Papierherz von Ur (Bleistiftspuren bleiben) ================================================================================ Kapitel 9: Regen auf der Haut ----------------------------- Ich muss ehrlich sagen, ich liebe diese Kapitel. Die, die in der Vergangenheit spielen ;) Und genau mit so einem belästige ich euch jetzt wieder. Es geht nach Koljas dreistem Kuss mal wieder um Marek und Jannis ;) Viel Spaß damit! Liebe Grüße :) _________________________ Draußen regnete es. Er saß über sein Mathebuch gebeugt und tippte mit der Spitze seines Bleistifts auf das Blatt Papier, das vor ihm lag. Zwei Teilaufgaben hatte er bereits gelöst. Aber die dritte bereitete ihm Schwierigkeiten. Als es an der Tür klopfte, brummte er unwillig und runzelte die Stirn, als er die Fragestellung noch einmal durchlas. »Was machst du auf dem Boden?«, fragte die Stimme seiner Mutter ein wenig pikiert. »Mathehausaufgaben«, entgegnete er abwesend und schrieb nachdenklich die Formel auf das Blatt, von der er sich sicher war, dass er sie brauchen würde. Seine Mutter schwieg einen Moment und Jannis hoffte beinahe, dass sie wieder gehen würde. Natürlich tat sie ihm den Gefallen nicht. »Wieso machst du deine Hausaufgaben auf dem Boden?«, wollte sie wissen. Jannis verkniff es sich, die Augen zu verdrehen und blickte auf. Seine Mutter trug eines ihrer chicen Kostüme und hatte ihre Haare hochgesteckt. Wenn er Glück hatte, gingen seine Eltern aus. Wenn nicht, dann bekamen sie Gäste und er musste sich wieder einmal verkleiden und den Mustersohn spielen. »Weil ich mich hier besser konzentrieren kann«, gab er zur Antwort und legte den Bleistift unwillig beiseite. Seine Mutter hob eine ihrer nachgezogenen Augenbrauen, schien aber nicht weiter auf diese Bodensitzsache eingehen zu wollen. »Wir haben heute Abend Geschäftsessen. Herr und Frau Clemens kommen wieder mit ihrer Tochter her, du wirst dich dann ein bisschen um sie kümmern, nicht wahr?« Jannis stöhnte innerlich. Sie waren ja in einem Alter. Deswegen musste er sich mit Jessika beschäftigen. Und das musste er jedes Mal, wenn Herr und Frau Clemens zu ihnen kamen. In letzter Zeit passierte das häufiger und jedes Mal brachten sie ihre Tochter mit. Jannis konnte nur vermuten, dass ihre und seine Eltern sich irgendetwas daraus erhofften. Etwas, das dann in fünf oder sechs Jahren zu einer Verlobung und später zu Enkelkindern führen würde. Aber Jannis hatte keinerlei Interesse an Jessika. Sie war ganz nett, erträglicher als manch anderes Mädchen, aber er wollte sich nicht mit ihr anfreunden und schon gar nicht wollte er mehr von ihr. Sie schien ihn zu mögen und manchmal setzte sie sich etwas näher zu ihm, als es eigentlich nötig gewesen wäre, aber Jannis wusste schon seit geraumer Zeit, dass er und Mädchen einfach nicht füreinander geschaffen waren. »Von mir aus«, sagte er resigniert, griff wieder nach seinem Bleistift und warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach halb zwei und in genau einer Stunde hatte er Mathenachhilfe. Die Nachhilfestunden waren seine Lichtblicke in diesem Haus. Eigentlich überhaupt in seinem ganzen Leben. Er freute sich auf diese Stunden mit Marek, er genoss sie genauso sehr wie stundenlanges Lesen in seinen geliebten Büchern. Seine Leistungen hatten sich drastisch verbessert, was sein Vater jedem erzählte, den es eigentlich nicht interessierte. Endlich hatte er einen Sohn, der gut