Dualität von Rix (Roderich x Gilbert) ================================================================================ Prolog: Was einst war, wird nie wieder sein ------------------------------------------- „Ich liebe dich, mehr als ich sie jemals geliebt habe.“ - Lüge... Gilbert erinnerte sich noch ganz genau, dass ihm bei diesen Worten die Knie weich geworden waren. Sein Herz war so am Rasen gewesen, dass er gefürchtet hatte, jedem Moment würde es aus seiner Brust springen. Das Glück, welches er gefühlt hatte, war wie ein Rausch gewesen, der ihn in die höchsten Höhen getragen hatte. Unschlagbar und voller Freude war jeder Tag, wie ein endloser Sonnenaufgang gewesen. Nichts und niemand hatte zu dieser Zeit ihm das Lächeln aus seinem Gesicht schlagen können. Doch Glück war zerbrechlich wie Porzellan. Es benötigte nur einen kleinen Stoß, einer falschen Bewegung und schon zerbarst es in tausend Stücke. Niemals hätte es Gilbert für möglich gehalten, dass er jemals so da stehen würde. Barfuß in dem großen, warmen Wohnzimmer von Roderich, welcher ihn mit seiner Helligkeit und Gastfreundschaft geradezu verhöhnte. Schaut her, da steht das große Preußen: Sonst so voller Stolz und Arroganz, ist er nur mehr ein mickriges Kerlchen in einem ihm zu großen Pullover und einer dreckigen Unterhose, der schaut, als hätte man ihm mit der Gerte gezüchtigt! Seine Augen waren auf Roderich gerichtet, der perfekt, ohne jeden Makel ihn von dem großen, weißen Flügel, ein Geschenk zu seinem letzten Geburtstag, aus ansah ohne eine einzige Regung im Gesicht. „Verlobt?“, krächzte der Preuße. „Verlobt“, bestätigte der Österreicher ihn mit neutraler Stimme. Die blutroten Augen weiteten sich noch ein Stückchen mehr, suchten das violette Paar und fanden nur Kälte in ihnen. Glück war in der Tat zerbrechlich, ebenso das Herz. Im Gegensatz zum Glück, war das Herz jedoch unwiderruflich für immer und ewig zerbrochen. Nichts in der Welt vermochte es, es wieder herzustellen oder ein Neues zu finden. „Ich liebe dich.“ - Lüge! „Ich liebe dich mehr als mein Leben.“ - Lügner! „Ich werde immer bei dir sein, egal ob der Mond aufhört um die Erde und die Sonne anfängt sich um uns zu drehen.“ - Nichts als Lügen! Erst war es ein unglaublicher Schmerz, wie ein Pflock, der sich in sein Inneres bohrte, sich in der Wunde drehte und wandte, bevor er wieder herausgezogen wurde und nur ein blutendes, schwarzes Loch hinterließ, was vor Schmerz so verstümmelt war, dass keinerlei Empfindung mehr davon ausging. Zum ersten Mal in Gilberts langem Leben wandelten sich seine Gefühle gegenüber Roderich zu einem hässlichen Monster, was kleine Kinder fraß und nur ihre Knochen zurückließ. Schweigend setzte der Preuße sich in Bewegung, versuchte so viel Würde zu bewahren, wie ihm möglich war, nur um zumindest irgendetwas in diesen Moment zu besitzen. Roderich rührte sich nicht, starrte ihn nur ausdruckslos mit seinen violetten Augen hinter ihm her. Als sie sich auf gleicher Höhe befanden, wusste Gilbert das es vorbei war. Es erschien ihn wie das Ziel eines langen Rennens, was er erst geglaubt hatte zu gewinnen und nun unter Trompeten und Trommelschlag verloren hatte. Der Österreicher versuchte ihn nicht aufzuhalten, als er an ihm vorbei ging, die schwere Eichentür öffnete und sie laut polternd hinter sich ins Schloss fallen ließ. Verloren stampfte er den langen Flur entlang. Nach und nach wurden seine Schritte schneller, wechselte von Gehen zu Laufen und von Laufen zu Rennen. Keine Minute länger hielt er es aus in diesem Haus. Es war ihm egal, dass er halb nackt in die kühle Sommernacht rannte. Gilbert kapitulierte vor seinen eigenen Gefühlen, die sich aufbäumten und ihn heiße Tränen in die Augen trieben. Während er rannte wurde ihm eine Sache bewusst. Der einzige Ausweg aus diesem Loch, weg von diesem Kerl, war simple und einfach. Wer aufhören will zu lieben, muss anfangen zu hassen. Kapitel 1: Alte Wunden heilen nie --------------------------------- „Jetzt schieß doch endlich mal! Bist du blind?! Das hätte sogar ein Hamster mit Nierenstörung geschafft!“ Hinter Gilbert ertönte ein tiefes Seufzen, was eindeutig seinem jüngeren Bruder gehörte. „Bruder, was habe ich über das Thema „Deine Lautstärke beim Fußballschauen“ gesagt?“ Mit einem aufgesetzten, unschuldigen Lächeln wandte er sich seinem Bruder zu. „Verzeihung, kommt nie wieder vor, West.“ Ludwig runzelte nur die Stirn, schüttelte den Kopf und nuschelte etwas von wegen: „Als würden sie anders spielen, wenn du sie über den Fernseher anschreist.“ Das Kommentar des Jüngeren ignorierend, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zu. Es war wirklich ein Trauerspiel wie die deutsche Nationalmannschaft spielte. Würde er den Haufen trainieren, würden sie nicht so weite Lücken in ihrer Verteidigung haben und das Wort „Aggressive Offensive“ in ihrem Blut tragen. In dem Moment verloren sie erneut den Ballbesitz. Wütend wedelte er mit der Bierflasche in seiner Hand herum, zur Missachtung seines Bruders, der jetzt schon das Geld für eine Reinigung zählte. „So, ich muss dann los, Gilbert.“ „Jaja“, abweisend wedelte er nur mit der Hand ohne sich nach dem Blonden umzudrehen. Dieser schien noch einige Sekunden zu zögern. „Stell keinen Unsinn an, ja?“ Gilbert verdrehte die Augen und warf dem Jüngeren einen genervten Blick über die Schulter zu. „Ich bin kein kleines Kind, West. Jetzt zieh schon ab.“ Ludwig schien sich jedoch der Schlucht zwischen dem geistigen und echten Alter seines großen Bruders sehr wohl bewusst. Am liebsten würde er ihn mitnehmen, aber... „Grüß Goldlöckchen und Tomatenjunkie von mir.“ Eine unangenehme Stille entstand, die nur von der Stimme des Fernsehsprechers durchbrochen wurde. „Du verpasst deinen Zug, West“, sagte Gilbert nach etwa einer guten Minute des Schweigens. „Ah, Mist! Mach es gut, Bruder!