Tränen von Knoblauchgurke ================================================================================ Kapitel 1: Tränen ----------------- Tränen Die Nacht sank herab und verlieh dem Wald etwas geisterhaftes, als Zoé aus ihrem Versteck im Unterholz kroch. Das Mädchen fror, zu lange hatte sie reglos in der feuchten Kälte ausgeharrt, doch hatte sie erst sicher sein müssen, allein zu sein, bevor sie die Deckung verlassen konnte. Vor ihr, seit Stunden unverändert, lag Adeline. Mit steifen Gliedern trat sie vor, den Blick unentwegt auf die reglose Gestalt im zertretenen Gras geheftet. Eine Erkenntnis traf das Mädchen mit dem aschblonden Haar wie ein Schlag in den Magen und ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Was dort lag war nicht mehr der Mensch den sie kannte, bewunderte, liebte. Nichts weiter als ein Körper, Knochen und Fleisch, dessen Geruch Aasfresser anlockte. Adeline... war fort. Einen endlosen Moment stand Zoé vor dem, was einmal ein Mensch gewesen war, tat nichts außer zu warten. Dann, ganz langsam, sank sie neben der vertrauten Gestalt auf die Knie. Während sie behutsam eine blutverkrustete Haarsträhne aus der fremden Stirn strich, wanderten ihre eben noch gelähmten Gedanken zurück zu jenem ersten Treffen im vergangenen Jahr. Bevor ihr Weg sich mit dem Adelines kreuzte hatte Zoés Leben sich auf harte Arbeit und das kleine Dorf am Waldrand beschränkt, in welchem ihre Familie seit Generationen das einzige Gasthaus betrieb. Sie hätte geheiratet, wäre die Frau eines Bauern oder Handwerkers geworden und wäre gestorben, ohne sich jemals mehr als eine halbe Tagesreise von ihrem Geburtsort zu entfernen. Doch das Schicksal, oder vielleicht auch bloßer Zufall, hatte diesen einfachen Weg nicht für sie vorgesehen. Es war eine feuchtkalte Nacht im vergangenen Oktober gewesen, welche die Veränderung mit sich brachte. Zoé lag, tief unter der Daunendecke vergraben und hellwach, in ihrem Bett und starrte, wie bereits seit Stunden, in die sie umgebende Dunkelheit. Diese Nacht war zu laut um den erhofften Schlaf zu finden: Draußen tobte einer der ersten Herbststürme und ließ die Fensterläden klappern. Mit einem Mal mischte sich in das Heulen des Windes ein weiteres Geräusch, bekannt und doch ungewöhnlich zu dieser Stunde. Jemand klopfte an die Haustür. Müde und doch neugierig, wen es so spät zu ihnen verschlug, kroch Zoé unter der wärmenden Decke hervor und nahm in der selben Bewegung den verbogenen Kerzenhalter von ihrem Nachttisch. Im Dunkeln tastete sie nach Streichhölzern, einem Geschenk ihres Bruders, der diese praktischen Hölzchen vor einiger Zeit in der Stadt erstanden hatte und entzündete den Docht der fast herab gebrannten Kerze. Sofort erfüllte schwaches, flackerndes Licht die winzige Kammer, welche Bett, Wäschetruhe und einen Tisch beherbergte. Behutsam schirmte sie die empfindliche Flamme mit einer Hand vor einem eventuellen Luftzug ab und trat mit nackten Füßen auf die Dielenbretter des Flurs hinaus. Mit aufgeregt pochendem Herzen schlich sie in Richtung Küche und blieb einen Moment lang stehen, als das Klopfen sich, diesmal lauter und energischer, wiederholte. Wer konnte es sein? Ihr Bruder? „Geh zurück ins Bett, Zoé“, ertönte hinter ihr die dunkle Stimme ihres Vaters. Vor Schreck fiel Zoé die Kerze aus der Hand, welche sofort erlosch und mit einem dumpfen Pochen auf dem Holzboden landete. Bei diesem Anblick wurden die strengen Züge ihres Vaters weicher. Ebenso wie sie trug er ein weißes Nachthemd und eine Kerze in der Hand. „Geh zu Bett, mein Kind. Ich sehe nach, wer an der Tür ist“, sprach er leise. „Papa...