel legte. „Du hast mich beschützt.“, sagte er, obwohl er keine Ahnung hatte, ob dem tatsächlich so war, doch es beruhigte Die sichtlich und so lächelte er ihn sanft an. „Warum wolltest du uns sprechen?“ „Um Euch die Botschaft zu überbringen, die Zero mir mitgab. Aoi, Herr, Ihr müsst gewappnet sein. Der Geist wird Krieg und Verderben über das Land bringen. Viele Wesen werden fallen. Ich sah sie, ihre Leichen. Ich fühlte ihren Schmerz. Diese Leere. Solch entsetzliche Leere.“ Die letzten Worte waren immer leiser geworden, behaftet von unendlicher Trauer und Kai war geneigt, den Traumtänzer tröstend in die Arme zu schließen, hielt sich aber zurück, obgleich er auch in Aois schwarzen Augen einen ungewohnten Hauch Kummer und Mitgefühl entdeckte. „Konntest du sehen, wie er dies geschafft hat? Hat er dir Hinweise gegeben?“ „Nein, aber...“, die freie Hand des Rothaarigen griff auf die ruhig gesprochenen Worte nach Aois, welcher sich minimal anspannte, bevor er die Berührung akzeptierte, „...er hat ihn zurückgeholt. Den Todesengel.“ An seiner Seite sog Kai scharf die Luft ein und Aois Stirn warf tiefe Falten, als dieser das Gesicht des Traumtänzers genau studierte. „Bist du dir absolut sicher?“ „Ja. Er ritt an Zeros Seite. Er sprach mit mir.“ Aoi schwieg, die Züge in einer einzigen, harten Linie. Die Stille war so schwer, dass sie Kai auf die Lungen zu drücken schien, seine Atmung schwerer werden ließ. Er leckte sich über plötzlich trockene Lippen, dann berührte er den Dämon am Arm, bot stummen Beistand. Aoi reagierte, indem er seine Finger über Kais schob, trotzdem sah er weiterhin den Rothaarigen an. „Kannst du mir diese Vision zeigen, in die Zero dich warf?“ „Ja.“ „Wann?“ „In einigen Stunden, mein Herr.“ Aoi nickte seicht, drückte kurz die Finger des Traumtänzers, bevor er sich entzog und erhob. „Ruh dich aus.“ Kai lächelte Die noch einmal an, dann folgte er Aoi, die Stirn seicht gerunzelt. Im Grunde tendierte er dazu, die Entscheidungen seines Gefährten nicht zu hinterfragen, aber wenn man bedachte, was gerade mit Die und vor allem der Umgebung hier passiert war... „Denkst du, dass es gut ist, dir diese Vision zeigen zu lassen? Nachdem was hier gerade passiert ist.“ Aoi sah ihn ruhig an. „Das, was Die geschah, wird sich nicht wiederholen.“ „Woher willst du das wissen?“, Kais Stirn runzelte sich, „Die hat auch nicht gewusst, dass Zero in seinen Traum hinein spazieren würde. Er hat sich aus dieser Vision nicht allein befreien können. Was, wenn dir das auch passiert?“ „Das wird es nicht.“ Aois Tonfall war ebenso ruhig wie sein Blick, der nun gerade von einer Hand begleitet wurde, die Kais Kiefer streifte. „Die wird die Vision zwar für mich wiederholen, aber keiner von uns beiden wird dafür schlafen müssen. So kann Zero uns nicht erreichen und unsere Wälle bleiben gestärkt, was extrem wichtig ist. In Kistara ist mit der Macht der Gefühle viel möglich. Sie ist eng mit dem magischen Kern verknüpft, der in fast allem ruht, das es hier gibt. Starke Gefühle sind wie eine Art Auslöser – fehlt die Kontrolle über die Magie, beginnt diese von allein zu agieren. Sie tut alles, was in ihrer Macht steht, ihren Träger zu schützen. In solchen Momenten wird sie wie ein eigenständiges Wesen. Du hast gesehen, was Die getan hat, als seine Magie ihn befreit hat. Glaub mir, es gibt weit extremeres als das.