“ Ludwig war schon kurz davor zu gehen, als er sich noch einmal ein letztes Mal an den Weißhaarigen wandte. „Das nächste Mal nehme ich dich mit, versprochen.“ Dann verschwand er endlich aus dem Haus. Gilbert schnaubte nur abfällig in sein Bier. „Gib keine Versprechen, die du nicht halten kannst...und insbesondere nicht immer ein und das Selbe...“ Die gegnerische Mannschaft schoss in diesem Augenblick ein Tor und kaum eine Sekunde später kam der Abpfiff zum Spielende. Deutschland verlor zum zweiten Mal in Folge ein Spiel. Frustriert leerte der Preuße die Bierflasche in einem Zug. Balduin war es, der Gilbert weckte. Die nasse Zunge war unangenehm widerlich in seinem Gesicht. Knurrend versuchte er sich ihr zu entwinden, indem er sich auf die andere Seite legte. Das führte nur wieder dazu, dass der Schäferhund mit einem gekonnten Sprung auf ihn drauf sprang und ihn jedes Stückchen Luft aus der Lunge presste. „Du blöde Flohtöle, es gibt jetzt keine Hundekuchen!“ Verärgert öffnete der Weißhaarige endlich seine Augen, nur um in das Gesicht von Balduin zu schauen. Dieser kugelte sich gerade auf ihm zusammen, wimmerte ein wenig und hatte die Ohren schief gelegt. Da wurde Gilbert bewusst, dass der Hund alles andere als Hunger hatte. Plötzlich ertönte ein dumpfes Pochen. Sofort richtete Gilbert sich kerzengerade auf, worauf der Schäferhund ein lautes Winseln von sich gab. Angestrengt lauschte er in die Stille der dunklen Wohnung. Einzig und allein der nächtliche Wind war zu hören, der die Vorhänge zum Wehen brachte. Hatte er sich das eben nur eingebildet oder war außer ihm und Balduin tatsächlich noch jemand in der Wohnung? Was jedoch machte ein Einbrecher so weit draußen auf dem Land? Sein Bruder hatte sich Sorgen um seine Gesundheit gemacht und festgestellt, das größere Menschenmassen ihn unruhig machten. Daher waren Ludwig und er, nach seiner Wiederkehr, aus Berlin verschwunden und aufs Land gezogen. Die nächste Ortschaft war etwa zwei Kilometer entfernt. Es war eher unwahrscheinlich, dass sich tatsächlich jemand hier her verirrte oder einen Einbruch beging, wenn man bedachte, dass das Haus nicht einmal stattlich aussah oder groß war. Abermals ertönte ein Knarzen, was er eindeutig Schritten zuordnen konnte. Also war tatsächlich jemand anderes im Haus außer ihm. Ludwig konnte es noch nicht sein, der würde erst in wenigen Tagen wiederkommen. Gilbert schluckte schwer und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Sachte schob er den Schäferhund von sich, der darauf ein ängstliches Jammern von sich gab. Auf Zehenspitzen schlich er zur Wohnzimmertür und lugte um die Ecke. Er konnte auf den langen Flur zur Küche und zum Bad schauen, der ruhig im Dunkeln vor ihm lag. Dann schweifte sein Blick auf die Treppe zum oberen Stockwerk, wo er einen leichten Lichtschein ausmachen konnte. Also befand sich nicht nur ein Einbrecher in seinem Haus, sondern ein Dreister dazu. Welcher Einbrecher betätigte bitteschön den Lichtschalter? Entweder war sich dieser sicher, dass er alleine war oder er war einfach nur dumm. Plötzlich spürte er etwas um seine Füße herum. Vor Schreck machte er einen Satz, polterte mit den Füßen laut auf und gab ein ersticktes Keuchen von sich. Entsetzt über seine eigene Lautstärke hielt er sich den Mund zu und erstarrte auf der Stelle. War er zu laut gewesen? Angespannt lauschte er, starrte dabei unentwegt auf die Treppe. Dann setzte das Knarzen wieder ein, jedoch nicht in seine Richtung. Erleichtert entspannte Gilbert sich. Neben ihm ertönte jetzt ein leises Winseln und er wusste sofort, wer für seinen Schreck verantwortlich war. Er warf Balduin einen ärgerlichen Blick zu, dann erst setzte er seinen Weg Richtung Küche fort. Da oben befand sich jemand, der nicht dort sein sollte und er würde das Problem auf gute, alte Manier lösen, immerhin war er einst ein mächtiges, furchterregendes Land gewesen, da würde so ein Einbrecher doch kein Problem darstellen. In der Küche angekommen, immer dicht gefolgt von Balduin, der zwar zitterte wie Espenlaub, jedoch so viel Mumm in den Kochen besaß sein Herrchen zumindest Rückendeckung zu geben, öffnete Gilbert zielsicher eine Schublade auf der rechten Seite der langen Schrankreihe. Ihm war es auch nach Jahren noch ein Rätsel warum Ludwig so viele Schränke und Regale benötigte, aber die Küche war nun einmal sein Revier und da mischte er sich nicht ein. Es dauerte nur wenige Sekunden und seine Hände umfassten kalten Eisen. Ein bekanntes Gefühl ergriff ihn, versetzte ihn zurück in alte Tage. Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn, den er begrüßte wie einen alten Freund. Auf Zehnspitzen, Balduin im Windschatten, begab er sich auf den Rückweg. Lautlos schlich er die Treppe hinauf, hielt seinen alten Freund schützend vor sich. Oben angekommen, machte er sofort die Lichtquelle aus. Sonderbarweise flutete das Licht aus dem Gästezimmer, welches nur selten benutzt wurde und bestimmt schon schichtweise von Staub bewohnt war. Wie ein Jäger auf Beutezug nährte sich Gilbert der Tür, die einen großen Spalt offen stand, hörte hinter ihr Bewegungen. Bei ihr angekommen, atmete er tief ein, warf einen raschen Blick auf seinen Begleiter, dann trat er die Tür heftig auf. Sofort richtete er seine Waffe nach vorne auf die Person, die mitten im Raum stand und schrie: „Hände hoch!“ Balduin hinter ihm jaulte auf, die Person wandte sich zu ihm um – und Gilberts Welt stand still. Vor ihm stand kein Geringerer als Roderich Edelstein selbst. Eine Weile sahen sie sich nur an, erst das Winseln von Balduin löste Gilbert aus seiner Starre. Unsicher ließ er den Lauf seiner Waffe sinken, öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch nur ein schwaches Krächzen entkam ihm. Es war Roderich, der das erste wirkliche Wort sprach. „Gilbert.