“ Ein erleichtertes Seufzen verließ ihre Lippen. Mit Nachdruck, aber ohne ihr weh zu tun, schob er sich an ihr vorbei durch die Küchentür. Von draußen ertönte ein erneutes Klopfen. Wer immer dort stand war geduldig. Festen Schrittes trat Zoés Vater an die Tür, ergriff den Knüppel, welcher daneben an der Wand lehnte und schob mit einer entschlossenen Bewegung den Riegel zurück. Die winzige Kerzenflamme erlosch augenblicklich im hereinströmenden Wind und ließ nichts als Finsternis zurück. Zoé erstarrte in ihrer Bewegung, besann sich jedoch eines Besseren und entfachte endlich die Laterne auf dem Küchentisch. Im neu entzündeten Licht erkannte sie die Gestalt ihres Vaters und endlich auch die des nächtlichen Besuches. Es war nicht Cloud, auch keiner der Männer aus dem Dorf. Draußen in der Nacht stand eine junge Frau, kaum älter als sie selbst, mit vom Regen durchnässter Kleidung und einem Mitleid erregenden Ausdruck im Gesicht. „Verzeiht die späte Störung. Ich fürchte, mich verlaufen zu haben und bin froh, endlich ein Dorf zu erreichen. Wärt Ihr so gut, mir für den Rest der Nacht Unterschlupf zu gewähren?“, sprach sie mit leiser Stimme, während sie zu der mehr als einen Kopf größeren Gestalt vor sich aufblickte. Zoé lehnte wie versteinert mit der Laterne in der Hand am Küchenschrank. Misstrauisch warf ihr Vater einen Blick in die undurchdringliche Dunkelheit hinter der jungen Frau, erwartete einen Räuber von dort kommen zu sehen. Die Bewegung blieb aus, nur der Wind heulte unverändert zerzauste das feuchte Haar der Fremden. „Bitte“, fügte sie kaum hörbar hinzu und zog ihren geflickten grauen Mantel fester um sich. Dieses Mädchen konnte alles sein, dachte Zoé. Eine Mörderin, eine Hure... Im Moment war sie nichts weiter als jemand, der dringend Hilfe benötigte und zudem - was das Mädchen nicht laut auszusprechen wagte - ihre Neugier weckte. „Komm rein, Mädchen“, sagte ihr Vater brummend und trat nach sich endlosen Sekunden beiseite, um die unbekannte Frau in sein Haus zu lassen. Sie zögerte nicht, dieser Aufforderung nachzukommen. Mit klappernden Zähnen betrat sie die im Halbdunkeln liegende Küche, hauchte ein leises 'Danke' und umklammerte dabei die um ihre Schulter gehängte abgewetzte Tasche. Ihr Gang war unsicher, das war das erste, was Zoé an ihr auffiel. Ihr blieb nicht viel Zeit über diese Eigenheit der Fremden nachzudenken, denn etwas anderes an der Frau beanspruchte Augenblicke später ihre gesamte Aufmerksamkeit: Die langhaarige Frau stolperte, dann knickten ihre Knie ein. Zoé erreichte sie gleichzeitig mit ihrem Vater und verhinderte gemeinsam mit diesem, dass ihr Gast auf den Boden schlug. Instinktiv legte sie eine Hand auf ihre Stirn und erschrak. „Papa! Sie hat hohes Fieber“, wisperte Zoé besorgt. Ihr Vater nickte stumm, half ihr dann, ihre Last vom Boden zu heben. „Bring