Der Schreiber... von Monsterseifenblase (...legt seine Seele ins Tintenfass) ================================================================================ Kapitel 1: 001 Strand --------------------- Thema 001 Strand Mia kuschelte sich tiefer in die Wolldecke, die um ihre Schultern lag und sie vor dem kalten Wind dieser Jahreszeit schützen sollte. Während sie ihre nackten Zehen in den vom kalten Meereswasser feuchten Sand grub, ließ sie ihre Erinnerungen schweifen. Schon seit Jahren war sie nicht mehr hier gewesen, schon seit Jahren hatte sie nicht die Zeit dazu gefunden sich an den Strand zu hocken, der ihr so vieles gegeben hatte. Einfach da zu sitzen, den Sand zwischen ihren Zehen und Fingern zu spüren und der Geschichte zu lauschen, die ihr die schäumenden Wellen des Meeres zu erzählen hatte. Erst jetzt, da sie wieder hier war und all das genoss, was sie seit Jahren nicht hatte haben können, wurde ihr wieder bewusst, was ihr das alles bedeutete: Das alte Haus, das schäumende Meer, der Strand, an dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte, buddelnd, sich sonnend, wartend, ohne dass sie je gewusst hatte worauf. Bevor ihre Mutter gestorben war, war die Welt so wunderbar gewesen, so voller Liebe, Zuneigung und ohne all die Probleme durch die sich ihr Aufenthalt bei den Pflegeeltern definiert hatte. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie die Augen schloss und daran zurückdachte, wie sie genau hier kläglich daran gescheitert war einen Drachen in die Luft zu schicken und auf den Windböen tanzen zu lassen. Mit Zornestränen und wütend auf sich selbst war sie damals zum Haus zurückgestapft und hatte das leichte Drachengestell mit aller Kraft in die Dunkelheit des alten Schuppens geschmissen, bevor sie sich von allen abgrenzend in ihr Zimmer eingeschlossen hatte, zu stolz um die Hilfe eines Familienmitglieds anzunehmen. Erst ein Jahr später hatte sie zugelassen, dass ein älterer, freundlicher Mann, der seinen Urlaub in der Nähe verbrachte, ihr bei ihrem Vorhaben unter die Arme griff. Heimlich hatte sie sich mit ihm am Strand getroffen, hatte den Drachen seinen Ratschlägen folgend verändert, damit er besser auf dem Wind lag und hatte es Dank seiner Unterstützung schließlich vollbracht, den Drachen am Himmel tanzen zu lassen, genau an der Stelle, an der sie ein Jahr später die größte Sandburg bauen sollte, die es ihrer Meinung nach je gegeben hatte. Mehrere Meter lang und mehrere Meter breit brauchte sie Wochen, um den Sand des Strandes von einer Stelle zur anderen zu bugsieren. Ihn zu formen, festzuklopfen und mit getrockneten Gräsern so wie den schönsten Muscheln, die sie finden konnte, zu dekorieren. Wie eine Prinzessin hatte sie sich gefühlt in ihrem aus Millionen von kleinen Steinchen aufgebauten Reich, bis der Herbst kam, das Wasser kälter und der Wind frischer wurde und sie nicht mehr jeden Tag hinaus durfte um ihr Werk wieder zu reparieren, nachdem er eisige heftige Wind jede Nacht unerbittlich daran nagte. So dass sie mit ansehen musste, wie ihr Reich Tag für Tag und Stück für Stück in sich zusammenfiel und vom Meer überschwemmt wurde. Aber auch die Wettrennen, die sie jedes Jahr mit den anderen Kindern aus dem Dorf ausgeführt hatte und das Weitspringen im Sand, das zeigen sollte, wer von ihnen der schnellste war und wer die stärksten Beine mit der größten Sprungkraft sein eigen nannte, waren nicht vergessen. Viermal hatte Mia das Rennen gewonnen, hatte sogar die ein oder zwei Jahre älteren Jungs besiegt, bevor sie mit fünfzehn Jahren von hier fortgehen musste. Beim Springen hingegen, hatte sie nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt. Irgendwann hatten sie dann auch angefangen sich im Schwimmen miteinander zu messen. Wer war am schnellsten, wer konnte unter Wasser am längsten die Luft anhalten und schließlich noch wer von ihnen sich am weitesten hinaus ins Wasser wagte. Einen ganzen Sommer lang hatte es dieses Wettkampf gegeben, bis die Erwachsenen Wind davon bekommen hatten, was zur Folge gehabt hatte, dass Mia und die anderen Kinder eine ganze Weile nicht alleine zum Strand hinunter gedurft hatten. Im nachhinein musste sie sich eingestehen, dass es gefährlich gewesen war und dass man von Glück reden konnte, dass keinem der Kinder, die sich teilweise über zweihundertfünfzig Meter in das feuchte Nass hineingetraut hatten, etwas zugestoßen war, aber damals war es anders gewesen. Sie waren anderes gewesen. Kinder, jung, unschuldig, nichts ahnend. Kinder in ihrer eigenen kleinen Welt, bestehend aus ihrem Zuhause, dem Dorf und dem Strand. Dann kümmerte man sich nicht um die Probleme der Erwachsenen, um ihre Sorgen und Ängste. Es gab nur schnell und mutig, oder langsam und feige und derjenige, der sich am weitesten hinausgewagt hatte, war definitiv der Mutigste von allen gewesen. Nur das zählte. Mia erinnerte sich daran, dass Kai immer der Mutigste gewesen war. Kai war zwei Jahre älter als sie, wagemutig und großes Vorbild für alle anderen. Er war ihr erster Freund gewesen, der erste Junge, dem sie es gestattet hatte sie zu küssen. Hier am Strand, während die Sonne im Meer versank. Heute wusste Mia, dass nur ein Bruchteil der Menschen von sich behaupten konnten, dass sie ihre erste Liebe mit einem so romantischen Ort verbanden. Mia gehörte dazu. Genau hier war sie das erste Mal geküsst worden – unsicher und zögerlich. Genau hier – im feuchten Sand -war sie das erste Mal geliebt worden. Nachts, während die Sterne am wolkenlosen Himmel geglänzt und die weiße Gischt der herbeirollenden Wellen im Mondschein geleuchtet hatten. Als Mia die Augen wieder öffnete, musste sie ein paar Mal blinzeln und stellte schließlich fest, dass ihre Wangen nass vor Tränen waren. Mit ihren Fingern strich sie sie zur Seite und musterte dann mit ein wenig Verwunderung ihre nassen Fingerkuppen, überrascht davon, dass allein die Erinnerungen an eine vergangene Zeit sie zum weinen gebracht hatten. Vielleicht sollte sie doch hier her zurück ziehen, in das Haus ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter einziehen, anstatt es zu verkaufen. Schließlich war sie nur gegangen, weil ihre Mutter gestorben war und man ihrer Oma das Sorgerecht verweigert hatte, also alles andere als freiwillig. Da war es doch nur Recht und billig, wenn sie sich ihren Platz in ihrer Heimat zurückeroberte, an den Ort zurückkehrte, den sie liebte, in ein Leben, das sie vermisste. Ein Schauer durchlief ihren Körper und sie versuchte sich noch tiefer in ihre Decke zu kuscheln, aber der eisige Wind, der vom Meer aus herangeweht kam, gönnte ihr keine Ruhe, fuhr durch die Decke, durch ihre Kleider und kitzelte ihre Haut. Fröstelnd stand Mia schließlich auf und wanderte hinunter zum Wasser in der Hoffnung, dass ihr durch die Bewegung wärmer wurde, aber das Gegenteil war der Fall. Der Wind wurde immer eisiger, blies immer fester, zerzauste ihr Haar und drängte Mia nach hinten, was ihr das Gefühl gab, unerwünscht zu sein. Die Gänsehaut, die sich auf ihrem Körper ausgebreitet hatte, wollte einfach nicht verschwinden. Fröstelnd rieb sie sich die Arme, zog die Decke fester um sich und ließ sich erneut den Gedanken durch den Kopf gehen, wieder hierher zurück zukehren, als ein Gegenstand im Wasser ihre Aufmerksamkeit erregte. Langsam ging sie darauf zu, tappte mit ihren nackten Füßen durch das Salzwasser und hob schließlich die alte, fest verschlossene Flasche auf und betrachtete sie. Das Glas war glitschig von Algen und die Umrisse des alten Ettikets ließen sich nur noch mit Mühe erkennen, aber das zusammengerollte Stück Papier im Innern der Flasche war noch um einiges interessanter. Eine Flamme der Neugier brannte in Mia und ihre rechte Hand legte sich um den Korken, der fest im Flaschenhals saß, aber irgendetwas hielt sie davon ab, die Flasche zu öffnen. Ohne zu wissen warum, hob sie den Blick, betrachtete ihre Umgebung, den Strand, das Meer, die Häuser in der Ferne, deren Dächer nur noch knapp hinter den Dünnen zu sehen waren und auf einmal wusste sie, warum sie jahrlang an diesem Strand gewartet hatte. Dieser Ort hatte etwas von Freiheit, die sonst niemand bieten konnte, das Meer brachte Dinge, die nirgendwo anders zu finden waren. Das alles hatte etwas magisches, das vor allem durch die Kinderaugen eine wilde, reizende Schönheit in sich barg. Dieser Ort lebte von Erinnerungen. Die Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz und Mia musste kurz blinzeln um in die Realität zurückzukehren und auf einmal was das Meer nur noch das Meer. Der Strand nur noch der Strand, nichts weiter. Langsam wanderte ihr Blick zu der Flaschenpost in ihren Händen, die das Abenteuer beinhaltete, auf das sie als Kind so lange gewartet hatte. Sie schloss die Lider, atmete tief die salzige Meeresluft ein und schleuderte die Nachricht dann soweit sie es vermochte hinaus in die Wellen, damit ein Kind sie finden würde. Ein