Papierherz von Ur (Bleistiftspuren bleiben) ================================================================================ Kapitel 19: Familie selbst gewählt ---------------------------------- So, hier melde ich mich mit dem nächsten Kapitel. Es ist zwar wieder recht kurz, aber was darin passiert, war mir sehr wichtig. Ich wünsche also viel Spaß beim Lesen und bedanke mich wie immer für all die lieben Kommentare zum letzten Kapitel! Liebe Grüße :) ________________________ Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er die ganze Nacht an Koljas Bett gesessen. Aber Schwester Anna war resolut, wenn es darum ging, dass Jannis noch Bettruhe brauchte. Ihn interessierte das herzlich wenig, immerhin hatte er lediglich Kopfschmerzen und einen gebrochenen Arm. Abgesehen von den blauen Flecken und Kratzern am Rest seines Körpers. Marek hatte die Erlaubnis bekommen, im Krankenhaus zu übernachten. Jannis hatte keine Ahnung, wie er das angestellt hatte, aber Marek hatte sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, dass er seinen besten Freund nicht allein lassen wollte. Jannis wollte ihm danken und ihn fragen, was nun zwischen ihm und Sebastian war. Aber er konnte an nichts anderes denken als an Kolja. Als er am sechsundzwanzigsten seine Visite hinter sich hatte, kam Marek zu ihm ins Zimmer geschlüpft und setzte sich auf die Bettkante. Er sah aus, als wollte er dringend etwas loswerden. »Was gibt’s?«, fragte Jannis matt. Wenn es nichts über Koljas Zustand war, dann interessierte es ihn ohnehin nicht wirklich. »Deine Eltern sind da… ich dachte nur, ich sag dir schnell Bescheid, bevor sie-« Die Tür ging auf und Schwester Anna wuselte herein. Gefolgt von Herrn und Frau Hofstetter. Marek sackte ein wenig in sich zusammen und er schien ziemlich resigniert zu sein. Jannis starrte seine Eltern einen Augenblick lang an, dann wandte er den Blick zur Decke. »Ich werd dann mal…«, murmelte Marek und wollte von Jannis’ Bett aufstehen, doch Jannis streckte seinen unverletzten Arm aus und hielt ihn fest. »Du musst nicht gehen«, sagte er. Schwester Anna verschwand aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. »Wie geht es dir?«, sagte seine Mutter, doch ihre Stimme klang weniger besorgt, als vorwurfsvoll. Jannis wollte die beiden nicht sehen und schon gar nicht mit ihnen sprechen. Trotzdem wandte er den Blick wieder zu ihnen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Marek eindeutig so dreinblickte, als würde er am liebsten im Boden versinken. Seine Mutter trug ihre Haare wie so oft in einem strengen Knoten. Die Falten um ihren Mund sahen aus, als hätte sie jahrelang nicht gelacht. Sein Vater war frühzeitig ergraut, er trug eine rahmenlose Brille und einen Anzug, als würde er den Bürgermeister besuchen und nicht seinen eigenen Sohn. »Gut«, sagte Jannis knapp. Sein Vater blickte sich suchend nach einem Stuhl um und zog ihn heran, ehe er sich setzte. Im Gegensatz zu Marek und Sebastian, die immer ganz dicht neben Jannis’ Bett saßen, war zwischen seinem Vater und ihm nun fast ein Meter Platz. Marek starrte interessiert auf die piependen Gerätschaften neben Jannis’ Bett. Seine Mutter wollte gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als es leise klopfte und sich die Tür öffnete. Herr Reichenau kam in seinem Rollstuhl in den Raum gefahren. »Oh, Verzeihung«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, »ich wollte nicht stören.« »Sie stören auch nicht. Niemand stört hier«, brummte Jannis und sah, wie sein Vater eine Augenbraue hob. »Ich bin Koljas Vater«, stellte Herr Reichenau sich vor und schüttelte Jannis’ Eltern die Hand. »Kolja?«, erwiderte seine Mutter an Jannis gewandt. »Der Freund, der mich fahren wollte«, erklärte Jannis abweisend. Er setzte sich auf und ignorierte seine immer noch anhaltenden Kopfschmerzen. »Gibt’s was Neues?