“ Die Selbstverständlichkeit, die in seiner Tonlage mitschwang und wie er seinen echten Namen benutzte als wäre es von keiner weiteren Bedeutung, entfachte im Weißhaarigen eine Wut, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Drohend richtete er die Waffe erneut auf den Braunhaarigen vor sich. „Was machst du hier, Aristokrat Nummer Eins“, dabei versuchte er nicht seine Verachtung und den Hohn in seiner Stimme zu verstecken. Roderich blieb jedoch ruhig, schien den auf ihn gerichteten Lauf nicht weiter zu beachten, sondern heftete seine Augen nur auf Gilberts Gesicht. „Ich bin auf Einladung deines Bruders hier“, antwortete der Österreicher nüchtern. „Mein Bruder hat dich eingeladen?!“ „Eher Unterkunft gewährt.“ Gilbert runzelte die Stirn. „Unterkunft?“ „Ja, Gilbert -“ „Hör auf meinen Namen zu sagen!“ Der Ausbruch kam härter, als er es selbst für möglich gehalten hätte. Hinter ihm hörte er Balduin jammern und davon laufen. Roderich zog nur eine Augenbraue hoch. „Wie soll ich dich dann nennen? Preußen bist du nicht mehr, soweit ich weiß.“ Es war diese ruhige, kalte Art, die Gilbert so rasend machte. Er schluckte schwer, hielt sich mit letzter Willenskraft zurück den Abzug zu betätigen. „Blitzmerker.“ „Kein Grund ausfällig zu werden, Gilbert.“ „Hör endlich auf mich bei diesen Namen zu nennen, sonst...“, er stoppte. Roderich machte einen Schritt vorwärts. „Sonst was, tötest du mich?“ Es war eine stille Herausforderung. Sie beide starrten sich an, versuchten in dem anderen Gesicht irgendwas zu finden außer unbändigen Hass und endloser Kälte. „Ein Versuch wäre es mir wert“, konterte Gilbert eisig, senkte jedoch die Waffe. Roderich seufzte genervt, so als hätte er gerade einem Kleinkind unter Mühen erklärt, was eins plus eins sei. „Nun, ich habe Ludwig um Unterkunft für einige Wochen gebeten und er hat sie mir gewährt.“ „Er hat...Natürlich hat er.“ Missmutig steckte Gilbert die Waffe weg und schaute sich jetzt das Gepäck von Roderich an. Anscheinend hatte er wirklich für einige Wochen gepackt nach der Anzahl der Koffer. „Wie bist du hier herein gekommen?“ „Ludwig erzählte mir von dem Schlüssel unter der Topfpflanze.“ „Ah, hat er das?“ Gilbert versuchte seine eigene Unwissenheit über diesen sogenannten Schlüssel zu verbergen...und welche Topfpflanze überhaupt? Er sollte seinen Bruder doch manchmal genauer zuhören, wenn dieser über das Haus anfing. Trotzdem konnte er sich die Blöße nicht geben, jetzt einfach so nachzugeben. „Klingeln ist dir auch unbekannt, hm?“ „Ich wusste nicht, dass du hier lebst.“ Der Satz war wie ein Schlag in die Magengrube. Sein Bruder erzählte also nicht, dass sie zusammen lebten...Wütend ballte er die Fäuste. „Fein. Großartig! Mach nicht zu viel Krach.“ Er wandte sich um, um endlich den Raum zu verlassen, als ihn Roderichs Stimme aufhielt. „Du siehst...verändert aus.“ Langsam wandte Gilbert sich wieder den Österreicher zu, der jetzt die Stirn in Falten gelegt hatte und wie zuvor etwas in seinem Gesicht suchte. „Achja? Woher willst du das wissen?“ „Ich kenne dich nun einmal schon mein halbes Leben.“ Es war nichts warmes, nicht familiäres an dieser Aussage, es war eine einfache Tatsache. Eine Tatsache, die um so schmerzlicher nicht sein konnte. Schnell unterdrückte Gilbert die aufkommenden Gefühle, die er solange unter Verschluss gehalten hatte. „Du kanntest mich.“ „Also haben dich die Jahre im Osten verändert“, stellte Roderich richtig fest. In Gilberts Ohren klang es wie ein Schüler, der die richtige Antwort auf die Frage des Lehrers gefunden hatte und das war fast so bitter, wie die Erinnerung an die Jahre im Osten. „Was geht es dich an. Es hat dich über sechzig Jahre nicht gekümmert, was mit mir war.“ Um das Thema zu beenden, wandte er sich um, um endlich aus den Zimmer zu gehen und Roderich los zu werden. „Du vermisst ihn.“ Knurrend hielt Gilbert inne. „Wen vermisse ich?“ „Den Kampf.“ Jetzt schaute Gilbert doch noch einmal über seine Schulter zu Roderich. „Möglich...aber der Osten hat ihn mit sich genommen...“ „Du würdest ihn gerne wieder haben?“ Zum ersten Mal hörte Gilbert eine echte Empfindung vom Österreicher und es war dessen Verwunderung. Gilbert schnaubte verächtlich. „Natürlich – und wenn ich ihn wieder hätte, würde ich die ganze Welt in einen Krieg führen. Jeden zerstören, der mir in die Quere kommt und jeden zermalmen, der mir ein Dorn im Auge ist. Ich würde sie alle bluten lassen, angefangen mit unseren Cheesburgerfreund.“ „Gilbert!“ Der Weißhaarige schaute Roderich kalt an, der jetzt ernsthaft entsetzt schien über diese Worte. „Keine Sorge, zuerst tötet man die Ratten, bevor man Mäuse wie dich zerquetscht.“ Verbittert lächelnd wandte er sich um. „Woher kommt all der Hass in dir?“ Gilbert blieb am Türrahmen stehen, überlegte kurz. „Von dir....du hast ihn geschaffen und die anderen haben ihn genährt.“ Dann verließ er endlich den Raum und ließ Roderich hinter sich, wünschte sich, dass dieser einfach wieder verschwand, so wie damals. Er wollte den Aristokraten nicht ein erneutes Mal in seinem Leben. Das brach zu viele alte Wunden auf, die er gerade flickte. Was hatte sein Bruder sich nur dabei gedacht, ausgerechnet Roderich eine Unterkunft zu gewähren? An diesem Abend trank Gilbert noch bis tief in die Nacht ein Bier nach dem Nächsten und lauschte den Schritten im Obergeschoss, bis sie verstummten. Kapitel 2: Kleider machen Leute ------------------------------- Ein bekannter Duft aus alten Tagen weckte Gilbert. Benebelt öffnete er seine Augen und meinte die weite Decke eines weißen, strahlenden Himmelsbett zu sehen. Ein Blinzeln und der Weißhaarige starrte an die dunkle Holzdecke, über die gerade einen Spinne auf dem Weg zu ihrem Opfer lief. Zuerst glaubte er sich den Duft eingebildet zu haben, jedoch nach wenigen Sekunden wurde ihm bewusst, dass er mehr als real wahr und ihm sein Hirn kein Streich spielte. Gemächlich richtete er sich auf, wobei sein Rücken von der Übernachtung auf dem Sofa schmerzhaft protestierte. Behutsam streckte er sich, ließ seinen Hals eins, zwei Mal knacken und setzte schließlich seine Füße auf den kühlen Holzboden. Generell war es ziemlich kalt im Raum. Fröstelnd seine Arme reibend, begab er sich auf den Weg zu der Quelle des Geruchs. Ludwig war doch noch weg. Zudem roch dessen Kaffee anders, stärker und herber, genauso wie sie ihn beide bevorzugten. Er kannte eigentlich nur eine Person, zu der der Geruch passen würde... Während er die Küche betrat, erschlug ihn die Erkenntnis des Vorabends wie ein Hammer. Also war es doch nicht nur ein Alptraum gewesen. „Scheiße...