Breaking Marble von Himi_und_Nami ================================================================================ Kapitel 5: l'obscurité ---------------------- Es war die Entscheidung, die über Rukis Leben oder sein Sterben entscheiden sollte. Wenn er zusehen müsste, wie der Mann, den er liebte, von einem anderen vollkommen eingenommen werden würde, könnte er den heutigen Tag noch überleben. Die Gewissheit dessen, dass der Mann, den er doch liebte, ihn nicht wieder liebte, ließ die Seile um seinen Körper enger werden, sodass er befürchtete, einige Gliedmaßen – und auch sein Herz – könnten absterben. Aber wenn Uruha, der Mann, den er liebte, sich dafür entscheiden würde, lieber zusammen mit ihm zu sterben als sich einem Fremden hinzugeben – war das nicht ein viel schönerer Beweis ihrer innigen Freundschaft ...? Uruha blinzelte nur, dann schob er ohne Angst und ohne Gefühl Todokumi mitsamt dem Lauf der Waffe von sich, ihm wurde gewährt. Rukis Herzschlag beschleunigte, als der Ältere auf ihn zukam, so schön wie er immer gewesen war, doch angeschlagen und verweint. Seine Atmung setzte aus, wie Uruha seine Hände an seine Wangen legte und seine Lippen an seine Stirn setzte. „Sieh nicht hin, Takanori ... bitte ... tu dir das nicht an ...“ Rukis gewellte Haare schwangen energisch hin und her und durch seinen von Tränen verklärten Blick sah er die vollen Lippen, die sich zu einem mütterlichen Lächeln verzogen. In den Augen seines Freundes erkannte er die Angst, die er Todokumi nicht zeigen wollte. Seine Sorge, Todokumi nicht überzeugen und befriedigen zu können, um Ruki frei zu lassen. Die Freundschaft gegenüber dem Sänger, die dieser um keinen Preis sehen wollte ... Wie sehr wünschte er sich jetzt die Minuten zurück, als er noch vorgestern Nacht in der Wohnung des Gitarristen gewesen war, und den Kupferblonden in seinen Armen hatte halten und streicheln können. Jetzt war das wie ein weit entfernter Traum, der wie eine Seifenblase auf dem Kreuz einer Kirchturmspitze zerplatzte. Ihn je wieder umarmen, mit ihm auf der Bühne rumzualbern. Ihn heimlich während eines Fotoshootings anzuhimmeln, während sich Uruha so elegant geschmeidig vor der Kamera bewegte und sobald der Nächste dran war über ein Verlängerungskabel zu stolpern. All diese kleinen Dinge, die Ruki in seinem Alltag mit ihm so liebte ... all das war verloren gewesen, sobald Ruki die Wohnung allein betreten hatte. Da war das Urteil gesprochen gewesen. Es musste bestraft werden, wenn man vor Sehnsucht in die Wohnung eines geliebten Menschen einbrach und sich wünschte, seinen Körper, seine Lippen, seine Stimme ganz für sich haben zu können. Der Kaffee in der Küche mit dem bisschen Zucker in dem braunen Wasser. Das nach Bvlgari riechende Badetuch im Schlafzimmer, in dem, wenn Ruki nur stark daran glaubte, noch immer Uruhas Nachtduft lag. Was war nur geschehen? War Uruha wirklich in diesem Auto umgekommen? Hatte er sich retten können? Oder hatte Reita Recht behalten und jemand Anderes hatte den Wagen gestohlen und ins Wasser gesetzt? Mittlerweile war Aois Nachricht gekommen, dass es dem Leadgitarristen gut ging. Den GazettE-Sänger verließ alle Kraft und er sank vor Glück auf die Bettkante, das Gesicht in dem Badetuch seines Angebeteten vergraben, seine Tränen vor der Wohnung versteckend. Dann war er selig lächelnd zur Seite gekippt und ruhigen Gewissens eingeschlafen. Dann hatte es geklappert. Die Wohnungstür! Jemand bearbeitete das Schloss mit einem anderen Stück Metall. Einem Dietrich? Wer, wenn nicht die