sie in Clouds altes Zimmer, dort kann sie sich ausruhen. Wer immer sie auch sein mag: Bis sie gesund ist kann sie bleiben. Sie in diesem Zustand hinaus in die Kälte zu schicken wäre verantwortungslos“, brummte er unwillig. Gemeinsam trugen sie die bewusstlose Fremde - Zoé wusste noch immer nicht, ob sie diese als Frau oder Mädchen bezeichnen sollte - durch den dunklen Flur in eines der angrenzenden Schlafzimmer. Bis zu seiner Hochzeit mit der Tochter des Müllers war es von ihrem Bruder Cloud bewohnt worden. Dieser hatte freilich keine Verwendung mehr dafür und so war es seit geraumer Zeit unbewohnt. Eine glückliche Fügung für nächtliche Wanderer. Zu zweit legten sie sie auf dem staubigen Bettzeug ab. Nachdenklich betrachtete Zoé die bewusstlose Gestalt vor sich. „Ich werde ihr trockene Kleidung anziehen. Geh du schon zu Bett, Papa“, sprach sie leise, als fürchte sie die vermeintlich schlafende mit lauteren Worten zu wecken. Ihr Vater blieb skeptisch, warf der Person auf dem Bett einen langen Blick zu und nickte letztendlich. „Schließ sie ein, Zoé. Auch Diebe werden krank und wir wissen nicht, wen wir uns ins Haus geholt haben. Es ist nur zu unserer Sicherheit, sie wird es verstehen“, sagte er, woraufhin seine Tochter nickte. Er besaß genügend Anstand um nicht darauf zu bestehen, sie beim Umkleiden der Kranken zu beaufsichtigen. Kaum, dass ihr Vater die Laterne auf dem Nachttisch abgestellt und hinter sich die Tür geschlossen hatte beugte Zoé sich über das Bett und schlug den braunen Mantel zurück. Sie hatte sich nicht getäuscht. Was sie eben an ihrem Bein gespürt hatte war tatsächlich ein Schwert. Kurz zuckte sie zurück, dann löste sie den Gürtel, der die Schwertscheide an ihrer Taille hielt und schob das schwere Eisen unter das Bett. Vielleicht, dachte sie für einen Moment, wäre es besser, ihren Vater zu rufen, doch würde er in diesem Fall nicht erlauben, dass die Fremde blieb und etwas beschäftigte Zoé mehr als die Sicherheit ihrer Familie, zumal sie sich nicht vorstellen konnte, dass man seine Retter überfiel. Warum trug diese Frau eine solche Waffe bei sich? Sie schüttelte den Kopf, ging dann zu der niedrigen Truhe hinüber, welche einst die Habe ihres Bruders beinhaltete und nun mit alten Kleidern gefüllt war. Man hatte sich nicht überwinden können, die Kleidungsstücke fortzuwerfen. nachdem der Haushalt sich durch den Auszug ihrer Geschwister verkleinert hatte. Heute erwies sich dies als nützlich. Sie bückte sich und holte ein abgetragenes blaues Kleid einer ihrer älteren Schwestern hervor. Etwas unbeholfen machte Zoé sich daran, die Frau zu entkleiden. Schlief diese in den feuchten Kleidern wäre es ein Wunder, wenn sie keine Lungenentzündung bekäme. Obwohl sie wusste, wie nötig diese Arbeit war fühlte Zoé sich unwohl. Im flackernden Licht der Laterne legte sie zuerst den Mantel, dann Rock, Mieder und das einst sicherlich weiße Hemd zur Seite. Diese Frau war schön, viel schöner als sie, wie erschöpft sie auch sein mochte. Mit einem schon schmerzhaften Sehnen betrachtete sie den schlanken Körper mit der im Feuerschein golden schimmernden Haut. „Wunderschön...