Kind, das seit Jahren am Strand saß und wartete, ohne zu wissen worauf. Ein Kind, das sich nach einem Abenteuer sehnte. Dann starrte sie noch einmal auf die Wellen, bevor sie sich schließlich abwand und zum Haus ihrer Großmutter zurückstapfte. Dort wartete wahrscheinlich bereits der Makler auf sie. Sie würde das Haus verkaufen. Ihre Kindheit war vorbei, ihr Leben an diesem Ort abgeschlossen. Sie musste sich damit abfinden, dass es kein zurück mehr gab. Sie war keine zehn Jahre mehr alt, sondern dreiundzwanzig, hatte ein Kind und war verlobt. Sie gehörte nicht mehr hier her. Mit Tränen in den Augen und einem kleinen Lächeln auf den Lippen, als sie daran dachte wie ihre Mutter einmal gesagt hatte, dass alles wunderschöne sowohl einzigartig als auch vergänglich sei, kehrte sie ihrem alten Leben den Rücken zu. Die Erinnerungen konnte ihr keiner nehmen. Kapitel 2: 002 Großstadt ------------------------ Meine Füße waren kalt, nicht weiter verwunderlich im Anbetracht der Tatsache, dass die Sohlen meiner Schuhe schon lange abgelaufen waren. Nur eine hauchdünne Schicht trennte die nackte Haut meiner Füße vom kalten, nassen und dreckigen Asphalt der Straße. Ich war es gewöhnt und hatte es gelernt diese Tatsache zu ignorieren, stattdessen zog ich den Kopf ein wenig ein um mich vor dem beißend kalten Wind zu schützen, der sich zwischen den Häusern hindurch wand und kein Erbarmen mit denjenigen kannte, die keine warme Wohnung hatten in die sie sich um diese Uhrzeit zurückziehen konnten. So war es jedes Mal wenn der Sommer sich zurückzog um dem Herbst und danach dem Winter den Vortritt zu lassen und sobald sich dann abends die Dunkelheit über die Häuser legte, gab es für meinereins keine Zuflucht mehr. Ich rieb meine Hände aneinander um den Blutfluss anzuregen und sie zu wärmen, aber mir war bereits klar, dass es eine kalte Nacht werden würde. Mit schmerzenden Gliedern bog ich um eine Ecke und ging eine Gasse entlang. Am besten war es wahrscheinlich, wenn ich nach Toni suchen würde. Er war zwar in vieler Hinsicht ein Idiot, aber so etwas interessierte in meinem Leben nicht. Genauso viele Unterschiede wie es zwischen uns gab, genauso viele Gemeinsamkeiten hatten wir auch. Wir beide waren in jungen Jahren hergekommen, in die Großstadt, die mit Luxus und Geld immer unerbittlich nach uns gerufen hatte. Sie hatte uns mit offenen Armen empfangen, uns gefüttert und unsere Hoffnungen genährt bis sie schließlich das Interesse an uns verloren und uns fallengelassen hatte. Und jetzt fristeten wir beide genau wie viele andere unser Dasein auf der Straße, unfähig uns von ihr loszureißen, aus ihrem Schosse zu fliehen und ihr den Rücken zu zukehren um unser Glück woanders zu suchen. Während ich weiter durch die Gassen ging, wurde zu meiner Rechten überraschend eine Tür aufgeschlagen. Unverständliches Geschrei drang in die stille Nacht hinaus, bevor schließlich ein wankender Körper in die Gasse hineingestoßen wurde. Dann ein lauter Knall und die Tür war wieder zu. Der Mann, der nun in der kalten Gasse stand, hämmerte mit Fäusten auf die Holztür ein, aber als sie schließlich nicht nachgab, sank er langsam auf die Knie und fing leise an zu wimmern, wie ein kleines Kind, bevor er schließlich zur Seite kippte und regungslos auf dem Boden liegen blieb. Ich ging weiter auf ihn zu und als ich schließlich über den Körper hinweg stieg, drang mir ein starker Alkoholgeruch in die Nase. Ich schaute nach unten, musterte das Gesicht des Mannes, der noch immer einfach so dalag. Er war nicht rasiert, so dass sein Gesicht von Bartstoppeln übersäht war, seine Haare waren fettig, ungepflegt und hingen jetzt in den kleinen Pfützen, die den Boden bedeckten. Seine Wange war rötlich verfärbt und wirkte etwas geschwollen. Ein Überbleibsel der Ohrfeige, die er vor kurzem empfangen haben musste. Er war genau wie ich, wie Toni, wie wir alle, die durch die Gassen schlichen. Nicht in der Lage endlich loszulassen, nüchtern zu werden, etwas Besseres zu suchen. Wenn seine Frau kein Mitleid hatte und ihn wieder hineinließ, dann würde er wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden, sobald sich das Licht der Sonne in die Gassen stahl, tot sein. Star gefroren wie eine Figur würde er auf dem Asphalt liegen, während noch immer ein leichter Alkoholgeruch in der Luft wahrnehmbar sein würde. Er würde ein Nichts sein, nur eines der vielen namenlosen Opfer, die die Stadt forderte. Nur beweint von zwei, vielleicht drei Leuten, beneidet von den anderen Bettlern, die ihr kaltes Ende noch vor sich hatten und bis zum Schluss nicht mehr genug Münzen zwischen die Finger bekommen würden um sich einem ordentlichen Suff hinzugeben, der sie wenigstens für einen Abend von ihren Sorgen befreien würde. Ich warf noch einen Blick über die Schulter, bevor ich um eine Ecke biegen und ihn endlich aus den Augen verlieren würde. Er hatte sich noch immer nicht wieder bewegt, nur sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig, als Zeichen dafür, dass es noch nicht vorbei war. Beneidete ich ihn? Wollte ich an seiner statt dort auf dem Boden liegen und auf das Ende warten? Nein. Gewiss war es ein guter Tod, dem der Mann ins Auge sah, er war betrunken, würde nicht spüren, wie ihm die Kälte in die Glieder steigen und nach und nach alle Wärme aus ihm vertreiben würde, aber dennoch wollte ich nicht mit ihm tauschen. Ich war noch nicht so weit mich auf den Boden zu legen und einschlafen zu können. Morgen vielleicht, aber noch nicht heute, heute noch nicht. Ich bog um die Ecke und im nächsten Moment hatte ich den Fremden in der Gasse bereits so gut wie vergessen, schließlich war er ein Niemand, so wie wir alle. Jetzt galt es Toni zu finden, wahrscheinlich würde er wieder irgendwo bei den alten, seit Jahren verwahrlosten Parkplätzen sein. Ich konnte nicht sagen wieso, aber er und viele andere meiner Art schienen sich dort wohl zu fühlen und waren regelmäßig dort anzutreffen. Oft besuchte ich sie, blieb tagelang bei ihnen, aber genauso oft drängte es mich wieder in den Gassen zu verschwinden, andere Stadtteile aufzusuchen, neue Dinge zu entdecken, von denen diese Stadt so viele zu bieten hatte. Aber jetzt war ich wieder hier auf dem Weg zu ihnen, der Rest war unwichtig. Als ich über den alten Zaun, der das Gelände umgab, herüber geklettert war, vergrub ich meine kalten Finger in den Taschen meiner viel zu dünnen Jacke und steuerte auf eines der alten Parkhäuser zu. Alles war still und dunkel und erst als ich das alte Gebäude umrundet hatte, konnte ich ein schwaches Flackern in der Dunkelheit ausmachen. Ich ging darauf zu und stellte bald fest, dass es sich um ein Feuer in einer alten, löchrigen Tonne handelte. Toni. Er war der einzige, der es immer und überall schaffte ein Feuer zu machen, egal wie kalt, nass oder stürmisch eine Nacht sein mochte, er fand immer etwas, dass er anzustecken vermochte um sich später die steifen Finger an den Flammen zu wärmen. Auch ich genoss die Hitze, die von dem Feuer ausging, als ich schließlich an der alten Tonne stand und schloss die Augen. "Du hast dich ja auch schon eine ganze Weile nicht mehr blicken lassen", stellte eine kratzige Stimme ganz in meiner Nähe fest. "Ich war unterwegs", antwortete ich nur. Ein Lachen. "Das habe ich gemerkt. Aber früher oder später kommen sie doch alle zu mir um sich an Tonis Feuerchen zu hocken. Vorzugsweise dann wenn es kalt und nass ist." Ich musste lächeln. So war er, der Toni, er kannte sie alle. Die Hitze der Flammen tat mit gut und als ich langsam das Gefühl bekam wenigstens wieder halbwegs aufgetaut zu sein, öffnete ich die Augen. Toni stand direkt vor mir und schaute mich aus seinen alten, ernsten Augen an und wir musterten uns stumm, bevor er schließlich breit grinste und eine Zahnlücke offenbarte. Er drückte mich an sich und schob mich noch näher ans Feuer heran. "Ein Glück für dich, dass du zu den Leuten gehörst, mit denen ich mein Feuerchen gerne teile, nicht war?" Im Schneidersitz ließ er sich auf dem Boden nieder und ich tat es ihm gleich. "Allerdings. Gibt es denn auch Leute, mit denen du nicht so bereitwillig teilst?" Toni grunzte. "Ein paar so junge Burschen. Du weißt schon, solche die neu sind, die wirklich glauben, der Stärkere überlebt, ohne zu wissen, dass wir alle nichts weiter sind als eine große Familie." Sein Gesicht war eingefallen und während er ins Nichts starrte, beleuchtete der Schein des Feuers jede seiner Falten, die bezeugten, dass es nicht der erste Winter war, den er auf der Straße verbrachte. Ich überlegte, wie lange er wohl schon so lebte und murmelte schließlich: "Warum bist du nie gegangen? Du lebst hier länger als alle Anderen ohne je Anstalten gemacht zu haben zu gehen oder es auch nur zu versuchen." Toni antwortete nicht und nach einer Weile fragte ich mich, ob er mich überhaupt gehört hatte, aber bevor ich noch einmal nachhaken konnte, stand er elegant auf und hielt mir die Hand hin. "Ich zeig's dir", erklärte er. Kurz mustere ich die alte runzelige Haut, dann ergriff ich seine Hand und stand auf. Ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln folgte ich ihm durch die Dunkelheit zu einem der Parkhäuser. Es war das größte. Schweigend stiegen wir hinauf und ganz oben angekommen schob Toni mich bis ganz nahe an den Rand des Daches. Von hier aus konnte ich bis zu Einkaufsmeile sehen. Die Leuchtreklamen durchbrachen die Nacht, die schrillen Farben riefen mich nahezu zu sich, versprachen Glück, Freude, Entspannung und weckten vergebliche Hoffnung in meinem Innern. Ein Anblick, der auf skurrile Art und Weise wunderschön war. Er ließ mich nicht los, umgarnte mich mit den Farben, Kontrasten, weckten meine Träume, die es mir unmöglich machten mich einfach umzudrehen, zu gehen und all dem den Rücken zu zuwenden. "Sie ist ein Miststück", murmelte Toni neben mir. Ich bewegte mich nicht und schaute ihn auch nicht an. "Wer?" "Diese Stadt. Sie umgarnt dich, ruft dich schon in deiner Jugend zu sich, flüsterte dir leise schmeichelnde Dinge ins Ohr, bereitete dir eine Freude nach der anderen und schließlich lässt sie dich fallen, erbarmungslos und unerbittlich. Sie tritt dich mit Füßen, auch wenn du schon längst am Boden liegst, all deines Stolzes und all deiner Ehre beraubt und dennoch ist sie so wunderschön, dass du dich einfach nicht von ihr losreißen kannst und stattdessen fristest du in ihrem Schatten dein Dasein, in der vergeblichen Hoffnung irgendwann wieder zu ihren Auserwählten zu gehören." Ich schaute noch immer zu den leuchtenden Straßen, den kunstvoll dekorierten Laternen, zu den Orten, in denen das Leben nur so pulsierte. So nah und doch so fern. Ich nickte. "Ein Miststück." Kapitel 3: 003 Musik -------------------- Musik Die Langeweile drohte ihn aufzufressen und als die Schulglocke schließlich ertönte, packte er erleichtert seinen Block in die Tasche und stand auf. Er hatte einen Fensterplatz, so dass er ohne Probleme auf den Schulhof hinunter schauen konnte. Gedankenverloren betrachtete er die sich mit Schülern füllende Asphaltfläche und blinzelte schließlich, während er darüber nachdachte, mit welcher Musik, mit welchem Song man eine solche Situation wohl in einem Spielfilm hinterlegen würde. Irgendetwas Rockiges? Nein, wahrscheinlich nicht, ehr irgendetwas Melancholisches um die Einsamkeit, die der handelnde Protagonist in seinem Herzen wahrnahm und scheinbar nicht abschütteln konnte, dem Zuschauer zu vermitteln, der mit einer Tüte Popcorn und einer Cola im Kino saß und gebannt auf die große Leinwand starrte. Mit einem Ruck wandte er sich von dem Anblick der Schülermassen los und machte sich auf den Weg nach unten um dem Schulgebäude für heute den Rücken zu zukehren. Er schob die Kopfhörer über die Ohren und spulte ununterbrochen vor, während er sich durch die Massen an Kindern drängte, die auf den Schulausgang zu stürmten. Schließlich blieb er genervt stehen und packte den MP3-Player wieder ein. Es machte keinen Sinn Musik zu hören, wenn sie nicht zur Situation passte und ihm wollte partu kein Lied einfallen, das jetzt, in diesem Moment als Soundtrack zu seinem Leben geeignet wäre. Schlecht gelaunt schupste er zwei seiner Meinung nach zu klein geratene Sechstklässler zur Seite und war froh, als er endlich an der frischen Luft angekommen war und vom Schulgebäude fliehen konnte. Leise vor sich hin summend schlenderte er eine Straße entlang, dieses Mal machte er sich keine Gedanken über ein passendes Lied, sondern gab sich voll und ganz mit seinem Gesumme zufrieden. Erst als er eine Einkaufsstraße erreichte, spürte er, dass sich seine Umgebung und somit auch seine Empfindungen und seine Stimmung weitergehend veränderten. Er brauchte eine neue Melodie, einen neuen Rhythmus, an den er sich klammern konnte. Panik breitete sich in ihm aus, aber bevor sie von ihm Besitz ergreifen und ihn in ein Loch reißen konnte, nahm er ein leises Gitarrenspiel war. Suchend drehte er sich um die eigene Achse und entdeckte schließlich einen Gitarrenspieler an einer Hauswand sitzen, der sich scheinbar noch ein paar Münzen dazu verdienen wollte. Seine Musik passte, die Töne, die er den Saiten entlockte fügten sich in alles Greifbare. Sie erhellten alle versteckten Winkel der Straße, schmeichelte den Ohren und passte sich dem Rhythmus der vorbei gehenden Passanten an. Er nickte unbewusst. Ja, das passte. Langsam ging er weiter und genoss es das erste Mal an diesem Tag etwas passenden gefunden zu haben, das die Situation vollkommen machte. Erst als er den größten Teil der Einkaufsstraße hinter sich gelassen hatte und ihn die Klänge der Gitarre nicht mehr erreichten, verspürte er wieder diese Leere, diese Unvollkommenheit. Wieder fehlte ein Lied, das die Situation und sein Leben perfekt ergänzte und wieder zu einem ganzen machen konnte, schließlich war die Musik ein wichtiger Teil seines Charakters. Und auch ein wichtiger Teil aller anderen Menschen, ohne dass sie sich dessen bewusst waren. Ein jeder identifizierte sich durch die Musik, die er sich regelmäßig zu Gemüte führte, egal ob es Pop, Rock, Hiphop, Jazz, Klassik oder sonst eine Art von Musik war. Ohne Musik, war der Mensch gar nichts, ohne sie war die ganze Welt gar nichts. Wahrscheinlich hatten die Menschen deshalb überhaupt erst angefangen Musik zu machen. Um die Leere, die sie mit ihrer Arbeit, die sie sich zwanghaft suchten, nicht auszufüllen vermochten, endlich mit irgendetwas zu stopfen und wenigstens ansatzweise das Gefühl zu haben etwas Ganzes, etwas Vollkommenes zu sein. Musik, menschlich, aber unmenschlich genial. Seufzend ging er weiter und durchforstete sein Hirn wieder nach etwas passendem, wieder fand er nichts, wie bereits schon am Morgen in der Schule. Er hasste solche Tage, an denen der Soundtrack ständig fehlte. An solchen Tagen schien das Leben zum einen nur halb so bunt wie sonst und zum anderen war es auch viel schwerer. Es gab nichts, was ihn antrieb und den Rhythmus vorgab mit dem er den Tag meistern konnte. Zielstrebig ging er nun weiter, nicht schlendernd, sondern schnellen Schrittes. Die Meter flossen unter seinen Füßen nur so dahin und nachdem er mehrere Straßen überquert hatte und zwei Mal mit einem Bus gefahren war, kam er endlich bei den Hochhäusern an. Noch immer fehlte er, der Takt des Lebens und wahrscheinlich würde er ihn heute auch nicht mehr finden. Morgen vielleicht wieder. Und bis dahin gab es nichts was er tun konnte, außer sich zu verstecken, denn ohne den Rhythmus war es sinnlos und auch gefährlich weiter zu leben Er betrat eines der Hochhäuser und fuhr mit dem Aufzug in den neunten Stock. Während er auf die Wohnungstür zuging fummelte er seinen Schlüssel aus der Tasche und schloss sie schließlich auf. In der Wohnung schmiss er seinen Rucksack und seine Jacke in eine Ecke, dann ging er zielstrebig in sein Zimmer, versperrte die Tür hinter sich und ließ die Rollladen herunter, so dass es vollkommen finster wurde. Langsam und tastend bewegte er sich durch den Raum und ließ sich schließlich auf sein Bett fallen, wo er still liegen blieb. An Tagen wie diesen musste man sich verstecken. Bis der Rhythmus wieder da war, der Takt, der Soundtrack. Kapitel 4: 004 Herz ------------------- Thema 004 Herz June wirbelte hektisch die Blätter, die sich auf ihrem Schreibtisch breit gemacht hatten, durcheinander, aber sie konnte einfach nicht finden, was sie suchte. Ein Fluch lag ihr auf den Lippen, aber sie hielt sich zurück, da sie wusste, dass es erst halb acht in der Früh war und ihre Geschwister noch schliefen, da sie später zur Schule mussten. Genervt davon, dass sie mal wieder so früh aufstehen musste, dass sie trotzdem schon wieder zu spät dran war und heute auch noch ihre Matheklausur schreiben musste – sie hasste Mathe – durchsuchte sie mir fliegenden Fingern die Taschen der Hose, die sie am Vortag getragen hatte, aber dort war es auch nicht. Wie sollte sie diese verdammte Matheklausur ohne ihren Glücksbringer überleben? Wie zum Teufel sollte sie es schaffen mit einer Vier davon zu kommen, wenn sie alleine war? In ihrer Umhängetasche war es auch nicht. Ein schneller Blick auf die Uhr – zwanzig vor acht. Sie musste los, sonst würde sie trotz ihres kurzen Schulweges hoffnungslos zu spät kommen. Gereizt und schlecht gelaunt stürmte sie die Treppe herunter bis ihr auf halbem Weg einfiel, dass sie ihren Taschenrechner vergessen hatte. Mit noch schlechterer Laune als zuvor eilte sie die Stufen wieder hinauf, fegte mit einer einzigen Handbewegung sämtliche – ohnehin schon durcheinander gebrachten- Seiten vom Schreibtisch auf den Boden und griff sich das kleine Rechengerät. Jetzt wurde es knapp. Sie fiel die Treppen mehr hinunter als das sie sie ging, schnappte sich unten angekommen ihren Schlüssel und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus. Bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, konnte