Polizei? Es war nur eine Person. Der Schwere der Schritte nach zu urteilen, ein Mann an die siebzig bis achtzig Kilogramm. Ruki hatte ein Gehör dafür ... so hörte es sich zum Beispiel an, wenn Tora wütend war und durch die Flure stapfte. Der kleine Sänger lugte unauffällig in den Flur, wo er einem Hünen gegenüber stand, bei dem es ihm eiskalt über den Rücken lief. Er war größer als Tora! Muskulöser und mit Abstand nicht gut gelaunt. In einem Geistesblitz griff Ruki nach dem Messer unter Uruhas Kissen – und da war er auch schon überwältigt gewesen. Die Minuten, in denen er teilweise nur Meter von Uruha entfernt gewesen war, während dieser weitgehend unbemerkt in seine eigene Wohnung eingedrungen war. Er hatte gehört, wie er ein paar Mal überrascht nach Luft schnappte. Und auch den Schrecken in seiner Stimme, wie er Todokumis Text noch mal laut für sich gelesen hatte, bevor ebendieser ihn aus der Wohnung zerrte und die Tür so laut zuschlug, dass Uruha ihn gehört haben musste! Und jetzt waren sie in dieser Situation. Wusste überhaupt jemand, dass sie hier festsaßen und bedroht wurden? Dass Uruha in Gefahr war, jeden Moment bedrängt und vergewaltigt zu werden? Konnte jemand ahnen, dass sie hier waren, in einem alten Bombenbunker irgendwo in der Stadt versteckt? Ruki weinte vor Verzweiflung, obwohl er es nicht gern zugab, sich schutz- und wehrlos zu fühlen. Er konnte sich nichtmals über die Wangen wischen, um die Feuchtigkeit zu beseitigen. Die Schmach und die Schande, die er fühlte. Ihm wurde mehr und mehr klar, dass nicht Uruhas Zurückweisung das Schlimmste war, was ihm hätte passieren können, nein ... es war seine Schuld, dass der Gitarrist in Todokumis Hände gefallen war! „Es tut mir so leid“, schluchzte Ruki plötzlich laut auf, dass Uruha zusammen zuckte und sich noch mal zu ihm umdrehte. Er lächelte immer noch, eine Träne kämpfte sich aus seinem Augenwinkel, bevor er die Schultern straffte und sich Todokumi zuwandte. „Es ist okay, Ruki.“ „Nein, ist es nicht! Ich bin Schuld daran, dass wir hier in der Klemme stecken! Ich will nicht, dass du dafür büßen musst ...“ Todokumi horchte auf und grinste allwissend, während er auf Ruki zuging und dabei seine Stimme erhob. „Also willst du deinen Arsch hinhalten, ja, Ruki-san? Willst du dich mir anbieten, um deinen Geliebten zu schützen? Ist er dir so viel wert? Ich verrate dir was ...“ Er war gerade dabei, an Uruha vorbeizugehen, da blieb er stehen. Und das, was als anvertrautes Geheimnis für den Jüngsten gedacht war, hallte dem Betroffenen durch Mark und Bein und dröhnte ihm in diesem Raum noch Hunderte Male in den Ohren. „In Wahrheit sehnt er sich nach mir ... in Wahrheit will er seit Jahren, dass ich ihn besitze ... dass er nur noch mich spürt und den Rest dieser jämmerlichen Welt vergessen kann ...“ „Hör nicht auf ihn, Ruki, das stimmt nicht!“, warf Uruha ein und riss Todokumi von seinem Freund weg. „Er ist es doch gar nicht, den du willst! Hör auf, ihn zu quälen! Nimm mich, verdammt!“ Der Kupferblonde biss sich auf die Unterlippe, um seinen seelischen Schmerz zu unterdrücken. „Nimm mich endlich und lass ihn in Frieden ...“ „Is it your ... ist es dein größter Wunsch?“ Der Halbengländer kam seinem Opfer ganz nahe, bis diesem wieder richtig speiübel geworden war. Seine Lippen waren so nah, dass er Uruhas Ohr beim Sprechen berührte. „Dann tu, was ich dir sage ... Gehorche mir und dein Schatz wird es nicht bereuen!