«, fragte er Herrn Reichenau und war sich nicht sicher, ob er eine negative Antwort ertragen konnte. Er schlug die Bettdecke zurück und setzte sich neben Marek. »Deswegen bin ich gekommen«, sagte Koljas Vater und lächelte, »er hat die Augen aufgemacht.« Jannis’ Herz machte einen überdimensionalen Sprung und er stand sofort auf. »Ich muss weg«, sagte er ohne seine Eltern anzusehen und hastete an Herrn Reichenau und Marek vorbei aus dem Zimmer. »Herr Hofstetter! Sie sollten in Ihrem Zustand nicht so schnell-« Jannis ignorierte Schwester Annas Stimme und das Stechen in seinem Arm. Marit saß an Koljas Bett, als Jannis die Tür aufriss. Ihm war ziemlich schwindelig, doch das machte nichts. Er trat neben Marit ans Bett und schaute hinunter in das blasse Gesicht von Kolja, dessen blaue Augen ihn müde, aber unverändert funkelnd ansahen. »Hey«, krächzte Jannis und er spürte zu seiner grenzenlosen Verlegenheit, wie seine Augenwinkel schon wieder brannten. Er war wach. Kolja war aufgewacht. »Hallo«, nuschelte Kolja. Seine Stimme klang brüchig, weil er sie tagelang nicht benutzt hatte. Marits strahlte und ihre Augen waren ebenfalls feucht. Sie hielt Koljas Hand und sah ihren großen Bruder an wie das schönste Geschenk der Welt. Dumpf kroch in Jannis der Gedanke hoch, dass Geschwister etwas Tolles sein mussten. »Meine Eltern sind grade zu Besuch gekommen«, sagte er völlig von der Rolle. Eigentlich wollte er frage, wie es Kolja ging, ob er ihm böse war, – natürlich musste er das sein – ob er ihm verzeihen konnte… aber all diese Fragen blieben ihm im Hals stecken. »Und was machst du dann hier bei mir?«, fragte Kolja lächelnd. Er schloss die Augen und sah unglaublich erschöpft aus. »Du bist…« Wichtiger, hatte er sagen wollen. Sein Gesicht wurde heiß vor Verlegenheit, als ihm klar wurde, wie wichtig Kolja war. »Weil du aufgewacht bist… ich wollte nur sehen, wie es dir geht…«, meinte er schließlich matt. Er spürte Marits Augen auf sich ruhen, doch er wagte es kaum, sie anzusehen. Vielleicht gab sie ihm doch die Schuld? Er wusste es nicht. Koljas Lächeln wurde ein bisschen breiter. »Das ist nett«, nuschelte er und Jannis wusste, dass er schon wieder am Einschlafen war, »wenn ich richtig wach bin, kannst du mir erzählen, was sie gesagt haben.« Jannis seufzte leise und betrachtete Koljas Gesicht noch einen Moment lang. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wusste nicht, was er fühlen sollte. Natürlich war er erleichtert. Aber wenn Kolja auch Schwierigkeiten hatte, sich zu erinnern und ihm dann jemand sagte, dass es Jannis’ Schuld gewesen war? Würde er ihn dann noch so anlächeln, wie er es gerade getan hatte? Jannis hob kurz die unverletzte Hand, um sich wieder von Marit zu verabschieden, dann ging er langsam und mit hämmerndem Herzen und pochenden Schläfen zurück in Richtung seines Zimmers. Schon am Anfang des Ganges hörte er laute Stimmen. »…wegen eines Geschäftsessens?« Jannis erkannte die aufgebrachte Stimme von Koljas Vater. Jannis hörte Wortfetzen wie »…geht Sie nichts an…« und »…Ihr Sohn…«. Er atmete einmal tief durch, dann stieß er seine Zimmertür auf. Sein Vater war vom Stuhl aufgestanden und seine Mutter funkelte Herrn Reichenau empört von oben herab an. Marek stand neben Koljas Vater und auch er wirkte zorniger als Jannis ihn je gesehen hatte. »Was ist denn hier los?«, wollte er wissen. Er konnte es sich ungefähr vorstellen. Seine Eltern hatten durchblicken lassen, dass sein Unfall unpassend gekommen war und dass sie das Geschäftsessen nicht hatten ausfallen lassen können. Das hatte Koljas Vater und Marek sicherlich wütend gemacht. Und nun standen sie hier. »Ihr seid hier in einem Krankenhaus«, sagte er kühl zu seiner Mutter, deren Augen nun zu ihm herüber blitzten. »Das ist mir durchaus bewusst!«, schnappte seine Mutter, »Aber ich muss mich nicht belehren lassen, wie ich-« »Es reicht jetzt!