Unvergessen von Fujouri (Nezumi x Shion) ================================================================================ Unvergessen ----------- Das Flackern der Kerzen warf Schatten auf die betonierten Wände. Wie böse Geister tanzten die Silhouetten von Büchern und Teekesseln durch das Zimmer, als wollten sie einen ungebetenen Gast vertreiben. Shion lag zusammengekauert auf dem Kanapee, das man ihm als Schlafplatz überlassen hatte, und sein Blick huschte über die flinken Schattengeister. Sie machten ihn nervös und ließen den Raum noch kleiner wirken, als er war. Shion zog die Beine enger an seinen Körper und die Bettdecke bis über die Nasenspitze. Der fusselige Stoff kratzte am ganzen Leib. Seine Stirn glühte, und es fröstelte ihn. Shion hatte seit zwei Tagen nicht geschlafen. Er schloss die Augen und riss sie sogleich wieder auf. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein eisiger Wind blies durch das Zimmer. Er war nicht stark genug, um die Lichter zu erlöschen und die Geister zu vertreiben. An den Stiefeln, die mit jedem Schritt näherkamen, haftete zu Matsch geschmolzener Schnee. Nezumi blieb vor dem Kanapee stehen; er hatte die Kälte mit nach Hause getragen. »Wirst du eigentlich jeden Winter krank? In Lost Town überlebst du so keinen Monat.« -wenn ich mich nicht um dich kümmern würde, beendete Shion Nezumis Satz in Gedanken und schaffte ein mattes Lächeln. »Die Winter in No. 6 sind leichter zu überstehen«, flüsterte er, denn mehr konnte er seinen geschwächten Stimmbändern nicht abverlangen. Er begann zu husten, und Nezumi beugte sich sofort zu ihm vor und legte seine Stirn auf die Shions. Die Hand, mit der er das weiße Haar zurückstrich, war kalt und tat gut. Shion seufzte auf. »Dein Fieber ist nicht besser geworden. Aber mehr als dir zu raten, liegenzubleiben und zu schlafen, kann ich nicht tun.« Nezumi stellte die Einkaufstüte ab, die er in der freien Hand gehalten hatte. Er kramte ein paar Lebensmittel aus ihr heraus und verteilte sie auf dem Tisch. »Vielleicht bringt dich ja eine warme Suppe wieder auf Vordermann.« Er ließ Wasser in den Teekessel ein und setzte ihn auf. Shion hustete erneut und richtete sich mühsam auf. Die Decke umschlang er mit beiden Händen und zog sie fest um seinen Körper. »Sie hat immer noch nicht geantwortet.« Shion biss sich auf die Unterlippe; eigentlich hatte er sich vorgenommen, dieses Thema nicht noch einmal anzusprechen. Nezumi ließ den Kochlöffel auf die Arbeitsfläche sinken und wandte sich abrupt um. Die aschgrauen Augen verrieten Spott. »Vergiss sie«, sagte er, und ihm war anzusehen, dass er sich sehr wohl bewusst war, wie verletzend diese Worte sein konnten. Es war nicht das erste Mal, dass er sie aussprach. »Vergiss sie und No. 6. Du hast die Stadt hinter diesen Mauern verraten und bist geflohen. Wann verstehst du endlich, dass dir nichts anderes übrig bleibt, als loszulassen?« »Aber sie antwortet nicht. Sie hat sonst immer geantwortet. Ihr wird etwas zugestoßen sein. Diese Bienen werden sie erwischt haben, sie-« »SHION!« Plötzlich packte Nezumi ihn am Hals und drückte ihn gegen die Couchlehne. »Was willst du tun? Zu No. 6 zurückkehren und nachsehen, wie’s ihr geht? Sei kein Idiot und lass die Finger von dieser Stadt! Sonst wird es wirklich bald einen Toten geben, und der wirst du sein!