“, nuschelte er, wodurch er die Aufmerksamkeit der Person am Küchentisch weckte. „Solche Ausdrücke gehören sich nicht“, belehrte ihn Roderich über den Rand der morgendlichen Zeitung hinweg. Der Duft des Kaffees des Österreichers, dessen Haltung während er Zeitung las, wie er es tat und dabei schon wie geleckt aussah, war für Gilbert ein Bild in grauweiß. Alt, überholt und ewige Jahre zurückliegend. Doch die Moderne hatte ihn eingeholt, es war in voller Farbe mit zusätzlichen, sehr echten 3D-Effekten. Gilbert hasste 3D-Filme. „Du hast deinen eigenen Kaffee mitgebracht?“, fragte er jetzt, noch immer zitternd im Türrahmen stehend und die Belehrung über seine Ausdrucksweise einfach ignorierend. Als hätte er sich jemals vom Braunhaarigen etwas sagen lassen. „Natürlich. Ein Gentelman hat immer seinen eigenen Kaffee dabei“, er blätterte eine Seite der Zeitung sorgfältig um ohne mit irgendwelchen Knicken zu kämpfen, Gilbert fragte sich immer, wie er das schaffte. Dann fügte Roderich an: „Zudem ist euer Kaffee ungenießbar.“ Gilbert schnaubte nur abfällig. „Ist halt für Männer, nicht für Pussys, wie du eine bist.“ Auch ohne Roderichs Gesicht zu sehen, wusste er, dass dieser bei dem Spitznamen die Augen ganz ungentelmanhaft verdrehte, worauf der Weißhaarige grinsen musste. Einige Dinge änderten sich nie. Einige Momente stand Gilbert weiterhin im Türrahmen, nicht so recht wissend, was er jetzt unternehmen sollte. Einerseits wollte er Frühstücken, andererseits war er auf die Gesellschaft des Aristokraten alles andere als erpicht. Die Entscheidung wurde ihm schließlich von Balduin genommen, der gähnend den Raum betrat und ihn erwartungsvoll mit großen Hundeaugen anschaute. Gilbert seufzte und wagte sich in seine eigene Küche, wobei ihm der Duft von Roderichs Kaffee wahnsinnig machte. Es erinnerte ihn einfach zu sehr an die Morgen, die er in Roderichs Haus aufgewacht war...Wütend, die Erinnerungen verdrängend, öffnete er etwas gewaltsamer als nötig, das Hundedosenfutter. Freudig kläffte Balduin, sprang um seine Füße herum und wedelte wie wild mit dem Schwanz. „Ist ja gut, guter Junge, braver Kerl. Hier hast du“ , redete er Balduin zu, während er die kalte Schnauze, die ihn dankend immer wieder ins Gesicht stieß, da er gerade das Hundefutter in den Napf beförderte, von sich wegstieß. Nachdem er den Napf gefüllt hatte, blickte er auf und direkt in das Gesicht von Roderich, der ihn aufmerksam musterte. „Was?“, blaffte er ihn aggressiv an, wandte ihm den Rücken zu, weil ihm die Augen des Österreichers unangenehm waren. „Ich hätte dich nicht für ein Tierliebhaber gehalten.“ „Bin halt immer wieder für Überraschungen gut.“ „In der Tat, das warst du immer...“ Der Ton den Roderich dabei anschlug, brachte Gilbert erneut zum Köcheln. Wütend drehte er sich zu dem Aristokraten um, marschierte auf ihn zu und bäumte sich vor ihm auf. „Du bist hier in meinem Haus, also rede nicht so mit mir!“ Roderich hob nur eine Augenbraue, sichtlich unbeeindruckt von der Drohung des Weißhaarigen. „Dein Haus? Natürlich...“, sagte der Braunhaarige und versuchte nicht einmal den Unterton in seiner Stimme zu verbergen. Danach klappte er seine Zeitung wieder auf und verschwand erneut in der Welt der Nachrichten. Kurz war Gilbert drauf und dran ihm das Stück Papier aus der Hand zu reißen und ihm um die Ohren zu hauen, besann sich jedoch eines Besseren. Stattdessen marschierte er wie ein wütendes Kleinkind aus der Küche in Richtung Bad. Erstmal würde er eine Dusche nehmen, danach hoffte er einfach in Ruhe zu frühstücken ohne die Fratze des Aristokraten vor sich zu haben. Da verging einem doch jeder Appetit. Gilbert kam sich wie ein Fremder in seinem eigenem Haus vor. Nachdem er geduscht hatte, war er fast schon in die Küche geschlichen. Nachdem er sein Verhalten bemerkt hatte, hatte er das Dosenradio aufgedreht und möglichst viel Lärm verursacht. Doch seitdem er Roderich allein am Frühstückstisch sitzen lassen hatte, hatte er von diesem kein Lebenszeichen mehr gehört, was ihm nur ganz recht war. Jetzt gammelte der Weißhaarige auf seinem geliebten Sofa und schaute wie an jeden Nachmittag Fernsehen. Balduin lag währenddessen auf seinen Schoß und genoss das Kraulen hinter seinen Ohren. Für einen Schäferhund war der Kleine ziemlich verschmust, wie Gilbert immer wieder feststellen musste. Dennoch mochte er ihn genau deswegen. Zwar war er kleiner als seine Artgenossen, dafür aber um so lieber. Wahrscheinlich hatte ihn Ludwig deswegen damals mitgebracht, nachdem sie in das Haus gezogen waren. Er wollte wohl nicht, dass Gilbert vereinsamte, wenn er nicht da war. Plötzlich ging der Fernseher aus. Verwirrt richtete er sich auf und schaute aus dem Fenster, wo ein strahlender Tag ihn entgegen lachte. „Was zum-?“ Hinter sich hörte er ein Räuspern, was er nur all zu gut kannte. Genervt wandte er sich um, nur um Roderich anzuschauen. Der Übeltäter stand mit verschränkten Armen vor ihm, in einer Hand die Fernbedienung des Fernsehers haltend. „Was soll das denn? Ich will das schauen.