« Jannis blinzelte verwundert und wandte sich um. Sein bester Freund sah aus, als würde er sich jeden Moment auf Jannis’ Eltern stürzen. Jannis hatte ihn noch nie so gesehen. Seine Fäuste waren geballt, seine Augen sprühten Funken. Marek war normalerweise durch nichts aus der Ruhe zu bringen, geschweige denn, dass er jemals laut wurde. Doch da stand er nun und herrschte Jannis’ Eltern an, die vollkommen verdutzt schienen, dass so ein lotterig gekleideter, junger Mann es wagte, ihnen den Mund zu verbieten. »Wieso sind Sie überhaupt hergekommen? Um Jannis Vorwürfe zu machen, weil er im Krankenhaus liegt? Haben Sie sich schon mal reden gehört? Wenn ich Sie ansehe, bin ich froh, keine Eltern zu haben!« Und mit diesen Worten stürmte er aus dem Zimmer und Jannis sah ihm mit einem flauen Gefühl im Magen nach. Dann wandte er sich seinen Eltern zu. »Ich denke, ihr solltet jetzt gehen«, meinte er mit kalter Stimme. Er hätte nie gedacht, dass er es einmal schaffen würde, so mit seinen Eltern zu reden. Und das von Angesicht zu Angesicht und nicht nur übers Telefon. »Und ich lege keinerlei Wert auf weitere Besuche von euch«, fügte er hinzu. Herr Reichenau sah ziemlich betroffen aus, doch Jannis achtete kaum auf ihn. Er und sein Vater starrten sich beinahe zehn Sekunden lang schweigend an, dann rauschte Herr Hofstetter aus dem Zimmer und seine Frau folgte ihm, ohne Koljas Vater oder Jannis eines Blickes zu würdigen. »Das tut mir Leid«, sagte Herr Reichenau und Jannis sah ihn erstaunt an. »Was tut Ihnen Leid?«, wollte er verwirrt wissen. »Ich habe sie gefragt, wieso man sie erst heute benachrichtigt hat und da sagten sie, man hätte es ihnen gestern schon erzählt, aber sie wären beschäftigt gewesen…« Er brach ab und sah einigermaßen verstimmt aus. Jannis schaffte ein schiefes Lächeln. »Ja, Truthahnessen bei Tante Anita. Jeden ersten Weihnachtsfeiertag«, erklärte er und fühlte sich merkwürdig bei dem Gedanken, dass Herr Reichenau sich für ihn bei seinen Eltern eingesetzt hatte. »Entschuldigen Sie mich. Ich werde mal nach Marek sehen«, murmelte Jannis dann, um das Thema nicht weiter zu vertiefen. Er verließ das Zimmer und schob den Gedanken an seine Eltern beiseite. Er sollte sauer sein, vielleicht enttäuscht oder traurig. Aber er fühlte rein gar nichts. Es störte ihn nicht, dass sie nicht sofort gekommen waren. Er hatte nichts anderes von ihnen erwartet. Jannis fand Marek auf der Terrasse der Caféteria. »Tut mir Leid«, murmelte er leise und starrte hinauf in den grauen Himmel. Es war eisig kalt hier draußen, die Luft war feucht und der Asphalt noch nass. Es musste geregnet haben. »Was tut dir denn Leid? Dass du die Wahrheit gesagt hast?«, fragte Jannis und zog Marek auf die Beine. Marek seufzte leise. »Ach, ich weiß nicht. Aber es hat mich so wütend gemacht. Ich bin fast gestorben vor Sorge und die beiden essen Truthahn und trinken Punsch. So sollte Familie nicht sein«, meinte er, zögerte einen Moment lang und umarmte Jannis dann behutsam. Jannis wusste, dass Marek Angst hatte ihm wehzutun. »Du bist ein Dummkopf«, murmelte Jannis und spürte, dass in ihm nichts anderes mehr als Freundschaft war, wenn Marek ihn umarmte. Er fragte sich, wann genau das passiert war. Wann war das alles verschwunden? »Du bist meine Familie. Ich dachte, dass du das weißt«, nuschelte er. Marek löste sich von ihm und sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. »Ja… man kann sich die Familie nicht aussuchen, in die man geboren wird«, sagte er nachdenklich und folgte Jannis nach drinnen. Ihm wurde ziemlich kalt draußen. »Aber ich bin froh, dass ich dich habe«, fügte er hinzu und Jannis musste lächeln. »Willst du noch mal nach Kolja sehen?« Jannis blinzelte und er spürte wie sein Herz bei der Erwähnung von Koljas Namen einen Satz machte. »Ja… schon gern«, murmelte Jannis peinlich berührt und Marek lächelte kaum merklich. »Wann gibst du zu, dass du ihn magst?«, erkundigte sich sein bester Freund, doch Jannis antwortete nur mit einem Brummen. Erstmal sollte Kolja wieder gesund werden, dann konnte Jannis sich immer noch darüber Gedanken machen, ob er ihn mochte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)