sie noch die Stimme ihrer Mutter hören. Das würde am Nachmittag Ärger geben, aber sie hatte jetzt beim besten Willen keine Zeit mehr um ganz in Ruhe mit ihrer Mutter zu frühstücken. Und Lust dazu hatte sie auch nicht. Während sie auf das Schulgebäude zu rannte wurde ihre Panik vor Mathe immer größer und sie versuchte verzweifelt sich daran zu erinnern, wo sie diesen verdammten Glücksbringer gelassen hatte. Sie hing an dem Teil und vor allem in Mathe beschlich sie des Öfteren das Gefühl des Versagens, so dass sie es doch als beruhigend empfand dieses Dingen dabei zu haben. Ohne das Tempo großartig zu reduzieren rannte June auf die Schultür zu und krachte schließlich dagegen, als es zum Schulbeginn klingelte. Sie war zwar manchmal etwas spät dran, aber zu spät gekommen war sie noch nie. Heute war einfach nicht ihr Tag. Im Schulgebäude waren noch einige Schüler unterwegs, denen es aber nicht das Geringste auszumachen schien, dass sie etwas spät dran waren, so dass sie June, die eilig zwischen ihnen hindurch stürmte, nur ein paar amüsierte Blicke zu warfen. Das Mädchen ignorierte es und stürmte weiter durch die Gänge und noch zwei Treppen hinauf, bis sie schließlich keuchend vor einer Tür stehen blieb. Dahinter herrschte Totenstille, also hatten sie schon angefangen. June atmete noch einmal tief durch und erinnerte sich daran, dass sie – auch ohne ihren Glücksbringer – eigentlich nichts zu verlieren hatte, da es kein Geheimnis war, dass sie Mathe nicht konnte. Dann klopfte sie an die Tür. Schritte – dann wurde geöffnet. "Entschuldigung", murmelte June. "Ich hab meinen Taschenrechner nicht gefunden." Ihr Lehrer nickte nur und deutete auf einen freien Platz direkt vor dem Pult. Wie sehr sie diesen Lehrer hasste. June lächelte gequält, betrat den Raum und sah sich unauffällig nach einem anderen Sitzplatz um, aber bis auf diesen einen waren alle besetzt. Leise seufzend ergab sie sich schließlich ihrem Schicksal und ging in Richtung Pult. Auf dem Weg dorthin kam sie an dem Platz einer ihrer besten Freundinnen vorbei. Ein Mathegenie, das ihr am Vortag noch einmal mit viel Geduld die Tangentenbestimmung an einer Parabel erklärt hatte. Hoffnungslos. June war schon fast vorbei gegangen, als ihre Freundin den Kopf hob und leise auf den Tisch klopfte. June drehte sich noch einmal um und dann sah sie es. Das abgegriffene und mit vielen Macken versehene Steinherz. Ihr kleiner Glücksbringer! Sie musste ihn am Vortag bei ihrer Freundin vergessen haben. Glücklich nahm sie das Herz an sich und fuhr mit den Fingern durch einen der tiefen Kratzer. Dann hörte sie, wie ihr Lehrer sich in ihrem Rücken geräuschvoll räusperte und eilte weiter zu ihrem Platz. Dort setzte sie sich, legte das kleine schon arg in Mitleidenschaft gezogene Herz auf die Tischplatte und zog die Arbeitsblätter zu sich heran. Während sie sich aus ihrer Jacke schälte, las sie sich die Aufgaben durch, dann lächelte sie dem kleinen Herzen zu und schlug ihr Heft auf. Sie hatte keine Ahnung was sie machen musste. Kapitel 5: 005 Waffe -------------------- 005 Waffe "Ich an deiner Stelle würde es nicht übertreiben!", warnte Markus, aber die schwarzhaarige Frau, die ihm gegenüber stand, schien das nicht im Mindesten zu interessieren. "Ich habe dir gesagt, du sollst dich verpissen! Was ist daran so schwer zu verstehen?", schrie sie ihn an und warf eine Vase in seine Richtung. Markus duckte sich und hörte kurz darauf, wie das Stück an der Wand hinter ihm zerbrach. "Und ich habe gesagt, dass du es nicht übertreiben sollst!", entgegnete er wütend und fuhr dann fort: "Du bekommst Geld, du weißt, dass ich es mir leisten kann, also mach nicht so ein Theater." "O ja, ich werde Geld kriegen und zwar nicht zu knapp, aber glaubst du alles Ernstes, das ist alles, was ich will?" Melanie stand nun ruhig da, die Hände auf die Hüften gestützt und fixierte Markus mit ihren dunklen, stechenden Augen. "Was solltest du sonst wollen?", fragte er leicht irritiert und ging einen Schritt zurück. "Du hast mich betrogen, seit drei Jahren, du hast unsere Ehe in den Dreck gezogen und mit Füßen getreten. Ich will mehr, als nur den mir zustehenden Unterhalt, ich will dich am Boden liegen sehen, ganz alleine, ganz ohne Hilfe." Ihre Stimme war leise, dennoch sprach Melanie klar und deutlich. "Drohst du mir?", fragte Markus. "Nein", antwortete seine Nochehefrau und funkelte ihn an. "Wenn ich dir drohen würde, dann würde ich dir noch die Chance geben irgendwie aus der Sache raus zukommen. Aber dafür ist es schon zu spät. Ich warne dich nur und rate dir in nächster Zeit gut auf dich aufzupassen und dir genau zu überlegen was du tust." "Du wirst mich nicht umbringen", stellte Markus klar um sich selbst zu beruhigen und Melanie lächelte. "Nein, an dir mach ich mir da nicht die Finger schmutzig, das ist unter meinem Niveau. Außerdem wäre das nicht ansatzweise befriedigend genug. Wie gesagt, ich will dich um Hilfe winselnd am Boden sehen, nicht tot. Und jetzt geh." Markus starrte sie noch einen Moment lang an, dann drehte er sich um und verließ die Wohnung. Innerlich lachte er bereits über die ganze Sache, es war klar gewesen, dass seine Affäre früher oder später auffliegen würde und jetzt, da es so weit war, machte es ihm nichts aus. Er empfand schone lange nicht mehr das für Melanie, was er am Anfang ihrer Ehe gefühlt hatte und inzwischen war seine Firma und sein Ruf groß und gut genug, um sich die monatlichen Unterhaltszahlungen ohne weiteres leisten zu können. Während er zu seinem teuren Auto ging, schmunzelte er und musste lachen, als er daran zurückdachte, wie Melanie ihm quasi gedroht hatte. Sie konnte ihm nichts anhaben, sie war nur eine mittelmäßig erfolgreiche Schriftstellerin und Journalistin, die ihre Artikel hin und wieder in irgendwelchen kostenlosen Zeitschriften veröffentlichte. Das einzige, was sie vielleicht zu tun im Stande war, war ihn mit ihren spitzen Bleistiften, mit denen sie ihre Artikel zu schreiben pflegte, aufzuspießen. Er musste lachen, die Vorstellung, dass sie ihm etwas antun wollte, war einfach zu lächerlich. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss und fuhr los. Es dauerte ein paar Minuten, bis Melanie sich wieder so weit im Griff hatte, dass sie einen Besen holte und sich daran machte die Scherben der kaputten Vase zu beseitigen. Ihre Ehe mit Markus war schon lange nicht mehr das gewesen, was sie mal war, aber dass es so kommen würde hatte sie nicht erwartet. Sie schniefte und wischte sich eine Träne von der Wange. In den letzten Jahren war die Firma ihres Mannes immer reicher und sein Egoismus und seine Selbstverliebtheit waren immer unerträglicher geworden. Nein, sie würde ihn nicht vermissen, im Gegenteil, wahrscheinlich war es sogar mehr als gut, dass er jetzt endlich weg war. Aber das genügte ihr nicht, sie wollte Rache. Dass er wirklich so primitiv war und geglaubt hatte, dass sie ihn umbringen wollte, amüsierte sie. Das war nicht ihr Stil. Sie hatte eine viel bessere Waffe, eine Waffe, die ihr ach so lieber Ehegatte seit Jahren spöttisch belächelt hatte, aber diese Waffe würde ihm nun das Genick brechen. Melanie warf die Scherben in den Mülleimer, goss sich einen Tee auf und setzte sich dann an ihren Schreibtisch. Eine Weile starrte sie gedankenverloren aus dem Fenster, dann griff sie nach dem Telefon. Sie war vielleicht nicht die beste Schreiberin und sie war sich dieser Tatsache durchaus bewusst, aber sie hatte Freunde in der Branche. Kontakte, die ihr nun ohne weiteres dabei helfen würden, ihren Mann zu Fall zu bringen. Zwei Stunden später lagen drei Briefumschläge auf ihrem Schreibtisch. Sie enthielten Bilder, Notizen und Kopien und würden noch heute ihre Reise antreten. Als Melanie die Briefumschläge in ihrer Handtasche versaute, lächelte sie. Er hatte sie schon immer unterschätzt und war sich bis heute nicht bewusst, wie wichtig sein Image für den Erfolg der Firma war - und er hatte keine Ahnung, wie schnell es sich mit ein paar gestreuten Gerüchten zerstören ließ. Melanie kannte sie alle, seine schmutzigen Geheimnisse, seine illegalen Bestechungsgeld, die Leute, die in den konkurrierenden Firmen sabotierten. Er hätte seine Unterlagen in der Wohnung vielleicht nicht allzu oft herumliegen lassen sollen. "Das Ganze ist eingeschlagen wie eine Bombe!", kicherte Katja und schlürfte ihren Kaffee, während sie Melanie dabei beobachtete, wie sie durch die Tratschzeitung blätterte und schließlich auf der Seite hängen blieb, von der ihr Exmann sie anstarrte. Direkt unter der Überschrift 'Skandal!' war er abgebildet worden. Melanie wirkte zufrieden. "Danke", sagte sie schließlich und schenkte Katja ein Lächeln. Die erfolgreiche Journalistin, die sich in den letzten Jahren einen großen Namen gemacht hatte und bei einem der größten Skandalblätter Deutschlands arbeitete, winkte ab. "Ich hab zu danken! Ohne dich