Barbarossas Bart von Papenstiehl (Eine kuriose Geschichte mit Magik) ================================================================================ Prolog: Das Buch der Magik -------------------------- Im Prolog erfahrt ihr was vor der Geschichte passiert und wie das Ganze anfängt. Desweiteren kann man auch bereits ein bißchen herauslesen auf was es hinausläuft, aber ich will nicht zu viel verraten... einfach lesen ;) ------- PROLOG Es war einmal an einem ganznormalen Tag, in einem ganznormalen Ort in Deutschland. Ganznormale Autos fuhren die ganznormale Straße entlang, und ganznormale Menschen bevölkerten die ganznormalen Gehsteige und Häuser. Ein ganznormaler Mann… nein halt … sagen wir: ein normaler Mann… ging zwischen den ganznormalen Menschen die ganznormale Straße entlang. Sie schenkten ihm einen ganznormalen Blick, grüßten ihn ganznormal, und konnten so gar nichts un-ganznormales an ihm feststellen. Nun, das heißt… fast. Genau genommen nichts bis auf eine kleine nicht-ganznormale Sache: er trug eine Videokamera bei sich. Die war zwar äußerlich auch ganznormal, aber die Aufnahme darauf war es nicht: 21:04 Uhr; Aufnahme Beginn -- Das unscharfe Gesicht eines bleichen jungen Mannes blickte in die Kameralinse, und er begann zu sprechen: „Die Geschichtensammler und Sprachwissenschaftler Gebrüder Grimm haben einst ein Buch geschrieben, dass nur ein einziges Mal gedruckt wurde: es war ein Lexikon des Ungewöhnlichen und Unglaublichen. Mit Beschreibungen, die zwischen Fiktion und Realität lagen: zu fantastisch um echt zu sein, aber gleichzeitig zu detailliert und zu realistisch beschrieben, um rein der Fantasie zu entspringen. Auf Ihrer Suche nach Märchen, Mythen und Sagen trafen die Brüder auf Personen, Dinge und Begebenheiten, die sich als echte Mythen entpuppten, als Sagen mit wahrem Kern, als tatsächlich existent. Diese Geschichten schrieben sie nieder, suchten nach mehr, und entdeckten dabei eine ganze Parallelwelt, die nicht den uns bekannten Gesetzen gehorcht. Doch niemand weiß, was mit diesem einen Exemplar passiert ist, und die Grimms leugneten ihr Leben lang vehement jegliche Existenz des Buches. Zwar gibt es spärliche Hinweise auf seinen Verbleib, doch die meisten Historiker zweifeln daran, dass es jemals existiert hat. Dennoch: hin und wieder tauchten auf mysteriöse Weise einzelne Seiten daraus auf, um kurz darauf auf genauso mysteriöse Art und Weise wieder zu verschwinden. Gleichzeitig leugneten alle ehemaligen Besitzer, jemals eine derartige Seite besessen zu haben. Selbst dann, wenn es unwiderlegbare Beweise gab, dass sie dies zuvor behauptet hatten. Heute werden wir herausfinden, ob diese Legende der Wahrheit entspricht, oder aus dem Land der Lügenmärchen kommt, so wie die Geschichten der Gebrüder Grimm, die wir kennen. Heute finde ich das Buch der Magik!“ Das unscharfe Gesicht des bleichen jungen Mannes blickte weiter in die Kameralinse. “So, und jetzt haltet euch fest!“ Er drehte sich weg und holte etwas von außerhalb des Blickfeldes der Kamera. “Das hier!“ Ein vergilbtes, zerknittertes, verrissenes Stück Papier füllte das Bild einen Moment lang komplett aus, bis es wieder weggezogen wurde. „Ist eine Seite aus diesem Scheiß-Buch! Und damit ich später nicht leugnen kann, eine besessen zu haben - wie es uns der Mythos weiß macht - nehme ich sie auf Video auf. Darauf zu erkennen ist…“ Die Seite wurde wieder wacklig vor die Linse gehalten, so dass der obere Teil lesbar war. In verschnörkelter, teils stark verblichener Schrift stand dort: BdM ~ Kapitel 16 Die Legende: „Auch wenn er liegt in tiefem Schlummre, so merk er doch, das Gefahr sich naht. Wenn Zeit es ist, wird er erwache, Ordnung bringe, mit einem Schlag.“ Die Seite wurde wieder weggezogen, und der junge Mann sprach weiter: „Keine Ahnung was der Vers zu bedeuten hat. Ist auch egal. Viel wichtiger ist, dass hier unten eine Karte aufgemalt ist, ne Art Schatzkarte. Nachträglich, das kann man sehen. Aber egal. Keine Ahnung zu was sie führt, aber sie hat was mit nem alten deutschen König zu tun, oder wars ein Kaiser? Wurst. Ich bin jetzt auf jeden Fall hier in dem Ding wo der alte Knacker angeblich begraben liegt.“ Die Kamera wackelte, wurde hochgehoben, und das Bild schwenkte herum. „Voila, die Höhle!“ Im matten Licht des Kamerascheinwerfers waren steinerne Stalaktiten und Stalagmiten zu sehen, die sich von Decke und Boden aus einander entgegenstreckten. Die natürliche Höhle bestand aus rötlich-braunem Fels, und war soweit das Licht reichte mehr als ein dutzend Meter lang und breit. „Kiffhaus nennt man das hier. Nein Unsinn… Küffhäuser? ach egal, wie auch immer.“ kam die Stimme aus dem Off, das Bild schwenkte hin und her, und das Licht der Kameralampe huschte durch die Höhle. „Eigentlich ist hier Zutritt verboten. Aber heute läuft Fußball, da passt keiner so genau auf, deswegen bin ich hier.“ Die Kamera wurde auf den Boden gestellt, und jemand trat in das Licht, das über der Linse montiert war. Aufgrund der schwachen Beleuchtung war die Person nur als schwarzer Schemen erkennbar. „Was jetzt kommt, gibt’s nicht auf der Touristenführung.“ Der Schemen holte einen genauso schwarzen, armlangen Hammer hervor. „Los geht’s Freunde!“ Schwankend unter dem Gewicht des Hammers bewegte er sich in den hinteren Teil der Höhle. Im Licht der Kameralampe warfen die von Boden und Decke wachsenden Steinsäulen lange starre Schatten übereinander und an die Höhlenwand. Einer dieser Schatten jedoch bewegte sich. Es war der junge Mann. Dieser einzige Lebende der vielen Schatten hob den Hammer, und schlug auf einen Stalagmiten ein, der aus dem Boden hervor wuchs. Einmal. Zweimal. Dreimal. Trümmer flogen an der Kameralinse vorbei, der Hammer flog aus dem Sichtfeld, und der schwarze Schemen flog auf den Boden. Die Steinsäule zersplitterte mit einem ohrenbetäubenden Krachen, das in der Höhle dutzendfach wieder hallte, und dumpfe Echos erzeugte, die erst nach mehreren Sekunden wieder verklangen. „Auuuuu! Scheiße! Das wird später raus geschnitten!“ Nachdem der Schemen sich am Boden gekrümmt hatte, richtete er sich wieder auf, und begutachtete humpelnd die zerschlagene Steinsäule. Fast eine Minute lang blieb es still. Nur die dunkle Gestalt war zu sehen, die sich über dem abgebrochenen Stalagmiten hin und herbeugte, ihn von allen Seiten begutachtete. „Scheiße. Scheiße! Da ist Nichts. Gar Nichts. Nichts-Nichts. Und ich Trottel hab 500 Euro gezahlt, für die Scheiß-Seite. Nur um dieses Scheiß-Buch dieser Scheiß-Grimms zu finden. Verarscht hat er mich. Verarscht. Genauso wie du hier!“ Zuerst trat die Gestalt mehrmals gegen den stummen Fels, der ihr natürlich nicht antwortete, dann holte sie den Hammer zurück, und schlug drei weitere Male auf den Rest des übrig gebliebenen Turms aus Stein ein. „SCHEIIIIIßEEEEEE!“ Wieder flog der Hammer laut krachend auf den Felsboden. Die dunkle Gestalt verlor wieder das Gleichgewicht, und kippte nach hinten um. Sie blieb stöhnend am Boden liegen. Derweil kam ein Poltern von außerhalb des Kamerasichtfeldes. Der Boden wackelte, und mit ihm das Bild der Kamera. Staub und kleine Steinbrocken rieselten von der Höhlendecke und prasselten klackernd auf den Boden. Dann war es wieder still. Die Gestalt am Boden richtete den Oberkörper auf, und sah zu einem Punkt jenseits der Kamera. Schritte waren zu hören. Geblendet vom Licht der Lampe hob die Gestalt ihre Hände vor die Augen, und blickte auf etwas, das sich offensichtlich hinter dem Aufnahmegerät befand. Die Schritte kamen indessen immer näher, bis sie so laut wurden, dass sie sich direkt neben der Kamera befinden mussten, aber noch außerhalb deren Sichtfeldes. „WAS WIRD DAS HIER?“, hallte die tief rasselnde Stimme eines Mannes durch die Höhle, und wurde von den Felswänden vervielfacht zurückgeworfen. Die Gestalt am Boden wich ein Stück zurück: „Wer sind Sie?“ „UND WER SIND SIE? WAS MACHEN SIE HIER?“ rasselte die Stimme noch durchdringender als zu zuvor. Die Gestalt wand sich am Boden hin und her, und ihre Stimme zitterte: „Äh… Ich habe äh… die Erlaubnis hier Nachforschungen anzustellen. Von äh… Professor äh... Rupert, vom Institut der äh…ähm… Geschichte.“ „ERZÄHLEN SIE KEINEN UNSINN!“ polterte die Stimme, noch immer unsichtbar. Eine Hand erschien im Bild, griff nach der Buchseite, die kurz vor der Kamera lag, und hob sie aus dem Blickfeld. „WAS IST DAS?“ fragte die Stimme nun leiser. „Oh… Sie… Sie suchen nach dem Buch, ja?“ „Ja… äh. Ich meine… Nein… äh…“ Die Gestalt wollte sich hochrappeln, doch der zweite Mann trat einen Schritt nach vorne, ins Bild der Kamera, und stieß dabei gegen sie. Seine verwackelten schwarzen Umrisse ließen erkennen, dass er etwas in Beiden Händen vor sich her trug. Eine Waffe. „BLEIBEN SIE LIEGEN!“ befahl er. Die Gestalt zuckte zusammen als sie die Waffe sah, und robbte auf dem Felsboden ein Stück nach hinten. „Was soll der Scheiß? Mann, sind sie krank? Für was ist die Scheiß-Armbrust? Bei Ihnen ist wohl ne Schraube locker!“ Die Hände der Gestalt tasteten auf dem Boden nach dem Hammer, und der verschwommene Schatten machte derweil einen weiteren Schritt nach vorne. „LIEGENBLEIBEN! IHR VORHABEN IST SINNLOS. DAS BUCH IST NICHT HIER. DAS BUCH GIB ES NICHT!“ Der Schatten drehte sich zur Kamera, und beugte sich hinunter. Er blickte direkt in das Objektiv, doch aufgrund des fehlenden Lichts war nicht mehr als der unscharfe Umriss eines Gesichtes zu erkennen, auf dessen Wangen schwarz-rot-goldene Deutschland-Fahnen aufgemalt waren. „SOSO, EINE KAMERA. ICH WERDE DAS LÖSCHEN. GENAUSO WIE SIE. MORGEN WISSEN SIE NICHTS MEHR HIERVON. MORGEN HABEN SIE DAS ALLES… VERGESSEN…“ Etwas Dunkles kam angerauscht, und traf direkt in die Kameralinse. Schwarz-Weißer Schnee rieselte über das Bild, und es war nichts mehr zu hören, außer leisem Rauschen. 21:23; Aufnahme Ende -- Kapitel 1: ICH -------------- Unser Held erblickt das Licht der Welt, und bekommt schließlich einen Namen... ------------- Ein lauter Ton bohrte sich in Ichs Bewusstsein. „DUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUU“ Ich öffnete die Augen. Der Ton verschwand. Licht blendete ihn. Seine Augen benötigten kurz, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Langsam entstand ein Bild vor ihm: Ich lag. Neben ihm stand ein Mann. „Guten Morgen.“ sagte der Mann leise. Er hielt Etwas nahe Ichs Kopf und lächelte: „Mein Name ist Doktor Papenstiehl. Wie heißen Sie?“ Ich wollte antworten, doch plötzlich erklang eine unbekannte Stimme, dumpf und dröhnend, als käme sie direkt aus seinem Kopf. „ICH.“ sagte sie. Ich schloss den Mund wieder. Die Stimme erklang erneut. „WAS…?