“, wisperte sie und erschrak über ihre eigenen Worte. Es war nicht der Zeitpunkt für derlei Dinge. Nicht jetzt und nicht hier. Zielstrebig griff sie nach dem neben ihr liegenden Kleid und zog es der Fremden zuerst über den Kopf und dann an ihrem Körper hinunter. Ein Glück, dass ihre Schwester kräftiger gebaut war als sie selbst, andernfalls wäre ihr dies ohne ein Paar helfender Hände nicht gelungen. Etwas außer Atem breitete Zoé schlussendlich die zuvor mühsam unter der Frau hervor gezogene Decke über deren Körper aus und erhob sich. Es war an der Zeit, wieder zu Bett zu gehen. Morgen wartete Arbeit auf sie und mit etwas Glück auch Antworten. Leise erhob sie sich von der Bettkante, zog im Hinausgehen den Schlüssel von der Innenseite der Tür ab und steckte ihn an der Außenseite wieder ins Schloss. Zweimal drehte sie ihn herum, dann wandte sie sich ab. Ob sie es ihr übel nahm, sie eingeschlossen zu haben? Und noch etwas ging ihr nicht aus dem Kopf als sie in ihr eigenes Bett krabbelte und erneut in die Dunkelheit ihrer Kammer blickte. Die lange Narbe, welche sich quer über die Brust der Fremden zog. Der Sturm dieser Nacht war heftig, doch der Regen ließ bis zum Morgen nach und die gestern noch so drohend am Himmel hängenden Wolken zogen rasch von dannen. Zurück blieb ein strahlendes blau, durchzogen von weißen Schlieren. Irgendwann, es musste gegen Morgen gewesen sein, hatte auch Zoé Ruhe gefunden. Trotzdem stand sie auf, als sich die Sonne in ihr Zimmer schlich. Müde aber aufgeregt zog sie sich an so schnell es irgend ging und lief hinunter in die Küche, wo ihre Eltern bereits beim Frühstück saßen. „Diese Fremde, Zoé, was denkst du, will sie hier?“, war das erste was sie von ihrer Mutter hörte, als sie das Zimmer betrat. „Das weiß ich nicht. Vermutlich hatte sie einfach Pech und ist in der Dunkelheit vom Weg abgekommen. Ich habe ihr eines von Celines alten Kleidern gegeben, nach dem Frühstück sehe ich nach ihr“, erklärte sie und setzte sich an den Tisch um sich Brot zu nehmen. Ihre Mutter, nickte stumm. Erfreut war sie über den unerwarteten Besuch nicht, trotzdem köchelte auf dem Herd ein Topf mit Suppe. „Bring ihr eine Schale davon, falls sie wach ist und kümmere dich dann um die Wolle. Elise hat sie gestern Nachmittag vorbei gebracht und ich brauche neues Garn“, meinte ihre Mutter mit einer Geste in Richtung Herd. Zoé nickte und unterdrückte ein Seufzen. Sie mochte es nicht, zu spinnen, die Arbeit war eintönig. Außerdem bedeutete es, dass es bald wieder Strümpfe zu stopfen gab, eine weitere unliebsame Notwendigkeit. Das Frühstück verlief ohne weitere Ereignissen. Zoé sah ihren Vater hinausgehen um nach den beiden Ziegen zu sehen und auch ihre Mutter begann bald damit, den Tisch abzuräumen. Nachdem ihr Brot gegessen war stand auch Zoé auf, ging zum Herd hinüber und füllte eine der hölzernen Schalen mit dampfender Gemüsesuppe. Die Schale stellte sie auf ein Tablett, daneben stellte sie einen Krug Wasser und einen Becher. Ein kurzer Blick zurück, dann verließ sie die Küche. Das Schloss zum Zimmer der Fremden zu öffnen erwies sich mit einem Tablett in Händen als schwierig, doch gelang es ihr nach einigen Versuchen. Mit der Schulter stieß sie die Tür auf und balancierte das Tablett zum Nachtschrank hinüber. Erst als sie dieses abgesetzt hatte fiel ihr Blick auf das Bett. Von dort beobachtete man sie aufmerksam. Erschrocken aber mit einem Lächeln richtete Zoé sich auf, strich ihre Schürze glatt und trat einen Schritt zurück. „Wie ist dein Name?