Vom Schreiben und Träumen von Fujouri (Eine Sammlung von Kurzgeschichten) ================================================================================ Ich hör' dir gerne zu --------------------- Der Gemeinschaftsraum hat weiße hohe Wände. An der Decke hängen schmale Pendelleuchten, wovon eine defekt ist. Der Parkettboden ächzt an einigen Stellen, und er hat dieses Geräusch immer gemocht. Nach dem Mittagessen setzen sich alle an die Tische, spielen Scrabble und all solche Dinge, unterhalten sich über die unfreundlichen Pfleger, die Enkelkinder, die nie zu Besuch kommen, den klumpigen Kartoffelbrei, den es schon wieder gab, das schlechte Wetter und so weiter. Er aber sitzt nur da, an dem Platz in der Nische, neben der immergrünen Pflanze mit den zotteligen Blättern, und schaut aus dem Fenster. Der Wind schlägt Regentropfen gegen die Scheibe. Er tippelt mit den Fingern auf dem Tisch herum, den Blick nach draußen gerichtet. Das Prasseln wird lauter. Er tippelt schneller. Der Wind reißt Blätter von den Bäumen. Er hält die Finger still. Er lächelt matt und schließt die Augen. Er geht nach draußen. Er atmet ein. Die Luft ist feucht. Er schaut zum Himmel. Der Regen fällt ihm ins Gesicht. Er geht in die Knie, fährt mit den Fingern durch das Gras und streift die Tropfen ab, die wie Perlen auf den Halmen haften. Dann läuft er zur Fichte, die er vom Fenster aus sehen kann, und streicht über die rotbraune Rinde. Sie fühlt sich rau an. Ein Holzsplitter bleibt in seinem Finger hängen. Behutsam entfernt er ihn und steckt den Finger in den Mund. Unter der Fichte liegen viele Zapfen, die ihm jetzt auffallen. Er hebt einen vom Boden auf. Der Zapfen ist eiförmig und liegt gut in der Hand. Er tastet die einzelnen Schuppen ab, die am Ende dichter werden. Dann hält er den Zapfen unter seine Nase - ein herber Geruch. Im Frühjahr duften die Zapfen frisch und süßlich. Er schaut sich um und läuft noch ein Stück weiter, zu der Birke, die schon fast kahl ist. Die nassen Blätter auf dem Boden schimmern. Er schaut nach oben und bemerkt, dass der Regen nachgelassen hat und die Sonne zwischen den Wolken hervortritt. Er dreht sich zum Altenheim. Ein graues Gebäude mit rissigen Wänden und rostigen Balkonen. Er rollt den Zapfen in seiner Hand und streicht über die Schuppen. Dann legt er ihn ins Gras und läuft zurück. »Wirklich?« Die Pflegerin packt die Bettdecke an den Enden und schüttelt sie durch. »Und was haben Sie dann gemacht?« »Ich bin zur Fichte gelaufen.« »Die, die man vom Gemeinschaftsraum aus sehen kann?« Seine Augen strahlen. Die Pflegerin geht zu ihm und legt ihren Arm um seinen Rücken. Die Räder rollen ein Stück nach vorn. Mit dem anderen Arm greift sie unter seine Kniekehlen und hebt ihn aus dem Rollstuhl. »Ja, genau die! Ich habe ihre Rinde angefasst und auf der ganzen Wiese lagen die Zapfen. Sie haben ganz herb gerochen, aber im Frühling, da duften sie.« Er legt die Arme um ihren Hals, um sich festzuhalten. »Na, was Sie alles machen!« Die Pflegerin legt ihn auf das Bett und deckt ihn zu. Sie schenkt stilles Wasser in das Glas auf dem Nachttisch und reicht es ihm. »Und wenn man draußen ist, sind die Blätter der Birke noch viel bunter.« »Na, so was.