“ Und wieder. „ICH…“ Ich verstand nicht und ließ den Mund offen stehen. Seine Blicke wanderten durch den Raum. Ich sah Dinge, doch die dazugehörigen Worte vielen ihm nicht ein. Ich wusste, wozu diese Dinge benutzt wurden, aber Ich wusste nicht, wie man sie nannte. Da war Etwas worauf man sich setzen konnte und Ich lag in Etwas, das…nun… worin man eben lag. Das Wort viel ihm nicht ein. Dann wollte Ich etwas zu dem Mann sagen, doch ihm vielen wieder keine Wörter ein. Ich konnte sich an nichts anderes erinnern, an nichts anderes denken als an das, was Ich in diesem Moment, im Jetzt sah. Doch davon wusste Ich von nichts, wie man es nannte. Etwas anderes gab es nicht in seinem Kopf, da war nichts. Nur Ich, der Mann, der Raum, sonst nichts. Keine Erinnerung. Kein Gedächtnis. Nur… „ICH.“ Sagte die Stimme wieder und alles um ihn herum begann sich zu drehen. Sowohl die Gedanken in seinem Kopf, als auch der Ort an dem Ich sich befand vor seinen Augen. Immer das gleiche Bild: der Mann, der Raum und Ich selbst in dem Bett. Sie rotierten. Alles drehte, drehte, drehte sich ohne aufzuhören. Ichs Augen sprangen wild umher, konnten nichts mehr fixieren. „ICH!“ Schrie die Stimme wieder und immer wieder. „ICH…ICH…ICH…ICH…“ Der Mann sagte etwas, doch Ich konnte es nicht verstehen, es ging unter im Chaos seiner Gedanken. Dann berührte etwas Ichs Arm. Es fühlte sich an wie ein Schlag. Wieder sagte der Mann etwas Unverständliches. Es folgte ein Stich in Ichs Schulter und die fühlbare Realität wurde mit einem Mal unter ihm weggezogen. Alles wurde Schwarz. ~ Langsam. Sehr langsam dämmerte Ich ins fühlbare Bewusstsein zurück. Kaleidoskopartige Farben und Formen wurden klarer vor seinen Augen, wuchsen zusammen zu einem Bild: ein Raum. Ein Krankenzimmer. Neben ihm ein Mann auf einem Stuhl, der Zeitung las. Ich erinnerte sich. Zum ersten Mal. Daran, dass er schon einmal aufgewacht war und Panik bekommen hatte. Wann war das gewesen? Wie viel Zeit war seitdem vergangen? Diese Erinnerung lag sehr weit weg. Als blickte er durch einen Tunnel ins weit entfernte Helle, wo nur Konturen zu erkennen waren, keine klaren Bilder und ringsherum im Tunnel war alles dunkel. Bis auf das unscharfe Ende des Tunnels war nichts da. Der Mann bemerkte dass Ich wach wurde und senkte die Zeitung. In einer Hand hielt er ein kleines Stängchen, das an am Ende glühte und welches er nun behutsam weglegte. „Guten Morgen. Zum Zweiten. Mein Name ist Doktor Papenstiehl.“ Bevor Ich etwas erwidern konnte, hielt ihm der Doktor einen anderen, kleinen, länglichen Gegenstand vors Gesicht. „Was ist das?“ fragte er, „denken Sie nicht nach, sagen Sie einfach, was Ihnen einfällt.“ Ich wusste, dass man mit so einem Ding farbige Striche produzieren konnte, denn ein entsprechendes Bild erschien im dunklen Tunnel seiner Gedanken. „Das ist ein….äh….“, doch ihm fiel das Wort nicht ein und Ich schloss den Mund wieder. „Ich weiß es nicht“. „Macht nichts.“ Der Doktor schien diese Antwort erwartet zu haben und hielt ihm gleich das Nächste unter die Nase: ein kleines, quadratisches, braunes Etwas. „Hier, essen Sie das, nehmen Sie es in den Mund.“ Ich legte es in seinen Mund und es entfaltete sich, nein es explodierte fast auf seiner Zunge. Es war hm…Geschmack! Dieser Geschmack war ihm bekannt, doch Ich konnte ihn weder beschreiben, noch konnte Ich sagen, wieso oder woher er ihn kannte. Während er kaute, tröpfelte ein Wort aus seinem Kopf auf seine Zunge. „SÜß!“ rief Ich und „SCHOKOLADE!“ gleich hinterher. „Sehr gut.“, grinste der Doktor und stellte die nächste Frage: „Das worauf ich sitze, wie nennt man das?“ „Stuhl!“ platze es aus Ich heraus, ohne das er wusste, woher dieses Wissen kam. So ging es eine Weile weiter. Der Doktor zeigte Ich Dinge und er musste die Namen dazu nennen. Darunter waren Worte wie Fenster, Bett, Wand, Tür, Decke und einige andere. Mit jedem Ding das ihm der Doktor zeigte, wurde Ich wilder auf das Nächste. Sein Herz pochte und die Neugier stieg immer weiter in ihm an. Ich wollte mehr Neues lernen, mehr wissen. Ein Riss hatte sich in dem dunklen Tunnel seiner Gedanken gebildet und aus diesem Riss purzelten nun nach und nach neue Worte und Bilder hinein, bildeten bunte Flecken in der Schwärze des Tunnels. Irgendwann rief Ich „Stift!“ und hatte den Gegenstand erkannt, den ihm der Doktor als erstes gezeigt hatte. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in ihm aus und trug das Wort „Freude“ hoch und aus seinem Mund heraus. Alles war neu für ihn. Er wusste zwar nicht so Recht was dies zu bedeuten hatte, aber sich zu erinnern fühlte sich gut an. Der Doktor lachte und stellte ihm nun komplexere Fragen. „Welche Farben gibt es? Wie viele Minuten hat eine Stunde? Wie heißen die vier Jahreszeiten?“ und viele mehr. Die meisten konnte Ich nach kurzem überlegen beantworten, aber nicht alle. Mit jeder Antwort von Ich kam ein weiteres Stückchen Freude über das neue – oder wiedererlangte - Wissen hinzu, wie die Stücke eines Kuchens der nicht gegessen, sondern im Gegenteil Stück für Stück auf eine Platte aufgereiht wurde. So füllte sich der dunkle Tunnel von Ichs Gedanken mit mehr und mehr Farbe. Auch wenn der überwiegende Teil nach wie vor hinter undurchlässiger Schwärze verborgen lag. “Sie können sich immer noch nicht an Ihren Namen erinnern?“ fragte der Doktor schließlich nach dem ganzen Wörterraten. „Nein.“ antwortete die unbekannte Stimme, an deren Klang Ich sich mittlerweile zumindest ein bisschen gewöhnt hatte. Dennoch hatte er jedes Mal ein komisches Gefühl, wenn die dumpfe Stimme - seine Stimme - ertönte und von einem vibrieren des Kehlkopfs begleitet seinem Mund entwich. „Nuuuun“, der Doktor holte einen flachen Gegenstand hervor, etwa so groß wie Ichs Kopf, mit einem Haltegriff daran, „vielleicht erkennen Sie sich ja wieder…“. „Ein hm…Spiegel“ rief Ich, als das korrekte Wort für den silbrigen Gegenstand in den dunklen Tunnel viel. Zum ersten Mal sah Ich sich. Doch anders als das Gefühl der Freude vorhin fühlte es sich hm…unbestimmt an, eigenartig. Ich sollte dieses Gesicht im Spiegel kennen, doch Ich verband nichts mit dem Anblick, er war völlig neu für ihn. Aus dem Spiegel heraus wurde Ich von jemandem beobachtet den er nicht kannte, der er selbst sein sollte, aber dennoch anders war als Ich. Der Kopf des Spiegelbildes drehte sich mit seinem Kopf in die entsprechende Richtung, blickte nach unten, wenn Ich es tat und blickte nach oben, wenn Ich es tat, öffnete und schloss die Augen gleichzeitig mit ihm. Dennoch konnte Ich nichts mit dem Gesicht anfangen, dass in da neugierig beobachtete. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf und das Wort ’unheimlich’ erschien schattenhaft im Tunnel vor seinem inneren Auge. Ein junger Mann blickte ihn aus dem Spiegel heraus direkt an. Dunkle blaue Augen folgten den seinen überall hin, ließen sie nicht los. Weiche Gesichtszüge und ein langes Kinn kennzeichneten ihn, viel mehr konnte er von seinem Gesicht nicht erkennen. Denn auf dem Kopf trug Ich einen Verband durch den seine Haare komplett verdeckt waren und auf der Nase hatte sein Spiegelbild ein großes Pflaster. „Das bin ich...“ „Ja.“ Nickte der Doktor „Sie sind auf die Nase gefallen.“, er deutete auf das Pflaster, “Und Sie haben einiges auf die Rübe bekommen gestern Abend.“ „Auf die Rübe?“ “Auf den Kopf meine ich, auf den Kopf.“ Ich tastete mit den Fingern den Verband ab. „Was ist passiert?“ Sein eigener Versuch sich vorzustellen, wie so etwas passieren konnte, schlug fehl, denn ihm fiel schlicht und einfach nichts ein. „Das wissen wir noch nicht. Sie wurden so gefunden. Vielleicht wurden Sie geschlagen, vielleicht war es ein Unfall.“ Papenstiehl gestikulierte mit den Händen und stockte: „vielleicht etwas… anderes. Ich habe gehofft, Sie können es mir sagen?“ „Nein, ich… hm…erinnere mich an… nichts, “ musste Ich zum wiederholten Male eingestehen. „Erkennen Sie sich denn wieder?“ „Nein. Ich sehe das zum ersten Mal. Das Gesi… hm… ich meine… mich.“ Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Der Anblick im Spiegel verwirrte ihn zu sehr, deswegen gab er ihn dem Doktor zurück. Gleichzeitig verglich Ich das was er gerade im Spiegel gesehen hatte – sich – mit dem Aussehen des Doktors: der war deutlich älter als Ich, hatte bis zu den Ohren reichende, zottelige schwarze Haare und ein längliches Gesicht, in dem sich blasse grüne Augen befanden, die im Moment halb geschlossen waren. Sein Körper war genauso schmal und lang wie sein Gesicht. Soweit Ich das beurteilen konnte war der Doktor recht groß. Groß und schmal. An seinem Kinn befanden sich viele kleine dunkle Punkte. Ich wusste, was es damit auf sich hatte, aber das passende Wort fiel ihm nicht ein. Noch immer unsicher, fragte Ich die Frage, die sich ihm in den letzten Minuten immer wieder gestellt hatte. Ein dicker Kloß schob sich dabei in seinen Hals und er brachte die nächsten Worte nur mühsam an ihm vorbei über seine Zunge: „Wer… bin… ich?“ Der Doktor kratzte sich am Hinterkopf: „Das… äh… kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wir wissen es nicht.“ Er blickte weg. „Diese Sachen hier sind alles was wir bei Ihnen gefunden haben.“ Neben dem Bett auf Höhe von Ichs Kopf stand ein kleiner Tisch, den er erst jetzt bemerkte. Darauf waren verschiedene Gegenstände ausgebreitet. „Es ist leider nichts dabei, was einen Hinweis auf Ihre Identität gibt. Kein Name. Keine Anschrift. Überhaupt nichts, was darauf schließen lässt wer Sie sind, oder woher Sie kommen.“ Ich betrachtete die Sachen auf dem Tisch. Bei den meisten wusste er, wozu sie gut waren: ein Stift, eine Kaugummipackung, ein einzelner Schlüssel, ein 5-Euro-Schein, ein Anhänger in Herzform, ein zerknülltes Stück altes Papier, zwei weitere Dinge die er nicht erkannte und ein Zigarettenstummel auf der Tischkante, dessen angerauchtes Ende in der freien Luft hing. „Oh, das ist meiner.“ Schnell griff der Doktor nach dem Stummel, schob ihn sich zwischen die gespitzten Lippen, sog kräftig daran und warf den Rest in einen Eimer auf dem Boden. Als er ausatmete, bahnte sich eine diffuse Wolke aus Rauch den Weg vom Mund des Doktors. durch die Luft bis hin zu Ichs Nase. Ich sog ihn ein und ein leichtes Brennen krabbelte seine Nasenwand bis in die Nebenhöhlen hoch, wo es sich absetzte. Reflexartig zog Ich die Nase hoch, um den Geruch wieder loszuwerden. Zwar war es ein unangenehmes Gefühl, aber dennoch war es gleichzeitig auch ein Gutes. Denn mit dem beißenden Geruch kamen Erinnerungen in Form von neuen Begriffen in den dunklen Tunnel gepurzelt: Zigarette, Rauch, Feuer, Kippe, Joint, Husten, Ekel und viele weitere zischten so schnell an ihm vorbei wie ein Zug. Zug: Gleise, Bahnhof, Fahrkarte, Schaffner, Taxifahrer, Straße. Mit jedem neuen Begriff der ihm einfiel, kamen zwei weitere Neue hinzu, wie ein Wasserfall an neuen Wörtern aller Art, der sich über ihn ergoss. Jeder neue Begriff war für ihn wie ein Geschenk, mit dem sein Bewusstsein weiter gefüllt wurde. Mit geschlossenen Augen sog er die Reste des Rauches ein und stellte sich in den Regen aus neuen Eindrücken. Dann wurde er aus dem Tagtraum gerissen: „Erkennen Sie…“ Papenstiehl musste kurz husten, dann krächzte seine Stimme: „…etwas von diesen Dingen wieder? Erinnern Sie sich an etwas?