Zu tief, um loszulassen? von Stiffy ================================================================================ Kapitel 5: Fragmente -------------------- „Wow, du bist fertig!“ „Schon seit zehn Minuten...“ Grinsend stehe ich auf, schiebe meinen Stuhl an den Tisch und greife nach meiner Tasche. „Warum bist du nicht zu mir gekommen?“ „Reicht es nicht, dass ich mich schon selbst eingeladen habe? Da muss ich dich nicht noch mehr tyrannisieren...“ „Du tyrannisierst mich?“ Grinsend schaltet er das Licht ab, als ich zu ihm an die Tür trete. „So nennt man diese Aufdringlichkeit heutzutage?“ „Hey!“ Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, schaffe es aber nicht lange, mein Lachen zu unterdrücken. „Nein, ehrlich...“ Er tritt neben mich an den Fahrstuhl, betätigt den Knopf. „Du nervst mich nicht.“ Seine Augen sind ernst und ruhig. Ich mag dies wirklich an ihnen. „Danke“, sage ich verlegen und bin froh, als die Fahrstuhltür sich öffnet. Kaum hat sie sich wieder geschlossen, bemerke ich seinen abwartenden Blick. „Hm?“ „Was haben wir heute Abend vor?“ „Woher soll ich das wissen?“, entfährt es mir überrascht. „Gestern habe ich entschieden, heute bist du dran.“ Noch abwartender wird sein Ausdruck, etwas funkelt ihm in den Augen, so wie er mir gegenüber steht. Ich kann dem Blick kaum standhalten. „Dann… bin ich für Banküberfall!“, feixe ich, sehe ein winziges Schmunzeln seine Züge entzerren. „Ne, zu langweilig...“ „Briefbomben basteln?“ „Sag mal...“ Ein belustigtes Runzeln der Stirn. „Willst du mich mit dir in die Tiefe reißen?“ „Wäre ich fähig dazu?“ Plötzlich dröhnt das leise Fahren des Aufzuges laut in meinen Ohren, als Sam nicht antwortet. Wir sehen uns noch immer an, und dann, ohne, dass ich es habe kommen sehen, spüre ich die Wand an meinem Rücken, Lippen auf meinen. Hände halten mich fest. Ich kann nicht anders, als augenblicklich die Augen zu schließen. Mich erfasst ein sagenhaftes Gefühl. Es ist, als würden mir die Beine nachgeben. Ehe sie es tun, ist der Kuss vorbei, die Hände sind weg. Ein Gesicht mit roten Wangen wendet sich ab. Ich stehe noch immer an die Wand gedrängt. „Sorry, das war...“ Die Fahrstuhltür öffnet sich. Er spricht nicht aus und ich komme nicht mehr dazu, etwas zu sagen, da uns zwei Frauen entgegen kommen. Ein kurzes Nicken, ich trete an ihnen vorbei und hole Sam ein. Eine Sekunde lang will ich ihn fragen, weshalb er plötzlich die Flucht ergreift, doch das Lächeln auf seinen Lippen hält mich davon ab. Es lässt mich die Worte vergessen und auch sonst jegliche Erwiderung, welche ich soeben noch auf der Zunge trug. Irgendwo in meinem Körper holt mich ein Zittern ein. Wir legen den kurzen Weg zu seinem Auto schweigend zurück und ich frage mich, was ich sagen soll. Auch verfluche ich Sam, dass er jetzt nicht einfach weitersprechen kann. Wieso tut er erst so etwas, um dann so schweigsam zu sein? Innerlich aufgewühlt lasse ich mich in den Beifahrersitz gleiten. Er startet den Wagen, ich schnalle mich an und starre aus dem Fenster. Ich ringe nach Worten, beobachte Lichter und Menschen, welche an uns vorbei sausen. Ich muss daran denken, wie ich heute Nachmittag gut eine halbe Stunde lang Sams Profil im Intranet durchforstet habe. Eine große Ansammlung bunter Lichter und Scheinwerfer lässt mich jedoch Sekunden später zurück in die Wirklichkeit rutschen. Lächelnd wende ich meinen Blick zu Sams Augen. „Ich weiß, was wir machen“, eröffne ich. „Und was?“ „Kirmes.