“ „Du hast schon den ganzen Vormittag vor dem Ding gehangen.“ Ob der Österreicher es wollte oder nicht, er klang wie eine Mutter, die ihr Kind belehrte. Deswegen konnte Gilbert nicht anders als abfällig prusten. „Und? Nicht dein Bier.“ Kaum hatte er das gesagt, griff er nach der Fernbedienung, jedoch entzog Roderich sie seiner Reichweite. Balduin jammerte aufgrund der Bewegungen, sprang auf und trottete davon. „Toll, jetzt hast du Baldu vertrieben mit deiner Aura der Spaßbremserei.“ Roderich seufzte nur und verdrehte die Augen. „Wie auch immer...es reicht zumindest, wir werden jetzt eine der Aufgaben erledigen.“ Gilbert runzelte die Stirn. „Aufgaben erledigen? Was für Aufgaben?“ Der Braunhaarige sah ihn über seine Brille hinweg an, seufzte dann abermals ergebend, als er die Ratlosigkeit im Gesicht des Weißhaarigen sah. „Hausarbeit, welche Ludwig fein säuberlich als Liste hinterlassen hat.“ „Hat er?“ Ein ungläubiger Blick, ein Gedanke an seinen Bruder. „Natürlich hat er...“ Eine kurze Stille entstand, dann setzte sich Roderich in Bewegung. Erst jetzt bemerkte er den Wassereimer zu dessen Füße. „Wunderbar, dann werden wir mit Fensterputzen beginnen. Weiß eh nicht, wie ihr in so einen Saustall nur leben könnt.“ „Hat halt nicht jeder deinen Putzfimmel.“ Unwillig tatsächlich Hausarbeit zu leisten – normalerweise erledigte Ludwig das – schaute er Roderich dabei zu, wie dieser die Materialien zum Fensterputzen zusammen sammelte, sich hässliche, rosa Gummihandschuhe anzog – wo er die wohl her hatte? - und auch noch einen weiteren Eimer besorgte. Erst dann drehte sich der Braunhaarige zu ihm um. „Würde der Herr sich jetzt genehmen aufzustehen?“ Gilbert grinste nur gehässig. „Aber du machst das so wunderbar, wie eine Fee.“ Roderich sichtlich unbeeindruckt, holte nur die Fernbedienung hervor. „Du möchtest sicher weiter schauen?“ „Ja...“ „Erarbeite es dir.“ Mit diesen Worten steckte er sie erneut in seine Taschen, unerreichbar für ihn, wenn er nicht gerade den Österreicher ausziehen wollte. Erinnerungen schossen ihn durch den Kopf, wo er das einmal getan hätte. Rasch verdrängte er sie wieder. Ergebend stand Gilbert endlich auf, schlenderte gemächlich zu dem Fenster hinüber und krempelte seine Ärmel hoch. Warum hörte er überhaupt auf den Braunhaarigen? Wieso schaffte es die Brillenschlange ihn auch noch nach Jahrzehnten dazu zu bringen, irgendwas zu tun, worauf er eigentlich keine Lust hatte? Nicht das ihn Hausarbeit so viel ausmachte, doch da er eh die meiste Zeit alleine lebte und Balduin der Schmutz nichts ausmachte, vermied er sie meistens. Um das Gröbste kümmerte sich Ludwig später und damit kamen sie beide klar. Das der piekfeine Schnösel natürlich ein bisschen Dreck nicht aus konnte und sogar selbst den Hausputz in Angriff nahm, war wieder einmal so klar gewesen, eigentlich sollte es ihn nicht überraschen. Miteinmal wurde Gilbert in seiner Tätigkeit gestoppt. Verwundert schaute er auf die Hand, die sein Arm umgriff. Seine Augen wanderten weiter zu Roderich, der leicht besorgt auf seinen Arm starrte. „Was?“, fragte er irritiert nach, hörte sein Herz in seiner Brust schlagen. Wie viele Jahre war es her, dass der Österreicher ihn angefasst hatte? „Das sind eine Menge Narben...“, flüsterte Roderich fast schon entsetzt. Dann schaute er ihn direkt in die Augen. Gilberts Herz machte einen Sprung. So nah... Wütend riss er seinen Arm los und wandte sich seinem Fenster wieder zu. War er dumm? Er würde es nicht zulassen, dass sein Herz erneut zum Verräter wurde. „Keine Nation mehr zu sein fordert seine Narben...“, erwiderte er kalt, dann fügte er verbittert hinzu, „...und hin und wieder war Ivan 'verspielt'“. Eine unangenehme Stille legte sich über sie, wobei Gilbert möglichst vermied den Anderen anzuschauen. „Das war mir nicht bewusst“, sagte Roderich schließlich. Gilbert schnaubte nur abfällig. „Natürlich nicht. Am Ende des Krieges gab dir niemand die Schuld für all die Grausamkeiten, du bist heil davon gekommen.“ „Es war nicht meine Nation, die ihn anfing.“ „Als hättest du uns nicht unter Freuden bei dir einmarschieren lassen!“, fuhr Gilbert ihn wütend an. Roderich kräuselte nur die Stirn und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. „Das war meine Nation. Sie wollte es so. Ich tat nur, was sie von mir wünschten.“ „Unglaublich! Du schiebst immer alles auf deine Nation, nicht wahr? Den Krieg, deine Bündnisse, deine Verlobung...“ „Gilbert! Ich-“, doch der Weißhaarige ließ ihn nicht aussprechen. Stattdessen schmiss er ihn den Putzlappen ins Gesicht. „Du schlüpft immer in die Kleidung von fremden Leuten, Roderich! Ich bin mir sicher, du kannst mir nicht eine Entscheidung nennen, die du in deinen eigenen getroffen hast.“ Herausfordernd schaute er den Österreicher direkt an, doch dieser schwieg. „Welch Überraschung“, zischte er. Schließlich marschierte er kopfschüttelnd an Roderich vorbei, griff nach seiner Jacke, schlüpfte in seine Schuhe, pfiff nach Balduin und verschwand mit diesen nach draußen. Als ihn der Wald umgab und er Balduin beim Tollen zwischen den Bäumen zusah, wurde Gilbert klar, warum ihn Roderichs Schweigen zum Schluss so aufgebracht hatte, noch mehr, als dessen Abstreiten an der Mithilfe beim Krieg. Er hatte eine Antwort erwartet, die sich auf ihn bezog. Nach all den Jahren wartete Gilbert immer noch darauf, dass das zwischen Roderich und ihm nicht nur eine große Lüge gewesen war. Gilbert griff nach einen Stock, warf ihn und beobachtete Balduin beim hinterher Hechten. Was hatte er erwartet? Was erwartete er? Hatte er nicht damit abgeschlossen? Hasste er Roderich nicht? Wieso tat es dann so weh ihn zu sehen? Warum war jedes Wort wie Gift? Lobend tätschelte er Balduins Kopf und warf den Stock erneut. Vielleicht