Der Pfau von Phillia (Deutschland, das sind wir selber) ================================================================================ Kapitel 9: 09 - Zuhause ----------------------- Es war kalt, kalt, so kalt, so furchtbar kalt. Gilbert war ganz allein in einem dunklen Raum auf einem kleinen Holzstuhl. Er wusste nicht, wie er hier hingekommen war; er erinnerte sich nur noch, wie er in einer Bar gesessen hatte, Bier getrunken hatte und irgendwann hier aufgewacht war. In einer Ecke konnte man ein stetiges Tropfen hören, und kleine Ratten huschten quiekend über den Boden. Was sollte der Scheiß hier?! Gilbert versuchte, sich zu befreien, aber die Fesseln waren eng und schnitten tief in seine Handgelenke. Eine alte, rostige Tür öffnete sich mit einem Knarren. Gilberts Kopf schwang herum, jedoch konnte er nicht viel sehen, bis die mysteriöse Person eine kleine Glühbirne an der Decke einschaltete. „Ey du Arsch, lass mich gefälligst hier raus!!“ warf er dem eben eingetretenen Menschen zu. Er konnte diesen Menschen nicht wirklich identifizieren. Es war jedenfalls Brandenburg, daran bestand kein Zweifel. Mal meinte Gilbert, den ihm bekannten Albrecht erkennen zu können, mal wirkte die Person eher wie die süße weibliche Brandenburg in einem Brautkleid, und mal verdunkelte sich der Ausdruck auf Brandenburgs Gesicht auf eine ganz groteske Art und Weise. Dieses Spiel ging noch ein paar Momente weiter, bis Gilbert vollständig verwirrt war und eines der drei Gesichter die Oberhand gewann. Zu Gilberts Pech handelte es sich dabei um Albert, aber das wusste er noch nicht – weder, dass es sich um Albert handelte, noch dass es sein Pech war. Vor dem winzigen Fenster hoch in der Decke konnte man einen Sturmwind erahnen. Albert nahm ein Messer heraus und kratzte damit, den Rücken Gilbert zugewandt, ein paar Symbole in die Holzwand. „Brandenburg, was soll der Scheiß?!“ wollte Gilbert wissen. Langsam, wie in Zeitlupe, drehte Albert sich um. Er lächelte. Gilbert lächelte. Beide lächelten nicht freundlich. „Kommt dir dieser Ort nicht bekannt vor?“ Träge wie ein altes, schwer ablösbares Kaugummi näherte sich Albert Gilbert. Hektisch sah Preußen sich um, schüttelte aber dann ebenso hektisch den Kopf. „Lass mich einfach gehen, Arschloch!“ befahl er, aber Albert befolgte keine Befehle, sondern blieb lieber direkt vor Gilbert stehen. Sein Messer Neuruppin streichelte zärtlich Gilberts Wange; Gilbert schnappte mit den Zähnen danach und durch die plötzliche Bewegung zierte ein langer Schnitt seine helle Wange und das Blut tröpfelte auf die weiße Haut, als wäre es eine heilige Zeremonie. „Erinnerst du dich an Carl, Gilbo?“ Preußen zuckte mit den Schultern. Carl, Hans, Heini – er hatte in seinem langen Leben schon zu viele Menschen gesehen, als dass er sich an sie würde erinnern können. Albert schien das zu ahnen. „Carl Großmann.“ Er lachte leise auf und auf Gilberts Unterarmen breitete sich eine Gänsehaut aus. Das Tropfen aus der Ecke schien immer schneller und rythmischer zu werden. Etwas klingelte in Gilberts Verstand, naja, zumindest dem Ding in seinem Kopf, was er großzügigerweise „Verstand“ nannte. Carl Großmann. Der Serienmörder aus Neuruppin, der nach Berlin emigriert war und seine Kinder getötet hatte, sodass Gilbert himself sich auf seine Spur begeben hatte. Aber das war schon lange her. Warum sprach Brandenburg davon? Überhaupt, was war denn mit Brandenburg los? Warum verwandelte sich ausgerechnet immer Brandenburg in diese Monster – erst eine zickige Tussi und jetzt dieser komische Messerfetischist? Sollte der sich doch ein Zimmer nehmen mit seinem Messer ey. Er zuckte mit den Schultern; dem Feind bloß keine Angriffsfläche bieten, nicht spüren lassen, dass ihn die Erwähnung des Mörders an die schreckliche Zeit damals erinnerte. „Wer soll'n das sein? Kenn' ich nicht.“ „Ich glaube, du weißt genau, von wem ich rede.“ Wieder streichelte das Messer Gilberts Wange, diesmal die andere, und diesmal hatte Gilbert dazugelernt. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, erneut zuzuschnappen, denn egal wie, er musste sich wehren. Und so zierten seine beiden Wangen tiefe, blutende Schnitte. „Halt doch deine Fresse, Spasti!“ Albert seufzte. Sein Kopf zuckte zur Seite und einen Moment später war da Albiline statt Albert. Unruhig sah sie sich um, dann fiel ihr Blick auf Gilbert. „Fuck, Gilbert, du musst hier raus! Er ist auf dein Blut aus, der Mistkerl!“ Sie kniete sich nieder und fummelte hektisch an seinen Fesseln herum. Gilbert wunderte sich. Hasste die brandenburgische Schnepfe ihn nicht? Warum half sie ihm denn jetzt? Gilbert war nicht so gut in Empathie, und das war eine Untertreibung, daher fragte er einfach. „Was hilfst du mir denn, Schätzchen?“ Sie stöhnte höchst genervt auf und ihr Kopf fuhr mit einem lauten Fauchen auf. „Nenn mich nicht 'Schätzchen'!! Ich bin die einzige, die dich verletzen darf, Albert hat da-“ Aber es war eine schlechte Idee, mit Gilbert zu reden, denn Albert hatte die Kontrolle über den Körper zurückerlangt und stolperte erst einmal zurück, ehe er wieder Neuruppin in seiner Hand spüren konnte. Dann lachte er. „Zurück zum Thema, Gilbert. Carl war mein Protegé. Du hast ihn damals gefunden. Das war nicht sehr nett von dir.“ Neuruppin glänzte im Schein des kleinen Feuerzeugs, das Brandenburg in seiner freien Hand hielt und gerade angemacht hatte, dann wieder ausmachte, wieder anmachte und dieses Spiel immer wieder wiederholte. Gilbert spuckte Brandenburg an, als er wieder näherkam. Albert ignorierte das vollkommen. „Und was willste jetzt mit mir machen, hm? Aufschlitzen und verbrennen?! Lächerlich, Kleiner! Trau dich nur, hopp, komm!!“ Albert schmunzelte vergnügt. „Das ist doch Unsinn, Gilbert.“ sagte er. Sein Messer befand sich wieder gefährlich nah an Gilberts Körper. Die Fesseln waren etwas gelöst dank Albilines Hilfe, und Gilbert war endlich fähig, seine Hände zu befreien und Albert eine Faust mitten in das Gesicht zu rammen. Er grinste breit. „Endlich hältst du deine Fresse!“ rief er Albert wenige Milimeter von seinen Wangen entfernt zu. Er holte zu einem erneuten Schlag aus, wurde aber von Neuruppin aufgehalten, das sich tief in seine Haut grub und ein Stückchen Fleisch mit hinausbrach, als Albert – noch immer die Ruhe selbst – es wieder hinauszog. Er hatte sogar angefangen, ein wenig zu summen. Es war ein sehr unangenehmes, grässlich verzerrt klingendes Lied. Gilbert hob die unverletzte Hand und konnte wieder einen Treffer landen; die beiden fielen unsanft zu Boden, Albert befand sich unter Gilbert und aus der Nase von Brandenburg spritzte etwas Blut, als Gilberts harte Faust sie traf. Das schien den Wahnsinnigen nur noch mehr zu amüsieren. Er rammte Neuruppin in Gilberts Schulter, woraufhin dieser ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen zu hören ließ, aber gar nicht daran dachte, aufzuhören, sondern immer weiter auf Albert einschlug. Bis Albert nicht mehr summte, sondern leise pfiff. Das Tropfen aus der Ecke hörte urplötzlich auf. Etwas schlappte über den Boden in ihre Richtung. Seinem Instinkt folgend sprang Gilbert auf und auch Albert stand schwerfällig wieder auf. Die schwache Glühbirne hatte angefangen zu flackern, aber ihr Schein war noch stetig genug, um rote Haare und eine kleine, kränkelnde Topfpflanze zu erhellen. Scheiße. Nicht Bernie. Nicht Bernie, das Monster. Das war das Tropfen. Kein Wasser. Sondern Speichel. Und auch jetzt zog dieses Wesen, mehr Tier denn Mensch, eine Sabberspur hinter sich her. Aber Gilbert Beilschmidt war niemand, der Angst hatte vor so einem kleinen, mutierten Viech. Er trat nach Bernie. Bernie schien das nichts auszumachen. Albert näherte sich Gilbert von hinten an und zog zwei süße kleine Puschelöhrchen aus seinen Hosentaschen, die er Gilbert auf den Kopf setzte. Bernies Augen fingen an zu leuchten. Albert entfernte sich vorsichtig wieder und berührte die Spitze von Neuruppin sanft mit seinem Zeigefinger. Eine dickflüssige Blutspur sickerte vom Finger über seine Hand und mit aufblitzenden Augen blickte er die rote Flüssigkeit an, als hätte er Öl gefunden. Das machte Spaß. Das könnte er den ganzen Tag machen. Die Tür wurde aufgerissen und helles Licht fiel hinein in den kleinen Raum. Die donnernde Stimme von Ludwig erstickte alle anderen Geräusche. „SCHLUSS, SOFORT!!