« Shion schluckte und kniff die Augen zu - durch den festen Griff konnte er sich nicht wegdrehen, um dem stechenden Blick auszuweichen. Nezumi wartete einen Moment, dann ließ er von Shion ab und wandte sich wieder dem Herd zu. Ihre Mahlzeit nahmen sie beide schweigend ein. »« Schabende Geräusche schallten durch den Gang. Metall traf auf sandigen Boden, der durch die Kälte steinhart geworden war. Shion hörte Nezumi vor der Eingangshalle Schnee wegschippen, der seit Tagen ununterbrochen fiel. Die Tätigkeit war bereits zur Routine geworden. Das Geräusch erstarb und ein Ächzen erklang, als die Tür geöffnet wurde. »So eine lästige Arbeit. Das Wetter könnte vor Weihnachten ruhig etwas gnädiger sein.« Nezumi lachte und streifte die Stiefel von den Füßen. Er entledigte sich seiner Jacke, setzte sich aufs Bett und griff nach dem Buch, das darauf lag. Ein blauer Einband mit gelber Verzierung an der Seite und einem Bild des Autors zierten es. Er schlug es auf. »Nezumi... feierst du Weihnachten?« Nezumi schielte über die Lektüre hinweg zu Shion. »Natürlich nicht. Ich bin nicht gläubig und hier in Lost Town gibt es nicht viel, das man sich schenken könnte. Die meisten Menschen verzichten darauf.« Die Antwort klang plausibel - Shion fiel darauf nichts zu entgegnen ein. Trotzdem stimmte es ihn melancholisch, dass Heiligabend das erste Mal in seinem Leben wie jeder andere Tag behandelt werden würde. In No. 6 war es undenkbar, ihn zu ignorieren. »Mutter hat immer jede Menge Plätzchen gebacken«, begann er zu erzählen, »sie ist Bäckerin, musst du wissen, und unsere Wohnung befindet sich direkt über ihrem Laden. Der Duft von frischem Gebäck zog bis in mein Zimmer hoch. Ganz besonders an Weihnachten.« »Ich weiß, wie es bei dir zu Hause aussieht, Shion.« Nezumi grinste und legte das Buch beiseite. »Außerdem...« Er bettete den Handrücken auf seine Knie. Sofort wuselte eine seiner Ratten aus einer Ecke hervor und sprang auf die offene Handfläche. »Ich weiß sogar, wie du nackt aussiehst.« »Nezumi!«, rief Shion, schnappte sich ein Kissen und warf es dem anderen ins Gesicht. Er wurde knallrot um die Wangen herum. »Nur nicht so zimperlich. Ich kann dir bestätigen, dass es nichts gibt, wofür du dich schämen musst.« Bevor Shion die Gelegenheit bekam, den Kommentar zu verdauen und ein weiteres Kissen nach Nezumi zu werfen, war dieser aufgestanden. »Wenn du so in Erinnerungen schwelgst, warum schreibst du ihr nicht?« Er ging zum Tisch und griff nach einer Füllfeder. Er hielt sie Shion nahe vors Gesicht. »Weil sie noch nicht auf meine letzten beiden Nachrichten geantwortet hat...« Bei dem Gedanken daran fühlte er sich auf einmal halt- und hilflos. Er senkte den Kopf und blickte zur Seite. »Na schön. Dann eben nicht.« Nezumi zog die Hand zurück und ließ die Füllfeder in der Hosentasche verschwinden. Er setzte sich zurück aufs Bett und widmete sich wieder dem Buch mit dem hübschen Einband. Shion sah ihn von unten herab an und wünschte sich, Nezumi würde den Blick erwidern, sich zu ihm setzen und ihn in den Arm nehmen. Er tat nichts dergleichen. Shion biss sich auf die Unterlippe. »« Am vierundzwanzigsten Dezember kam Shion sich wie ein naives Kleinkind vor, das fälschlicherweise an Wunder glaubte. Nezumi hatte seinen angekündigten Umgang mit Weihnachten strikt eingehalten. Es gab keinen leuchtenden Christbaum, keine duftenden Plätzchen und keine vier entzündeten Adventskranzkerzen. Und erst recht keine Geschenke. Nezumi hatte die Bedeutung des Tages nicht einmal zur Sprache gebracht. Obwohl er noch immer etwas Fieber hatte, hatte Shion auf ihren Wunsch hin Inukashi aufgesucht und half ihr nun beim Bürsten der Hunde. »Jetzt zieh nicht so ein langes Gesicht. Deiner Mutter geht es bestimmt gut und sie wird dir bald antworten. Und Nezumi ist ein Arschloch, mach dir nichts draus.