“ ~~~~~ Zeros Augen öffneten sich langsam, das kleine Lächeln noch immer auf den Lippen präsent, derweil er sich aufsetzte. Er war zufrieden; alles entwickelte sich so, wie er es geplant hatte. Behutsam schob er die Kette des Kristalls über seinen Kopf, dann erhob er sich. Das Gewicht war angenehm und erinnerte Zero jeden einzelnen Tag daran, dass er seinem Ziel ein Stück näher war. Seine Schritte waren lautlos – auch eines der Dinge, die er dem Artefakt zu verdanken hatte; er konnte nun wieder eine feste Form annehmen – als er sich in der ausgebauten Höhle bewegte. Es war sicher kein Palast, aber es war besser, als das was Karyu und er ganz zu Beginn hatten, zu jener Zeit, als sie ungeschützt im Freien übernachtet hatten, ängstlich, dass jede Nacht ihre letzte sein würde. Oh Zero hatte nicht vergessen. Ganz sicher nicht! Und ebenso wenig hatte er verziehen. Keinem von ihnen, obgleich die meisten längst verstorben waren. Aber sie hatten Kinder und Enkel in diese Welt gebracht, um ihr Blut weiter zu vererben und Zero würde eben diese Blutlinien vom Angesicht dieser Welt wischen. Er würde sich rächen und er würde sich nehmen, was ihm gehörte. Was ihnen beiden gehörte. Seine Finger legten sich gegen den kunstvoll bearbeiteten Fels. Runen über Runen bedeckten diesen, Symbole und Zauber, einzig allein seinen Gefährten zu schützen. Zero hatte Jahrhunderte damit zugebracht, es in diese Perfektion zu bringen. Er murmelte leise Worte, berührte die Zeichen in einer nur ihm bekannten Kombination und trat einen Schritt zurück, als es in dem Fels knirschte. Träge setzte sich die gewaltige Masse in Bewegung, die Reibung der Gesteine begleitet von einem schleifenden Geräusch, das einem die Oberflächen der Zähne glatt hobeln konnte. Die dadurch entstandene Öffnung war nicht groß; Zero musste sich ducken, um unter ihr hindurch zu tauchen, doch es genügte. Auch der angrenzende Raum war wenig spektakulär, zumindest was seine Maße betraf. In jede Richtung konnte man nur wenige Schritte gehen, bis man auf die nächste Wand stieß. Diese allerdings waren ein beeindruckender Anblick. Ganz oben, eine Handbreit unter der Decke fanden sich Kombinationen aus Strichen und Punkten. Sie schienen keinerlei Sinn zu machen, doch Zero konnte sie mit geschlossenen Augen entziffern. Es waren Prophezeiungen vom Baum der Weissagung, geschrieben in der alten Sprache der Drachen, die nur noch wenige Zungen sprechen konnten. Er hatte sie mühselig in den Fels übertragen, einzig aus seiner Erinnerung. Die originalen Schriften hatte er zwar auch gesehen, damals, als er das Artefakt gestohlen hatte, dort war aber keine Zeit geblieben, sie ebenfalls mitzunehmen. Unter den Zukunftssagungen folgten Reliefs von seinem Leben mit Karyu. Er hatte ihre wichtigsten Erinnerungen festgehalten, damit keiner von ihnen sie je vergessen würde. Seine Finger strichen sanft über die Konturen des ersten Reliefs; an diesem hatte sein Geliebter noch mitgearbeitet. Es zu berühren löste eine nur zu bekannte Trauer und Einsamkeit in ihm aus. Zero schloss die Augen und wartete, bis sich das Gefühl wieder soweit zurück gezogen hatte, dass er sich weiter umsehen konnte. Nach den Erinnerungen hatte er seine Ziele und seine Erfolge in den Stein gebracht; er wollte es Karyu zeigen können, wenn er diesen befreit hatte. Es war sein Geschenk an ihn. Es vervollständigte, was Karyu begonnen hatte, bevor man ihn von seiner Seite geraubt und in der Welt des Nichts eingesperrt hatte. Unter den Bildnissen schließlich folgten weitere Runen und Zauber in jeder Sprache, die Zero hatte meistern können. Sie bedeckten auch den Boden und den steinernen Sockel auf welchem sich das Lager Karyus befand. Der Todesengel bewegte sich nicht, atmete kaum, bleich und still. Doch er war am Leben. Zero hörte sein langsam schlagendes Herz, den Rhythmus, nach dem er die letzten Jahrhunderte gelebt hatte. Seine Finger glitten