“ Ich schüttelte den Kopf, während sein Blick über die Gegenstände auf dem Tisch huschte. Im dunklen Tunnel seiner Gedanken war nichts bis auf die Namen von mittlerweile einigen Dutzend Dingen, die auf einem kleinen bunten Häufchen in der Schwärze lagen. Daran erinnern, dass diese Sachen ihm gehörten, oder was er damit gemacht hatte, konnte er sich nicht. „Nein, an nichts. Nur an die Worte, wie sie heißen: Schlüssel, Euro…“ „Was ist damit?“ der Doktor reichte ihm ein zerknittertes Bild, kaum größer als sein Daumen. „Erkennen Sie sie…?“ Auf dem Bild war das Gesicht einer jungen Frau zu sehen. Dunkle, schwarze Haare vielen ihr über die Schultern und ins Gesicht. Ihre blauen Augen blickten ihn an, als wollten sie nach seinem Namen fragen. „Wer ist Sie?“ „Ich habe gehofft, das können Sie mir sagen. Es steht kein Name auf dem Bild. Bestimmt kannten Sie die Dame. Eine hübsche Junge Frau, wenn Sie mich fragen.“ Papenstiehl blinzelte Ich zu, doch der verstand nicht, was damit gemeint war. „Da müssen wir wohl noch ein wenig warten, bis wir erfahren wer sie ist. Ihre persönlichen Erinnerungen sind in einem anderen Teil des Gehirns gespeichert, als das Allgemeine Gedächtnis: Dort sind Namen, Zahlen, Ihr Verstand, Sprache und Motorik. Das heißt während Ihnen die grundlegenden Dinge die Sie im Alltag brauchen sehr schnell wieder einfallen, wird es wesentlich länger dauern, bis Sie wieder zu Ihren persönlichen Erinnerungen vordringen können. Vielleicht gab es auch ein traumatisches Erlebnis für Sie gestern Abend, das könnte den Prozess weiter verzögern.“ Ich verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was der Doktor zu sagen hatte. Der schien mehr für sich selbst zu reden, als für ihn. So schnell konnte Ich nicht so viele neue, komplizierte Worte verstehen. Papenstiehl sah ihm an, das er überfordert war. „Dann wollen wir doch mal sehen, was damit ist…“ Er stand auf und holte ein Kleidungsstück aus einem Schrank nicht unweit von Ichs Bett. „Kennen Sie die hier?“ In seinen Händen hielt der Doktor etwas hoch, das aus zwei langen Teilen bestand, die oben miteinander verbunden waren. Das eine war eine… Ich musste kurz überlegen, bevor im das Wort einfiel: hm…Hose! Und blau war sie. „JEANS!“ platzte es so plötzlich und laut aus ihm heraus, dass der Doktor kurz zusammenzuckte. „Sie haben sie wieder erkannt?“, zog er eine Augenbraue nach oben. „JA! Äh Nein. Mir ist das Wort Jeans eingefallen.“ „Gut. Hervorragend.“ nickte der Doktor und holte ein weiteres Kleidungsstück heraus. Offensichtlich war es eine Art von weißem Oberteil. Ich warf sein Stirn in Falten und hielt den Kopf schräg: „Was ist das?“ „Können Sie lesen?“ fragte der Doktor und drehte es auf die Rückseite. Ich gelang es auf Anhieb, die Buchstaben zu entziffern: D-E-U-T-S-C-H-L-A-N-D DEUTSCHLAND… Mit dem Wort schwappte eine ganze Welle an neuen Wörtern und Bildern in den Tunnel seiner Gedanken hinein und riss ihn in einer heftigen Strömung aus weiteren Wörtern und Erinnerungen mit: Bier, Berlin, Wurst, Oktoberfest, DDR, Hitler, Nazis, Autos, Kanzler, Merkel, Schröder, noch mal Bier und und und… So schnell rasten die Fetzen von Erinnerungen an ihm vorbei, dass er gar nicht alles erfassen konnte. Doch etwas fehlte noch, er spürte es. Wieder blickte er auf das weiße Oberteil und sah noch etwas: die Deutschland-Fahne: Schwarz-Rot-Gold. „Was ist das?“ rief er. Seine Stimme überschlug sich fast: „Ich weiß es, ich hab’s gleich!“ Im selben Moment als der Doktor den Mund öffnete und ein „F…“ seine Lippen verlassen wollte, platzte es aus Ich heraus: „FUßBALL!“ schrie er so laut er konnte, „Das ist es, ein Fußball-Trikot!“ Ich freute sich wie ein Kind an seinem Geburtstag und zeigte mit ausgestreckter Hand auf das Trikot. Der komplette Text darauf lautete: Nr. 11 Leopold Lechmann DEUTSCHLAND „Was bedeutet das, bin ich Fußballspieler?“ Lachend und verblüfft von Ichs übersprudelnder Freude, antwortete der Doktor: „Das bezweifle ich. Dann hätte ich Sie bereits erkannt.“ Er grinste breit. „Sie sind wohl eher ein übermutiger Fan. Gestern war ein großes Spiel, erinnern Sie sich?“ Bilder von bunten Männern die auf grünem Rasen einem Ball hinterher jagten, zogen an Ich vorbei. Doch es waren nur allgemeine Informationen, ohne Details. Keine Erinnerungen an ein bestimmtes Spiel oder einen speziellen Spieler, sondern nur daran, wie Fußball funktionierte. „Nein. Wie ging es aus? Wer hat gespielt?“ „Deutschland gegen Italien.“ grummelte Papenstiehl. „Wir haben verloren. Zwei zu eins in der 91.ten Minute, stellen Sie sich das vor!“ Das Grinsen in seinem Gesicht verschwand und wich einem knirschen der Zähne, zwischen denen er die Luft heraus presste und dabei seltsame Grummelgeräusche von sich gab. „Da Sie gerade so motiviert sind, sollten wir über einen Namen für Sie nachdenken. Sie werden sich vielleicht noch eine ganze Weile nicht erinnern können und ich brauche einen Namen für den ganzen Papierkram. Außerdem kann ich sie ja schlecht ‚Ich’ nennen.“ Papenstiehl zwinkerte ihm zu, warf ihm das Trikot hin und zündete sich eine neue Zigarette an. Dann lehnte er sich gegen den Schrank und zog genüsslich an der Kippe. „Fällt Ihnen etwas ein? Ich glaube nebenan haben sie noch einen von diesen Namens-Generatoren. Der erstellt einen Namen per Zufall. Kommen meist amüsante Sachen bei raus, aber nicht immer brauchbar.“ Ich drehte das Kleidungsstück in seinen Händen hin und her, hielt es hoch. „Wie wärs damit?“ Papenstiehl nickte in Richtung des Trikots, während er mit einer Hand die Kippe an seinen Mund hielt und sich mit der anderen gegen die Wand stütze. „Hm.“ Ich runzelte die Stirn. „Leopold Lechmann. Das klingt…“ er blickte in den Tunnel. Das Wort langweilig erschien. Ich grub weiter in der Dunkelheit, doch es kam kein Name zum Vorschein. Ich kannte keinen. „Etwas… Spannenderes wäre mir lieber.“ War spannend das richtige Wort? „Wie heißen Sie, Doktor?“ „Philipp“, stieß der mit einer Rauchwolke aus. „Philipp Papenstiehl.“ Wieder erschien das Wort langweilig im Tunnel. „Naja… dann doch lieber Leopold.“ Philipp Papenstiehl hustete mehrmals und hielt sich eine Faust vor den Mund. „Leopold“ wiederholte Ich, ließ das Wort auf seiner Zunge vor und zurück gleiten, „Leopol…“ Ich suchte etwas, wusste aber nicht, was es war. „Leopo… Leop… Leo… das ist es!“ Die Lösung bestand im weglassen. „LEO! Ich heiße Leo!“ Freudig setzte er sich im Bett auf. „Zumindest bis ich meinen echten Namen kenne.“ „Hervorragend“ räusperte sich der Doktor, setzte die Kippe ab und klatschte in die Hände. Nach wenigen Minuten hatten sie sich auch auf einen passenden Nachnamen geeignet und weil das abkürzen bei Leopold bereits so gut geklappt hatte, wurde aus Lechmann kurzerhand der Name Lecter geformt. „Leo Lecter. Das klingt gut“ „Hervorragend, Leo.“ bestätigte Papenstiehl und streckte eine Hand zu ihm hin. Leo grinste. Automatisch nahm er die Hand und schüttelte sie. Der Doktor hatte einen sehr schwachen Händedruck, er berührte Leos Hand kaum. „Hervorragend.“ Kapitel 2: Rotbart ------------------ Leo lernt viel Neues, aber einiges davon kommt ihm seltsam vor. Auch der Doktor merkt, das etwas nicht stimmt... ------------ Die nächsten Stunden verbrachten sie mit lernen. Und Essen. Essen war das Beste, was Leo Lecter bisher passiert war. Kurz nachdem Sie einen Namen für ihn gefunden hatten, rief der Doktor ‚Schwester Rosi’, eine Frau. Das erkannte Leo, auch ohne dass man es ihm sagen musste. Zu den Begriffen ‚Arzt’ und „Schwester“ formte sich das Bild eines weißen Kittels vor ihm. Doch weder Papenstiehl noch Rosi trugen einen solchen. Papenstiehl hatte einen grünen hm…Pullover an, Schwester Rosi ein rotes hm…Hemd. Rosi hatte Ihre langen, rotbraunen Haare zu einem Zopf gebunden und grinste Leo an. Sie war etwa doppelt so breit wie der Doktor und fast nur halb so groß. Seinen selbst gefundenen Namen „Leo Lecter“ bedachte Sie mit einem „ungewöhnlich, aber schön“. Auf die Frage nach seinem Alter schätzen Rosi und der Doktor ihn auf vermutlich um die 20. Dann gab es Essen und es war eine Sensation! Dieses Wort fiel ihm ein, als er die ersten Bissen nahm. Nicht alle Wörter vielen ihm auf Anhieb ein. Manche versteckten sich in dunklen Nischen und Ecken, waren schwer zu erkennen und noch schwerer dazu zu bewegen ans Licht zu kommen. Aber dieses hatte sich ihm geradezu aufgedrängt. Rosi nannte das Essen ‚Kartoffelbrei mit Erbsen und Soße’. Für Leo war es das Beste, was er je gegessen hatte (natürlich war es bisher auch das Einzige, abgesehen von dem Stück Schokolade vorher). Jeder einzelne Bissen zerging auf Leos Zunge in einer tausendfachen Vielfalt von Geschmäckern und mit jedem Bissen kamen neue Eindrücke und Erinnerungen an Speisen, Gewürze und Geschmacksrichtungen. Es war ein wahres Fest. Nur persönliche Erinnerungen kamen nach wie vor keine. Nur Wörter, Bilder und Zusammenhänge zu Allgemeinwissen. Doch Leo spürte etwas in sich. Das Wort dafür war hm…Hoffnung. Leo hoffte darauf, sich bald an etwas mehr als nur unpersönliche Wörter erinnern zu können. An sein Leben und alles was damit zu tun hatte. An die Menschen, die darin vorkamen. Und an die Dinge, die er erlebt hatte. Ob die Erinnerungen daran langsam mit der vergehenden Zeit hereingeplätschert kommen würden, so als öffne sich ein kleiner Spalt? Oder würde ihm das ‚Alte’ auf einen Schlag wieder einfallen, würde er andersherum er durch einen Spalt ins Meer der Erinnerungen fallen? Wäre der Verband nicht gewesen, er hätte sich kräftig gegen den Kopf gehauen, nur um zu probieren, ob das etwas nutzte. Vermutlich nicht. „Wann kann ich mich wieder erinnern?“ fragte er den Doktor, der während Leo mit Essen beschäftigt gewesen war, mindestens drei Zigaretten geraucht, dabei aus dem Fenster gestarrt und sich durch diverse Papiere geblättert hatte. Papenstiehl drehte sich zu Leo um und presste die nächsten Wörter aus seinem Mund, während er gleichzeitig tief ein- und ausatmete: „Tja…wir wissen nicht wer… ähm… oder was die Amnesie – Ihren Gedächtnisverlust – verursacht hat. So lange das nicht geklärt ist, lässt sich nur schwer abschätzen… hm… wie hm... lange es dauern wird, bis...“ Er stoppte, als er Leos Gesichtsausdruck sah, der offensichtlich alles andere als freudig war und fügte schnell dazu: „…bis wir mehr wissen.