« Shion wünschte sich, die Dinge auch so kompromisslos-optimistisch sehen zu können. »Ist Nezumi nicht. Er... er weiß nur nicht, wie wundervoll Weihnachten sein kann, wenn man sich darauf einlässt.« Inukashi seufzte. »Das weiß in Lost Town niemand, Kleiner. Sieh dir mein Hotel an.« Sie wandte sich diesem zu. »Meinst du, ich könnte meinen Gästen ein Festmahl und kuschelige Betten anbieten, nur weil heute Weihnachten ist? Und das verlangt auch keiner. Hier reicht es den Leuten, wenn sie den kalten Winter überstehen und den nächsten Morgen miterleben.« Als der Hund vor ihr zu winseln begann, bürstete sie über das dichte Fell. »Und du solltest auch anfangen, so zu denken. Zumindest, solange du hier lebst.« Shions Mund war trocken geworden. Sein Hals schmerzte. Er nickte lediglich und ließ sich die wahren Worte durch den Kopf gehen. Plötzlich knuffte ihn eine Hand in die Seite und zwei Arme schlossen sich daraufhin um seine Schultern. Als er sich umdrehte, grinste Inukashi ihn frech an. »Ich wünsch‘ dir trotzdem frohe Weihnachten, Shion!« Am Abend kam Shion nach Hause und war allein. Er sank auf Nezumis Bett und drückte das Gesicht ins Kissen. Am liebsten würde er jetzt einschlafen und den heutigen Tag weit hinter sich lassen. Aber er konnte nicht. Mit pochenden Schläfen wälzte er sich auf den Rücken, legte den Arm über die Stirn und starrte an die Decke. Die tanzenden Schattengeister waren das Einzige, das diesen Raum mit Leben füllte. Ein Fiepen durchbrach die Stille. Shion schreckte auf. Eine von Nezumis Ratten stand vor dem Bett. Es war Hamlet. Die schwarzen Murmelaugen schauten zu Shion herauf. Die Kapsel fiel aus dem Maul und landete auf dem Boden. Noch ein Fiepen. Shions Herz begann zu rasen. Er sprang vom Bett, bückte sich und hob die Kapsel auf. Seine Hände erkalteten, und er zitterte am ganzen Leib. Mit ungeschickten Fingern öffnete er die Kapsel und zog das kleine Papierröllchen heraus. Vorder- und Rückseite waren mit feinen Tintenstrichen beschrieben. »Shion, was ist los?« Lautlos genug, dass Shion ihn nicht wahrgenommen hatte, schien Nezumi den Raum betreten zu haben. Er ging vor Shion in die Hocke und legte die Hände auf dessen Schultern. Shion behielt den Kopf gesenkt. Einzelne Tränen beträufelten die Worte auf dem Papierröllchen. »Von deiner Mama, wie?« Shion spürte an seinem Kinn zwei Finger, die seinen Kopf sachte anhoben. Durch die verweinten Augen sah er Nezumis Lächeln nur verschwommen. Sein Gesicht kam näher. Das Papierröllchen fiel aus der Hand. Nezumi küsste Shion. »« Shions Mutter war tot. Er erfuhr es erst Tage später. Ihre Handschrift hatte Nezumi tadellos übernommen. Die Worte, die er gewählt hatte, hätten ihre sein können. Aber es waren seine. Frohe Weihnachten, Shion. Ich liebe Dich. --- Ich kann keine fröhlichen Weihnachtsgeschichten schreiben, sorry. |D Liebe Grüße, Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)