vorsichtig über die weichen Laken und Decken; Zero stahl sie hier und dort, wann immer er Ersatz brauchte und nahm sich dann die Zeit, sie zu besticken und so den Körper seines Geliebten zu beschützen. Er verflocht seine Hand mit der Karyus, legte einen sanften Kuss auf die langen, blassen Gliedmaßen. Er drückte sie sanft, ohne eine Reaktion zu erhalten. Der Geist war daran gewöhnt, erwartete es nicht mehr. Er legte ihre Hände gegen seine Brust, als er sich über Karyu lehnte und zärtlich durch das dunkle Haar strich; es war weich und gepflegt, Zero kümmerte sich auch um dies. „Hallo, Laibiri.“[1], er lächelte Karyu an, weil er wusste, dass man solch Gesten auch in der Stimme hören konnte, „Wie geht es dir heute? Kannst du die Monde fühlen? Sie nähern einander und in ein paar Tagen werden sie mir die Kraft geben, die ich brauche, um dich zu mir zurück zu holen. Die Welt hat sich so sehr verändert, Karyu. Es gibt so vieles, das ich dir zeigen und erklären muss, Dinge, die du sicher nicht verstehen wirst. Aber ich werde dir helfen, keine Sorge. Du wirst nicht eine Sekunde mehr allein sein müssen. Ich verspreche es dir.“ Zero presste einen sanften Kuss auf die kühle Stirn des Ruhenden, ließ seine eigene dagegen ruhen, die Augen geschlossen. „Ich muss gehen. Es gilt noch Vieles vorzubereiten.“ Er berührte die Lippen, strich noch einmal durch den Pony des Engels, dann löste er sich langsam. Sorgsam aktivierte er alle Zauber, nachdem er den Raum verlassen hatte und schritt zu seinem Tisch herüber. Auf diesem und den vielen Regalen darüber stapelten sich Kräuter, Edelsteine, Metalle und Mineralien. Er brauchte sie teilweise für seine Magie, allerdings handelte er auch mit ihnen, tauschte seltenen Schmuck gegen Dinge wie gutes, zähes Leder, Holz oder beschlagenes Metall, das er brauchte, um seine Waffen und Rüstungen zu schmieden. Halb verdeckt von Leinen und Lederriemen lag eine kleine, dunkelblaue Schachtel. Sie war schlicht, vielleicht zwei handbreit lang und hoch. In ihrem Deckel waren drei einzelne Symbole eingearbeitet – Zero strich darüber, als er leise Worte murmelte: ~veruot van opende~ Es klickte leise, dann konnte Zero den Deckel der Schatulle anheben. Im Inneren befand sich ein ovaler Stein in der Größe eines Eis. Er schien durchsichtig, denn er leuchtete schwach von innen heraus, derweil sich Fäden einer nebelartigen Substanz unter seiner Oberfläche bewegten. Sie sammelten sich an einem Punkt, als Zero den Stein aus seinem Samtbett hob, bildeten so eine kleine Kugel. Der Geist verwahrte die Schatulle in seiner Tasche, bevor er den Stein mit beiden Händen über seinen Kopf hielt. ~Furteal to mergramie eta shaturo~ Die Substanz flackerte mit jedem der Worte stärker. Ihre Leuchtkraft nahm zu und flutete den Raum alsbald mit hellem, bläulichen Licht, bevor sich dieses Licht in einem Strahl über Zero bündelte und sich anschließend in eine Pyramide um ihn weitete. Lange Zeit hatte dieser Zauber, zu reisen, Zero nahezu alles an Kraft abverlangt. Als Geist war es ihm zwar möglich, kurze Strecken zu teleportieren und durch feste Hindernisse zu gehen, doch weite Wege waren keine Option. Er war an seinen Partner gebunden gewesen und konnte sich nur mit diesem bewegen. Damals, als Kova Karyu in die Ecke getrieben und gebannt hatte, waren es Zeros Leid, seine Trauer und sein Zorn gewesen, die seiner schwachen magischen Potenz die Kraft gegeben hatten das erste Mal eine ungeahnte Distanz zu überwinden und feste Form anzunehmen. Er hatte sie genutzt, um den Mann, der ihm seinen Gefährten geraubt hatte, ein Messer in die Rippen zu stoßen. Danach war seine Energie