“ Dann lächelte er. „Aber ich bin mir sicher, das wird schon. Sie sind ein gesunder junger Mann Leo und Sie werden sicher bald genesen. Vielleicht in äh… zwei oder drei Wochen, vielleicht auch in äh… einem… äh… oder zwei Monat, oder… hm… hm…“ Papenstiehl schien noch etwas sagen zu wollen, sah abwesend aus dem Fenster und überlegte es sich anders: „in jedem Fall müssen wir erst herausfinden, was genau es verursacht hat. So lange ist es das Beste, wenn Sie so viel wie möglich lernen, um sich zu erinnern.“ Er wich Leos Blick aus und fixierte etwas neben dem Bett. Leo wollte weiter nachfragen, doch in dem Moment kam Schwester Rosi herein und erstickte seinen Versuch etwas zu sagen mit ihrer schnellen und zackigen Art zu reden im Keim: „Sie sind schon fertig mit dem Essen? Kein Wunder so gut wie es Ihnen geschmeckt hat. Mir würde es auch hervorragend schmecken, wenn ich noch nie etwas anderes gegessen hätte. Warten Sie ab, bis sie mal etwas richtig Gutes probieren!“ Sie verdrehte die Augen nach oben. „Obsttorte! Einfach Göttlich. Aber ich hab auch noch etwas für Sie. Hier bitte:“ Sie nahm Leo die leeren Teller ab und klatschte ihm ein Trinkbehältnis auf sein Tablett. Er kam nicht umhin, Rosis Drängen nachzugeben und sofort von dem dampfenden Getränk zu kosten, welches sie ‚Kümmelkaffee’ nannte und dessen Geschmack ihm bereits in Form eines starken Geruchs aus der Tasse vorauseilte. Die heiße Flüssigkeit entfachte abermals ein Feuerwerk des herrlich aromatischen Geschmacks auf seinem Gaumen. Diesmal jedoch löste es in seinem Kopf etwas anderes aus, als das Essen vorher. Er konnte sich zwar an Kümmel und Kaffee im Einzelnen erinnern, doch die Kombination von Beidem war komplett neu für ihn. Bisher hatte er sich bei allem Neuen daran erinnert, dass er es früher bereits einmal gekannt hatte: entsprechende Bilder, Wörter, Bedeutungen und Eindrücke erschienen in seinen Gedanken. Aber Etwas das er anscheinend auch vorher noch nicht gekannt hatte, löste keine Erinnerungen und Assoziationen in ihm aus, war also quasi doppelt neu. Wie der Kümmelkaffee. Solche Dinge nannte Leo von nun an ‚Neu-Neu’. Während er den leckeren Kümmelkaffee trank und darüber sinnierte, was Neu und Neu-Neu zu bedeuten hatten, ging zuerst Rosi und kurz darauf auch der Doktor mit einem „bin gleich wieder da“ aus dem Raum. Leo war nun zum ersten Mal alleine. Sein Blick wanderte durch das Zimmer und viel auf die Zeitung des Doktors, die neben dem Bett am Boden lag. Darauf stand in Großbuchstaben: BITTERE NIEDERLAGE! FANS FORDERN RÜCKTRITT, NATIONALTRAINER SUCHT ENTSCHULDIGUNGEN: “Wir haben in der zweiten Hälfte einfach nicht mehr ins Spiel gefunden, der Gegner hat uns keinen Raum gelassen.“ Daneben abgebildet war das Bild eines Mannes mit weit aufgerissenem Mund, der offenbar aus Leibeskräften schrie. Mehr Text konnte Leo nicht lesen, denn die Zeitung lag in einiger Entfernung und der Rest war zu klein gedruckt. Was waren wohl diese Entschuldigungen und wo konnte der Trainer sie finden? Leo dachte angestrengt nach. Einen kurzen Moment lang sah es aus, als würden sich die Buchstaben auf der Zeitung bewegen, hin und her rutschen. Aber wie sollte das möglich sein? Oder erinnerte er sich bloß nicht daran, dass so etwas möglich war? Wahrscheinlich musste er sich einfach erst von dem Schlag auf den Kopf erholen. Der Doktor kam wieder. In seinen Armen trug er eine Kiste voll mit unterschiedlichen Dingen. Er stellte Sie ab, fischte ein Blatt Papier heraus und trug fein säuberlich L-E-O L-E-C-T-E-R in eine Zeile darauf ein. Der Anblick irritierte Leo. Er wusste nicht so recht, was er von ‚seinem’ Namen in geschriebener Form halten sollte. „Sooo, noch meine Unterschrift drauf und dann hätten wir das größte Übel schon erledigt.“ murmelte Papenstiehl mit halb geschlossenen Lippen und die frische Zigarette dazwischen bewegte sich synchron dazu mit. Dann tippte er das Blatt im unteren Teil kurz mit seinem Stift an, um es sofort zusammenzufalten und in seiner Hosentasche verschwinden zu lassen. Leo war verwundet. Ging eine Unterschrift nicht anders? Aber was wusste er schon… Bevor er nachfragen konnte, hielt ihm der Doktor einen quadratischen gelben Zettel und einen Stift unter die Nase. "Erkennen Sie das?" "Ja, man kann damit schreiben." "Sehr gut. Aber ich meine etwas anderes. Passen Sie auf." Mit einem Tipper hielt Papenstiehl den Stift genau in die Mitte des Papiers. Zuerst entstand nur ein Punkt, der immer größer und größer wurde, je mehr sich die Tinte ins Papier sog. Doch dabei blieb es nicht: zwar verweilte die Spitze des Stifts in der Hand des Doktors weiter in der Mitte des Zettels, doch der Punkt begann sich immer weiter auszudehnen, wurde immer größer - weit größer als die kleine Spitze des Stiftes eigentlich verursachen hätte können - und schließlich wuchsen feine Linien aus dem Punkt in der Mitte heraus, ohne das der Stift sich dabei bewegte. Die Linien zogen selbstständig über das ganze Papier, schlängelten sich wie dünne Fäden hin und her, übereinander und quer durcheinander, bildeten Muster und Formen, tanzten auf dem Papier. Stück für Stück entstand ein immer klarer werdendes Bild. Die Linien kamen langsam zur Ruhe, immer mehr von ihnen blieben an ihrer momentanen Position liegen. Leo erkannte schließlich was sie darstellten: eine Blume. Genauer gesagt eine hm…Blüte. Genau in diesem Moment als Leo es erkannte, zog der Doktor den Stift zurück und das Gebilde aus Linien und Formen erstarrte völlig. Nichts bewegte sich mehr, die geschwungenen Linien und Striche blieben alle dort, wo sie gerade waren. Das Bild war fertig. "Hervorragend. Das ist mir gut gelungen, nicht wahr, Leo?“ Papenstiehl wartete nicht auf eine Antwort. „Wissen Sie nun, was das ist? Und ich meine damit nicht die Ochsenblume hier auf dem Bild." Leo schüttelte den Kopf mit offenem Mund und weit geöffneten Augen, die auf das Bild der Blume gerichtet waren. Seine Finger fuhren über die Zeichnung, versuchten die Linien zu verwischen oder zu verschieben. Doch sie ließen sich nicht verändern, blieben so, wie sie waren. "Was ist das?“ "Es ist ein Denkzettel. Sie denken an etwas und es erscheint als Bild auf dem Zettel. Die Linien formen sich aus Ihren Gedanken, es sind sozusagen Gedankenlinien. Man benutzt es um sich an Dinge zu erinnern. Damit man sie nicht vergisst. Aber man kann es auch einfach nur zum Spaß machen." Papenstiehl grinste. "Probieren Sie es!" Noch bevor der Doktor zu Ende gesprochen hatte, griff Leo bereits nach dem Stift und ließ sich ein neues Stück Papier in die Hand drücken. "Eventuell fällt es Ihnen schwer, an etwas Konkretes zu denken, da Sie noch nicht viel kennen. Aber vielleicht lässt sich etwas Unterbewusstes hervorlocken. Lassen Sie die Gedanken einfach..." Papenstiehl machte eine weite Handbewegung und hatte plötzlich wieder eine Zigarette in der Hand, "...fließen." Sachte berührte Leo mit dem Stift das Papier. Ein Punkt entstand und wuchs langsam in die Größe. Er dachte an nichts Bestimmtes, blickte nur auf den Denkzettel. Nach kurzer Zeit sprossen bereits die ersten Linien aus dem Punkt heraus, schlenkerten wie Fahnen im Wind ziellos auf und ab, als suchten sie nach einem Muster. Es kamen immer mehr Linien hinzu, die nach Halt suchend hin und her trieben, ohne konkrete Formen zu bilden. Als der Zettel fast vollständig mit Ihnen ausgefüllt war, berührte der Doktor Leos Hand. "Das reicht." Die Linien kamen abrupt zum Stillstand. Es sah aus wie eine Sonne mit wild durcheinander rankenden Strahlen. Papenstiehl nickte, während er Leos Denkzettel betrachtete: "Gut." "Was hat das zu bedeuten?" Leo drehte den Zettel hin und her, konnte jedoch nicht viel mit dem Bild anfangen. "Das, was ich vermutet hatte". Der Doktor nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und blies den Rauch Richtung Decke. "Ihr Unterbewusstsein kann keinen konkreten Gedanken formen, da Sie nichts haben, woran Sie sich erinnern können.“ Asche rieselte von der Kippe zum Boden. "Es wird eine Weile dauern, bis Sie sich wieder an etwas Persönliches erinnern können." Der Doktor verwischte die Asche am Boden mit seinem Schuh. "Bis dahin sollten Sie die Zeit damit verbringen, möglichst viel zu lernen, um sich wieder erinnern zu können." Lernen… Leo blickte in den Tunnel. Dunkelheit blickte zurück. So viel Raum war noch schwarz. Es gab noch so viel mit neuen Erinnerungen zu füllen und die Schwärze zu füllen fühlte sich gut an. Die Neuen Dinge fühlten sich gut an (vor Allem das Essen). "Gut." sagte Leo. "Gut. Gut ist sehr gut. Das ist die richtige Einstellung.", nickte ihm Papenstiehl zu, "umso mehr Sie Neues lernen, desto schneller werden Sie sich erinnern können." "An den Denkzettel kann ich mich aber immer noch nicht erinnern. Ich erinnere mich kein bisschen daran, nicht einmal eine vage Vorstellung ist da, oder im Entferntesten etwas Ähnliches." Leo überlegte. Der Zettel gehörte definitiv in die Kategorie Neu-Neu, zum Kümmelkaffee. "Die anderen Sachen, zum Beispiel die Kleidungsstücke oder die Möbel, habe ich gleich erkannt, mir sind nur die Namen dazu nicht sofort eingefallen. Bei dem Zettel kann ich mich aber an gar nichts erinnern. Es kommt mir vor, als hätte ich so etwas noch nie gesehen." "Hm…“ Der Doktor kratzte sich am Kinn, wirkte abwesend. „Mooment…“ Aus der Kiste kramte er ein Buch hervor. Auf dem Einband prangte das Bild eines alten Mannes mit einem roten Bart, der so intensiv rot leuchtete, als würde er in Flammen stehen. „Wer ist das, Leo?“ „Ein alter Mann mit rotem Bart?“ sah er den Doktor fragend an. Mehr viel ihm dazu nicht ein, kein Name erschien vor seinem inneren Auge und auch kein Bild. „Hm.“ kratzte sich der Doktor an der Stirn. „Ihnen fällt wirklich nichts dazu ein? Gar… nichts??“ „Nein. Gar nichts. Keine Ahnung wer das sein soll.“ „Ok. Moment…“ Nach kurzem überlegen schnappte sich der Doktor die Zeitung und blätterte hastig darin hin und her, bis er gefunden hatte, was er suchte. „Da! Wer ist das?“ Er zeigte auf ein Schwarz-Weiß-Bild, welches einen jungen Mann mit gelockten dunklen Haaren und einem Fußballtrikot zeigte, ähnlich dem, das Leo hatte und auf dem Leopold Lechmann stand, nur das dieses hier die Nummer 8 statt der 11 hatte. Irgendwoher schien Leo das Gesicht zu kennen. Er sah sich in dem Tunnel seiner Gedanken um, lugte hinter bereits vorhandene Dinge und in dunkle Ecken, auf der Suche nach einem Namen. Doch es kam keiner. „Ich erkenne ihn, ich habe ihn schon mal gesehen, da bin ich mir ganz sicher. Aber mir fällt kein Name ein.“ „OK.“ Der Doktor atmete tief aus. Wieder holte er das Buch mit dem rotbärtigen Alten darauf hervor: „Er kommt Ihnen nicht bekannt vor. Kein klitzekleines bisschen?