in Mathe war. Und mit seinen Mathenoten hatten sich merkwürdigerweise auch die anderen Naturwissenschaftsnoten verbessert. Es war, als hätte Marek eine gewisse Barriere in ihm eingerissen. Er hatte jetzt nicht mehr das Gefühl, für seine Eltern gut sein zu müssen. Wenn er Marek erzählte, dass er eine gute Arbeit geschrieben hatte, dann umarmte er ihn meistens. Und so lächerlich es auch sein mochte, allein dafür strengte Jannis sich an. Dass seine Eltern plötzlich unglaublich stolz auf ihn waren und er ihr Vorzeigesohn geworden war, interessierte ihn kein bisschen. Der einzige Mensch, der ihn interessierte, war Marek. Er lebte nur noch für seine Bücher und für die Stunden mit Marek. Seine Woche gliederte sich nach den Nachhilfestunden, er zählte jedes Mal die Tage, bis es wieder so weit war. Manchmal erfand er irgendwelche Tests, nur damit sie einmal zusätzlich üben konnten. Vor jeder Arbeit lernten sie jeden Tag zusammen, deswegen freute er sich richtig auf die Klausuren. Dunkel fragte er sich, ob er nicht regelrecht besessen von Mathe und Marek geworden war. Aber was machte das schon? Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Jannis nicht mehr das Gefühl, nur für seine Eltern zu funktionieren. Zum ersten Mal hatte er jemanden, an den er sich wenden konnte. Zum allerersten Mal in seinem Leben war er nicht allein. Er hatte einen Freund gefunden. Und es freute ihn jedes Mal, wenn Marek ihm zu verstehen gab, dass es ihm genauso ging. Als es um halb drei klingelte, hatte er die vertrackte dritte Teilaufgabe endlich gelöst und er spurtete aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und durch den Eingangsbereich, ehe er die Tür öffnete. Da stand Marek, die Haare wie immer zerzaust, sein verträumtes Lächeln auf den Lippen und in den uralten Klamotten, die er jedes Mal trug. Er war pitschnass. »Hast du keinen Regenschirm?«, fragte Jannis entgeistert, während Marek eintrat und den ganzen Steinboden voll tropfte. »Ich mag Regen. Auch wenn er traurig ist. Stell dir vor, der Himmel weint«, meinte Marek scheinbar bestens gelaunt und zog sich die Schuhe aus, ehe er die Treppe hinauf huschte, um in Jannis’ Zimmer zu verschwinden. Jannis folgte ihm und er spürte, wie sein Herz aufgeregt hüpfte. Es war jedes Mal das gleiche. Er war fünfzehn, er sollte sich für Mädchen interessieren. Stattdessen bekam er Herzklopfen, wenn er Marek nur ansah. Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht normal war. »Oh, du hast sie schon ganz allein gerechnet«, sagte Marek zufrieden und legte sich klatschnass auf seinen Dielenboden, wo er interessiert das Stück Papier zu sich heran zog und die Aufgaben überflog. »Ja… ich dachte, dann können wir noch was Neues machen«, sagte Jannis ein wenig verlegen und setzte sich Marek gegenüber. Eine Sache, die wunderbar war, wenn Marek hier bei ihm war: Seine Eltern kamen nie herein. Sie fanden Marek merkwürdig und Jannis wusste, dass der einzige Grund, wieso sie keinen anderen Nachhilfelehrer anheuerten, der war, dass sich seine Leistungen dermaßen verbessert hatten. »Bist ja richtig eifrig«, sagte Marek gut gelaunt und strich sich die nassen Haare aus der Stirn. Jannis spürte, wie ihm warm wurde. Er räusperte sich. »Ist es denn richtig?