“, fragte sie frei heraus und füllte den Becher bereits mit Wasser aus dem Krug. Die Fremde beobachtete diese Geste voll Misstrauen. Noch immer wirkte sie schwach doch schien zumindest das Fieber überstanden zu sein. Zoé wartete geduldig bis die andere sprach. „Adeline.“ „Adeline...“, wiederholte Zoé genießend, als wäre es eine ganz besondere Freude, diesen Namen auszusprechen. „Das ist ein schöner Name. Ich bin Zoé.“ Adeline ging nicht darauf ein. Stattdessen wandte sie sich erneut dem Becher zu. Zoé blinzelte verwundert, dann lächelte sie erneut und drückte der perplexen jungen Frau den Becher in die Hand. „Dir scheint es besser zu gehen, das ist schön. Ich bin gleich zurück, iss von der Suppe wenn du magst, danach können wir uns unterhalten, ja?“ Sie rauschte aus dem Zimmer ohne eine Antwort abzuwarten. Minuten vergingen, dann kehrte Zoé mit Spindel, Wolle und einem Stuhl zurück ans Krankenbett. Lächelnd nahm sie die Spindel zur Hand. Diese Arbeit ließ sich ebenso gut hier wie im Hof verrichten. Eine Weile saß sie schweigend neben Adeline während diese ihre Suppe aß. „Was willst du in dieser Gegend? Ich habe dich hier noch nie gesehen. Hast du hier Verwandte?“, fragte sie unvermittelt nachdem die junge Frau neben ihr den Teller abgestellt hatte. Adeline antwortete nicht sofort. „Mein Bruder. Ich möchte meinen Bruder besuchen. Er lebt einige Meilen entfernt von hier, nicht in der Nähe deines Dorfes“, erklärte sie stockend und ohne Zoé dabei in die Augen zu blicken. Diese zog die Stirn kraus. Irgendetwas verbarg diese Frau vor ihr und sie hatte vor, herauszufinden, worum es sich dabei handelte. „Warum führst du dazu ein Schwert mit dir?“, fragte sie also ohne Zögern. Adeline ging darauf nicht ein. „Ich danke dir dafür, mich aufgenommen zu haben. Nicht jeder lässt des nachts Fremde in sein Haus.“ „Warum?“, wiederholte Zoé ihre Frage. „Du stellst zu viele Fragen“, sagte Adeline verdrießlich. Zoé schmunzelte. Sie war mit vier Geschwistern aufgewachsen, von Worten ließ sie sich nicht abschrecken. „Kannst du damit umgehen? Wer hat es dir beigebracht?“, fragte sie munter weiter. Adeline wandte sich schweigend ab. Gedankenverloren blickte sie aus dem kleinen Fenster am Fußende des Bettes. „Hast du das Schwert genommen?“, fragte sie nun ihrerseits, ohne sich vom Anblick des blauen Himmels zu lösen. Zoé nickte. Eine Bewegung, die Adeline dazu veranlasste, ihre Gesprächspartnerin anzublicken und misstrauisch die Augenbauen zusammenzuziehen. „Wo ist es?“, fragte sie verärgert, was ein kaum merkliches, aber triumphierendes Lächeln auf Zoés Lippen zauberte. „Das verrate ich dir, sobald du meine Fragen beantwortest“, entgegnete sie selbstsicher und mit mahnend erhobenem Zeigefinger. Das Gefühl der Überlegenheit hielt nur so lange an, bis sie den gehetzten Ausdruck in Adelines Gesicht bemerkte. „Ich hintergehe dich nicht. Niemand erfährt von der Waffe. Du darfst hier in Ruhe gesund werden und anschließend gehen wohin du willst“, fügte sie hastig hinzu. Angst sollte ihr