“ Leo überlegte noch einmal kurz, doch es war zwecklos. Nur Schwärze war da. „Nein, kein bisschen. Ich müsste lügen, wenn ich ja sagen würde.“ „Ist schon gut. Ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen. Warten Sie bitte kurz.“ Innerhalb weniger Sekunden war der Doktor aus dem Raum verschwunden und seine Schritte entfernten sich schnell von der Türe. Was hatte das zu bedeuten? Leo wusste es nicht, er hatte keine Erfahrung, mit der er die Situation vergleichen konnte. Während er zur Tür sah, durch die der Doktor verschwunden war, fiel sein Blick wieder auf die Zeitung. Er stutze. Dort stand in großen Lettern: ENDLICH! NATIONALTRAINER GAB SOEBEN SEINEN RÜCKTRITT BEKANNT. In einer dringenden Pressekonferenz gab der unter Druck geratene Trainer der Nationalmannschaft bekannt, dass er ab sofort nicht mehr zur Verfügung steht. Daneben das Bild eines schreienden Mannes. Hatte er vorhin nicht etwas anderes gelesen? Wurde vorhin nicht gerade erst nach dem Rücktritt des Trainers verlangt? Aber die Zeitung lag mit der Titelseite nach oben. Mit der gleichen Titelseite, wie vorher, als er zum Ersten Mal darauf geblickt hatte. Oder hatte sein Gedächtnis hm…Fehler? Vielleicht war die Verletzung an seinem Kopf schlimmer als angenommen. Statt sich weitere Gedanken darüber zu machen, die ihn nur tiefer in die Schwärze des Tunnels führten, wollte Leo lieber etwas Neues lernen, um die Schwärze mit Sinn zu füllen, bis der Doktor zurück kam. Er brauchte sich nicht lange umsehen: das Buch mit dem Bild des rotbärtigen Mannes darauf lag direkt neben ihm. Neugierig auf dessen Inhalt schlug er die schweren Seiten auf, die mit großen Buchstaben und großen bunten Bildern gefüllt waren. Offenbar handelte es sich um ein Buch für Kinder. Zwar verstand er vieles nicht von dem was da stand, aber er war begierig darauf, so viel Neues wie möglich zu lernen. Wahllos begann er mittendrin zu lesen: ’…Und so stellte sich die Allianz ihrer größten Herausforderung: der Schlacht im Tal der Stürme. Die verräterischen Kontermagier befanden sich in ihrem Rücken und die gefürchteten Soldaten der Moffen mit ihrer gewaltigen Streitmacht direkt vor ihnen. Die Soldaten der Moffen hatten sich aus allen Teilen des Reiches gesammelt, um die Kräfte der anderen Welt ein für allemal zu vernichten. Sie hatten die schrecklichsten Waffen geschmiedet die man kannte und die verdorbensten Söldner angeheuert, die sich für Geld kaufen ließen. Im Tal der Stürme sollte es zur großen finalen Schlacht kommen, die das Schicksal der anderen Welt für immer bestimmt hat. Die Befehlshaber der Armee des Feuers berieten sich und beschlossen, zuerst die Moffen anzugreifen, um den Attacken der Kontermagier zu entgehen. Doch ER stellte sich gegen diese Entscheidung. In der Vergangenheit hatte er seinen scharfen Verstand bereits mehrmals eingesetzt, um die Pläne seiner Feinde zu durchschauen. Und auch diesmal war ER überzeugt, dass die Kontermagier einen hinterhältigen Angriff planten, mit dem sie die Armee des Feuers überrumpeln wollten, sobald sie sich im Kampf mit den Moffen befanden. Durch den Einsatz der sagenumwobenen und gefürchteten ‚Todesmaschine’, die angeblich 1.000 Mann mit einem Schlag vernichten konnte, wären die Kontermagier in der Lage, beide Armeen auf einmal zu zerschlagen. Die anderen Anführer waren jedoch skeptisch. Sie glaubten nicht an die Existenz der Maschine und verlangten einen Beweis. ~ Im nächsten Kapitel erfahrt ihr, wessen Blut fließt und wie ER an seinen allseits bekannten Namen kommt…“ Leo wollte umblättern um weiter zu lesen und zu erfahren wer ‚er’ war, doch von draußen erklangen Stimmen, die näher kamen. Als er hochblickte, kam der Doktor gerade wieder in den Raum. Auf Papenstiehl’s Stirn hatte sich eine dünne, klare Flüssigkeit gebildet, hm…Schweiß und seine dicken langen Haare waren noch stärker durcheinander wie zuvor. Hatte das etwas zu bedeuten? „Was ist los Doktor? Stimmt etwas nicht?“ „Ja - äh nein.“ die Stimme des Doktors klang unruhig und holprig, als hätte er seinen Mund nicht unter Kontrolle und er schüttelte seinen Kopf „Alles in Ordnung.“ Selbst um die Kippe auf dem Tisch kümmerte Papenstiehl sich nicht mehr, er bedachte sie keines Blickes, während sie stetig vor sich hin qualmte. Ihr Rauch reizte Leo wieder in der Nase, doch diesmal war es ausschließlich unangenehm. Papenstiehl holte zwei Gegenstände hervor. In der einen Hand hielt er etwas längliches so fest umklammert, das Leo seine Knöchel weiß hervortreten sah, den Gegenstand aber nicht erkennen konnte. In der anderen hielt er eine hm…Brille, die jedoch viel zu groß war für das, was Leo mit dem Wort ‚Brille’ verband. Mindestens doppelt so groß, wenn nicht sogar noch mehr. Zudem konnte man nicht hindurch sehen – zumindest von Leos Seite aus nicht – denn die Gläser waren komplett schwarz. Mit einer Hand fummelnd setzte der Doktor die Brille auf, ignorierte das sie völlig schief saß und drehte mit seinen Fingern an ihrer Seite an irgendetwas herum. Leo musste lachen, denn als Papenstiehl mit der schief sitzenden, schwarzen, übergroßen Brille seinen Kopf immer näher an Leos Kopf heranbewegte, aber gleichzeitig versuchte, mit seinem Körper Abstand zu ihm zu bewahren, resultiert dies darin, dass er sich viel zu weit vorbeugte und hastig auf dem Bett abstützen musste, wobei er unverständliche Flüche ausstieß. „Was wird das Doktor, soll ich erraten was das ist?“ Schließlich nahm Papenstiehl die Brille ab. „Ähm…“. Er schluckte. „Was ist? Was haben sie gesehen? Ist alles in Ordnung mit mir?“ Leos gutes Gefühl bei der Sache verschwand allmählich. Die Haut des Doktors war eigenartig weiß geworden. Blass nannte man es. „Machen Sie sich keine Sorgen.“ Papenstiehl sah ihn nicht an beim sprechen. „Das wird schon wieder. Halten Sie mal.“ Er drückte Leo die große Brille in die Hände und zitterte dabei leicht. „Wir nehmen eine komplexe Untersuchung vor. Um Ihnen zu helfen. Nichts Schlimmes. Nein, nichts Schlimmes. Es ist ganz schnell erledigt, machen Sie sich keine Gedanken darüber.“ Dann rief er nach draußen: „Rosi! Eine Acht.“ Mit einer einzigen, geschmeidigen Handbewegung packte der Doktor Leos Arm und drückte ihm einen spitzen, stechenden Gegenstand in die Haut. Es geschah so unerwartet, dass er noch nicht einmal aufschrie, geschweige denn etwas dagegen machen konnte. Da er nicht gesehen hatte was der Doktor ihm da in den Arm gesteckt hatte, begriff er auch nicht, was nun passierte. „Sehr gut.“ hörte er Papenstiehl von der Seite durchatmen. Seine Stimme klang nun nicht mehr unruhig, sondern eher hm…erleichtert. Leo unterdessen versuchte sich zu bewegen, gab seinen Armen und Beinen den Befehl sich anzuheben, aufzustehen. Doch es gelang ihm nicht, er bekam nicht mehr als ein kurzes Zucken und Zappeln zustande, wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Schlafen Sie.“ Papenstiehl atmete tief aus. „Schlafen Sie schön.“ Während er das sagte, verschwammen die Konturen des Raumes Stück für Stück vor Leos Augen. Zäh und träge, wie in Zeitlupe, kam das Wort müde in den Tunnel seiner Gedanken gerutscht. Seine Sinne nahmen den Raum um ihn herum war, als hätte ihn jemand unter Wasser getaucht. Dumpf und weit entfernt. Und obwohl sein Herz laut und aufgeregt in seiner Brust pochte – es klang, als käme dieses Pochen von irgendwo tief unter ihm und mit jedem Schlag erzitterte der Boden – vielen ihm die Augen immer weiter zu. „Schlaaaaafen Sieee Leoooooo“ hallte die Stimme des Doktors in seinem Kopf wieder. Der verschwommene, wabernde grüne Umriss namens Philipp Papenstiehl verließ den Raum, zog die Tür hinter sich zu. Kurz darauf hörte Leo ein dumpfes 'Klaaaack-Klaaaaack'. Das Wort „zugesperrt“ plumpste geräuschlos in den Tunnel und wirbelte eine Staubwolke auf, die Leo komplett einhüllte. Seine Augen wurden schwer. Zu schwer um sie offen zu halten, viel zu schwer. Dunkelheit umschloss ihn. Leo schlief ein. Kapitel 3: Erwachen ------------------- Leo erwacht alleine im Zimmer und erfährt etwas das ihm Angst macht... ----------- Erst Dunkelheit. Dann Licht. Ich war alleine in einem dunklen Tunnel, in dem sich ansonsten nichts außer Schwärze befand. Gestaltlose, inhaltslose Schwärze. Keine Erinnerungen. Kein Gedächtnis. Doch halt, da war noch etwas: Ein Augenpaar beobachtete ihn. Die Augen gehörten zu einem Gesicht, das eine Bandage über der Stirn hatte und ein Pflaster auf der Nase. Sein Gesicht. Das Erste was ihm einfiel und sich als kleines Licht in den dunklen Tunnel hinabsenkte, war sein Name. Im Halbschlaf nuschelte er den Namen vor sich hin: “Leooo Leecteeer.“ Langsam dämmerte er in die Realität zurück. Seine Augen waren wie zusammengeklebt und nur mit Mühe konnte er die Lider ein Stückchen auseinander ziehen. Sein Hals brannte und auf seinen Wangen spürte er Schweiß. Die Erinnerung an den Doktor kam. An das Krankenzimmer. An Freude, Verwirrung, Angst. Hatte er geträumt? Oder war das real? Sein Körper war so… müde, vor seinen Augen alles leicht neblig. Das Zimmer sah aus wie das in seiner Erinnerung: Bett, Schrank, Tisch, Fenster, Tür, Toilette. Diese Worte kamen ihm sofort in den Sinn. Also war es real. Noch verstand er es nicht, seine Gedanken flossen träge und zäh durch seinen Kopf, widerstrebten seinen Bemühungen einen klaren Zusammenhang herzustellen, oder wenigstens ein klares Ziel zu formulieren. Doch ein innerer Drang zwang ihn dazu aufzustehen. Stöhnend setzte er sich aufrecht, schob die Beine über die Bettkante. Nur seine Glieder wollten ihm nicht recht gehorchen, gaben ihm keine ordentliche Rückmeldung was sie gerade machten, waren taub. Als er sich auf seine Beine stellen wollte, gaben Sie einfach nach und er landete unsanft auf dem Boden. Dafür machte der Sturz ihn wacher. Aufmerksamer. Seine Sinne kamen ein Stück weit zurück, er spürte seine Beine wieder und der Nebel vor seinen Augen verzog sich mehr und mehr. Unter voller Konzentration strengte er sich an, rappelte sich auf und stand schließlich, gestützt an den Schrank, auf eigenen Beinen. „Ja!