“ „Kirmes?“ Überraschung spricht aus seinem Gesicht. „Ja, lass uns Riesenrad fahren.“ Ich grinse, verdrehe die Augen. „Ich weiß, das ist kitschig und irgendwie klischeehaft… aber das war die Aktion im Fahrstuhl gerade auch.“ „Kitschig?“ „Klischeehaft.“ „Fandest du?“ „Ja…“ Ich spüre, wie ich rot werde. „Aber ich mochte es.“ „Ja?“ „Ja.“ Ich beobachte ihn genau bei diesem Wort und es lässt mich lächeln, wie er seines nicht all zu gut halten kann. Nicht nur mich scheint diese Situation zu verwirren. Vorsichtig mir das eingestehend, drehe ich mich weg und wieder sehe aus dem Fenster hinaus. Meine Augen folgen weiter den Lichtern. Kirmes. Zwei Herbstzeiten lang habe ich versucht, Nate auf eine zu bewegen. Nicht ein einziges Mal konnte ich ihn dazu überreden. Dabei hatte ich mir so sehr gewünscht, in der Kälte seine Hand halten zu können, mit ihm Glühwein zu trinken und Zuckerwatte zu essen… Ist es komisch, dass ich mir diesen Wunsch nun mit einem anderen Mann erfüllen werde? Verwirrt es mich so, weil ich mich freue, dass es mit Sam ist? Eigentlich an Glühwein gedacht, bestelle ich mir an diesem kalten Herbstabend schließlich einen Kakao mit Rum. Mit ihm und mit Sams Glühwein trete ich an einen kleinen Tisch heran. „Danke“, werde ich angelächelt. Nickend dränge ich mich etwas näher an ihn, als ein Pärchen an uns vorbei will. Hier bleibe ich stehen. „Ich war das letzte Mal mit Daniel auf einer Kirmes …“, rührt Sam in seinem Glühwein herum. Ich presse meine kalten Hände enger um die heiße Tasse, schiele zu ihm hinüber. Sein Blick geht neugierig über die Menschenmasse hinweg. „War es keine gute Idee?“, frage ich vorsichtig. „Was?“ Verwunderung trifft mich. „Naja…“ „Wegen Daniel?“ Ein Lächeln. „Mach dir nicht so viele Gedanken, okay? Wenn es mir schlecht dabei ginge, würde ich nicht darüber reden.“ „Würdest du nicht?“ Ich weiß nicht wirklich zu erklären, weshalb mich diese Worte enttäuschen. „Ich weiß nicht.“ Er zuckt die Schultern. „Ist das wichtig?“ „Nein.“ Ich versuche seinem entspannten Gesicht etwas abzulesen, doch stattdessen kann ich nicht anders, als meinen Blick zu seinem Ring zu senken, der die Wärme der heißen Tasse absorbiert. Daniel also... Er hat den Namen nicht genannt bisher und dennoch… Ich weiß nicht weshalb, aber ich wusste sofort, von wem die Rede war. Irgendwas in Sams Stimme hat es verraten. Ob er sich darüber eigentlich bewusst ist? „Hey, lachen!“, spüre ich warme Finger an meiner Wange. Sie fahren darüber hinweg zu meinem Ohr, dann verschwinden sie wieder. Ich sehe wieder in seine Augen und versuche, wie mir geheißen. Ich glaube, dass es künstlich wirkt. „Würde es dich stören, wenn ich dich jetzt küssen würde?“ Die Frage trifft mich unvorbereitet. Das künstliche Lächeln versiegt sofort wieder. „Wie… wieso fragst du plötzlich?“, erwidere ich verwundert. „Wegen der Leute…“ Er zuckt mit den Schultern. Mich lässt es gespielt die Augen rollen und nun doch ehrlich grinsen. Vorsichtig berühre ich seinen Arm. „Ich bin schon lange darüber hinweg, dass ich mir darüber Gedanken mache.“ „Gut.“ Er kommt mir näher. „Ich nämlich auch.