« Die Pflegerin lächelt freundlich, während er das Glas austrinkt. Sie nimmt es ihm ab und stellt es zurück auf den Nachttisch. Er versucht, sich auf die Seite zu drehen. Seine Beine sind zu schwer. Er bleibt auf dem Rücken liegen. »Morgen gehe ich wieder spazieren.« »Aber natürlich.« Die Pflegerin geht zur Tür. »Gute Nacht. Und träumen Sie schön.« Sie macht das Licht aus. Am nächsten Abend sitzt er im Gemeinschaftsraum und schaut aus dem Fenster. Im Dunkeln kann er nur die Silhouetten der Äste sehen, die sich im Wind bewegen. Der Mond scheint schwach durch die Wolken. Er hört das Parkett, dreht sich um und sieht Marta. Sie setzt sich zu ihm. Ein zotteliges Blatt der Pflanze neben ihr berührt sie im Nacken. Sie streicht es mit dem Finger weg. »Na, so ganz allein?« »Ich war draußen spazieren. Vorhin, als es noch hell war.« Sie sieht ihn an. Ihre Hände liegen ruhig auf dem Tisch. »So?« »Die Blätter sind fast alle von den Bäumen gefallen. Sie sind ganz bunt. Und ach, wenn doch Frühling wäre, dann würden die Zapfen wie frische Blumen duften.« Sie lächelt. »Möchtest du morgen nicht mitkommen?« »Du weißt doch, das geht nicht.« Er rollt ein Stück näher an den Tisch heran. Das Parkett ächzt unter den Rädern. »Das sagst du immer, wenn ich dich frage. Aber warum denn nicht?« »Es geht einfach nicht. Du kannst die Spaziergänge nur alleine machen.« Er mustert ihr Gesicht. »Aber ich hör‘ dir gerne zu, wie du von deinen Spaziergängen sprichst«, sagt sie schnell und steht auf. »Gute Nacht.« Sie läuft zur Tür und der Boden ächzt unter ihren Füßen. Dann fällt die Tür zu. Er tippelt mit den Fingern auf dem Tisch herum, den Blick nach draußen gerichtet. Tropfen prasseln gegen die Scheibe. Er tippelt schneller. Der Wind reißt die letzten Blätter von ihren Bäumen. Er hält die Finger still. Er lächelt matt und schließt die Augen. Er geht nach draußen. Am nächsten Morgen geht Marta zu seinem Zimmer und klopft. Er reagiert nicht. Sie öffnet die Tür und starrt in das Zimmer. Das Bett ist gemacht. Die Jacke hängt nicht mehr am Haken. Der Rollstuhl ist fort. Sie lässt die Tür offen stehen und läuft zum Gemeinschaftsraum. Sie geht an den Platz in der Nische und schaut aus dem Fenster. Die Birke ist kahl. Unter der Fichte ist niemand. Sie eilt zum Fahrstuhl und fährt nach unten. Sie läuft mit großen Schritten auf den Haupteingang zu und reißt beide Türen auf. Der Wind schlägt ihr entgegen. Sie läuft ein paar Schritte auf die Wiese, sieht die Birke und läuft zur Fichte. Sie bückt sich und hebt einen der vielen Zapfen auf, die im Gras liegen. Sie tastet die einzelnen Schuppen ab und hält den Zapfen unter die Nase - ein herber Geruch. Sie lässt den Zapfen fallen und schlingt den Morgenmantel fester zu. Sie geht zurück. --- Diese Kurzgeschichte hat - ZOMG! - einen Literaturpreis gewonnen und wurde in der Nagelprobe 27 veröffentlicht: http://www.amazon.de/Nagelprobe-Preisgekr%C3%B6nte-Wettbewerbs-Literaturforum-Hessen-Th%C3%BCringen/dp/3869061243/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1280495969&sr=1-1 Die Geschichte war hier ursprünglich unter dem Namen "Herbst" online. Dabei handelte es sich um den Vorgänger. "Ich hör' dir gerne zu" ist die komplett überarbeitete Version davon.^^ Liebe Grüße, Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)