wäre ich doch gar nicht an so eine von Skandalen nur so triefende Geschichte rangekommen!" Katja strahlte, während Melanie wieder den Artikel betrachtete. Anderthalb Wochen war es jetzt her, dass sie die Briefe abgeschickt hatte und nun nahm endlich alles seinen Lauf. Zwar war die Story ihrer Freundin an vielen Stellen maßlos übertrieben, aber es würde den gewünschten Effekt haben. Sein Ruf war vorerst ruiniert und da noch zwei weitere große Artikel in großen Zeitungen bevorstanden, würden die kleineren Blätter bald nachziehen und es würde Jahre dauern, bis seine Firma wieder das war, was sie bis heute gewesen war. "Steckst du hinter dem ganzen?", Markus Stimme war erschöpft und die Ringe unter den Augen zeigten, dass er seit Tagen bis zum Hals in Arbeit steckte und die ganzen Gerüchte bekämpfen musste. So weit Melanie wusste, was inzwischen sogar die Staatsanwaltschaft auf ihn aufmerksam geworden und ermittelte nun gegen ihn. "Wohinter?", fragte die schwarzhaarige Frau, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Türrahmen. Herein bitten würde sie ihn nicht. "Hinter den Zeitungsartikeln. Hinter all dem, was jetzt auf mich einstürmt." "Steht unter irgendeinem dieser Artikel mein Name?" "Nein, aber-" "Dann werde ich wohl auch nichts damit zu tun haben", entgegnete Melanie unwirsch, trat einen Schritt zurück und wollte die Tür schließen, aber kurz bevor das Schloss einrastete, hörte sie, wie er leise fragte: "Warum?" Die Frau verharrte, dann öffnete sie die Tür wieder ein Stück weit und musterte den sich zusammengesunken Mann einen Moment lang. "Du hast in deinem Leben drei große Fehler gemacht, Markus. Erstens, du hast deine Firma mit illegalen Mitteln nach oben gebracht, hast Bestechungsgelder gezahlt, betrogen und die Konkurrenz sabotiert. Zweitens, du hast deine Ehefrau betrogen und drittens, du hast das geschriebene Wort unterschätzt." Dann schloss sie die Tür. Endgültig. Kapitel 6: 006 Ehrlichkeit -------------------------- Thema 006 Ehrlichkeit Ich lebe in der Großstadt. New York. Ausgesucht habe ich es mir nicht, es ist also alles andere als freiwillig. Wesen wie ich haben keinen Einfluss auf den Ort, an dem sie geboren werden. Wir entstehen dann, wann die Menschen es wollen, ohne, dass sie uns fragen und meistens lassen sie uns schon bald wieder alleine, kümmern sich nicht um uns und lassen uns verhungern. Nun ja, so ganz stimmt das nicht, ein paar von uns werden richtig verhätschelt und vertätschelt und bekommen an jeder Straßenecke was zu futtern – der Hass zum Beispiel. Er ist in letzter Zeit immer überheblicher und vor allem immer dicker geworden. Man kann ihn immer schon von weitem hören, wenn er heranstampft. Die Liebe ist dagegen voll schlank. Also nicht magersüchtig oder so, nein, sie ist einfach nur eine Dame mit wunderbaren Kurven. Sie selbst sagt zwar, dass die Zeiten auch für sie härter geworden seien, aber man sieht ihr doch an, dass es noch genug Liebe in der Welt gibt um sorglos davon Leben zu können, auch wenn sie ohne Zweifel mehr umherlaufen muss, um sie zu finden. Sie ist sportlicher geworden. Auch die Freundschaft hatte keinen Grund zu klagen, es ging ihr zwar bei weitem nicht so gut wie dem Hass und seltsamerweise auch nicht ganz so gut wie der Liebe – sie beschwerte sich oft darüber, dass Neid sich ständig in ihre Dinge einmischte, aber das ist eine andere Geschichte – aber sie lungerte bei weitem nicht so oft und so nah am Existenzminimum herum wie ich es zu tun pflegte. Immer hatte ich Angst um mein Leben, war ich mir der Tatsache, dass ich mich mit jedem Moment, den ich schwächer wurde, in Luft auflösen konnte, doch vollkommen klar. Aber ich konnte nichts dagegen tun, gar nichts. Ich, als Teil der Ehrlichkeit, hatte es schon immer schwer gehabt, denn wirklich richtig ehrlich waren die Menschen selten zueinander – und genau das mussten sie sein, damit ich etwas davon hatte. Wenn es sich nur um eine Beichte handelte, weil irgendjemand ein schlechtes Gewissen hatte, dann profitierte aus irgendeinem Grund vor allem das Geständnis davon. Ich selbst bekam davon nicht viel mit, da eine Beichte oder ein Geständnis eines Menschen in den seltensten Fällen mit der wahren Ehrlichkeit einherging. Eigentlich schade, aber so war es nun einmal und ich war wie bei so vielen Dingen machtlos. Ich würde sogar sagen, dass ich wahrscheinlich gar nichts an dieser Tatsache ändern würde, selbst wenn ich es könnte. Wenn die Menschen nicht einmal mehr in der Lage wären genug Ehrlichkeit hervorzubringen um ein kleines Wesen wie mich am Leben zu erhalten, sondern stattdessen Neid, Betrug und Hinterlist den Magen voll stopften – die drei konnte ich ohnehin nicht ausstehen, keine Ahnung wieso, es liegt in meinem Naturell – ich glaube, wenn es wirklich so weit kommen sollte, dann wollte ich gar nicht mehr da sein. Die Welt wäre dann in meinen Augen einfach ein bisschen zu korrupt. Wenn noch nicht einmal Liebende, die wirklich Gefühle füreinander hatten (ansonsten würde die nette und ziemlich gut aussehende Frau Liebe ja nichts davon haben), in der Lage waren, von Grund auf ehrlich zueinander zu sein, sondern sich trotz ihres gemeinsamen Lebens betrogen – nein, das wäre nicht meine Welt. Mal schauen wie lange es noch dauert, bis es so weit ist. Bis jetzt habe ich zwar immer alles irgendwie überlebt, aber ich zweifle komischerweise nicht daran, dass der Tag kommen wird, an dem wir alle sterben müssen – die Freundschaft, die Liebe, der Hass, der Betrug, der Neid... Wir werden alle sterben, denn irgendwann wird der Mensch nicht mehr in der Lage sein, irgendeine Art von Gefühlen zu empfinden, zumindest deutet momentan alles daraufhin. Vielleicht bekommt der Mensch ja noch die Kurve – wir werden sehen. Aber wenn es nicht so sein sollte, dann zweifle ich nicht daran, dass ich mit als erster dran glauben muss. Kapitel 7: 007 Schnee --------------------- Thema 007 Schnee Es war einmal ein großes Gebäude, das sehr, sehr weit im Norden stand. Es war rund, wie eine Halbkugel, und komplett weiß, so dass es beinahe nicht zu sehen war in der weißen Eiswüste der Kälte. In diesem Gebäude lebten seltsame, kleine Wesen. Sie sahen so ähnlich aus wie Menschen, aber sie waren sehr viel kleiner und hatten lange, spitz zulaufende Nasen, weshalb sie immer aufpassen mussten wo sie hinliefen, damit sie sich nicht anstießen. Auch war es für sie gefährlich den Kopf schnell zu drehen, denn schneller als man dachte, konnten sie mit ihrer Nase irgendwo gegen hauen, was sie natürlich vermeiden wollten, da es ihnen sehr wehtat. Diese kleinen Männchen hatten einen sehr anstrengenden Beruf, den sonst kein Mensch auf der Welt hatte, weder irgendein Papa noch irgendeine Mama. Sie waren allesamt Schneemänner. Also nicht solche Schneemänner, wie die Kinder sie immer im Winter zu bauen pflegten, solche die komplett weiß waren und meistens einen alten Topf als Hut auf dem Kopf trugen. Nein, sie waren richtige, echte Schneemänner. Zwar waren sie nicht aus Schnee, aber so brauchten sie auch nicht zu schmelzen wenn der Frühling hereinbrach und den Schnee zu Wasser machte. Aber stattdessen konnten sie etwas viel tolleres als die anderen Schneemänner. Sie konnten Schnee machen. Ganz recht, sie machten ihn. Und damit sie dabei nicht gestört wurden und niemand herausfinden konnte, wie man Schnee machte, lebten sie an einem der eisigsten Orte der Welt – ganz alleine. Viele werden jetzt sagen, dass was sie da gemacht haben, das ist ja nicht schwer, sie müssen ja nur ein bisschen Schnee am Nordpol auffangen und sagen sie hätten ihn gemacht, aber so einfach ist das nicht. Das Schneebacken ist eines der kompliziertesten Dinge, die man sich nur vorstellen kann, deshalb werden die Schneemänner auch sehr alt, weil es sehr lange dauert, bis sie es richtig können. Bevor sie anfangen eine neue Ladung Schnee zu backen, erkundigen sie sich erst einmal, wofür genau der Schnee gebraucht wird, es ist sehr wichtig darüber informiert zu sein, denn es gibt sehr viele verschiedene Arten von Schnee und sie müssen natürlich wissen, welchen genau sie backen müssen. Wenn der Schnee zum Beispiel für einen Schneesturm benötigt wird, dann machen sie ihn extra hart, damit er auch so richtig fest vom Wind durch die Gegend gewirbelt werden kann und es laut ist, wenn er vor die Fenster Häuser kracht. Aber Wenn der Schnee für die Kinder ist, dann machen sie entweder ganz viele kleine und glatte Schneeflocken, damit sie darauf Schlittenfahren können, oder sie machen sie richtig groß, dick und pappig, damit er langsam durch die Luft segelt und die Kinder schöne Schneemänner aus ihnen bauen können. Sobald sie das wissen, gehen sie in die unterste Etage des großen, weißen Gebäudes, das im Norden steht. Sie liegt sehr tief im Eis, damit sie einbruchssicher ist und das muss sie auch sein, denn dort lagern die Schneemänner das große Buch des Schnees. In ihm sind alle