“ Und dann küsst er mich. Zart und sanft und mit kalten Lippen… doch ich kann nicht anders, als die Augen zu schließen, den Geschmack von Glühwein, der von ihm ausgeht, in mir aufzunehmen, und zu spüren, wie die Hitze der Tasse in meiner Hand mit einem Mal meinen ganzen Körper ergreift. Ich habe keine Ahnung, wieso er dies plötzlich tun möchte, weshalb er mich auch schon im Fahrstuhl geküsst hat… doch ich mag es. Aus irgendeinem Grund tut es mir gut, diesem Mann nahe zu sein. Es gefällt mir sehr. Glühwein und Kakao geleert, tauchen wir in das Getümmel. Stand für Stand und Attraktion für Attraktion lassen wir hinter uns, Sam kauft sich eine Tüte gebrannte Mandeln, und ich gönne mir meine Zuckerwatte. An einem der wenigen Stände, an denen es nichts zu Essen, Trinken oder Gewinnen gibt, bleiben wir stehen. Metall- und Holzstrategiespiele gibt es hier. Auf einer Mandel kauend, greift Sam nach einem der Stücke. „Ich mag so was“, erklärt er mir und steckt die Nüsse weg. Dann nimmt er die andere Hand hinzu. „Ich könnte ewig an so was tüfteln…“ Meinerseits greife ich nun nach zwei ineinander verschlungenen Metallringen. „Ich muss sie auseinander bekommen, richtig?“ „Sieht so aus…“, dreht er sein Holzstück noch immer in den Händen herum. Sein Blick ist vollkommen konzentriert, als er dazu ansetzt, in eine gewollte Richtung zu ziehen. Ich sehe wieder zu meinen Ringen zurück und ziehe daran. „Ich hab so was noch nie versucht…“, gebe ich zu. „Echt nicht?“ Verwunderung schwingt in seiner Stimme mit. „Nein.“ Ich drehe den oberen Ring nach links und ziehe daran. „Ich hätte gedacht, dass du ein Kind der Spiele bist…“ Das Grinsen ist deutlich zu hören. „Was soll das denn heißen?“ Leicht stoße ich ihm meinen Ellenbogen in die Rippen. „Nichts. Aber es würde zu dir passen.“ Keine Erwiderung findend, konzentriere ich mich noch ein paar weitere Sekunden auf die Metallringe, doch als Sam die Hände sinken lässt, tue auch ich es. Ich sehe ihn an. Ein ernster Seitenblick trifft mich. „Ich glaube, dass du normalerweise ein sehr fröhlicher Mensch bist.“ Seine Stimme hat jegliches Lachen verloren in diesem Moment. „Du probierst gerne neue Dinge aus und bist mit ganzem Herzen bei dem, was du tust…“ Das Blau seiner Augen droht mir, mich zu verschlingen. Die warme Stimme durchströmt meine Sinne. „Ist es nicht so?“ Ich schlucke. Mein Hals kratzt, mein Kopf ist leer. „Ich…“ In dem Moment werde ich hart zur Seite gestoßen, als zwei Kinder versuchen, näher an die Spielzeuge zu gelangen. Um wieder richtigen Stand zu erhalten, drehe ich mich ein Stück seitwärts. Gleichzeitig verliere ich Sams Blick. Und dann erstarre ich. Die Metallringe fallen aus meinen Händen. Dann kralle ich meine Finger in Sams Jacke fest. Mein Blick ist starr geradeaus gerichtet, dorthin, wo man Teemischungen kaufen kann. Wie kann es sein, dass er… Ich merke Sams Verwunderung, dann dreht auch er sich ein Stück. Meine Finger suchen nach seinen, ganz von alleine. Ich sehe ihn an, erkenne den fragenden Blick. Panik wird in meinem liegen. „Was ist los?“, will er wissen. „Nichts“, spanne ich meine Hand um seine, sehe wieder zu dem Teestand zurück… und da, im selben Moment, erkenne ich meinen Irrtum. Nicht Nate ist es, sondern ein anderer, mir fremder Mann… in selber Jacke und mit ähnlicher Frisur. Ich lache trocken auf, senke den Blick. Meine Augen brennen. Das wäre wohl auch ein zu großer Zufall gewesen. Ich schließ die Augen und seufze. Nein, schlimmer Weise muss ich mir sogar eingestehen, dass es mittlerweile wohl nicht mehr so unwahrscheinlich ist. Heute könnte man ihn sicher zu einer Kirmes überreden. Er könnte es. „Irgendwas ist doch mit dir?!