waren alte Liebschaften, wie Stöckchen. Zerbrechlich, tot und morsch. Erneut kam Balduin bei ihm an. Gilbert zog einige Sekunde an dem Stock, bis Balduin ihn freigab, nur damit er ihn abermals wegwerfen konnte. Manchmal kehrte ein Stock auch zu einem zurück, egal wie weit man ihn warf. Es benötigte nur einen Grund. Gilbert fragte sich, wie weit er Roderich von sich werfen musste, wie oft er das zwischen ihnen noch brechen musste, bis sein Herz endlich aufhörte so zu schmerzen. Es war schon Abend, als Gilbert tiefgefroren mit Balduin zurückkehrte. Oftmals vergaß er, wie kalt es Mitte November werden konnte. Mit klappernden Zähnen betrat er das Haus, wo ihn zugleich warme Luft umhüllte. Auch Balduin schien froh wieder Zuhause zu sein. Erschöpft trottete der Hund in Richtung Küche davon. Gilbert folgte ihm, nachdem er seine Jacke abgelegt hatte. Merkwürdigerweise hatte er den Geruch von Essen in der Nase, der seinen Magen laut knurren ließ. Als er die Küche betrat, fand er schnell die Quelle des Duftes. Einige Töpfe standen abgewaschen im Spülbecken, daneben befand sich ein Teller mit Rouladen und Sauerkraut. Gierig schaute er den Teller an, sein Magen unterstützte ihm bei dem Gedanken sich ihn zugute zu führen, jedoch rührte er sich nicht. Seine Augen schweiften zu einem weiteren, leeren, aber benutzten Teller. Anscheinend hatte Roderich für sie beide gekocht... Stur weigerte er sich die offenen Einladung anzunehmen und holte sich aus dem Gefrierfach des Kühlschranks eine Pizza heraus. Er brauchte keine Almosen vom Österreicher. Sollte der doch allein seine, leckeren, äußerst saftigen Rouladen mit gutem Sauerkraut essen... Versuchend den goldenen Apfel zu ignorieren, schob er sich seine Pizza in den Ofen, gab endlich den Bitten Balduins nach und fütterte diesen. Früher hatte Roderich ihm oft Essen gekocht. Manchmal hatte er ihn dabei beobachtet, ab und zu ihm geholfen und hin und wieder ihn abgelenkt mit Küssen in den Nacken. Nachdenklich betrachtete er den Teller. Ob dem Österreicher solche Dinge auch durch den Kopf schossen? Erinnerte er sich überhaupt an ihre Zeit? Angefressen fuhr Gilbert sich durch die Haare. Er sollte wirklich damit aufhören an vergangene Tage zu denken. Es änderte rein gar nichts über vergossenen Wein zu trauern. Außerdem hatte er schon vor Jahren beschlossen mit seinem damaligen Leben abzuschließen. Als endlich die Pizza fertig war, holte er sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. So beladen ging er ins Wohnzimmer, wo er erst im letzten Moment die Gestalt auf seinem Sofa bemerkte. Einen Wimpernschlag lang starrte er nur dümmlich den Haufen auf seinen Sofa an, bis er realisierte, was da lag. Friedlich schlummernd und halb zusammengerollt, lag Roderich dort. Einige Sekunden musterte er ihn so, bis ihm ein warmes Gefühl ergriff. Leise stellte er den Teller mit seiner Pizza und sein Bier auf den Wohnzimmertisch ab. Vorsichtig nahm er Roderich die verrutschte Brille ab, nahm dann eine Decke und legte sie über den Österreicher. Kurz betrachtete er Roderich noch, dann schlich er mitsamt seinen Essen aus dem Wohnzimmer. Gilbert wusste, er würde es bereuen so nett zu dem Aristokraten zu sein, doch er konnte einfach nicht anders. Manche Dinge änderten sich nie. Auch dann nicht, wenn man die ganze Welt hasste. Kapitel 3: Ein Schritt vorwärts, zwei zurück -------------------------------------------- Ein lautes Klopfen riss Gilbert aus dem Traumland. Er spürte wie Balduin neben ihm den Kopf hob und höchstwahrscheinlich die Ohren spitzte. Erneut klopfte es, lauter als zuvor. Mit einem einzelnen Grunzen drehte der Weißhaarige sich um und zog die Decke über sein Kopf. Stickige Luft begrüßte ihn, umgarnte ihn und zog ihn nach und nach in einen Dämmerzustand zurück. Angenehme Wärme... Plötzlich verschwand sein selbst erschaffener Panzer. Ein kalter Windstoß fegte über ihn hinweg und Gilbert saß kerzengerade im Bett. „Was in Fritzs' Namen?!“, fluchte er, wobei er seine Körperteile schützend zusammenzog. „Einen guten Morgen.“ Der ehemalige Preuße stöhnte genervt auf. Unbegeistert schaute er zu Roderich hinüber, der neben seinem Bett stand und gerade seine geheiligte Decke zusammen faltete. „Schmeißt du mich gerade aus dem Bett?“ „Du hast erneut das Offensichtliche erkannt, ich bin beeindruckt.“ Gilbert knirschte mit den Zähnen, ballte die Fäuste und zählte bis zwanzig, bevor er erneut einen Versuch startete mit den Österreicher zu reden, anstatt ihn mit seinem imaginären Drachenfeuer zu verbrennen. „Warum um Himmels Willen übernimmst du die Aufgabe eines beschissenen Weckers, den ich nicht einmal eingestellt habe?“ Roderich war fertig mit dem Zusammenlegen und wuchtete die Decke jetzt ans Ende des Betts. Es musste eine Ewigkeit her sein, dass seine Decke so ausgesehen hatte... „Es ist Morgen, deswegen“, antwortete der Braunhaarige schließlich, als er sich auch schon wieder dem Fenster zuwendete. „Morgen?“ Fragend fiel Gilberts Blick auf seinen digitalen, statt lebenden Wecker. Was er dort sah, ließ ihn nur noch mehr kochen. „Es ist gerade Mal zehn Uhr morgens! Willst du mich vera – Ah!“ Grelles Licht flutete ins Zimmer, nachdem Roderich die schweren Vorhänge an die Seite gezogen hatte. „Bist du bekloppt? Mach die wieder zu!“, keifte er den Aristokraten an, wobei er dem Miststück namens Quadrat zur Außenwelt den Rücken zudrehte. „Denk an deine Wortwahl“, war das Einzige, was der Österreicher erwidert. Miteinmal gab es ein Klicken und Klacken und bevor es passierte, wusste Gilbert schon, was kommen würde. Kühle Morgenluft strömte durch das geöffnete Fenster. Sein Kopfkissen packend und damit seinen Kopf begrabend, jammerte Gilbert auf. „Sklaventreiber! Pussy! Pusteblume!