fast gänzlich erloschen; ohne Karyu, der ihn mit Ritualen schneller zu Kraft und Erholung verhalf, war er neben diesem vor sich hin vegetiert, unfähig, sich zu bewegen. Es hatte eine sehr lange Zeit gebraucht, bis er sich hatte erheben können. Monate und Jahre, in denen er tagein, tagaus nichts anderes hatte als seine Gedanken. Sie hätten ihn schier in den Wahnsinn getrieben, wäre es Zero nicht gelungen, sie zu bündeln und zu fokussieren. Es gab Nichts und Niemanden auf der Welt, der nachempfinden konnte, was er durchgemacht hatte. Dazu gezwungen in das bleiche Gesicht desjenigen zu blicken, der einem die Welt hatte zu Füßen legen wollen. Mit anzusehen, wie der Bann sich an diesem verzehrte, ihn verschmutzen und abnehmen ließ, denn für eine ganze Weile hatte Karyus Körper noch normal funktioniert. Er hatte in seinem eigenen Urin gelegen, das Haar zerzaust, die Lippen aufgesprungen, blutig, die Haut wachsartig und rissig. Karyus Anblick hatte seine Verzweiflung so lange genährt, bis sie Zero gänzlich erfüllt hatte; er hatte nicht einmal um diesen weinen können, ihn nicht halten, oder dafür sorgen, dass es ihm besser ging. Und so war all das Leid in Zorn umgeschlagen; eine wilde ungezügelte Wut, die seinen Körper in krampfartigen Wellen durchzogen und alles mit sich gerissen hatte, was Zero einmal als Güte gegenüber anderen empfunden hatte. Sie ließ ihn hassen. Hassen und planen. Sie wurde seine Freundin, seine Zuhörerin, seine Geliebte. Sie half ihm, seine Energien zu lenken und auf Karyu zu richten; das Unterbewusstsein des Todesengels hatte seinen Ruf augenblicklich erhört und gespendet, was möglich war. Im Gegenzug hatte Zero die ersten magischen Kristalle mit den bloßen Händen aus dem Fels gekratzt. So hatten sie sich in den ersten vier Jahren nach Kovas Tat auf eine quälend langsame Art gegenseitig geheilt, bis es Zero möglich gewesen war mehr zu tun. Er war in der ersten Nacht auf allen Vieren aus der Hölle gekrochen und hatte mit Hilfe neutraler Magie Moos und Laub zusammengetragen. Darauf hatte er Karyu gebettet, nachdem er die halbe Nacht damit zugebracht hatte, ihn an den Armen unter freien Himmel zu schleifen. Zero war neben ihm zusammengebrochen, hatte Karyus Kopf auf seine Beine gehievt und dann hatte er geweint. Er hatte die Monde und Sterne angeschrien und alles aus sich gebracht, das die letzten Jahre in ihm gefangen gewesen war. Am Ende waren die Tränen versiegt und Zeros Augen waren bis zum heutigen Tage trocken geblieben. Das Portal hatte sich inzwischen vollständig geöffnet und Zero schloss seine Augen, als er von ihm ergriffen und davon gebracht wurde. Er berührte die Schleier zwischen den Welten, sah sie, wie andere den Ozean, einen Baum oder den Himmel betrachten konnten. Zero sah Rukis Magie; ein dunkles, leuchtendes Rot, welches unruhig zischte, ihn aber weder finden noch verfolgen konnte. Denn der Geist zerriss keinen der Schleier oder verletzte sie, etwas, das Ruki sofort auffallen würde. Er bog sie; ganz behutsam, ganz langsam, gerade so, dass er sich durch sie hindurch zwängen konnte. Gelingen tat ihm dies nur mit dem Stein – das magische Objekt stammte nicht von Kistara und nur so war er den Häschern Aois auch so lange entkommen. Hätte er es anders versucht, wäre Aois Auge auf ihn aufmerksam geworden. So aber umhüllte den Späher und Magier Dunkelheit; Zero unterwanderte diesen und fand sicher an jeden Ort, an den er zu gehen begehrte. Er war ihnen stets einen Schritt voraus. Und er würde dafür sorgen, dass es so blieb. [1] bedeutet Geliebter in der Sprache der Drachen Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)