“, werde ich langsam besorgt angesehen, Sam schiebt mich ein Stück von unserem Stand weg. „Nein, schon gut… nur Erinnerungen… Lass uns Riesenrad fahren gehen…“ Meine Hand umklammert noch immer die seine. Die Riesenradfahrt kann ich kaum genießen. Überall Lichter unter mir, die luftige Höhe, die mein Haar durchströmt, tut gut, und dennoch kann ich mich nicht darin verlieren, kann nicht durchatmen und den Moment in mir aufnehmen. Stattdessen liegt mein Blick die meisten Zeit unter uns, auf den winzigen Menschen, welche ich durchsuche, obwohl ich weiß, wie hirnrissig es ist. Mit einem Mal habe ich eine höllische Angst, Nate hier zu begegnen. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen könnte, ich habe keine Ahnung, wie ich ihm ins Gesicht blicken sollte… Auch Sams Versuche, mich auf die entfernten Lichter der Stadt aufmerksam zu machen, funktioniert nicht ganz. Auf seine Vermutungen, was wohl dies und das sein wird, gehe ich kaum ein, und bald gibt er es auf, sie mit mir zu teilen. Letztendlich entsteigen wir dem Riesenrad nach einer viel weniger klischeehaften und kitschigen Fahrt als geplant, und erst unten, als Sam mich nicht mit einem Lächeln beschert, fällt mir auf, dass ich ihn dort oben nicht ein Mal geküsst habe. Dabei hatte ich es unbedingt tun wollen. Für einen Moment würde ich mich am liebsten bei ihm entschuldigen. Nach dieser Erkenntnis leisten wir noch zirka eine Stunde lang der Menschenmenge Gesellschaft. Doch auch seit wir das Riesenrad verlassen haben, kann ich nicht anders, als meinen Blick mehr herumschweifen zu lassen als zuvor, auch wenn ich versuche, es nicht zu tun und stattdessen Sam meine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ich weiß noch immer nicht, ob ich Nate hier suche, um ihn zu sehen oder mich vor ihm verstecken zu können… ich weiß es nicht, aber ich kann mich nicht vollständig davon abhalten. Sam bemerkt mit Sicherheit, dass etwas gerade ganz und gar nicht so ist, wie es sein sollte. Auch er lächelt nun kaum noch, doch er sagt nichts zu meinen suchenden Augen. Stattdessen lässt er mich seine Hand halten und mich die Nähe, die ich an ihm habe, spüren. Es tut gut… und es zeigt mir, dass es Wichtigeres gibt, als die Fragmente der Vergangenheit. Und doch kann ich nicht anders, als mich selbst an ihnen zu schneiden. Auf dem Heimweg kaue ich auf seinem Rest nun kalter gebrannter Mandeln herum. „Schön, dass wir das gemacht haben…“, murmle ich aus dem Fenster hinaus und sehe Sam in der Spiegelung nicken. Ich zögere lange, bevor ich weiter spreche. „Nate wollte das nie… mit mir auf eine Kirmes gehen…“ Ich konzentriere mich weiter auf das Spiegelbild. In ihm ist keine Reaktion erkennbar. „Weshalb nicht?“, kommt es dann. „Ich weiß nicht… er sah darin keinen Sinn, glaube ich…“ „Muss es in allem einen Sinn geben?“ „Das habe ich ihn auch gefragt…“ Ich fische die letzte Mandel aus der Tüte. „Möchtest du wirklich nicht mehr?“ „Nein, danke…“ Ein kurzes, kühles Lächeln, dann kehrt er sofort wieder zum Thema zurück. „Es ist schade, dass er so was nicht mit dir gemacht hat…“ „Ja…“ Ich nage ein kleines Stück der süßen Schale ab. „Er hat vieles nicht gemacht… Kein Weihnachtsmarkt, nichts…“ „Langsam frage ich mich echt, was das für ein Mensch war…“ „Das habe ich mich zwei Jahre lang gefragt…“ Ich seufze. „Selbst am Ende habe ich es nicht verstanden…“ „Das ist schade.“ „Ja.“ „Er hat nicht zu dir gepasst.