Schneesorten aufgelistet, die es gibt und das sind unvorstellbar viele. Dabei steht dann ganz genau, welcher Schnee zu welchem Anlass gebacken werden muss und welches Rezept man dabei zu beachten hat. Wenn sie sich das durchlesen, dann müssen sie auswendig lernen, wie der Schnee gemacht wird, da niemand das Buch aus der Etage mit in die Backstube nehmen darf und die Rezepte dürfen auch niemals abgeschrieben werden! Sobald die Schneemänner diese dann schließlich genau im Kopf haben, gehen sie in die Backstube und fangen an den Schnee zu machen. Sie brauchen dafür allerhand Zutaten, die es nur im kalten Norden gibt. Zum Beispiel Salzwasser mit einem ganz bestimmten Salzgehalt, dass bei seiner Entnahme aus dem Meer eine ganz bestimmte Temperatur haben muss, welche, das verraten sie nie. Dann festes Eis, das sie von ganzen bestimmten Gletschern abkratzen, manchmal auch Sand, wobei jedes Sandkorn ein ganz bestimmtes Gewicht haben muss. Welches, das verraten sie nicht. Alles was sie dann brauchen wird in einen Topf gegeben, der aus einem ganz bestimmten Metall sein muss und die Mischung darf nur eine ganz bestimmte Zeit lang bei einer ganz bestimmten Temperatur erhitzt werden, bevor die Schneemänner ein Bindemittel dazugeben. Welches, das verraten sie nicht. Danach holen sie die Masse mit einem Holzspachtel, der aus Australien stammt aus dem Topf (er muss aus Australien sein, er verleiht dem Schnee ein gewisses Aroma!)und sie wird geknetet für genau sieben Stunden, neunzehn Minuten und acht Sekunden. Mit einer ganzen bestimmten Technik, welche, das verraten sie nicht. Und schließlich wird der Teig ausgerollt, ganz dünn. Wie dünn genau, das ist ihr Geheimnis. Danach stechen sie dann endlich die Schneeflocken aus, so wie kleine Kinder es mit Plätzchenteig machen. Sie müssen dabei ganz vorsichtig sein, weil die Schneeflocken natürlich sehr klein sind und schnell kaputt gehen. Außerdem nehmen sie niemals zweimal dieselbe Schablone bei einem Backgang, um zu vermeiden, dass die Schneeflocken alle gleich aussehen. Sie haben ein riesengroßes Lager, das bis obenhin voller verschiedener Ausstechformen für Schneeflocken ist. Wenn sie fertig ausgestochen sind, dann legen die Schneemänner den noch nicht fertigen Schnee auf große Bleche und backen ihn im Eisofen. Wie lange er darin bleibt, hängt davon ab, mit was für einer Schneesorte man es zu tun hat. Der Schnee für einen richtigen Sturm muss zum Beispiel viel länger backen, damit er kälter und härter wird als der flockige Schnee für Kinder. Wie kalt genau der Eisofen ist, dass weiß keiner, nur der oberste der Schneemänner und der verrät es nicht. Wenn der Schnee fertig gebacken ist, dann wird er verpackt und an diejenigen verschickt, die ihn bestellt haben, wie zum Beispiel ein Sturm, der auf dem Weg von Russland nach Europa ist und nicht mehr genügend Schnee dabei hat. Beim Versand der Ware muss man immer besonders vorsichtig sein, damit der Schnee nicht einfach kaputt geht, bevor er überhaupt vom Himmel gefallen ist, deshalb kleben die Schneemänner auch immer große, pinke Zettel auf die Pakete, auf denen steht: „Vorsichtig! Eisige Ware!“ Und dann, wenn der Schnee endlich dort angekommen ist wo er hinsollte, dann darf er vom Himmel schneien und seine Funktion erfüllen. Das ist die Geschichte der Schneemänner, die im Norden leben. Ganz alleine. Kapitel 8: 008 Freundschaft --------------------------- Thema 008 Freundschaft Genervt kramte Emilia in der Holzkiste herum, die normalerweise unter ihrem Bett zu Hause war. Als sie die alte Lektüre immer noch nicht fand, kippte sie den Behälter kurzerhand um, so dass sich der Inhalt auf dem Boden verteilte. Ein alter Kalender, Postkarten, zwei, drei alte Schulbücher, irgendwelche Zettel, Zeitschriften, Kuscheltiere, Staub… Emilia seufzte, als sie den Haufen betrachtete. Sie würde nachher alles wieder einräumen und wahrscheinlich auch noch Staubsaugen müssen. Super. Und das alles nur, weil eine Freundin eine alte Lektüre von ihr haben wollte um sie nicht selber kaufen zu müssen. Was tat man nicht alles für Freunde? Man durchwühlte sogar irgendwelche zu gestaubten Kisten, von denen man gar nicht wissen wollte, was darin alles schon zu leben begonnen hatte. Ihre schlanken Finger zogen ein Buch aus dem Haufen von teils undefinierbaren Dingen, nur um festzustellen, dass es nicht das richtige war. Sie hatte keine Lust mehr, aber sie überwand sich und suchte weiter. Eine Viertelstunde später kippte sie eine weitere Kiste aus. Das Aufräumen würde sich jetzt wohl unter keinen Umständen mehr vermeiden lassen. Der Haufen wurde immer größer und mit einem Mal fiel Emilia – völlig unerwartet – ein altes Foto in die Hand. Es musste vor ein paar Jahren auf einer Jugendreise nach Italien aufgenommen worden sein, denn es zeigte sie selbst, wie sie einem blonden Mädchen einen Kuss auf die Wange drückte. Im Hintergrund war die traumhafte Kulisse des Mittelmeeres zu erahnen. Nina. Bis vor ein paar Jahren waren sie die engsten Freunde gewesen. Fünf, fast schon sechs Jahre lang hatte niemand ihnen etwas anhaben können. Niemand. Egal wie viele Gerüchte es zwischendurch gegeben hatte, auch wenn sie sich manchmal zwei, im Extremfall sogar drei Wochen am Stück nicht gesehen hatten. Irgendwie hatten sie es immer gemeistert, waren einander so vertraut gewesen wie sich selbst, hatten sich gestritten und wieder vertragen. Der Sommer in Italien war der Höhepunkt schlechthin gewesen, die Feten am Abend, die Nachmittage am Strand, die Nächte, die sie im Sand gesessen und sich stundenlang unterhalten hatten. Und dann war es auf einmal vorbei gewesen, ohne Vorwarnung war der Kontakt seltener geworden, die Gespräche oberflächlicher. Es tat Emilia weh daran zurück zudenken, es tat weh sich an den ganzen Kummer in dieser Zeit zu erinnern. Sie hatte alles versucht um diese Freundschaft, diese ganz besondere Freundschaft, zu retten. Unendlich viele Tränen hatte sie geweint, aber es hatte nicht geholfen, nichts war in der Lage gewesen diese ehemals tiefe Verbindung wieder zu dem zu machen, was es einmal gewesen war. Oder war es doch nur irgendetwas Oberflächliches gewesen? Irgendjemand hatte doch einmal gesagt, dass jede Art von menschlichen Beziehungen, die scheitern, nicht wirklich tiefgründig, nicht erst gemeint waren. Einen Moment lang dachte Emilia darüber nach, dann schüttelte sie ärgerlich den Kopf. Nein, sie wusste es besser. Es war eine richtige, ernste Freundschaft gewesen. Gewesen. Aber trotz des Kummers und der Tränen, die sie schließlich gekostet hatte, Emilia bereute nichts. Sie hatte keinen Grund dazu, denn sie wusste mit Sicherheit, dass die Jahre mit Nina ihr viel Glück und Freude gebracht hatten. Warum sollte sie das leugnen? Und Dinge, die einem Spaß gemacht hatten, die sollte man auch nicht bereuen. Heute sah sie Nina immer noch regelmäßig, vor allem in der Schule, auch wenn sie in verschiedenen Jahrgangstufen, waren. Meistens ignorierten sie sich gegenseitig, nur selten kam es vor, dass sie miteinander sprachen. Nicht weil sie sich nicht mehr mochten, sondern einfach, weil sie kein Thema mehr hatten über das sie sich unterhalten konnten. Sie waren einander auf seltsame Art und Weise fremd geworden. Emilia betrachtete noch ein paar Sekunden das Foto, dann legten sie es zur Seite, während sie sich dann daran erinnerte, wie ihre Mutter sie getröstet und gesagt hatte: „So ist das mein Schatz. Manche Freundschaften halten ewig, andere zerbrechen an irgendwas.“ Aber die Freundschaft zwischen ihr und Nina war nicht zerbrochen. Sie war verwelkt. Kapitel 9: 009 Mut ------------------ Thema 009 Mut Die Gitarre in seiner Hand zitterte leicht. Er spielte erst seit vier Monaten und wirklich spielen konnte er auch noch gar nicht. Nur ein paar Griffe und ein bisschen Gezupfe, nichts wirklich besonderes. Irgendwo hatte er gelesen, dass es eindrucksvoll wirkte, wenn man Gitarre oder irgendein Instrument spielte und dass sie auf so etwas standen. Die Mädchen. Und da er nur ein zu klein geratener Typ war, der etwas schmächtig wirkte und immer Pickel an den peinlichsten Stellen bekam – zum Beispiel mitten auf der Nase - konnte er sie mit seinem Aussehen schon einmal nicht beeindrucken. Er beneidete die Jungs, die mit tollem Aussehen gesegnet waren, oft machten sie auch richtig viel Sport und ihre Muskeln betonten sie dann, in dem sie extra enge T-Shirts anzogen. Die Mädchen fanden das klasse. Immer wenn solche Jungs vorbeigingen, fingen sie an zu tuscheln und zu kichern. Zumindest meistens. Er selbst war nicht so toll. Deshalb hatte er seine Mutter auch angebettelt Gitarre spielen zu dürfen, obwohl sie dafür eigentlich nicht genug Geld hatten. Aber jetzt durfte er es endlich. Und irgendwie fühlte er sich seitdem besser. Cooler. Auch wenn er es niemandem erzählt hatte, weil er Angst hatte, dass man ihn auslachen würde. Es war heute das erste Mal, dass er sich