Black Sheep von Ricchan (~ Why don’t You feel the Sense of Urgency ~) ================================================================================ Der Schrei nach Hilfe --------------------- Der Schrei nach Hilfe Sie war nicht ehrlich zu ihm. Obwohl sie ihm doch immer von ihrem Tag erzählte, ihn dann liebevoll küsste und noch viel liebender in die Arme schloss, erzählte sie ihm doch nicht die ganze Wahrheit. Sie hatte Geheimnisse, nach denen er nicht fragte. Oliver wollte ihr vertrauen nicht hinter gehen, in dem er an sie zweifelte oder sie ausfragte. Dafür liebte er sie zu sehr. Dass aus eine so simplen Begegnung eine solche Beziehung entstehen würde, hätte er nicht zu träumen gewagt. Er hatte sie gemocht, als er nur ihr Lachen hörte und hatte sie geliebt, als ihre braunen Augen ihn das erste Mal direkt ansahen, ihn verschlangen. Doch das Gefühl ihrer Unehrlichkeit nagte an ihm. Was tat sie wirklich tags über? Lächelnd gab sie ihm einen Kuss auf die Lippen. „Einen schönen Arbeitstag.“, meinte sie fröhlich und richtete noch einmal seine Krawatte. Er hatte sie nach dem Abend nicht mehr gehen lassen. Und sie hatte es auch nicht gewollt. Sie teilten sich nicht nur eine Wohnung, sondern auch das Bett und das Leben. Sie war sein Ein-und-Alles geworden. „Wünsch ich dir auch.“, flüsterte er und küsste sie zurück, fordernder, ein Versprechen. Ihre Wangen zierte ein süßes Rot als er die Tür hinter sich schloss und sich zu seiner Arbeit aufmachte. Als Sozialbetreuer hatte er jeden Tag mit so vielen Jugendlichen zu tun, die einfach viel zu früh zu den Drogen griffen und daher nicht mehr klar sprachen, dass er wenigstens zuhause den gesprochnen Worten trauen wollte. Also vertraute er ihr und misstraute ihr doch. Denn obwohl sie zusammen lebten, hatte sie ihm noch immer nicht ihren Namen verraten und nicht ihr Alter, auch wenn er sie auf Anfang zwanzig schätzte. Warum diese ganzen Geheimnisse? Wenigstens ihren Beruf kannte er. Sie war Kellnerin in einem kleinen Café, in dem er sie noch nie besuchen konnte, da sie ihm nicht verraten wollte, wo es sich befand. Oliver parkte sein Auto vor dem Jugendamt und stieg aus. Es würde ein langer Tag, mit vielen Problemen werden, also musste er seine Gedanken frei bekommen von seinen eigenen, die doch eigentlich keine waren, oder? Als er die Eingangshalle betrat, kam ihm die aufgebrachte Sekretärin bereits entgegen. „Oliver, da ist eine Mutter, die behauptet sie wüsste, dass ihre Tochter anschaffen geht, trotzdem sie Minderjährig ist.“ „Danke, Anna. Ich werde sofort mit ihr sprechen.“ „Zimmer 2.“ Sie machte sich eine Notiz in ihren Block, bevor sie wieder hinter den Tisch verschwand, vor dem eine lange Schlange an Eltern und Kindern wartete. Keine Zeit sich noch einen Kaffee zu holen, entschied Oliver und ging direkt zu der Mutter, deren Worte so aufrichtig und verletzt klangen, dass er ihr nur glauben konnte. „Machen sie sich keine Sorgen. Falls sie wirklich in einem der Bordelle ist, so werde ich sie daraus holen.“, beruhigte er die Frau, schob seinen Stuhl zurück und öffnete dann die Tür. Er würde besser sofort losfahren und die Rotlichtstraßen der Stadt aufsuchen, da ihm die Mutter durch einen Anruf bei der Schule bereits sagen konnte, dass sie nicht dort war. „Anna“, setzte er an und legte einen Stapel Papiere auf dem Tisch ab, „Ich werde mit Frau Meier die Drittgeschäfte anfahren um zu sehen, ob ihre Tochter dort ist. Bitte sag doch alle weiteren Termine für mich heute ab.