Gast keinesfalls haben. Schweigen erfüllte den kleinen Raum, wenn auch eine andere Art von Schweigen als eben. Die Hand mit der Spindel hatte Zoé längst auf ihrem Schoß abgelegt. Wie eine schwere Decke lastete die Stille auf ihnen, selbst die Luft schien dicker zu sein als zuvor. Und dann, kurz bevor Zoé glaubte, es nicht länger ertragen zu können öffnete Adeline die Lippen. „Ich muss jemanden finden, er hat mir etwas wichtiges genommen“, flüsterte sie. Zoé schluckte. In ihrer Stimme lag zu viel Schmerz um etwas passendes zu antworten. Die Stuhlbeine schabten laut über den Fußboden als Zoé ihr Arbeitsgerät zusammen nahm und aufstand. „Dein Schwert. Es liegt unter dem Bett“, murmelte sie. Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum, unfähig der anderen den Schmerz zu nehmen. Adeline schwieg. Und sah ihr nach. Kurz darauf kehrte das Fieber zurück. Als Zoé später am Tag kam um frisches Wasser zu bringen lag Adeline in unruhigen Träumen. Schwermütig lächelnd ging sie hinaus um ihren Eltern zu sagen, dass die Fremde länger bleiben würde als gedacht. Äußerlich sah man Bedauern an Zoé, innerlich durchströmte sie eine seltsame Art von Glück. Was folgte waren Tage, in denen Adeline schrittweise von ihrer Krankheit genas und viele Stunden, in denen Zoé an ihrem Bett wachte. Die Zeit verging, sie sprachen miteinander. Mehr, als bei ihrer ersten Unterhaltung. Freundlicher. Und Zoé erfuhr, was Adeline suchte. Eine Gruppe von Männern war in ihr Dorf eingefallen. Anfangs hatten die Männer, die jeder für Räuber hielt, sich lediglich in den Häusern eingenistet. Sie schliefen in den Betten der Dorfbewohner, aßen ihre Vorräte, doch blieben sie gesittet. Dies änderte sich, als die Gruppe gegen ihren Anführer aufbegehrte. Nach dem blutigen Kampf übernahm ein Mann namens Jaques das Kommando und der Schrecken nahm seinen Lauf. Hatte sein Vorgänger die Männer noch zur Ordnung gerufen begannen nun das Morden und Vergewaltigen. Zuerst starben die Männer, den Frauen blieb eine Frist, bis man das Interesse an ihnen verlor. Adeline wurde Zeuge des Todes ihres Vaters und Bruders. Sie sah, wie man ihre Mutter tötete. Um Adeline wurde es dunkel. Sie überlebte. Als ihr Bewusstsein zurückkehrte lag sie im feuchten Gras hinter ihrer Hütte und spürte einen brennenden Schmerz in der Brust. Sie war Nackt, auf ihrer Brust klaffte eine tiefe Wunde, doch sie lebte. Und neben ihr lag ein Schwert. „Und nun verfolgst du sie“, fragte Zoé mit belegter Stimme, nachdem Adeline geendet hatte. Diese nickte stumm, ihr Kopf lehnte an Zoés Schulter. „Diese Männer töteten meine Eltern und Geschwister. Ich bin die einzige, die übrig ist. Wenn ich sie nicht räche, tut es niemand.“ Rache... Zoé hatte niemals verstanden, was Menschen zu solchen Taten trieb, doch der jäh in Adelines Gesicht aufflammende Schmerz vermittelte ihr eine vage Ahnung von den Gründen. Wäre es ihre Familie gewesen, die getötet wurde, wie hätte sie gehandelt? Doch Zoé kannte die Antwort. Versteckt hätte sie sich. Adeline jedoch kämpfte. Mit einem Mal kamen die Tränen. Zoé war nicht fähig sie zu stoppen und gab sich dem inneren Drang hin. Sie saß neben Adeline, streichelte über ihr Haar und weinte. „Warum weinst du?