“ brüllte er und hatte damit die Aufmerksamkeit aller anwesenden Personen sicher. Bernie winselte leise, aber das hörte man nicht sehr gut, denn er hatte seine Zähne im saftigen Fleisch von Gilberts Arm vergraben und versuchte, ein bisschen Muskel daraus herauszuziehen. Mjam. Lecker Muskel. Er blieb allerdings erfolglos. Albert ging mit offenen Armen auf Deutschland zu und umarmte ihn. Neuruppin grub sich tief in Ludwigs rechtes Schulterblatt. „Wie schön, dich zu sehen! Bist du hier, um mit deinem Bruder zu sterben? Rührend. Rührend, nicht wahr, Bernie?!“ Bernie gab ein undeutliches Geräusch von sich und wurde von Gilbert geschlagen, hielt aber weiter am Arm fest. „Scheiße, Westen!!“ Gilbert bemerkte gar nicht mehr, dass Bernie ihn für einen Hund hielt und versuchte, ihn aufzufressen, sondern er bemerkte nur noch das Blut, das aus Ludwigs Schulter spritzte. Aber Deutschland hatte schon Schlimmeres durchgemacht. Viel, viel Schlimmeres. Er nahm Alberts Arm und verdrehte ihn, bis der Knochen ein lautes Knacken von sich gab. Bernie winselte wieder und hielt sich reflexartig die Ohren zu – die Chance für Gilbert, ihm richtig auf die Fresse zu geben und ihn von sich loszerren zu können. Er sprang auf zu Albert und Ludwig und packte das verfluchte Messer. Hinter Deutschland tauchten alle anderen Bundesländer und Teile von Bundesländern auf. Alle waren gekommen. Man hatte Preußen zu retten. Selbst Süddeutschland war vollständig erschienen, selbst das kleine Saarland, selbst Thüringen, selbst Hessen. Alle waren da. Ludwigs Blick war streng. „Brandenburg, du musst lernen, dich zusammenzureißen.“ Brandenburgs Lächeln war noch immer schief. Er hatte zwar Neuruppin verloren, aber mit einer einzigen Bewegung kniete er sich nach unten und ließ das alte, morsche Holz mit dem Feuerzeug in seiner gesunden Hand anbrennen. Sofort ging die Hütte in Flammen auf, Albert versteckte sich im Verstand von Brandenburg und zum Vorschein kam Albiline. Sie verzog ihr Gesicht und blickte Gilbert schuldbewusst an, aber der bemerkte das gar nicht, denn er und Ludwig waren damit beschäftigt, Thüringen hochzuheben, der das Bewusstsein verloren hatte und ihn aus dem Flammeninferno hinauszuschaffen. Wenige Meter außerhalb der Hütte brach man zusammen. Albiline saß ein paar Meter von Gilbert entfernt, dessen Wangen gerade von seinem jüngeren Bruder desinfiziert wurden. Sie nuschelte etwas Unverständliches, was sich verdächtig nach einer Entschuldigung anhörte. Gilbert blickte kurz zu ihr hinüber, und sie floh, sodass endlich Albrecht wieder die Kontrolle über seinen Körper zurückerlangen konnte. Er hielt sich den Kopf, als hätte er Kopfweh. Bernd tätschelte das Blatt auf seinem Kopf, das angefangen hatte, traurig zu welken. „Ey, Blödi.“ Albrecht schaute auf zu Gilbert, der ein wenig grinste. „Lass den Spinner nie mehr raus.“ „Ich versuche es...“ „Ok, dann ist gut!“ Gilbert wandte sich ab und ging mit Ludwig und den restlichen Bundesländern in Richtung Sonnenaufgang hinfort. Nur Hessen und Berlin warfen Brandenburg und Thüringen noch einen kurzen Blick zu, aber auch sie wurden schnell vom aufkommenden gleißenden Sonnenlicht verschluckt. Albrecht sah Bernd an. „Tschuldige, dass er dich da mitreingezogen hat...“ Bernd erwiderte den Blick böse, wunk dann aber ab. Er stand auf und wankte davon. Alles tat ihm weh. Albrecht blieb allein sitzen. Hier war er nicht zuhause. Hier war Albert zuhause. Albilines Zuhause war mit seinem jüngeren Bruder fortgegangen. Aber Albrecht, Albrecht wollte nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)