“ „Geht klar.“, lächelte sie und legte die Unterlagen in eines der Ablagefächer. „Kommen Sie, Frau Meier.“ Die Mutter nickte und folgte ihm. Die Dienstwagen waren hinter dem Gebäude geparkt, sodass sie einmal quer außen herum mussten. Er hielt der Mutter die Tür auf, bevor er selbst einstieg. Natürlich hätte er sich ein Foto geben lassen und allein nach dem Mädchen die Augen aufhalten können, doch die Aufgebrachtheit der Frau hätte ihm nur alle zehn Minuten einen Anruf auf sein Handy verpasst. Es gab insgesamt drei Bordelle in der Stadt die öffentlich waren und dann noch eine ganze handvoll kleinerer, die nur bei den Besuchern selbst und beim Sozialamt bekannt waren. Er wusste nicht ob es überhaupt etwas brachte bei den öffentlichen vorbei zu fahren, weil diese nur Frauen über achtzehn einstellten, doch ein Versuch war es immer wert, aber es würde sein letzter sein. Er bog in die dreckige Seitenstraße ein und hielt am Seitenstreifen. Dann erklärte er der Mutter, dass sie warten mussten und den ganzen Tag nur dieses eine Bordell beobachten konnten. Denn es war unmöglich für sie zu den Türstehern zu gehen und nach dem Mädchen zu fragen, also würden sie abwarten müssen, ob sie heraus kam im laufe des Tages oder nicht. Morgen könnten sie dann zu einem anderen fahren. Die Mutter schien nicht begeistert, aber wer würde das schon sein? Das Problem war nur, dass die Menschen immer sofort wütend wurden, wenn man nicht etwas unternahm und einfach nur abwartete. Doch manchmal war das einfach der einzige Weg, was sie natürlich niemals sehen und noch weniger verstehen würden. Also warteten sie. * * * Karin starrte noch lange die Tür an, bevor sie sich sicher war, dass ihr Freund nicht zurück kommen würde. Sechs Monate. Solange war sie nun schon mit ihm zusammen und lebte dieses Doppelleben, das sie in den Wahnsinn trieb. Sie liebte Oliver. Und obwohl sie fest daran glaubte, dass ihre Begegnung vom Schicksal her bevor bestimmt war, so sah er es doch trotzdem nicht. Wie oft musste sie noch nach Hilfe rufen, bis er die Worte endlich verstand? Wie lange müsste sie es noch aushalten? Sie wollte weg von diesem Ort, wollte fort aus dem Nebel, der ihr die Welt versüßte und das Leben leichter machte. Sie hasste und liebte den Nebel ohne den sie einfach nicht mehr konnte. Langsam zog sie sich aus, schlüpfte in die Kleidung, die sie niemals vor Oliver tragen würde und band sich den langen Mantel um, der sie immer wieder an den einen Tag erinnerte, in dem der Nebel süß und bitter und voller Schmerzen war, bevor er sie für immer betäubte. Sie sah die Menschen auf den Straßen nicht, die geschäftig hin und her eilten, bemerkte nicht die stickige Luft in der U-Bahn und nicht den Dreck auf den Straßen, als sie das herunter gekommene Gebäude erreichte, in dem sie heute arbeiten würde. Sie brauchte das Geld um den Nebel bezahlen zu können, der doch gleichzeitig die Schmerzen dieser Arbeit betäubte und ihren Blick vor den Grausamkeiten der Welt schützte. Sie ignorierte die Männer, die sich ihr in den Weg stellten und ihr so wenig boten, dass sie