“ ~~~~~ Er konnte nichts sehen. In diesem Bunker war es absolut stockdunkel. Ein Streichholz oder ein Feuerzeug anzuzünden war ihm zu gefährlich. Wer wusste schon, ob hier unten irgendwelche Gas- oder Öl-Rohre defekt und undicht waren? Ein Funke könnte genügen und alles würde in die Luft fliegen. Stattdessen tastete er sich von Wand zu Wand, jede so kalt wie die nächste, jede so glitschig und feucht, dass es ihn ekelte und schauderte, wenn er etwas Neues berührte. Hier roch es schimmlig ... so wie Uruhas Haare gestern, als er ihn am Brunnen wiedergefunden und im Arm gehalten hatte. Da war wieder alles weitestgehend in Ordnung gewesen. Aoi hatte noch angenommen, dass sie zusammen zur Polizei gingen, dass sie gemeinsam gegen Todokumi arbeiteten. Dass sie Uruha gemeinsam von den Dornen des Strauchs befreiten ... jetzt war es noch viel schlimmer! Ruki war nun auch mit einbezogen – und augenscheinlich verletzt. Wie viel grausamer konnte die Welt noch werden? In seiner Hosentasche vibrierte es. Daran hatte er nicht gedacht! Sein Handy war an! Er könnte das Display als Lichtquelle nutzen und so durch dieses kleine Labyrinth kommen ... Kai wollte ihn erreichen und sich wahrscheinlich nach der Situation erkundigen. Aoi schüttelte für sich selbst den Kopf und schaltete das kleine Gerät ab. Die Gefahr, dass Kai oder Reita ihn aufspüren wollte und das GPRS oder einen ihrer Handy-Tracker dafür verwendeten, war einfach zu groß. Irgendwo hörte er Jemanden wimmern, aber er war sich nicht sicher, ob das Wirklichkeit war oder die größte Angst, die er hatte: Nicht rechtzeitig zu kommen, um Uruha vor allem Unheil zu retten ... ~~~~~ „You have to kiss me! Kiss my lips! Kiss my body like you wanted to do at our first sight!“ Küss meine Lippen! Küss meinen Körper ... Das verstand Uruha, aber er wollte nicht. Es widerte ihn an, den Mann vor sich zu küssen oder mit seinen Händen zu berühren. Es sollte noch viel abartiger kommen, wie er wusste ... In seiner Jugend war er neugierig und verliebt gewesen, da hatte er mit einem anderen Jungen rumgemacht ... selbst mit ihm hatte er nicht geschlafen. Jetzt sollte er es mit Jemandem tun, den er nicht liebte, den er nichtmals sympathisch fand. Wieso ... Uruha wurde herumgerissen, seine Lippen öffneten sich ungewollt und lautlos im Schmerz, ehe sie wieder mit einem feuchten Kuss verschlossen wurden, den er so schön des Öfteren erlebt hatte. So oft wie er mit Todokumi allein gewesen war. Sie waren nicht mehr allein. Der Gitarrist schämte sich vor Ruki und wollte es ihm ersparen zu sehen, wie Jemand anderes mit ihm schlief. Doch er war zu schwach, Todokumi zu groß und zu schwer, als dass er sich hätte gegen ihn wehren können. Schwere Hände legten sich voller Eifer und Inbrunst auf seinen Körper. Aois Hemd wurde ihm von den Schultern gerissen und grobe Finger schoben sich auf seinen Po unter die Jeans, die er sich von Aoi geliehen hatte. Aoi ... Er begann zu weinen. Es hätte alles nichts geholfen. Selbst wenn er bei ihm geblieben und seine Wärme genossen hätte, Ruki wäre immer noch in dieser Lage gewesen. Und dafür hasste Uruha sich. Er hasste sich dafür, dass er seine Freunde in Gefahr brachte. Seine Lippen bebten, während sich ein massiger Körper über ihn schob, ihn nach unten auf den Boden drückte, auf dem er schon gestern gelegen hatte. Dieser widerliche Schimmelgeruch stieg ihm wieder in die Nase. Er konzentrierte sich aber darauf, um nicht auf Todokumi achten zu müssen. Er hörte wie unter einen Käseglocke, wie der Reißverschluss geöffnet wurde. Wie das Material über seine Beine kratzte. Wie irgendwo in diesem Bunker das Wasser tropfte und die Wände anfeuchtete. Wie Ruki schluchzte und versuchte, sich zu befreien. Todokumi schob sich zwischen seine Beine. Uruha registrierte erleichtert, dass sie immer noch von Stoff getrennt waren. Dieser alkoholisierte Atem wurde ihm direkt unter die Nase geblasen, dass er sich schwor, falls er hier rauskam, nie wieder etwas anderes als ein bisschen Sake zu trinken ... „That Knife ...