“ Stille kehrt ein, in der ich den Kopf drehe und Sam nun direkt ansehe. Die Lichter der Straße reflektieren in seinen Augen, seine Züge verraten nicht die geringste Regung. Auf seine Worte fällt mir keine Erwiderung ein, zumindest keine, die ich aussprechen könnte und die mir in diesem Moment nicht das Herz zerreißen würde. Ich sehe wieder zum Fenster hinaus, stecke mir den Rest Mandel in den Mund, kaue, schlucke, zerknülle die Papiertüte in meiner Hand. „Ich muss noch ein paar Sachen aus seiner Wohnung holen“, eröffne ich dann, fast selbst überrascht über diese Worte. Ich habe die letzten Stunden nicht darüber nachgedacht. „Hast du noch viel dort?“ „Einiges…“ Ich blicke wieder zum Fenster hinaus auf die vorbeirauschenden Lichter. „Wann willst du die Sachen holen?“ „Ich weiß nicht… aber ich hab ihm gesagt, dass er dann nicht da sein soll… Ich will ihn nicht sehen...“ „Du willst es nicht?“, kommt es skeptisch. „Ich ertrage es nicht“, korrigiere ich mich zögernd. „Soll ich mit dir-“ „Nein“, unterbreche ich sofort, ohne wirklich zu wissen, weshalb. In mir hat es einen kleinen Stich gegeben bei diesen Worten… ein bisschen Freude… und doch das Gefühl, dass es nicht gut wäre… gar nicht gut… „Nein, ich muss das alleine tun.“ „Ja.“ Ein Nicken. „Das verstehe ich.“ „Danke“, sehe ich ihn schon wieder an. „Aber du könntest…“ „Ich könnte?“, fragt er, als ich nicht weiterspreche. „Würdest du mich hinfahren? Ich glaube, sonst werde ich auf halbem Weg umdrehen…“ „Natürlich. Jetzt?“ „Was?“ Erschrocken fahre ich in meinem Sitz hoch. „Nein… nein, nicht jetzt… ich meine…“ Statt weiterzusprechen schüttle ich den Kopf. „Okay.“ Seine Hand greift nach meiner. Er drückt sie. „Ich verstehe, kein Problem. Wann dann?“ „Ich… weiß nicht…“ „Du solltest nicht zu lange warten…“ „Ich weiß.“ „Wie wäre es mit morgen?“ Er lässt meine Hand los, schaltet in den vierten Gang. Seine Hand verweilt am selben Ort. Ich sehe sie an. „Ja…“, zögere ich. „Vielleicht...“ „Okay.“ Er sieht zu mir hinüber. Ich greife sein Lächeln auf und fühle mich ein winziges bisschen besser. „Lass uns jetzt über etwas anderes reden, okay?“ „Natürlich.“ Er scheint zu denken. „In ein paar Wochen ist wieder Weihnachtsmarkt...“ „Ja.“ „Willst du mit mir hingehen?“ „Gerne.“ Ich sehe sein Lächeln in der Frontscheibe. Und ich lasse meinen kleinen Finger sanft seine Handaußenseite hinweg streichen. Die restlichen sieben Minuten des Weges schweigen wir. Bei Sam in der Wohnung angekommen, ist es schwer, ein Thema zu finden, über das sich problemlos reden ließe. Es liegt mit einem Mal eine merkwürdige Anspannung in der Luft, welche ich nicht zu benennen weiß. Auch er scheint sich dessen bewusst zu sein, weshalb er vorschlägt, einfach ein wenig Fern zu schauen. Während Sam sich auf dem Sofa niederlässt, wähle ich den Sessel. Bereits in den ersten zehn Minuten bereue ich dies wieder. Ich sitze da und starre den Bildschirm an, doch vor meinen Augen bewegen sich nicht die Schauspieler, sondern die einzelnen Fragmente; die Scherben, welche bereits Blutstropfen von mir tragen. Wieder höre ich die letzten Worte, welche Nate und ich teilten, höre ich meine Schreie, seine ruhigen Erwiderungen. Kein bisschen Gefühl darin, nicht für mich, nur für ihn. Ich war der einzige, der weinte, der trauerte, der überhaupt verstand, wie weh eine Trennung tun kann. „Er hat nicht zu dir gepasst“, sind Worte, welche sich hineindrängen, zwischen meine vergangenen Tränen, die ich dort vor Nates Augen weinte. Ich weiß, dass es so ist. Vielleicht habe ich es immer gewusst, vielleicht habe ich es aber auch erst jetzt begriffen, in den letzten Tagen. Vielleicht