“ hauchte er sich selbst zu. Auch sein Mund gehorchte ihm noch nicht ganz. Schwer ging sein Atem, sein Brustkorb hob und senkte sich und mit jedem Atemzug den er nahm, befreite er sich ein Stück von der Müdigkeit, die in ihm festsaß. In seinem Kopf spürte er etwas Unangenehmes, als ob ein kleines Männchen von innen mit Gewalt gegen seine Stirn drückte. Er wusste, das es einen Begriff dafür gab, aber er viel ihm nicht ein, also nannte er es fürs Erste Unangenehmes-Gefühl-hinter-der-Stirn. Vorsichtig löste er sich vom stützenden Schrank und stellte sich ganz auf seine Beine. Obwohl sie ihm wegzuknicken drohten, riskierte er es und taumelte einige Schritte nach vorne. Das Gefühl war, als würde er auf Stelzen laufen, die ihm nicht hundertprozentig gehorchten und mal in die eine, Mal in die andere Richtung wanderten, ohne dabei einem vorgegebenen Rhythmus zu folgen. Was hatte der Doktor bloß mit ihm gemacht? Müdigkeit zog sich nach wie vor durch seinen ganzen Körper und seine Gedanken. Papenstiehl hatte ihm etwas gegeben, daran erinnerte er sich. Wahrscheinlich war es ein hm…Mittel-für-Schlaf. Am liebsten hätte er sich einfach wieder hingelegt und weiter geschlafen. Aber das konnte er nicht. Er war niemand, der sich einfach wieder hinlegte, sagte ihm eine innere Stimme. Leo wollte raus hier, so viel wusste er sicher. “Zieh dir vorher noch etwas an.“, sagte die Stimme in seinem Kopf. Und sie hatte Recht. Was immer ihn da draußen erwartete, dass Nachthemd das er trug war höchstwahrscheinlich nicht dazu geeignet, um dem entgegenzutreten. Seine Hose lag direkt neben ihm über einem Stuhl. Natürlich hatte er sie sicher schon einmal an gehabt, aber er konnte sich weder daran erinnern, noch wusste er wie man eine Hose überhaupt anzog. Weiterhin an den Schrank gelehnt, schlüpfte er ungelenk in ein Bein und dann in das andere. Es ging ganz automatisch, denn obwohl sie noch müde waren, wussten Muskeln und Glieder genau was zu tun war, welche Bewegungen ausgeführt werden mussten, um in die Hose zu kommen, ohne dass er darüber nachdenken musste. Doch als er dann begann zu überlegen, wie man den Reißverschluss und Knopf oben zumachte und nach Lösungen in dem dunklen Tunnel suchte, klappte es nicht mehr. Erfolglos fummelten seine Hände an dem Verschluss herum. „Denken Stopp!“ sagte er sich laut. Natürlich dachte er nun nur noch mehr darüber nach. Doch da der Mechanismus hinter Reißverschluss und Knopf leicht durchschaubar war, schaffte er es schließlich und alles war da, wo es hinsollte. „JA!“ rief er reflexartig und wieder kam das Gefühl der Freude, das in seinem Bauch prickelte. Doch das nächste Hindernis kam sogleich in Form von Schuhen. Noch bevor seine Hände die Schuhbändel berührt hatten, begann sein Gedankengang zu stocken und er fragte sich vergebens wie man es anstellte, sie zu binden. Ein Seufzer entwich seinem Mund und bevor er lange nachdachte, stopfte er die Bändel einfach seitlich in die abgelaufenen Dinger, um sich der nächsten Aufgabe zuzuwenden: er brauchte auch etwas für seinen Oberkörper. Leider konnte er das Fußball-Trikot von Leopold Lechmann nirgends entdecken. Der Doktor musste es mitgenommen haben. Ein Blick in das kleine Bad förderte jedoch ein Oranges, weiches und hm…flauschiges Kleidungsstück zu Tage, welches die Länge eines Mantels hatte und das man vorne mit einer Art Seil zubinden konnte. Zwar viel ihm der Name dafür nicht ein, aber das war egal, solange es warm gab. Nun war er bereit für die Welt da draußen (Noch hatte er keine richtige Vorstellung davon, was ihn ‚da draußen’ erwartete). Leo drückte die Türklinke hinunter. Verschlossen! Richtig, der Doktor hatte abgeschlossen, daran erinnerte er sich. Erinnerung… wenn er doch nur mehr davon hätte und wüsste, was hier mit ihm vorging. Ohne die Hand von der Klinke zu nehmen, drehte er sich wieder um Richtung Zimmer. Da waren Stimmen. Fetzen und Töne von Wörtern die er nicht kannte kamen von draußen, von vor der Tür. Ihr Klang und Ihre Bedeutung klangen fremd für ihn. Die eine gehörte einem Mann. Sie klang hoch und ungleichmäßig. Schwang hin und her, als wüsste sie nicht, welche Tonlage sie einschlagen wollte. Es war Doktor Papenstiehl. Die andere gehörte einer Frau, aber es war nicht Rosi. Sie klang scharf und so schneidend als wollte sie etwas zertrennen. Die Beiden Stimmen kamen nun der Tür näher. Leo hörte Schritte und verstand ein paar Wörter, zuerst von der Frau: „…sofort …reag… … Risiko… zu groß… Gefahr … Sicherheit …ich …fahren …eliminieren.“ Angestrengt lauschte Leo mit dem Ohr an der Tür und machte zwischendrin die fipsig wirkende Stimme Papenstiehls aus: „…Spektor … bitte … müssen warten.“ Der Doktor schien ständig nach Luft zu schnappen, denn seine Worte überschlugen sich fast, so schnell redete er. Die Schritte kamen der Tür derweil immer näher und die Stimmen wurden lauter, auch die des Doktors.: „…können… nicht zurückschicken …wissen nicht woher kommt… was wenn…“ „Paperlapp Papenstiehl!“ schnitt ihn die Frau ab. Die Schritte waren nun direkt hinter der Tür angekommen. „Kein unnötiges Geschwätz! Öffnen Sie die Türe Doktor!“ verlangte die Frau, „Ich werde die Löschung unverzüglich durchführen, es gibt keine andere Möglichkeit!“ Was war eine Löschung? Leos Herz machte einen Sprung in seiner Brust, als er die schroffe Aufforderung der Frau hörte und ohne es kontrollieren zu können, wich er einige Schritte zurück. Ein zögerliches „Äh… Nein, das mache ich nicht!“ von Papenstiehl drang durch die Tür. „WEGLAUFEN!" rief Leo ein Impuls aus der unbewussten Tiefe seiner Gedanken zu. Seine Augen streiften das Fenster gegenüber der Türe. Durch das Fenster konnte er fliehen! Das Wort Aufregung blitze vor Leo auf. Es ließ ihn nervös werden und sorgte dafür, dass sein Herz wild hämmerte, machte ihn wacher und konzentrierter. Er nahm die Umgebung zum ersten Mal wieder richtig klar und deutlich war. Sein Atem ging schneller, fast im Sekundentakt schnaufte er ein und aus. Die Stimmen vor der Tür plapperten nun wild durcheinander und Leo konnte nichts mehr deutlich verstehen. „ICH MUSS LEISE SEIN, SONST BEMERKEN SIE MICH“ sagte die Stimme in seinem Kopf. Also stützte er sich an die Wand und bewegte sich Schritt für Schritt, so leise es ihm möglich war, von der Tür weg. „Öffnen Sie sofort die Türe!“ die Stimme der Frau wurde wieder verständlich, klang selbst durch die Tür so laut und nah, als stünde sie direkt neben ihm. Leo lief es kalt den Rücken hinunter. „NEIN! Ich bin verpflichtet, meine Patienten zu beschützen. Wenn wir jetzt sein Gedächtnis noch einmal löschen, riskieren wir irreparable Schäden. Es kann passieren, dass sein Gehirn so stark beschädigt wird, dass er sich nie wieder erinnern kann. Sein ganzes Leben lang nicht.“ Leo war am Bett angekommen, die Angst und Aufregung in ihm wuchs. „ICH BRAUCHE DIE DINGE DIE ICH BEI MIR HATTE, SONST HABE ICH KEINEN HINWEIS WER ICH BIN.“ sagte die Stimme in seinem Kopf. Er musste sich die Sachen auf dem Tisch neben dem Bett so schnell er konnte holen. „Kann und könnte gehören nicht zu meinen Aufgaben Doktor! Mich interessieren nur die Fakten und das ist der Schutz der Bevölkerung vor Leuten wie ihm.“ Leo griff sich das Bild der jungen Frau, das Geld, die Kaugummipackung, den zerknüllten Zettel und die anderen Dinge. Seine Hände waren vor Aufregung zittrig und ungeschickt, ließen vor lauter Eile fast den Stift herunterfallen. Bloß keine Geräusche machen! Hastig stopfte er die Dinge in die Taschen des Bademantels und ging die letzten Schritte zum Fenster, immer darauf bedacht, das seine Schuhe beim auftreten nicht den geringsten Laut von sich gaben. Draußen keifte indes die Frau weiter, ihre Stimme immer schneller und höher: „Das Protokoll schreibt genau vor, was in so einem Fall zu tun ist, Doktor, Sie wissen es selbst: Löschung und Rückführung! Da gibt es keine Ausnahmen! Löschung und Rückführung! Machen Sie endlich die Tür auf!“ Mit einem großen Schritt erreichte Leo das Fenster. War es ein Fehler gewesen, Zeit mit dem holen der Gegenstände zu vergeuden? Aber es war alles was er hatte, die einzigen Hinweise auf seine Identität, er brauchte sie, ohne sie war er …Nichts. Durch einen Blick aus dem Fenster stelle er fest, dass sich dort draußen ein Hinterhof befand, so wie ein armlanger Absatz direkt unter dem Fenster, von dem aus es ein halbes Stockwerk weit nach unten ging. So tief sollte er springen können. Plötzlich wurde die Türklinke heruntergedrückt, jemand rüttelte heftig daran und ein lautes Klappern ertönte im Raum. Für eine quälend lange Sekunde stand die Zeit scheinbar still. Leos Blickfeld verengte sich völlig auf das kleine silbrige Ding, das die Tür öffnen konnte und als einzige Barriere zwischen ihm, sowie der Frau und dem Doktor stand, die mit ihm eine ‚Löschung’ durchführen wollten. Blut pulsierte durch Leos Körper, pumpte mit aller Kraft durch seine Adern und ließ sein Herz noch schneller schlagen. Er konnte sich auf nichts anderes als die gerade heruntergedrückte Türklinke konzentrieren, sein Atem stoppte und ihr Bild brannte sich in seine Augen. Mehrmals klackerte der Griff von oben nach unten. Die Stimmen vor der Tür redeten wild durcheinander, ohne dass etwas zu verstehen war. Die Klinke stand auf einmal wieder still. Leo riss sich nur mit Mühe von dem Anblick los. Das war eindeutig zu viel für ihn, er musste SOFORT hier raus. Aber wie öffnete man ein Fenster? Den Türgriff hatte er reflexartig benutzt, aber beim Fenster begann er über die Funktionsweise nachzudenken und je mehr er das tat, desto unsicherer wurde er, wie es ging. Abermals schnitt die Stimme der Frau durch die Tür: „Das wird Konsequenzen für Sie haben, Papenstiehl! Ich werde diese Tür mit Gewalt…“ Leo schwitzte immer stärker und rüttelte am Griff des Fensters. „HALT!“ Eine dritte Stimme kam draußen hinzu. Sie gehörte einem Mann und klang viel schwächer als die anderen Beiden, gerade noch hörbar für Leo. Der Mann musste sich weiter entfernt befinden. Der Doktor und die Frau verstummten und Schritte tippelten von der Tür weg. Stimmen redeten durcheinander und Leo konnte nur Bruchstücke hören, während er die Gelegenheit nutzte und panisch an dem Fenstergriff zerrte. Ziehen? Drehen? Wie ging es? Und mit welchem Kraftaufwand, ohne gehört zu werden? „...wurde gerufen … klarer Fall…“ sagte die dritte Stimme, die zwar nur schwach, aber noch am deutlichsten von den Dreien zu hören war. „…Ermittlungen mussen fortgefuhrt werden. Wir mussen wissen, was… vorgefallen… ohne seine Erinnerungen nicht… brauchen …hochste Brisanz… herausfinden wie Link aktiviert… obwohl Schlafer ist.“ Das Fenster kippte abrupt in die Schräge und gab ein lautes, gut hörbares Knarren von sich, welches man sicher auch durch die Tür noch hören konnte. Leo erschrak. Ein ruckartiges Zucken durchfuhr seinen Körper von den Füßen bis zum Kopf und die Härchen auf seinen Armen stellten sich merkbar auf. Gleichzeitig war es draußen still geworden. Er hielt die Luft an, traute sich nicht, ein- oder auszuatmen, aus Angst sich dadurch bemerkbar zu machen. „Was war das?“ schnitt die Stimme der Frau durch die Stille und kam wieder näher. Trotz der Dämpfung durch die Tür hatte sie immer noch diese hörbare Schärfe, als wollte sie jemanden mit Ihren Worten verletzen. „Machen Sie sofort auf!