getraut hatte die Gitarre mit in die Schule zu bringen. Um Eindruck zu machen. Einer von den wirklich tollen Jungs hatte ihn schon dumm angegrinst, aber er hatte einfach gesagt, dass er direkt nach der Schule zum Gitarrenunterricht gehen würde. Deshalb. Und auf keinen Fall um toll zu sein. Seit dem saß er nun in der Pausenhalle und fuhr mit dem Finger über die Saiten. Ganz vorsichtig, damit sie nur ganz leise sangen. Es sollte schließlich so wirken, als würde er es nur zur Ablenkung machen. Nicht um cool zu sein. Zwischendurch schaute er immer wieder verstohlen auf, um zu sehen, ob ihn noch immer alle ignorierten, ob er noch immer der Außenseiter war, der nicht beachtet wurde, oder ob er jetzt endlich jemand war. Es war ihm egal, wer er war, Hauptsache er war jemand. Irgendjemand. Aber nichts hatte sich verändert. Alle unterhielten sich, schauten den tollen Jungs hinterher und machten anderen Kram. Warum sahen sie ihn nicht, jetzt, da er eine Gitarre hatte? Hatte er sich nicht genug geändert? Oder durfte er nicht warten? Musste er aufstehen und zu ihnen gehen? Musste er sich zu ihnen setzen, um so zu sein wie sie? Aber das konnte nicht sein, der Abstand war zu groß, als das er ihn hätte überwinden können. Zu viele Schritte musste er tun. Zu viele Selbstzweifel, die er überwinden musste, Er senkte wieder den Kopf und betrachtete die Saiten, strich vorsichtig darüber. Er traute es sich nicht die anderen noch einmal anzusehen, hatte auf einmal Angst davor einem Blick zu begegnen. Angst davor, aufzufallen, verspottet zu werden. Erst als der Schulgong ertönte, hielt er inne und zog die Gitarrentasche zu sich heran. Er würde sie einpacken, in die große, schwarze Tasche und dann würde er sie nie wieder mit in die Schule bringen. Er würde sie weiterhin spielen, ja, aber würde sie nicht mehr zeigen. Wahrscheinlich wirkte er als kleiner, pickeliger Junge ohnehin eher lächerlich als cool mit einer solch großen Gitarre. Warum hatte er sie eigentlich mitgebracht? Warum war er nicht einfach zufrieden damit, nicht aufzufallen? Das war schließlich besser, als etwa die ganze Zeit gehänselt zu werden. Oder nicht? Doch, mit Sicherheit. Als er die Gitarre schließlich verpackt hatte, stand er auf. Sein Blick war wie immer auf den Boden gerichtet, nur ganz kurz schaute er auf. Warum wusste er selbst nicht. Aber er tat es - und schaute ihr direkt in die Augen. Sie waren blau. Er konnte sich nicht davon abwenden, starrte sie an. Sie lächelte. Er konnte es nicht. Sich nicht abwenden. Nicht zurücklächeln. Er konnte es einfach nicht. Sie wandte sich ab. Eines Tages würde er zurücklächeln, bestimmt. Wenn er mutig genug war. Kapitel 10: 010 Verzweiflung ---------------------------- Thema 010 Verzweiflung Es tat der Schwester im Herzen weh, den jungen Mann zu beobachten, der in Zimmer 334 lag. Jedes Mal, wenn sie dort hineinging, fühlte sie sich unwohl und war froh darüber, wenn sie ihre Arbeit dort endlich verrichtet hatte und sie das Zimmer wieder verlassen konnte. Sobald sie die Schwelle überquert hatte und die Tür hinter ihr zugefallen war, blieb sie kurz stehen und atmete tief durch, um alles von sich abzuschütteln, was sich in dem Zimmer an ihr angehaftet hatte. Die Wut, die Einsamkeit, die Verzweiflung. „Hat sich etwas verändert?“, wurde sie von der Seite angesprochen und die Schwester blinzelte kurz um in die Realität zurückzufinden. Neben ihr stand eine Frau, Mitte fünfzig, braune, wenn auch schon leicht angegraute Haare. Ihr Gesicht war von Lachfalten durchzogen, so dass sie wahrscheinlich jedem auf Anhieb sympathisch war, vermutete die Schwester. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, es tut mir Leid.“ Die Hoffnung auf dem Gesicht der Frau verschwand. Es war seine Mutter und die Schwester wusste, dass sie seit Tagen in der Klinik verharrte und auf Veränderung hoffte, aber seit Tagen ließ er niemanden in sein Zimmer, wollte niemanden sehen, weigerte sich Besuch zu empfangen. Und wenn ein Arzt oder eine Schwester sein Zimmer betrat, dann tat er so, als wären sie gar nicht da. Er starrte zum Fenster hinaus, fixierte dort irgendetwas von dem niemand wusste, was es war. Der Schwester war durchaus nicht entgangen, dass sie nicht die einzige war, der es schwer fiel sich lange in seiner Nähe aufzuhalten. Diese tief sitzende Verzweiflung, die sich in seinem Herz eingenistet hatte, war so gewaltig, dass ein jeder, der das Zimmer betrat es wahrnahm und schließlich froh war, wenn er die Anwesenheit dieses Patienten meiden konnte. Die Schwester wollte sich gerade abwenden um sich um einen anderen Patienten zu kümmern, als sie einen Arzt auf sich zukommen sah. „Die Verbände müssen heute wieder gewechselt werden, aber unten in der Notaufnahme haben sie einen Notfall rein bekommen. Irgendein Unfall und jetzt sind meine Assistenten dorthin abgestellt worden, aber ich denke, dass bekommen wir beide auch hin, oder?“ Der Arzt lächelte ansatzweise. Er schien den Patienten zu kennen. „Natürlich“, antwortete die Schwester „ich hole nur eben die Materialien.“ Dann wandte sie sich ab und eilte zum Vorratsraum. Es wäre auch zu viel Glück nötig gewesen, um sie heute vor einem erneutem Besuch des jungen Mannes zu bewahren. Langsam – als wollte sie die Zeit, die ihr noch gegebene war, so gut wie möglich ausnutzen – sammelte sie die Dinge, die sie benötigte zusammen und verstaute sie in dem kleinen Rollwagen, den sie kurz darauf über den Gang schob. Sie kam an der Familie des Mannes vorbei. Zwanzig Jahre war er alt. So jung. Nur etwas älter, als ihre Tochter. Sie lächelte den Angehörigen so gut wie sie es vermochte zu, dann öffnete sie die Tür zu seinem Zimmer und betrat den Raum. Sofort hatte sie das Gefühl von den negativen Emotionen erdrückt zu werden. Der Arzt, der sie um Hilfe gebeten hatte, stand am Fenster und starrte nach draußen. In dieselbe Richtung, wie der Patient. Die Schwester betrachtete die beiden einen Moment lang, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel und der Arzt sich umdrehte. Der junge Mann im Bett regte sich nicht. „Hallo“, begrüßte ihn die Schwester, doch der Mann ignorierte es. Sie machte sich nichts daraus, sie war es nicht anders gewohnt. „Wir werden Ihnen jetzt die Verbände wechseln. Sobald Sie starke Schmerzen haben, teilen Sie es uns bitte mit, damit wir Ihnen ein Schmerzmittel verabreichen können, Sie kennen das ja.“ Er reagierte nicht, tat so, als würde er gar nicht angesprochen werden. Die Schwester war sich schon jetzt sicher, dass er nicht nach einem Schmerzmitteln verlangen würde. Wahrscheinlich würde er sich die ganze Behandlung über nicht rühren, so, als würde nichts geschehen. Wie letztes Mal. Ohne ein weiteres Wort trat sie an sein Bett und schlug die Decke zurück. Er regte sich nicht, starrte weiter aus dem Fenster, machte diesen Raum zu einem Zentrum von negativen Schwingungen. Seine beiden Beinstümpfe lagen jetzt offen auf der Matratze, gehüllt in straff gewickelten, weißen bis leicht gelblichen Verband. Das erste Mal, dass er nicht durchgeblutet war. Einen Moment lang war die Schwester versucht, dem Patienten diese doch wenigstens ansatzweise gute Nachricht mitzuteilen, doch sie schwieg. Er würde ohnehin nur weiter aus dem Fenster starren. Der Arzt nickte ihr zu und sie begannen den alten Verband zu entfernen. Er hatte vor sechs Tagen einen Unfall gehabt. Einen schweren. Die Ärzte hatten wohl alles versucht, sich aber schließlich dazu entschlossen ihm in einer Notoperation beide, nahezu vollständig zerstörten Beine abzunehmen um wenigstens sein Leben retten zu können. Seit dem Tag, an man ihn aus dem künstlichen Koma aufgeweckt hatte, hatte er kein Wort gesprochen. Doch, einmal, korrigierte sich die Schwester in Gedanken. Als er alle besorgten Familienmitglieder seines Zimmer verwiesen hatte. Ansonsten starrte er einfach nur aus dem Fenster. Schweigend. Die Schwester hatte vor zwei Tagen gehört, wie seine Mutter einer Ärztin erzählt hatte, dass ihr Sohn sehr aktiv gewesen wäre. Vor ein paar Monaten hatte er es geschafft den körperlichen Test zu bestehen, der von einem Sonderkommando der Polizei verlangt wurde, wenn man dort irgendwann in eine jahrelange Ausbildung gehen wollte. Nur die besten hatten eine Chance. Er hätte in drei Wochen anfangen sollen. Sie war froh, als der Verband endlich gewechselt war und die Beinansätze wieder von der weißen Bettdecke verdeckt wurden. Geschafft. Sie räumte den Müll und die alten Bandagen zur Seite, dann nickte sie dem Arzt zu. Fast schon hastig verließ sie schließlich den Raum, bewunderte den Mann im weißen Kittel dafür, dass er ganz gelassen blieb und keine Anstalten machte ebenfalls auf den Flur hinauszutreten. Stattdessen drehte er der Schwester, die ihm wartend die Tür aufhielt, mit einem Lächeln den Rücken zu und fing – genau wie der Patient – erneut an, aus dem Fenster zu starren. Sie ließ die Tür ins Schloss fallen. Endlich