“ Hinter sich hörte er Roderich seufzen. „Es wundert mich ehrlich gesagt, wie du es geschafft hast, deine Kriege nicht zu verschlafen mit so einer fahrlässigen Einstellung.“ „Ach, geh doch Salzburger Nockerln scheißen!“ Ein missfallendes Schnauben. „Achte auf deinen Umgangston.“ „Ich muss nicht -“, das laute Knurren seines Magens ließ ihn inne halten in seinem Ausbruch. Langsam zog Gilbert das Kopfkissen wieder weg und starrte angefressen zu Roderich, der nur fragend eine Augenbraue hob. „Ist das Frühstück fertig?“ Der Österreicher atmete tief ein. „Natürlich.“ „Mit Würstchen und Senf?“ Ungläubige schaute ihn Roderich über den Rand seiner Brillengläser hinweg an. „Oh man...“, schwungvoll rollte der Weißhaarige sich an den Rand des Bettes und stand auf. „Das du dir nach all den Jahren noch immer nicht gemerkt hast, dass ich morgens gerne deftig esse...“ Bevor Gilbert sich überhaupt im Klaren gewesen war, was er gesagt hatte, waren die Worte schon aus seinem Mund gepurzelt. Kurz hielt er inne, sein Herz schlug schneller. „Wie auch immer...“, sagte er hastig und verließ den Raum, flüchtete förmlich, nur um den Anderen keine Zeit zu lassen, womöglich irgendein bösartiges Kommentar dazu zu geben. Was Gilbert nicht bemerkte, da er sich nicht zu Roderich umdrehte, war dessen schuldbewusster Ausdruck, dass er tatsächlich vergessen hatte, wie der Andere sein Frühstück mochte. „Du hast mich also nur geweckt, damit ich dich auf den Markt bringe...“ Roderich rückte seine Brille zurecht, wobei er Balduins Hundeschnauze aus seinem Blickfeld schob. „Nein. Ich habe dich geweckt, damit du aus dem Haus kommst und nicht den ganzen Tag vor dem Kasten sitzt.“ Ungläubig schaute Gilbert zu dem Anderen hinüber. „Ja, klar...“, gluckste belustigt, dann konzentrierte er sich wieder auf die holprige Straße vor sich. „Erklärt auch, warum du erst Abends gekommen bist.“ „Bitte?“ „Na, du bist was Orientierung angeht, immer noch wie ein Fisch auf dem Trockenen.“ Auf seine eigene Worte hin, musste Gilbert herzhaft lachen, wogegen Roderich nur beleidigt schnaubte und so etwas wie „völliger Unsinn“ und „Kindskopf“ nuschelte. Dann herrschte Stille, nur Balduins Hecheln oder Wimmern unterbrach sie hin und wieder. Anders als mit Ludwig, Antonio oder Francis war Gilbert diese Stille unangenehm. Manchmal schwiegen sie einfach, nachdem sie stundenlang geredet hatten oder gerade einen spannenden Film schauten. Hin und wieder saßen sie auch im Garten auf der Bank, jeder ein Bier oder Wein in der Hand und genossen den Abendhimmel einer Sommernacht. Doch mit Roderich war es eine völlig neue Stille. Gilbert fiel kein Thema ein über das sie reden konnten, noch wollte er wirklich mit den Anderen reden. Zu tief saß einfach die Wut in seinen Knochen. Unsicher warf er einen schnellen Seitenblick zu Roderich. Dieser starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Möglicherweise versuchte er sich auch nur den Weg zu merken, um nachher nach Hause zu fahren. Bei den Gedanken musste der Weißhaarige schmunzeln. Das erinnerte ihn an die Zeit, als der Österreicher ihn einmal einen Bergsee gezeigt hatte und sie danach stundenlang im Wald umhergeirrt waren, auf der Suche nach Zivilisation. Schlussendlich hatten sie unter freien Himmel, aneinander gedrückt, geschlafen. Es war die Nacht gewesen, in der Roderich ihm zum ersten Mal geküsst hatte... Das Lächeln erstarb in Gilberts Gesicht und ein fetter Kloß bildete sich in seinem Hals. Nein, Roderich und er hatten sich nichts mehr zu sagen. Um den Mantel der Stille zu durchbrechen, griff er jetzt nach dem Radio und schaltete es ein. Sofort schallte ihm deutsche Schlagermusik entgegen. Ludwig und sein merkwürdiger Musikgeschmack...wie alt war der Junge? In seinem jungen Alter von etwa 100 und ein paar Gequetschte sollte man so etwas nicht hören. Gnadenlos änderte er den Sender. Jetzt schlug ihm irgendein spanischer Schnulzensong entgegen. Wann war Antonio in seinem Auto gewesen? Genervt wechselte er erneut den Sender, wobei er die nächste Kurve etwas zu grob nahm, was Roderich aufmerksam werden ließ. Nun ertönte Opernmusik vom Feinsten aus dem Elektrogerät. Gab es wirklich Leute, die sich das anhörten? Gilbert bezweifelte es stark. Ein letztes Mal schaltete er einen anderen Sender ein. Endlich erfreuten die Klänge eines anständigen Lieds seine Ohren. „I'm beautiful in my way, cause god makes no mistakes! I'm on the right track, baby, I was born this way!“, sang er fröhlich mit. Jetzt wandte Roderich ihm komplett zu. Gilbert grinste ihn nur kurz an und hob seine Stimme noch ein Stückchen an. „A different lover is not a sin, believe capital H-I-M! I love my life, I love this record and L'amour a besoin la foi!“ Der Aristokrat schüttelte nur fassungslos den Kopf und Gilbert musste lachen. Er hatte fast vergessen, wie angenehm es war, Roderich mit solchen simplen Dingen, wie seinem schlechten Gesang, zu nerven. Als Balduin dann mit seinem Hundegesang miteinstimmte, war die Welt für einen Moment in Ordnung und Gilbert meinte sogar, ein schwaches Lächeln auf den Lippen des Aristokraten gesehen zu haben. „Wie wäre es mit Schnitzel?“ „Nein.“ „Filet?“ „Nein.“ „Hackbraten?“ „Nein...“ „Hähnchen?“ Ungläubig drehte Roderich zu Gilbert um, der die ganze Zeit hinter dem Anderen her geschlendert war. „Was?“, fragte er auf den Blick hin, vergrub seine Hände noch tiefer in den Taschen, weil es ihn irritierte, wie er angesehen wurde. „Denkst du eigentlich nur an Fleisch?“ „Öhm...“, Gilbert zuckte unverständlich die Schultern, „...Fleisch ist immer gut?“ Roderich starrte ihn einige Sekunden schweigend an, dann schüttelte er nur ungläubig den Kopf. „Unglaublich...“ „H-Hey! Fleisch ist nun einmal gut!“, versuchte er sich zu verteidigen und lief abermals Roderich als Windschatten hinter her. „Es ist unglaublich fettig.“ „Nicht Hühnchen!“ „Auch Hühnchen!