«, wollte er wissen. Marek sah zu ihm auf. Seine dunklen Augen funkelten immer so. Er dachte an all die Bücher, in denen Augen mit Edelsteinen verglichen wurden. Eins war sicher: Mareks Augen waren sehr viel schöner als jeder Edelstein, den er je gesehen hatte. »Vielleicht«, sagte Marek und schmunzelte amüsiert. »Komm, wir stellen uns auf den Balkon«, sagte er dann, stand auf und ging wirklich hinüber zu Jannis’ Balkontür, um sie zu öffnen und nach draußen zu treten. Auf Socken. »Aber es regnet!«, rief Jannis und hechtete zu Marek hinüber, aber es war schon zu spät. Marek war aus seinen Socken geschlüpft und barfuß in den Wolkenbruch getreten. Jannis seufzte ergeben, zog sich ebenfalls die Socken aus, nahm seine Brille ab und folgte ihm. Der Regen war nicht besonders kalt, trotzdem schauderte Jannis, als er ihm den Nacken hinunter rann und seine Kleider durchweichte. Er sah hinüber zu Marek, der das Gesicht dem Regen entgegen hielt und die Augen geschlossen hatte. Jannis atmete tief ein und aus und wandte rasch den Blick ab. Sein Herz hämmerte heftig gegen seine Rippen. Wo hatte er sich da wieder hinein geritten? Als Marek die Augen schließlich öffnete, drehte er den Kopf zu Jannis herum und sah ihn aufmerksam an. Dann streckte er die rechte Hand aus und wischte ein paar Regentropfen aus Jannis’ Gesicht. »Stell dir mal vor…«, sagte er leise und wandte sich nun ganz zu ihm um, »stell dir vor, die Regentropfen sind Fingerspitzen.« Jannis spürte, wie sein Herz noch einen Takt schneller schlug, als Marek sehr sorgfältig einige Linien nachfuhr, die die Regentropfen auf seiner Haut hinterlassen hatten. Marek hatte eine viel zu blühende Fantasie. Und Jannis’ Haut brannte im Regen, weil plötzlich jeder Tropfen einer von Mareks Fingern war. Er spürte kaum, wie er seine Hand hob und ganz sachte, als wäre Marek aus Glas und der Moment aus Porzellan, über Mareks Wange strich. Sie waren beide vollkommen vom Regen durchweicht. »Und stell dir mal vor«, sagte Marek noch leiser und kam einen Schritt näher. Es passte kaum noch ein Stück Papier zwischen sie, »stell dir vor, jeder Regentropfen ist ein Kuss.« Jannis konnte nicht mehr denken. Wenn er sich das vorstellte, dann würde er sicherlich gleich explodieren. Sein Herz jedenfalls war kurz davor zu zerspringen. Und dann küsste Marek ihn. Einfach so, mitten auf den Mund und seine Lippen brannten, als stünde er in Flammen. Er war noch nie geküsst worden. Und er war sich sicher, dass er nie wieder geküsst werden wollte, nur damit die Erinnerung an Mareks Lippen immer und immer auf seinem Mund haften blieb. Marek kam ihm noch ein Stück näher, nahm Jannis’ Gesicht behutsam in beide Hände und nichts auf der Welt hatte sich jemals so gut angefühlt. Er dachte an nichts mehr, nur noch an Marek. Und als er seine Lippen unsicher und garantiert schrecklich unbeholfen gegen die seines besten Freundes bewegte, da fragte er sich erneut, wo er sich nur wieder hinein geritten hatte. Aber er konnte Marek nicht loslassen. Also zog er ihn näher. Und hielt ihn fest. Und Marek presste seine Lippen auf seinen Mund und ließ ihn innerlich aufkeuchen. Der Regen fühlte sich heiß auf seiner Haut an und jeder Tropfen war ein Kuss und eine Berührung von Marek. Sein Papierherz stand in Flammen. Er würde das nie wieder vergessen. Diesen Kuss. Alle Küsse, die er hatte, gehörten Marek. Und es fühlte sich so an, als würden sie ihm immer gehören. Als wäre da kein Platz für andere Küsse. Und als würde da niemals Platz für andere Küsse sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)