wären wir nur weiter auf unserem Scherbenhaufern herumgelaufen und die Narben wären tiefer geworden. Vielleicht können sie jetzt noch verheilen, egal wie weh sie noch tun… vielleicht irgendwann... Im Fernsehen gibt es einen rapiden Farbwechsel, mich lässt er den Kopf von meinem Arm heben. Ich drehe mich ein Stück im Sessel und schiele zu dem Mann hinüber, der dort auf dem Sofa sitzt, direkt bei mir und doch noch so weit entfernt. Im Fahrstuhl war er mir nahe und am Glühweinstand. Dort konnte ich ihn spüren, auf eine Weise, die ich nicht erwartet hatte. Und noch viel mehr an diesem Spielzeugstand... „Ist es nicht so?“, war seine Frage an mich gewesen und ich hatte etwas antworten wollen. Ich weiß nicht mehr, was es gewesen ist, doch ich weiß noch, wie seinen Augen mich ansahen… „Sam?“, höre ich meine eigene, leise Stimme. „Ja?“ „Mir ist kalt.“ Ich drehe den Kopf noch immer nicht ganz zu ihm. „Dann komm her.“ Er bewegt sich auf dem Sofa. „Nein.“ Ich schüttle den Kopf und merke, wie ich rot werde. „Aber-“ „Lass uns ins Bett gehen.“ Im Fernseher streitet gerade eine Frau mit einem Mann. Ich schiele zu ihnen und versuche, nicht darüber nachzudenken, warum es bestimmt fünf Sekunden dauert, bis Sam reagiert. Ich will nicht darüber nachdenken, wie komisch ich mich benehme. Und dann verstummt das streitende Paar. Sam steht auf. Ich wage es zögernd, den Blick zu ihm zu heben. Seiner ist ruhig wie immer… glaube ich zumindest… oder ist da tatsächlich eine winzige Spur Nervosität? Spürt er sie auch? Ich stehe auf und gehe an Sam vorbei. Hinter mir erlischt das Licht und das Schlafzimmer erhelle ich nur mit der kleinen Lampe am Bett. Hier stehe ich nun und weiß nicht mehr, was ich als nächstes tun soll. Ich frage mich, wie eindeutig meine Worte wohl waren. Ob Sam verstanden hat, was ich will? Ob er weiß, wie sehr ich danach sehne, seine Hände noch weiter zu berühren? Ob er vielleicht spürt, dass ich seine Lippen länger küssen will? Weiß er das? Und weiß er vielleicht auch, wie sehr mich das verwirrt? Weiß er, dass ich selbst nicht verstehe, weshalb ich mich nach ihm sehne; dass ich immer wieder an Nate denken muss und dennoch unsere Nähe gerade nicht mehr verlieren will? Weiß er, was in mir vorgeht? Gerade will ich mich umdrehen, als Hände mich berühren. Sie legen sich auf meine Schultern und von hier streifen sie in meinen Nacken hinein. Ich schließe die Augen, spüre eine Gänsehaut, als er meinen Haaransatz hinauffährt. Und dann küsst er meinen Nacken. Ich greife nach oben, greife nach den Händen in meinen Haaren, greife dann nach seinen Haaren… und mit einer Hand dort verweilend, drehe ich mich um. Ich ziehe ihn zu mir und ich küsse ihn. Ich öffne meine Augen und sehe ihn an, küsse ihn noch fester. Es ist ein anderes Gefühl als damals, als ich mit diesem Jungen schlief, den ich durch einen Freund kennengelernt hatte. Damals ist es nur die pure Verzweiflung gewesen, die mich in seine Arme gedrängt hat, das Gefühl, Nate etwas abringen zu wollen… ihn eifersüchtig zu machen… ihn zu verletzen. Heute ist es anders und ich weiß es genau. Ich weiß, dass es Nate nicht stören wird, was ich hier tue, ich weiß, dass er es nie erfahren wird... doch das ist okay so, das ist das, was ich will... denn das hier hat überhaupt nichts mit ihm zu tun. Dies tue ich nur, weil ein Teil von mir sich unglaublich danach sehnt. Hier geht es nur um Sam. Kapitel 5 - ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)