“ Gilbert brummte genervt, blieb kurz stehen, um sich nach Balduin umzudrehen, der jetzt ein paar Blumen mit Wasser beglückte. „Also wirklich!“, pfiff Roderich hinter ihm los. Gilbert wandte sich zu ihn um und zuckte erneut lässig mit den Schultern. „Lass ihn doch.“ „Deine Erziehung ist einmalig“, erwiderte der Braunhaarige trocken. „Danke, ich weiß, wie großartig sie ist.“ Der Österreicher nuschelte irgendwas und setzte dann kopfschüttelnd seinen Weg fort. Eilig folgte ihm Gilbert, ebenso Balduin. Jetzt lief er neben dem Größeren her. „Wann hast du das letzte Mal Gemüse gegessen?“ Verwundert schaute er Roderich an, dieser erwiderte jetzt den Blick. Rasch wich Gilbert den violetten Augen aus und beobachtete Balduin, der jetzt einige Meter vor ihnen lief. „Keine Ahnung...achte da nicht so drauf.“ „Wann hast du das letzte Mal nichts Tiefgefrorenes gegessen?“ „Ich...was weiß ich! Wen interessiert es?“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie Roderich nur den Kopf schüttelte. „Kein Wunder, dass du so kränklich aussiehst.“ Bitte was? Überrascht schaute er zu dem Anderen hinüber, aber dieser musterte nur die Stände an den sie vorbeigingen. Hatte er das gerade richtig verstanden? War da Sorge gewesen? „Der Markt ist wirklich voll“, nuschelte Roderich jetzt, als er erneut anfing sich durch einige Menschen zu drängeln, die ebenfalls an diesem Morgen auf dem Wochenmarkt einkaufen gingen. Nein, er musste sich verhört haben. Roderich hatte sich noch nie Sorgen um ihn gemacht. Heute nicht und damals erst Recht nicht. Eine kalte Schnauze stupste ihn an. Lächelnd ging er in die Hocke und streichelte Balduin über den Kopf. Zumindest konnte Gilbert sich nicht erinnern, dass Roderich sich Sorgen um ihn gemacht hatte, ob es stimmte, würde für immer eine der tausend unbeantworteten Fragen sein, die er an ihn hatte. „Fisch! Ist das dein Ernst?!“ Aufgebracht wechselte Gilbert holpernd in den nächsten Gang. „Fisch ist gesund“, erwiderte Roderich nur unbeeindruckt. „Ist mir egal ob er gesund ist oder den Frieden auf Erden bringt. Ich will Fleisch essen!“ „Fisch ist Fleisch...“ „Für Robben! Bin ich ein Robbe, oder was?“ „Denkbar wäre es bei deinen Schlafgewohnheiten.“ „Haha, wie witzig wir heute doch wieder sind. Ich falle gleich tot um vor Lachen.“ „...“ Plötzlich schaute ihn Roderich mit einem durchdringenden Blick an, dass es Gilbert kalt den Rücken runter lief. „Sag das nicht“, obwohl die Stimme des Österreichers gelassen war, schwang ein drohender Unterton mit, den der Weißhaarige nicht wirklich deuten konnte. „Was nicht sagen? Das du so lustig wie eine alte Dame mit künstlichem Gebiss bist?“ „Ich meine das Ernst, Gilbert.“ Es war das erste Mal seitdem er ihn wegen des Aussprechen seines Namens angeschrien hatte, dass er ihn wieder benutzte. Mit einen unangenehmen Ziehen im Magen knurrte der Weißhaarige nur. „Was auch immer...“ „Nichts was auch immer! Das ist kein Thema über das du Scherze treiben solltest!“ Gilbert zuckte zusammen, weil Roderich so laut geworden war. Völlig perplex schaute er den Aristokraten an, der ihn wütend in Grund und Boden starrte. „Ich...“ Er hatte absolut keine Ahnung, was er sagen sollte. Das einzige Mal, dass Gilbert Roderich so aufgebracht gesehen hatte, ohne das er es hinter seiner eisernen Maske verbarg, war gewesen, als er Ludwig zum ersten Mal an die Front geschickt hatte. Einen Moment schauten sie sich nur an. Roderich Blicks wurde mit einem Mal traurig und müde, so als hätte er einen sehr langen Marsch hinter sich, der mit Toten gepflastert gewesen war. „Damals dachte ich du wärst...“, fing er leise, fast gebrochen an. Weiter kam der Braunhaarige nicht. Plötzlich bellte Balduin. Verwirrt wandte Gilbert sich seinem Hund zu, dann realisierte er, dass er noch immer am Steuer saß und das Gaspedal durchdrückte. „Pass auf!“, schrie Roderich. Sein Kopf schellte nach vorne. Gerade noch so registrierte er irgendwas Großes auf der Straße, bevor er es auf die Haube nahm. Ein harter Ruck, ein dumpfer Aufschlag, noch ein Knall und es war verschwunden. Panisch drückte er auf die Bremsen. Laut quietschend und schleudern, hielt das Auto nach mehreren Metern ruckartig an. Balduin fiepte, während Gilbert stoßartig nach Atem rang und das Lenkrad so verkrampft festhielt, als würde sein Leben davon abhängen. Roderich war der Erste, der sich wieder rührte. „Ich glaube du hast etwas getötet.“ „Wirklich? Ist ja was ganz Neues für mich.“ Es sollte nicht so bissig klingen, jedoch konnte Gilbert nur schwer den Schock mit Roderichs unnötigen Worten verdauen. Sie beide saßen da und starrten aus dem Autofenster. Nach einigen weiteren Minuten, war es erneut der Österreicher, der das Wort ergriff. „Wir sollten nachschauen gehen.“ „Willst du das wirklich sehen?“ Ein tiefes Räuspern und Gilbert hob abwehrend die Hände. „Jaja, schon gut...“ Mit wackeligen Beinen stieg er aus dem Auto. Es war nicht so, dass er es nicht gewohnt war zu töten, jedoch nicht im Ruhestand und erst gar nicht mit 70 Kilometer die Stunde. Nach einem prüfenden Blick zur Seite stellt er fest, dass auch Roderich alles andere als ruhig schien. Vorsichtig näherten sie sich dem Ding, was dort lag. „Du zuerst“, flüsterte Gilbert und stellte sich hinter dem Braunhaarigen. Dieser sah ihn vorwurfsvoll an. „Ist ja gut...“ Schwer schluckend trat der Weißhaarige an das Bündel heran, das etwas Abseits im Graben gelandet war. Gilberts Herz blieb für einen Moment stehen. „Scheiße...“ Jetzt trat Roderich neben ihm und zog scharf die Luft ein. „Das kann nicht...“ Sie Beide sahen sich an und zum ersten Mal waren sie sich nach Jahrhunderten wieder einig. Nicht gerade ein Fortschritt, wie Gilbert empfand, wenn man bedachte, dass sie allem Anschein nach gerade eine Nation umgebracht hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)