“, raunte der Kerl über ihm. „I saw it ... Ich habe es gesehen, dein Messer ... Deine Verteidigung, ha? Dein Rachefeldzug, dein Schutz ... Ich wollte dich nie verletzen, Kouyou“, flüsterte er beinahe zärtlich und strich ihm sanft über die Wange. Ein paar Mal strich er auf und ab. „Ich liebte dich doch, wusstest du das nicht? Und das tue ich immer noch ... Wolltest du mich töten?“ „Nein ...“, antwortete Uruha zitternd und die Lampe, die durch den kleinen Stromgenerator betrieben wurde, sorgte dafür, dass er in das Gesicht seines Peinigers sehen konnte. Es war markant, aber weicher als sonst. Als sei es in eine Wattehülle gepackt. Doch dann funkelten seine Augen auf, gefährlich und animalisch. Diabolisch. „Du solltest mich nie anlügen ... Ich liebe dich, aber ... in einer Sache kannst du dir sicher sein ...“ Todokumi stützte sich ein wenig auf, damit er Uruha ins Gesicht sehen konnte. Seine Hand wanderte an Uruhas Hals, dass dessen Herzschlag von jetzt auf gleich unheimlich beschleunigte. Er begann zuzudrücken. „Du kannst niemanden töten ... nichtmals mich ...“ „Aber ich kann es“, dröhnte es über Todokumis Kopf und eine Klinge blitzte an seinem auf- und abhüpfenden Adamsapfel. Aoi hielt ihm das Messer an die Halsschlagader. Seine Kleidung war schmutzig, seine Augen glänzten vor Erregung. Und Uruha erinnerte sich in diesem Moment an seine gestrige Reaktion: Ich mach ihn kalt ... „Tus nicht, Aoi“, krächzte der Jüngere hilflos. „Bitte ...“ Er wünschte sich, dass diese wohltuenden Hände niemals mit Blut besudelt würden. Wie zwei Kontrahenten, die schon seit Jahren auf eine Revanche warteten, starrten die Beiden sich gegenseitig nieder. „Du ...?“ Natürlich wusste Todokumi noch, wer Aoi war. Er war ja schließlich auch oft genug eifersüchtig auf ihn gewesen. Aoi war ihm immer schon ein Dorn im Auge gewesen – nicht nur, weil dieser die Gitarre des anderen stimmen durfte, sondern auch, weil er früh den unsichtbaren Zauber spürte, der die beiden Gitarristen miteinander verband. Aoi zitterte nicht im Geringsten. Er schwieg, blieb glashart. Dieses Funkeln in seinen Augen ... Einen entschlosseneren Blick hatte Todokumi nie gesehen. Und da erkannte er etwas, dass er jahrelang gefürchtet hatte: Seinen größten Konkurrenten. Das, was er befürchtet hatte, war eingetreten. Aoi hatte Gefühle für Uruha, für seinen Uruha ... und er würde nicht so leicht auszuschalten sein wie der kleine Ruki. Denn schon alleine am Blick des Kupferblonden merkte er, dass dessen Zuneigung zu dem dunkelhaarigen Rhythmusgitarristen ganz anderer Natur war oder sich zumindest dorthin bewegte. Aoi war mindestens ein ebenso starker Charakter wie er, bereit, alles zu geben und anderen alles zu nehmen, um das zu schützen, was er liebte. Sie waren sich ähnlich, schoss es Todokumi ein. Nur hatten sie eine völlig unterschiedliche Einstellung zu den Dingen. Aoi war nur darauf bedacht, die Menschen, die er mochte, glücklich zu machen, und er war bereit, dafür zurückzustecken und einsam zu bleiben, wenn es darum ging, dass der Mensch, den er liebte, sich jemand Anderen zuwenden würde. Todokumi fehlte das Verständnis, um Aois Größe und Güte zu sehen, die die Beiden wieder im gleichen Maße unähnlich machten. Für ihn war Aoi in diesem Moment ein Spiegel, ein Konkurrent, der ebenso leidenschaftlich für seinen Sieg kämpfte ... Doch er würde Uruha nicht hegeben! Mit Schwung richtete er mit straffem Arm die Waffe auf Aois Kopf. „Mal sehen, ob du schneller zustichst als ich abdrücken kann ...