noch nicht einmal das kleinste Gramm hätte bezahlen können, legte den schweren Mantel ab und ließ sich in das Sofa sinken, dass nur von den teuersten Frauen des Hauses benutzt wurde. Sie ignorierte die anderen Frauen und diese sie, denn hier war jeder auf sich allein gestellt. Die Stunden vergingen, in denen niemand ihren Preis bezahlen wollte. Natürlich hätte sie viele für weniger nehmen können, aber diese Rechnung ging einfach nicht auf. Sie war nicht billig. Sie wollte nicht billig sein, wollte nicht ihre letzte Würde verlieren, die sie durch Oliver doch wieder erlangt hatte. Ach, Oliver. Karin stand auf und ging hinaus. Etwas frische Luft würde ihren Kopf klarer machen, so klar wie sie durch den Nebel sehen konnte. Ihre Hände zitterten. Sie wollte... Sie wünschte sich den dichten Schleier des Wahnsinns herbei, der sie nur für ein paar Stunden, die nächsten paar Stunden etwas unempfindlicher machen würde. Sie brauchte es, doch ihre Taschen waren leer. Wachsam auf einen potentiellen Käufer blickte sie sich um und erstarrte. Nein! Nein, das war nur ein Traum. Ein ganz schrecklicher Alptraum. * * * Oliver stieg aus dem Wagen aus und starrte seine Freundin an. Das war doch nur ein Scherz. Eine Verwechslung, bestimmt. Sie konnte es nicht sein! Niemals! Seine Kehle war staubtrocken und seine Beine fühlten sich an als wären es nicht seine, als er auf sie zu ging um sich Gewissheit zu verschaffen. Keine Verwechslung, keine Doppelgängerin. Sie war es! Herr Gott im Himmel, was tat sie hier?! „Oliver…“, drang ihre Stimme an sein Ohr und sie schien genauso überrascht wie er. Warum war sie hier? Sie konnte doch nicht wirklich… „Was machst du hier?!“, brüllte er sie an und wurde nur noch wütender, als er merkte, dass er sie nicht mit ihrem Namen anschreien konnte. „Ich…“, sie schluckte sichtlich und ihre Augen blickten ihn mit einer Dringlichkeit an, die er nicht verstand. „Belästigt dich der Mann?“, fragte ein tiefer Bass und Oliver drehte sich um. Der Mann der dort auf sie zu kam, war gebaut wie ein Schrank. Mindestens zwei Meter groß und mit Schultern, die breiter waren als sie bei einem Menschen sein sollten. Nun hatte er Angst. Sie schüttelte ihren Kopf. Oliver schnaubte verächtlich. „Was tut sie hier?“, fragte er den Mann und nickte in ihre Richtung. Warum hatte sie ihm nur nie ihren Namen verraten?! Der Schrank blickte sie einen Moment an und lachte dann los. „Oh! Ich verstehe! Sie ist wohl deine Freundin und hatte es dir nicht erzählt, was?“ „Was erzählt?!“, knurrte er. Machte der Kerl sich über seine Unwissenheit lustig? „Die kleine Miss ist Kellnerin bei uns. Ich denke, da sie in einem Bordell kellnert, war es ihr wohl zu peinlich ihnen von ihrem Arbeitsplatz zu erzählen.“, erklärte der Mann mit ruhiger Stimme. Olivers Herz schrie vor Erleichterung auf. „Sie geht hier also nicht… anschaffen?“, fragte er trotzdem noch einmal nach und warf dabei einen Blick auf seine Liebste. Ihre Augen. Was stimmte nur nicht mit ihren Augen. Ihr Kopf nickte zwar und ihre Lippen lächelten genauso erleichtert wie er, aber ihre braunen Augen zeigten einen Schmerz, den er einfach nicht begreifen konnte. „Oh nein! Es kommt zwar vor, das einer der Kunden, der im Schlafzimmer nicht genug bekommen hat, sie ab und an versucht anzugrabschen, aber dafür bin ich ja da. Ich passe auf meine Kellnerinnen schon auf, keine Angst!