“ Die Türklinke wurde abermals heruntergedrückt und wieder fixierten Leos Augen die Klinke. Für einen kurzen, schrecklichen Moment nahm er nur noch das silbrige Ding war, wie es herunter gedrückt wurde und die Tür sich öffnete. Doch sein Verstand setzte sofort wieder ein: „Sie ist abgeschlossen. Ich habe mindestens noch solange Zeit, wie sie zum aufschließen benötigen.“ Wie zur Bestätigung hörte er ein gebelltes „Zuruck!“ der Dritten Stimme. Die nächsten Wortschnipsel verhallten unter schnellen Schritten, die sich von der Tür entfernten, bis sie kaum noch hörbar waren. Die Lähmung ließ nach und Leo entspannte sich wieder. Mit zittrigen Händen und möglichst leise schloss er das Fenster, denn durch den gekippten Spalt konnte er nicht nach draußen. Vorsichtig drehte und zog er weiter an dem Griff. „…möglich das zu wenig… gegeben“ kamen Wortbrösel der Stimme des Doktors. durch die Tür „...sehr aufgeregt und Kaffee…“ Dann redete wieder der dritte Mann, konstant und ohne eine Pause zu machen, aber nahezu unverständlich für Leo. Seine Stimme klang anders als die des Doktors und der Frau, so… ruhig. Aber da war noch etwas. Sie klang, als spreche er eine andere Sprache. Nein, als spreche er unsere Sprache, aber auf eine andere Weise. Es gab ein Wort dafür, aber Leo hatte jetzt wichtigeres zu tun, als danach zu suchen. Endlich gab das Fenster nach und schwenkte mit einem leisen knarren nach innen. Frische Luft von draußen schlug Leo entgegen, streifte über seine Wangen und den Verband auf seinem Kopf. Das Wort Freiheit drückte sich in seine Gedanken. Sein Herz pochte wieder schneller unter seiner Brust. Ohne zu zögern kletterte Leo durch das Fenster auf den Absatz davor hinaus. „…jetzt hinein und ihn aufwecken…“ ereichte in diesem Moment von hinten seine Ohren. Zwar wusste nicht ob er aus dieser Höhe gefahrlos springen konnte, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als es auszuprobieren. Leo hielt die Luft an und sprang. Kapitel 4: Hallo Welt! ---------------------- Leo flüchtet vor dem Doktor und den Beiden Stimmen vor der Tür aus seinem Krankenzimmer. Draußen erwartet ihn das Unbekannte, so wie einige Überraschungen... ------------ Leo sprang und genoss während dem kurzen Fall nach unten die neu gewonnene Freiheit, begleitet von einem flauen Gefühl in seinem Magen. Sofort nachdem seine Füße durch die Schwerkraft auf den Kiesboden gepresst wurden, verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Machtlos gegen die Fliehkräfte stürzte er nach vorne. Harte, kantige Steine bohrten sich unerbittlich in seine Arme und Beine, die zum Glück von dem Mantel und der Hose etwas geschützt wurden. Wieder spürte er das Unangenehme-Gefühl-hinter-der-Stirn, nur diesmal nicht im Kopf, sondern an seinen Armen und Beinen, die auf dem Boden aufgeschlagen waren. SCHMERZ war das richtige Wort dafür. Es schnitt genauso hart und gnadenlos in seine Gedanken, wie die Steine in sein Fleisch. Sofort fiel ihm ein weiteres Wort ein: „SCHEIßE!“ entfuhr es seinem Mund und er spuckte es dem Boden entgegen. Von oben kam ein lautes Poltern, Rufe und Schritte. „Er flieht, ihm nach!“ kreischte es durchs Zimmer hinter dem Fenster, aus dem er gekommen war. Leo musste sofort von hier weg, sonst würden sie ihn kriegen und wasweißich mit ihm machen! Unter den Eindrücken der neuen Wörter Schmerz und Scheiße rappelte er sich mit Händen und Füßen rudernd nach oben, stolperte, lief und rannte so schnell er konnte los. Keine Zeit zum umsehen. Keine Zeit zum nachdenken. Den Blick immer auf den Boden gerichtet, um nicht noch einmal hin zu fallen. Um sich herum nahm Leo nichts wahr außer dem Kies unter seinen Füßen und dem Asphalt vor ihm. Seine Beine schmerzten von dem Sturz, doch er ignorierte es so gut er konnte, erreichte taumelnd eine feste Straße, konzentrierte sich weiter nur aufs Laufen und bog um die nächste Häuserecke. Egal wohin, Hauptsache weg von dort, wo er hergekommen war, weg von den Stimmen, weg von diesen Leuten und weg vom Doktor. Nachdem Leo einige Minuten gerannt und mindestens zweimal in eine andere Richtung abgebogen war, sah er zum ersten Mal bewusst nach vorne, weg vom Boden und blickte sich um. Im selben Moment als er die Dinge um sich herum mit den Augen sah, erschienen die Wörter dafür vor seinem inneren Auge. Mit jedem Blick kamen neue Erinnerungen zurück zu ihm. Da waren hm…Häuser, Menschen, hm…Bäume, noch mehr Häuser, Straßen, hm…Schilder, Mülltonnen und ein hm…Elefant. „Ein Elefant? SCHEIßE!“ Genauso wie vorher im Zimmer, als die Türklinke gedrückt wurde, blieb Leo komplett gelähmt stehen, starrte auf das, was er sah und konnte sich weder bewegen, noch einen andern Gedanken fassen: wenige Meter von ihm entfernt, auf der anderen Straßenseite, stand ein großer, grauer, ausgewachsener Elefant, so hoch wie zwei Stockwerke. Das gewaltige Tier wurde von mehreren Männern in Uniformen begleitet. Die Männer trugen blau-rote Anzüge und Krawatten. Sofort fiel Leo das Wort ‚Zirkus’ ein, doch das hier war kein Zirkus. Der Dickhäuter hob etwas mit seinem Rüssel hoch und warf es in einen großen Behälter auf seinem Rücken. Dann setzte der Elefant das mannsgroße schwarze Gefäß, dass er zuvor mit in seinem Rüssel angehoben hatte, wieder auf der Straße ab und es wurde sogleich von einem der Männer beiseite geschoben. Ein anderer hielt dem Elefanten etwas hin, dass dieser sich sofort schnappte und in sein Maul schob. Dann deutete der Mann mit einem Stock auf das nächste Haus und der Elefant setzte sich laut trötend in Bewegung. Es war das lauteste Geräusch, das Leo bisher gehört hatte. Es übte einen unangenehmen Druck auf seine Ohren aus, erzeugte ein hämmerndes Vibrieren darin. Auf dem Hinterteil des Dickhäuters prangte ein Banner mit der Aufschrift: ~ Müllentsorgung Gebr. Potz ~ ~ Sauber & Dick seit 172 n. BB ~ Die Kontrolle über seine Wahrnehmung kam schlagartig zu Leo zurück, als er erkannte, dass ihm keine Gefahr drohte. Der Elefant schleuderte den Inhalt der nächsten Mülltonne in den Container auf seinem Rücken. So etwas hatte Leo noch nie zuvor gesehen oder davon gehört, da war er sich ganz sicher. DAS war definitiv Neu-Neu. Kopfschüttelnd eilte er weiter die Straße hinunter und schob die Gedanken an den Elefanten beiseite, wohl bewusst, dass er gerade wertvolle Zeit verloren hatte. Wie lange hatte er gestanden und den Müll-Elefant beobachtet? 10 Sekunden, 20 Sekunden, gar mehrere Minuten? Blieb nur zu hoffen, dass seine Verfolger nicht so schnell laufen konnten wie er. Willkürlich nahm er die nächste Straße nach links. Zwar waren noch einige andere Passanten hier unterwegs, aber niemand beachtete ihn. Mit dem Wort Straße war Leo vorher auch gleich das dazu passende Wort ‚Auto’ eingefallen. Aber so fiel er sich auch umsah, hier gab es keine Autos und die Straße hatte auch keinen Strich in der Mitte, obwohl ihm seine Erinnerung sagte, dass dies üblich wäre bei Straßen. Vielleicht handelte es sich um eine von jenen Straßen, auf denen keine Autos unterwegs waren, sondern nur Fußgänger. Doch der Name hierfür fiel ihm nicht ein. Ständig musste Leo sich zwingen wenigstens in halbwegs schnellem Tempo weiterzulaufen, denn sein Blickfeld hatte sich nach dem Schock von vorhin mittlerweile wieder erweitert. Er sah überall neue, bisher unbekannte Dinge, die seine Aufmerksamkeit beanspruchten, ihn zum staunen brachten, oder ihm neue Wörter einfallen ließen. Die Häuser standen hier ohne Abstände direkt Wand an Wand und hatten alle mehrere Stockwerke. Je weiter er kam, desto mehr Menschen waren unterwegs. Lauter unterschiedliche Menschen: Männer, Frauen, Kinder und alle waren sie anders angezogen. Er sah die Leute um sich herum an und alle trugen etwas anderes: Hüte, Mützen, Krawatten, Anzüge, Schals, Stiefel, Taschen, Rucksäcke, lange Kleider, kurze Kleider, Latzhosen, Koffer undundundundund. Alles aufzuzählen hätte den ganzen Tag gedauert. Vieles was er um sich herum sah, kam ihm hm…seltsam vor, vieles war Neu-Neu, nicht ‚normal’ laut seinem Gedächtnis. Aber vielleicht waren seine Gedankengänge auch falsch verbunden, vielleicht war was ihm jetzt ungewöhnlich erschien, in Wirklichkeit ganz normal. Menschen kamen ihm entgegen, liefen in seine Richtung, schlängelten sich auf hm…Fahrrädern durch die Menge, kreuz und quer über die Straße. Andere gingen rein und raus aus Gebäuden, deren Schilder auf alle möglichen Geschäfte hinwiesen, deren Bedeutung ihm schleierhaft waren: „Saix - Die Besten Tattoos der Stadt“, „Geschenke für Moffen“, „Ostros Kaffeehaus – das Haus der 1.000 Sorten“, „Adrenalin für die Hose“ und „G.F.O Gebäude 827 - Abteilung für Sonderangelegenheiten“. Mit dem was Leo sah prasselten Begriffe und Wörter jeder Form, Farbe und Größe in den dunklen Tunnel seiner Erinnerungen herab, immer mehr und mehr. Ein Strom aus Neuem, der kein Ende zu nehmen schien, sondern im Gegenteil immer größer und schneller wurde und alle seine Gedanken mitriss. Wahllose Begriffe rasten an ihm vorbei, ohne dass er es kontrollieren konnte: AUSVERKAUF, WARENHAUS, EINGANG, MITTAGESSEN, ZOLLSTOCK, TISCHDECKE, SPÜLMITTEL, KEBAP, KABELJAU, STRICKGARN, SONNTAGSHOSE, LEICHTMATROSE und endlos weitere, zusammenhangslose Wörter, als würden die Seiten eines Lexikons im Sekundentakt an ihm vorbeifliegen. So viele auf einmal waren es, das er das Gefühl hatte, sein Kopf könnte jeden Moment überlaufen und Buchstaben, Wörter, Bilder und alles andere würde oben über den Rand seines Schädels schwappen, aus ihm herausfallen, mitten auf die Straße, in alle Richtungen über die Pflastersteine purzeln, um schließlich zwischen den Ritzen im Boden zu versinken. Heillos überlastet von all den neuen Eindrücken schloss Leo die Augen und atmete tief ein. Trotz der Schwärze vor seinen Lidern stürzten weiter von überall bunte Bilder herab, prügelten regelrecht auf seine Gedanken ein und tauchten den dunklen Tunnel in ein überbordendes Meer aus bunt schillernden Farben. Das Wort ‚DISKO’ stach besonders penetrant hervor und mit ihm kam gleich wieder ein halbes dutzend Weitere hinterher. „STOPP!“ schrie eine innere Stimme. Schwer schnaufend öffnete Leo erneut die Augen und versuchte sich der vielen Eindrücke zu erwehren. Er wurde verfolgt, das durfte er nicht vergessen! Wahrscheinlich waren sie bereits dicht hinter ihm. Aber statt wegzulaufen stand er nur da, orientierungslos und hilflos. Rang mit seinen eigenen Gedanken um die Kontrolle über seinen Körper. „ICH MUSS WEI-TER-LAU-FEN!