“ Mit hämischer Freude, die er jedoch nicht zeigte, bemerkte er die Überraschung in Aois Augen. Dieser fing sich jedoch sofort wieder. „Willst dus drauf ankommen lassen ...?“, gab er cool zurück. Sofort verschwand das Lächeln im Gesicht des großen Mannes, der immer noch halb über Uruha hockte, der nur weinte und den die elektrisierte Atmosphäre dazu verdammte zu schweigen. Aoi und Todokumi starrten sich immer noch an, als würden sie nichts anderes wahrnehmen als sich und jedes Zucken des anderen. Die ausgestreckten Arme mit ihren Waffen in der Hand zitterten nicht einmal. Die Spannung vervielfältigte sich, setzte sich auf die Kehlen aller im Raum. Uruha schwieg. Ruki schwieg. Aoi schwieg. Todokumi auch. Plötzlich drückte er einfach ab. Das laute Geräusch sprengte allen die Ohren. Uruha kniff die Augen zusammen. Er hörte einen Schrei. Ruki hatte den Kopf zur Seite gedreht – das wollte er nicht sehen. Etwas ging zu Boden. Einen Moment lang blieb allen das Herz stehen. Weder Ruki noch Uruha trauten sich, die Augen zu öffnen. Nein. Das durfte nicht ... „Nein!“, schrie Uruha, schlug auf Todokumi ein. Er kämpfte sich frei. Trat noch ein Mal nach ihm. Er konnte nicht glauben, dass er tatsächlich geschossen hatte. Er hatte ohne zu zögern abgedrückt. Uruha verkroch sich in eine Ecke. Er wollte das nicht sehen! Er wollte Aoi nicht sterben sehen. Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Wut stieg in ihm auf. Es war weniger der Hass auf Todokumi als mehr der Hass auf sich selbst, der ihn dazu brachte, Todokumi wieder anzusehen, ihn zu fixieren. Da bemerkte er erst, dass dieser blutete, am Arm. Wo war seine Waffe? Langsam und Angst erfüllt wanderte sein Blick zu Aoi. Er hockte auf dem Boden. Unter seinem Fuß hatte er Todokumis Waffe eingeklemmt. Mit einem unerträglichen Geräusch zog er sie mit der Sohle seines Fußes zu sich, das Messer immer noch erhoben. Er nahm die Pistole in die andere Hand und richtete sie auf Todokumi. Nur langsam konnte Uruha sich zusammenreimen, was passiert war. Todokumi hatte geschossen, Aoi war in die Hocke gegangen, um ihm auszuweichen. Dabei hatte er mit dem Messer ausgeholt und Todokumi den Arm aufgeschnitten, dieser hatte geschrieen und die Waffe vor Schmerz fallen lassen. Aoi war draufgetreten, um sie sich zu sichern. Durch Uruhas Treten war Todokumi davon abgehalten worden, danach zu greifen. Aoi war unverletzt, Kami, er war unverletzt. Das Messer in der Rechten und die Waffe in der Linken visierte er wieder den Entführer an. Er atmete schwer ... konnte selbst nicht verstehen, warum er nicht vorhergesehen hatte, wann der andere schoss. Er hatte ihn entwaffnet. Nun hatte er gewonnen. Immer noch fixierten die Beiden sich wie zwei Alphawölfe, die einander aus ihrem Gebiet verjagen wollten. „Siehst du, so schnell wendet sich das Blatt ...“ „Das sehe ich genauso!“ Aoi hörte neben sich das Knacken einer Waffe, die gerade entsichert wurde. Er riss die Augen auf. Vorsichtig wanderte sein Blick nach rechts. Er spürte den Lauf einer Schnellfeuerwaffe an seiner Schläfe. „Hitô ...?“ „Nehmen Sie die Waffe runter, Shiroyama-san!“ „Nein! Er soll erst Uruha in Frieden lassen! Nehmen Sie ihn fest ...