“, fragte die Stimme an ihrem Ohr und entlockte ihr ein erneutes Schluchzen. „Ich weine an deiner Stelle. Weil du es nicht konntest.“ Der schmale Körper Zoés zitterte, dann schlossen sich zwei warme Arme um sie. „Das brauchst du nicht“, flüsterte Adeline und hauchte einen sanften Kuss auf ihre Stirn. „Ich weine auf meine eigene Art.“ „Wie ist die Welt dort draußen?“ Adeline lächelte grimmig in das Sonnenlicht des Herbstnachmittags. Sie saß neben Zoé auf der morschen Bank im Hof und half ihr dabei, mit dem frisch gesponnenen Garn Strümpfe zu stopfen. „Gefährlich. Die Welt ist grausam, sie nimmt keine Rücksicht auf ein unerfahrenes Ding wie dich“, brummte sie und zog den nächsten Strumpf über ihren Stopfpilz. Zoé blickte von ihrer Arbeit auf und verfolgte wie die flinken Finger ihrer Freundin sicher die Nadel führten. „Wie grausam kann die Welt schon sein? Es muss auch Gutes darin geben. Vor uns steht ein langer Winter und doch kehrt in einigen Monaten der Frühling zurück. Eine solche Welt kann unmöglich rein verdorben sein. Auch du stammst aus dieser unbekannten Welt, ohne uns etwas zu Leide getan zu haben.“ Adelines Züge wurden weicher, fast sanft. Sie warf einen prüfenden Blick zur Hausecke, dann legte sie eine Hand an Zoés Wange. „Willst du es herausfinden?“, fragte sie. Einen Herzschlag lang geschah nichts, blau versank in grün, dann lächelte Zoé. „Ja“, hauchte sie. Adelines Blick hellte sich weiter auf und sie ergriff Zoé an beiden Händen. „Dann komm mit mir. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Der Morgen ist nicht mehr fern, wenn du mit mir ziehen willst müssen wir uns so weit wie irgend möglich von hier entfernt haben, bevor man dein Verschwinden bemerkt. Heute Nacht, sobald deine Eltern zu Bett gehen brechen wir auf.“ Sie sprang auf, zog Zoé mit sich hoch und lachte. Zoé ließ es mit sich geschehen, ohne zunächst zu begreifen, was diese Worte bedeuteten. Als der Augenblick kam kämpften in ihr Freude und sorge um die Vorherrschaft. „Hältst du das durch?“ Adeline ließ sich zurück auf die Bank fallen, zog Zoé erneut mit sich. „Wir nehmen das Pferd eures Nachbarn, das Schloss an der Stalltür ist alt und rostig. Bis zum Morgen sind wir auf und davon“, raunte sie und in ihren Augen lag pure Lebensfreude. Zoé ließ sich davon anstecken. In der Nacht ließ sie ihr Zuhause hinter sich, stahl ein Pferd und folgte fortan Adeline. In den folgenden Monaten erfuhr sie, dass es der Mann namens Jaques gewesen war, der sie den Umgang mit dem Schwert lehrte. Und was er außerdem mit ihr tat. Gemeinsam folgten sie der Spur des Mannes und seiner Bande quer durch das Land. Letztendlich war er es, der sie fand. Der Morgen nahte als bereits als Zoé sich von den Knien erhob und sich mit dem Ärmel ihres Grob gewebten Mantels über die Augen wischte. Sie lächelte ein schauriges Lächeln, dann hob sie das Schwert aus dem feuchten Gras. Schwer war es, doch fühlte das Gewicht sich gut an in ihrer Hand. Es gab ihr das Gefühl von Macht. Sie würde nicht mehr weinen. Es gab einen besseren Weg, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Adeline hatte etwas begonnen, an ihr war es, diese Aufgabe zu beenden. Jaques wartete. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)