“ brüllte die Stimme der Vernunft in seinem Kopf. Und er lief weiter, versuchte den reißenden Strom an neuen Wörtern und Bildern so gut es ging vorbeiziehen zu lassen ohne mitgerissen zu werden, sich auf den Weg vor ihm zu konzentrieren. Auf seine Flucht vor dem Doktor, der Frau und der dritten Stimme. Hastig blickte Leo sich nach ihnen um. Erst jetzt merkte er, dass er gar nicht wusste wie seine Verfolger aussahen (abgesehen von Doktor Papenstiehl). Er würde sie gar nicht erkennen, selbst wenn er sie sah. „Scheiße!“ rutschte ihm bereits zum dritten Mal das Wort laut heraus. Einige Passanten drehten sich neugierig zu ihm um. Schlagartig wurde Leo nun auch bewusst, wie auffällig und leicht zu erkennen er sein musste, mit seinem Verband um dem Kopf, dem Pflaster auf der Nase und dem hm…Bademantel – er fischte das Wort aus dem vorbeizischenden Strom und wieder hörte er sich „Scheiße“ sagen, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Verdammter oranger Bademantel! Sie würden ihn bereits von weitem mühelos erkennen können. Suchend ließ er seinen Blick in alle Richtungen durch die Menge wandern. Obwohl er so auffällig war, nahm anscheinend niemand in besonderer Weise Notiz von ihm. War es etwa normal, so herumzulaufen? Sein Blick nach hinten ließ ihn keine Verfolger erkennen, aber zum wiederholten Male war er durch die viele Ablenkung der ganzen Neuen Dinge fast zum stehen gekommen. Er überlegte, in welche Richtung er weitergehen sollte, wollte jemandem nach dem Weg fragen. Aber wo wollte er denn überhaupt hin? Er wusste es nicht, er kannte ja bisher nichts von der Welt außer dem Krankenzimmer. Ein ächzendes, schabendes Geräusch von oben riss Leo aus seinen Gedanken. Was war das nun wieder? Sofort blickte er sich um, jedoch konnte er die Quelle des lauten Schabens und Krächzens nicht erkennen. Auch sonst reagierte keiner der Passanten darauf, obwohl das Geräusch immer näher kam. Nervös sah Leo hin und her, wähnte die Geräusche bereits als nur in seinem Kopf existent, als sich ein Schatten direkt über ihn schob und den Boden unter seinen Füßen verdunkelte. Erschrocken blickte Leo nach oben. Nur wenige Meter über seinem Kopf befand sich blankes Metall. Ein langer, metallener Kasten ächzte und krächzte sich hoch über der Straße vorwärts, folgte ihrem Verlauf in der Luft schwebend. Es war ein rechteckiger, grüner Waggon, so groß wie eine Straßenbahn und mit Fenstern und Türen daran, genau wie eine Straßenbahn. Nur das dieses Ding nicht auf der Straße fuhr, sondern an einem für seine Größe lächerlich dünnem Kabel in der Luft hing, das auf Höhe der obersten Stockwerke die Straße entlang führte. „Junger Mann, haben Sie etwa Angst vor der Luftbahn?“ kam eine Stimme von der Seite und Leo wandte den Blick von der schwebenden Straßenbahn ab, die weiter vorne klackernd in eine andere Richtung abbog. Eine Frau stand neben ihm. „Sie ist zwar grässlich laut, aber so furcht einflößend nun auch nicht wieder. Sind Sie etwa neu hier in…“ Leo hörte der Frau nicht weiter zu, denn, von irgendwo her schallten aufgeregte Rufe über die Straße: „Platz da! Lasst uns durch!“ Zwei Männer in roten Uniformen bahnten sich einige dutzend Meter entfernt von ihm einen Weg zwischen den Passanten hindurch und stießen dabei fast einen Radfahrer um. Das mussten seine Verfolger sein! Sofort schoss Leos Puls hoch und wieder drohte die Lähmung einzusetzen. Die Beiden Männer hatten ihn noch nicht bemerkt, soweit er das erkennen konnte. “Entschuldigung.“ entgegnete er reflexartig der Frau die bei ihm stehen geblieben war und ließ sie verdutzt stehen. Ohne wirklich zu wissen was er tat, hechtete er in die nächstgelegene Seitengasse. Spärlich einfallendes Sonnenlicht von oben beleuchtete den schmalen Eingang. Zwei Türen befanden sich in den gegenüberliegenden Wänden, aber es gab keinen zweiten Ausweg, denn eine Hauswand blockierte die Rückseite. Leo hetzte bis zur Rückwand, an der einige Mülltonnen standen. Man konnte hier im Halbdunkel zwar sehen, aber nicht viel erkennen. Hoffentlich würden seine Verfolger ihn hier nicht sehen. Poch-Poch, Poch-Poch, Poch-Poch, Poch-Poch. Mit rasendem Herzen presste Leo sich rücklings gegen die dunkle Steinwand und der Begriff „tot stellen“ erschien vor seinem inneren Auge. Etwas namens hm…Unsicherheit baute sich in ihm auf. Er stand mit dem Rücken gegen die Wand. Wusste nicht was er tun sollte. „Ausweglos“ erschien das nächste Wort. Dann wurde der dunkle Tunnel in seinem Kopf mit einem Mal komplett schwarz, als hätte ihn jemand in einen Sack gesteckt und oben zugeschnürt. Keine leuchtenden Wörter, keine bunten Bilder, keine Haufen von Gegenständen waren mehr zu sehen. Nur Schwärze, dicke, alles verschlingende Schwärze, die keinen Platz für irgendeinen anderen Gedanken ließ, als ein Wort, das drohend und unüberwindbar groß im Tunnel prangte: A-N-G-S-T Unverrückbar. Nicht ignorierbar. Mit einer Intensität, die immer weiter anschwoll, die Kraft gewann mit jedem einzelnen Gedanken. Hinter der Ecke lauerten seine Verfolger, gleich kamen sie und holten ihn, gleich löschten sie seine Erinnerungen und er wäre auf immer und ewig gefangen in dem schwarzen Tunnel, dessen Wände ihn zerquetschten, ihm keinen Platz ließen für einen Gedanken über dieses verschlingende, zerstörerische Gefühl hinaus, auf ewig gefangen in der todbringenden Schleife der A-N-G-S-T. Mit aller Kraft kniff Leo die Augen zusammen, presste seinen Hinterkopf gegen die harte Steinwand. Schweiß ran über seine Wangen. Sein Herz klopfte so stark, dass es sich fast überschlug. Immer wilder hämmerte es, so wild, als wollte es mit einem kräftigen Satz aus seiner Brust springen, sich in Sicherheit bringen, weg von ihm , weg aus dieser dunklen Gasse, weg von den Verfolgern, weg von den Erlebnissen der letzten Stunden, die ihm solche Angst machten, weg von der Unsicherheit davor was ihn erwartete und wer er war. Planlos, ohne zu wissen was er machen sollte und ohne es bewusst zu kontrollieren, griff Leo in die Tasche des Bademantels, in der sich seine Gegenstände aus dem Krankenzimmer befanden. Wahllos holte er das Erste heraus, was seine Finger ertasteten: die Kaugummi-Packung. Mit zittrigen Händen fummelte er ein Kaugummi heraus, packte es aus, steckte es sich in dem Mund und begann zu kauen, wie in einem Reflex, ohne wirklich zu wissen was er da eigentlich tat. Eisige Kälte entfaltete sich sogleich in seinem Mund und katapultierte kalte Luft nach oben bis in seine Nase und die Nebenhöhlen. Halt Nein, nicht Kälte, hm…Frische nannte man es. Und es schmeckte nach Minze. „Mhm Minze.“ Poch-Poch, Poch-Poch…, Poch-Poch....., Poch-Poch…… Leos Herz schlug ruhiger, langsamer und kontrollierter, wollte wieder da bleiben, wo es war. Wollte nicht mehr herausspringen um zu flüchten. Nach einigen Kaubewegungen ließ die explosive Anfangswirkung des Geschmacks nach. Doch die Ablenkung hatte bereits gewirkt: Leo hatte sich beruhigt. Ob sich Angst immer so intensiv anfühlte? Vielleicht würde er sich mit der Zeit ja daran gewöhnen… Wichtiger aber war, ob die Beiden rot uniformierten Männer bereits draußen vorbeigelaufen waren? Vielleicht suchten sie ja gar nicht nach ihm, sondern hatten es aus einem anderen Grund eilig? Papperlapapp! Bestimmt suchten Sie nach ihm, wonach sonst? Ihm fiel nichts ein. Ein Blick zum Eingang der Gasse zeigte nur normale Passanten, die vorbeischlenderten. Leo beschloss, ein wenig zu warten bis er wieder hinausging und genoss derweil den Minz-Geschmack des Kaugummis. Schließlich machte er ganz vorsichtig einige Schritte nach vorne in den helleren Teil der Gasse, um besser auf die vorbeiführende Straße sehen zu können. Etwas knarrte hinter ihm und er bekam einen harten Schlag gegen die Schulter. „AUUU!“ „PANIK! FLUCHT!“ waren seine ersten Gedanken. Dann fuhr er herum und sah die offene Tür, die ihm den Schlag versetzt hatte. Dahinter kam ein kleiner alter Mann zum Vorschein, kaum halb so groß wie Leo „Oh, das tut mir aber Leid!“ der Alte hielt sich die Hand vor den Mund. „Ich habe nicht gesehen, dass Sie hier draußen stehen, das war wirklich keine Absicht. Sie sehen ja schlimm aus, meine Güte, da wird mir ja ganz anders, Oh-je Oh -je. Und dann verpass ich ihnen auch noch Einen mit der Tür, als ob sie nicht schon genug Verbände hätten, ach du meine Güte!“ Leos Fluchtimpuls ließ schlagartig nach. Der Alte sah nicht danach aus, als stelle er eine Gefahr für ihn dar, oder als sei er gar auf der Suche nach ihm gewesen. Er war weit mehr als einen Kopf kleiner als Leo und dieser Kopf war außerdem komplett haarlos. Es gab da ein Sprichwort, das passen würde, es lautete: „Glatt wie ein…“ hm… „Glatt wie eine…“ hm… vielleicht: „Glatt wie eine Glatze“? Ihm fiel das passende Wort einfach nicht ein und während er so nachdachte, verschwand sein vorheriges Bedürfnis wegzurennen fast vollständig. Der Alte indes schüttelte noch immer den Kopf, offenbar fassungslos über das was er getan hatte. „Soll ich einen Arzt rufen, brauchen Sie Hilfe junger Mann? Das sieht ja wirklich schlimm aus, Oh je, Oh je.“ „Ähm… Ist nicht so schlimm.“ Leo rieb sich die Schulter, um den Schmerz etwas zu lindern. „Ich komme gerade vom Arzt.“ entgegnete er und unangenehme Erinnerungen an Papenstiehl und das Schlafmittel blitzten unangenehm hell im dunklen Tunnel seiner Gedanken auf. Der Alte hielt sich weiter die Hände vor Mund und Kopf. „Dann lassen Sie mich Ihnen wenigstens einen Kaffee ausgeben junger Mann, als Wiedergutmachung.“ Die Hand des Alten griff nach Leos Oberarm und der wich reflexartig einen Schritt zurück. Der Griff des Alten war sehr sachte und er ließ sofort wieder los, als Leo seinen Arm wegzog. Verwundert sah ihn der Mann an: „Mögen Sie keinen Kaffee? So ein Missgeschick löst man am Besten mit einer Tasse Kaffee. Ich spendiere Ihnen aber auch gerne etwas anderes. Was immer Sie wollen.“ Leo überlegte. Seit er die Verfolger draußen auf der Straße gesehen hatte, waren sicher mehrere Minuten vergangen. Wahrscheinlich waren sie bereits weiter gerannt, außer Sichtweite, so dass er es wagen konnte, zurück auf die Straße zu gehen. Und in der Gesellschaft des Alten würde er weniger auffallen als alleine. Zudem wohnte der Kerl bestimmt hier und könnte ihm einige Fragen beantworten. „Nun, ich denke… das ist eine gute…hm…“ „Idee?“ Ergänzte der Alte. „Richtig, das meine ich. Mein Kopf…“ Leo zeigte auf den Verband, der seinen Kopf über der Stirn komplett verdeckte „ist etwas äh…, durcheinander, durch die äh… hm…Verletzung.“ „Das macht nichts, ich kenne das: in meinem Alter ist man auch nicht mehr der Hellste. Kommen Sie mit. Ich kenne ein schönes Plätzchen, wo wir in Ruhe etwas trinken können. Kein Lärm, keine Unruhe, es wird Ihnen gefallen.“ Der Alte ging Richtung Straße. Leo zögerte kurz, doch folgte ihm dann nach draußen. Der Alte drehte sich zu ihm um: „Ach ja, mein junger Freund, mein Name ist Blinzky. Edward Blinzky.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)