“ Aoi atmete bebend aus. „Los ...!“, brüllte er, weil er plötzlich glaubte, nicht mehr Herr der Lage zu sein. Doch Hitô reagierte nicht. „Shota?“ Stille. Es herrschte Totenstille im Raum. Todokumi und ... Hitô ... kannten sich? Aois Augen flogen zwischen beiden hin und her. Was hatte das zu bedeuten? „Was ...“, konnte er nur hauchen. „Du bist doch Shota ...?“ Todokumi bäumte sich ein wenig auf. Sein Arm blutete stark. „Shota ... ich kann es nicht glauben ...“ Aoi konnte ein kleines Lächeln auf dem Mund des Entführers ausmachen. Was sollte das? Er starrte Hitô entsetzt an. „Was ist hier los?“ „Ian und ich, wir kennen uns seit Jahren ...“, meinte dieser gefasst. „Aus der Schule ... wir gingen in eine Jahrgangsstufe ... waren auch lange danach sehr gute Freunde ... bis Ian sich entschloss, als Roadie bei euch anzuheuern. Schon als ich zum ersten Mal seine Blicke auf Takashima-san sah, wurde mir klar, warum. Er hat ihm total den Kopf verdreht ...“ Er wendete den Blick kurz Uruha zu. „Sieh dir an, was du aus ihm gemacht hast!“ Uruha zuckte zusammen. „Ich weiß gar nicht, was alle hier an dir finden! Du bist doch nichts Besonderes!“ Diese Wut, die in Hitôs Stimme mitschwang, beunruhigte Aoi zutiefst. Da war mehr als er nur zu ahnen glaubte, mehr als Hitô eben preisgab. „Seit Jahren hab ich ihn nicht eine Minute aus den Augen gelassen! Ich wollte, dass er seinen Frieden macht, dass er bekommt, was er sich wünscht, damit sein Herz wieder ruhiger schlagen kann, damit er wieder zu Verstand kommt. Damit er glücklich ist ... Und dafür hätte ich alles getan ... wirklich alles. Ich hätte sogar Takashima-sans Freiheit geopfert ... Ich wollte, dass er bei ihm bleibt. Damit Ian glücklich ist ...“ Aoi erkannte etwas an Hitô, das ihm noch viel mehr Angst bereitete als alles, was er an diesem Tag gesehen oder erlebt hatte ... Hitô liebte Todokumi ... Und er war viel unerschrockener als dieser Viel aufopferungsvoller als Aoi. Das macht ihn in diesem Moment zum gefährlichsten Menschen in diesem Raum. „Sie waren das ...“, kam es Aoi auf einmal ein. „Sie haben ... Uruhas Auto versenkt ...“ Hitô war in keinster Weise überrascht über diese Anschuldigung. „Hai, es stimmt, ich war es. Ich wollte, dass man Takashima-san für tot hält ... ich wollte, dass keiner mehr nach ihm fragt. Damit er für immer bei Ian bleiben kann ...“ Aoi musste für einen Moment die Augen schließen und das auf sich wirken lassen. Er stellte sich in Gedanken noch einmal die Szene vor, wie Hitô angerufen hatte ... Er musste halbherzig auflachen. „Das erklärt auch, wieso Sie wussten, dass das Auto Uruha gehört, obwohl es noch gar nicht gehoben worden war ... Sie haben uns vorher angerufen ...“ Auch Ruki war das gerade aufgefallen, weshalb er aufgeregt blinzelte. „Stimmt, das war ein Fehler“, meinte Hitô und grinste leicht. „Aber zum Glück hat euch die Todesmeldung dieses kleine Detail total übersehen lassen.“ „Und heute Morgen haben Sie mich abgefangen und sofort beschuldigt, obwohl Ihnen offiziell niemand gesagt hatte, dass Uruha wieder von Todokumi geflohen war... Aber Sie wussten es schon, deshalb sind Sie überhaupt zu mir gekommen.“ „Hai, aber in deiner Sorge um Takashima-san hast du auch das nicht bemerkt ...“ Aoi fühlte sich an der Nase herumgeführt. Warum war ihm das alles nicht aufgefallen? Er kam sich so naiv vor ... „Was? Was haben Sie jetzt vor ...?“, fragte er den Polizeibeamten. „Erinnerst du dich an meine Frage von vorhin?