“ „Gott sei Dank.“, nuschelte er und drängte sich an dem Mann vorbei, um sie in die Arme zu schließen. „Tut mir Leid, dass ich an dir gezweifelt habe.“ Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn an sich. Eine fast verzweifelte Geste. Doch vielleicht war sie ja auch nur so erleichtert darüber, dass er es nun wusste und es ihr nicht übel nahm. „Also dann, bis heute Abend.“, meinte er glücklich und küsste sie auf die Lippen. Er musste gehen, denn immerhin mussten sie beide noch arbeiten. Doch wenn sie heute Abend zuhause waren, konnten sie endlich alles unausgesprochene Aufklären. Lächelnd strich er ihr noch einmal über die Wange, den Blick ihrer Augen nicht lesend. * * * Er hatte es nicht gesehen. Karin kamen die Tränen als sie sein Auto wegfahren sah. Er hatte ihren Hilferuf nicht gehört. Hatte. Ihn. Einfach. Nicht. Gehört! Zitternd vor Verzweiflung und Trauer rannte sie hinein. Sie wollte nur noch ihre Jacke holen und dann nichts wie weg von hier. Für heute konnte sie nicht mehr arbeiten! Doch als sie sich zur Eingangstür wandte erstarrte sie. Das grausame Lächeln auf seinen Lippen jagte ihr eine Gänsehaut ein. Nein! „Patrick…?“ Karins Stimme versagte, als ihr Blick sie ins Mark traf. „Hallo, Süße. Bereit zu bezahlen?“, fragte er und kam auf sie zu, ohne auch nur auf ihre Abwehrhaltung zu achten. „Ich… Ich habe das Geld noch nicht beisammen.“, kreischte sie beinahe, „Gib mir noch einen Tag!“ Patrick schüttelte den Kopf: „Das habe ich doch gestern schon. Ich kaufe das Zeug immerhin auch nur. Und da ich keinen Ärger mit meinen Verkäufern will, müssen meine Käufer pünktlich bezahlen. So läuft das nun mal.“ „Aber ich habe das Geld nicht!“, schrie sie und wich soweit zurück, bis ihr Rücken gegen die Wand stieß. Warum fielen ihr jetzt erst die anderen Männer auf, die da neben und hinter ihm standen?! Und warum half ihr keiner?! „Tja, meine Liebe.“, säuselte er und packte sie an den Armen, nur um sie an sich zu ziehen und ihr einen Kuss aufdrücken zu können, „Ich glaube, dann haben wir ein Problem. Oh, oder sollte ich besser sagen: DU hast ein Problem?“ Die Männer lachten. Der Schleier verflog, der Nebel riss auf und der Schmerz überflutete sie, ließ sie in Verzweiflung ertrinken. Die Welt war ein grausamer Ort, dachte sie, während der Schmerz in ihr pulsierte und das Gewicht der Gewalt den Atem raubte. Warum war sie überhaupt auf dieser Welt, wenn sie doch nur gequält und verletzt wurde? Wenn doch niemand sie verstand? Wenn doch niemand sie liebte? Sie konnte Olivers Worte in ihrem Kopf widerhallen hören und weinte. Wenn doch niemand sie so liebte, dass sie ihre Rufe hätten hören können? Warum verstanden die Menschen nur nie, wenn es ein Notfall ist? Warum hatte er nur nie bemerkt, wie dringend ihre Lage war? Warum? Warum? WARUM?! Der Nebel hatte sich gelichtet. Es war lange her, dass sie die Dämmerung sehen konnte. Die Sterne, die langsam am Himmel erschienen und der Mond, der umso stärker schien, umso mehr die Sonne verschwand. Karin lächelte und schloss ihre von den Tränen geröteten Augen. Wie leicht man sich doch fühlen konnte, in diesem letzten Fall Richtung Dunkelheit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)