“ Aoi wusste sofort, um welche Frage es ging, was seinen Puls noch einmal in die Höhe trieb. „Ich wollte wissen, wie weit Sie in einer Situation wie dieser gehen würden ... Deshalb habe ich Sie gefragt, ob sie Takashima-san lieben ...“ Überrascht schaute Uruha Aoi an. Ihn lieben? Er sah, wie Aoi ein bisschen rot wurde. Auch Ruki fixierte den Rhythmusgitarristen genau. Er erinnerte sich an die letzten Sätze, die sie gestern gewechselt hatten. Aoi wusste von seinen Gefühlen. War er selbst in Uruha verliebt? Warum hatte er ihm dann Mut zugesprochen? Ruki biss sich auf die Unterlippe. Aois Blick segelte auf den Boden. „Als Sie bei der Antwort so gestrauchelt haben, da wusste ich, dass es stimmt ... dass Sie alles tun würden, um ihren Freund zu retten. Und da wusste ich auch, dass du eine Gefahr für Ian werden könntest Das hat sich ja jetzt bestätigt ...“ Hitô drückte den Lauf fester an Aois Schläfe. „Nimm die Waffe runter!“, forderte er eindringlich. Aoi reagierte nicht. „Nimm sie runter!!“, donnerte es quer durch den Raum. Aoi fuhr so heftig zusammen, dass seine Arme von ganz alleine zusammenklappten. Sie verließ einfach jegliche Kraft. Todokumi atmete aus. Er grinste. Shota war auf seiner Seite ... Wie damals, schon immer ... Hämisch sah er auf Aoi, wie er zitterte vor Angst, weil er Hitôs Entschlossenheit begriffen hatte. Aoi so gebrochen zu sehen war ein wirklicher Triumph für ihn. Es erfüllte ihn so mit Freude, dass er so selig vor sich hinlächelte und aufstand. „Du hast verloren“, lachte er auf. „Tja, das Blatt endet sich eben schneller als man denkt ...“ Dieser Satz war zu viel. Viel schlimmer noch, dass dieser Kerl in aller Seelenruhe zu Uruha herüber wanderte. „Bleib stehen!“, brüllte Aoi los und hielt die Waffe wieder auf ihn, zwang ihn so, auf der Hälfte des Weges stehen zu bleiben. „Waffe runter!“, schrie Hitô ihn an. „Nein!“, entgegnete Aoi sofort lauter als Hitô eben. „Er soll die Finger von Uruha lassen! Meinetwegen erschießen Sie mich, aber vorher werde ich ihn abknallen!“ Hitô starrte Aoi einen Moment lang an. Er war entschlossener als er gedacht hatte. „Nein ...“, winselte Uruha nur noch. Er wollte eingreifen, doch er wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte sich nicht auf Hitô schmeißen, er konnte sich schon gar nicht auf Todokumi schmeißen. Alles würde darin enden, dass auf Aoi geschossen würde. Er kam sich so ohnmächtig vor. Es ging hier um ihn, aber er konnte gar nichts tun. Er hatte das hier alleine lösen wollen, doch es war aus dem Ruder gelaufen und nun konnte er gar nichts mehr tun, nur zusehen, wie Aoi alles für ihn aufs Spiel setzte. Das ließ ihn verzweifeln. Warum konnte dieser Albtraum nicht endlich vorbei sein? „Nein ... bitte nicht ...“, flehte er Hitô an und weinte. „Bitte schießen Sie nicht auf ihn. Bitte ... Ich ... ich bleibe auch bei Todokumi ... ich bleibe bei ihm, für den Rest meines Lebens, damit er wieder glücklich ist ... Aber schießen Sie nicht auf Aoi ... das ertrage ich nicht ... Halten Sie ihn da raus. Ich bleibe bei Todokumi ...“ Uruha verkrampfte sich vollkommen, er presste die Augen so fest aufeinander, dass auf Schlag alle Flüssigkeit entwich, die sich darin gesammelt hatte. So laut hatte Uruha noch nie geweint. „Nein, Uruha ...“, sagte Aoi leise. Er wollte auf gar keinen Fall, das Uruha je wieder in die Nähe dieses abscheulichen Mannes musste. „Nein, das ist keine Option.“ „Aber ich lebe lieber hier unten in der Dunkelheit mit ihm zusammen, als dich sterben zu sehen ...“, schluchzte Uruha laut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)