getrennt. Von dieser düsteren Atmosphäre, von dieser Verzweiflung des jungen Mannes, die so groß war, dass man schon beinahe mit den Händen danach greifen konnte. Er hatte sein Leben verloren. Kapitel 11: 011 Wut ------------------- Wut Ich wusste genau, dass viele – sehr viele – Menschen, die morgen kommen würden, weinen würden. Literweise Tränen würden sie heulen, ohne dass sie sie wirklich gekannt hatten. Sie würden das tun, was im anbetracht der Situation von ihnen erwartet wurde, aber wirklich trauern würden die wenigsten. Letztendlich würden sie den Friedhof verlassen und weiterleben, ohne Probleme. Das war falsch und es machte mich wütend. Wie konnte sie so etwas tun, wie konnten sie dann einfach so weitermachen, als wäre nichts geschehen, als wäre sie immer noch da oder als hätte sie nie existiert? Es war falsch. Falsch. Respektlos. Und es kotzte mich an. All das hier alles – die Kirche, die Kränze, der Friedhof, die Stimmung, das Bedürfnis immer weinen zu müssen. Warum? Warum musste es geschehen? Meine Hände ballten sich zu Fäusten, während die Tränen noch immer in meinen Augen brannten. Warum verließ sie uns einfach? Verließ mich, ließ mich einfach in dieser großen, falschen Welt zurück? Was gab ihr das Recht dazu? Wer, wer zum Teufel hatte ihr erlaubt zu gehen und alles zurückzulassen? Mich zurückzulassen. Alleine. Hilflos. Warum? WARUM? Ich fiel nach vorne und die Wut, die ich empfand durchflutete mich, ließ mich nicht mehr los. Sie hatte mich im Stich gelassen. Einfach so. War gegangen. Ohne Grund. Ohne Warnung. Sie hatte nicht gehen dürfen, ich hatte es ihr verboten! Und trotzdem hatte sie es getan, dieses Miststück! Sie ließ mich mit meinem Leben allein, ohne dass ich jetzt wusste, was ich damit anfangen sollte. Ohne, dass ich wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Sie ließ mich alleine. Und dafür hasste ich sie. Ich hasste sie. Kapitel 12: 012 Schicksal ------------------------- Schicksal „Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe des Schicksal- TV!“, ruft ein kleiner, glatzköpfiger Mann. Er trägt einen schwarzen, scheinbar maßgeschneiderten Anzug, darunter ein rotes Satinhemd. An seinen Finger glitzern und funkeln mehrere Ringe. Sein Gesichtsausdruck ist seltsam, irgendwie bösartig, hinterhältig. „Bevor wir anfangen, möchte ich mich noch einmal für ihr großes und dauerhaft anhaltendes Interesse bedanken!“ Jubel brandet auf, die unzähligen Personen, die sich um die viereckig abgrenzte und leicht erhöhte Fläche versammelt haben, strecken die Arme in Luft und drängen nach vorne. Sie wollen einen möglichst guten Platz haben um die Reaktion der Kandidaten genau beobachten zu können. Diejenigen, die in der ersten Reihe stehen, werden beinahe platt gedrückt, aber sie kämpfen um ihren Platz, verteidigen ihn gegen die sensationsgeile Meute deren Teil sie sind. „Danke, danke, es freut mich, dass es ihnen so gut gefällt“, versucht der Mann die Meute zu beschwichtigen, aber erneut ertönt Applaus und Gejubel und es dauert bis die Lautstärke soweit zurückgegangen ist, dass der kleine Mann mit seinem Programm fortfahren kann. „Nun gut, kommen wir zu unserem ersten Kandidaten: Ein Mann von fünfundvierzig Jahren! Begrüßen Sie mit mir Jacob Seller!“ Wieder ein ohrenbetäubender Lärm, die Zuschauer schreien und stampfen voller Vorfreude mit den Füßen auf den Boden, während ein Mann in alten, dreckigen Klamotten auf das Podest gezerrt wird. Er wirkt niedergeschlagen. „Hallo Jakob!“, begrüßte ihn der Kleine. „Wie fühlst du dich dabei, endlich hier oben zu stehen? Ist es nicht ein herrliches Gefühl, wenn alle einem zujubeln?“ Seine Stimme klingt fröhlich und voller Vorfreude. Der Mann antwortet nicht, er schaut zu Boden. „Nun denn, machen wir weiter, lasst uns herausfinden, wie es mit ihm weitergeht, was ihm die Zukunft bringen wird! Lasst die Schicksalstrommeln herunter!“, schreit er in sein kleines Mikrophon und wieder brandet der Jubel auf, während an goldenen Seilen eine durchsichtige Lostrommel hinuntergelassen wird. Begeisterung bei den Zuschauern. Die Trommel kommt immer näher, schließlich bleibt sie vor dem Mann hängen, der sie ängstlich betrachtet. „Zieh, zieh, zieh…!“, schreien die Gaffer und der kleine Moderator hüpft vor und öffnet eine kleine Klappe an der Lostrommel. „Zieh dein Schicksal, Jakob!“, ruft er und die Menge feuert ihn an. Ängstlich und bloß gestellt steckt er seine rechte Hand in die Trommeln, packt eines der darin enthaltenen Lose. Kaum hat er seine Hand wieder herausgezogen, reißt der der kleine Mann das Papierstück, das er in Händen hält, an sich und hält es hoch. Die Zuschauer toben, als er das Kärtchen schließlich langsam öffnet und dann verkündet: „Dein Schicksal, Jakob Seller, ist es…“ Spannungsmoment, dann: „noch zwei Jahre in Armut leben, dann wirst du einen Job finden. Keinen sehr guten, aber du wirst wieder ein Dach über dem Kopf haben.“ Der Mann, um dessen Schicksal es geht, atmet erleichtert aus. Die Menge buht. Ein positiv Schicksal, eines was das Leben des Kandidaten verbessert, ist nicht gerne gesehen. Es ist nicht spektakulär genug. Der Kandidat verlässt die Bühne und der Moderator ruft einen neuen auf. Ein Mann in einem teueren Anzug, gepflegt, offensichtlich reich. Die Zuschauer schreien, sie wollen Blut sehen. Im übertragenen Sinne. Sie wollen Tränen, verzweifelte Schreie, so etwas trieb die Quoten nach oben, in der letzten Sendung hatten sie eine junge Frau als Kandidatin gehabt, die schwanger gewesen war und die hatte das Schicksal gezogen, dass all ihre Kinder tot geboren würden. Sie war eine Musterkandidatin gewesen, hatte sich auf den Boden geworfen, geschrien, sich geweigert ihr tragisches Schicksal entgegen zu nehmen. Zum Schluss hatte sie sogar den Moderator attackiert, ihm ein blaues Auge verpasst und war schließlich von den Sicherheitsleuten abgeführt worden. Das war genau das gewesen, was die Zuschauer wollen. Der Moderator verachtet sie alle, wie sie sich an ihren vorgeführten Mitmenschen ergötzen. Aber es macht ihm auch Spaß ihnen dabei zuzusehen, wie sie ihre eigene Rasse ausbuhen. Es war schon amüsant. Der fein gekleidete Mann lässt sich nicht lange aufhalten, tritt vor und zieht ein Los. Wieder nimmt der kleine Moderator das Los an sich und verkündet, dass der Betreffende in nicht allzu ferner Zukunft von einem Laster überrollt werden würde. Das war schon besser. Der Zusatz, dass danach die Hölle auf ihn wartete, verbessert die Stimmung der Gaffer noch einmal auch wenn die Tatsache, dass der Mann sein Schicksal mit Würde trägt und hoch erhobenen Hauptes die Bühne verlässt, sie wieder etwas dämpft. „Und nun, meine Damen und Herren, nun kommen wir zu unserem letzten Kandidaten, besser gesagt ein Kandidatin, unser Höhepunkt. Begrüßen Sie mit mir: Sandy.“ Der Applaus wird lauter. Leidende Kinder vermarkten sich besonders gut. Ein Mädchen, lange schwarze Haare, wird auf die Bühne geschupst. Zehn Jahre alt. „Hallo Sandy“, ruft der Moderator in sein Mikrophon. „Wir freuen uns, dass du heute bei uns bist. Tu uns einen Gefallen und zieh dein Schicksal!“ Noch ohne, dass sie ein Kärtchen in der Hand hält, zittern die Hände des kleinen Mädchens. Die Zuschauer grölen. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie schließlich ihre Hand aus der Trommel zieht und ohne, dass der Moderator vorgelesen hatte, fängt sie an zu weinen. Jubel. Weder die Zuschauer, noch der seltsame Moderator haben Mitleid. Letzterer klappt das Kärtchen auf, strahlt über das ganze Gesicht und ruft: „Herzlichen Glückwunsch! Sie haben den Hauptgewinn gezogen! Ihnen steht ein langer Leidensweg mit Leukämie bevor! Und als Zusatz packen wir noch ein Kamerateam obendrauf, das sie begleiten und in all den schmerzhaften Phasen begleiten wird!“ Das Mädchen schlägt die Hände vors Gesicht, ihr ganzer Körper schüttelt sich. Die Menge rast vor Begeisterung. Sie schreit und jubelt ohrenbetäubend. „Das war’s für heute mit ihrem Schicksal- TV! Ich hoffe es hat Ihnen gefallen. Das nächste Mal haben wir wieder neue Schicksale in unserer Trommeln, also beehren Sie uns auch dann wieder!“ Er verbeugt sich. Geschrei. Applaus. Das Licht erlischt. Kapitel 13: 013 Stress ---------------------- Stress Erschöpft lag die künstliche Blondine auf der Liege und genoss die Sonnenstrahlen. Die letzten Tage war es in Spanien sehr heiß gewesen, dass setzte nicht nur ihrem Körper im allgemeinen, sondern speziell ihrer Haut sehr stark zu. Die Creme, mit der sich sie regelmäßig einrieb um sie vor dem Austrocknen zu schützen, war schon wieder leer und das hieß, dass sie am Nachmittag dringend noch einmal in die Stadt musste, obwohl sie eigentlich überhaupt kein Lust hatte die Villa noch einmal zu verlassen. Sie war am Morgen bereits zwei Stunden damit beschäftigt gewesen Anrufe zu tätigen und hatte zusätzlich eine halbe Stunde im Internet gesurft um ein Geburtstagsgeschenk für ihren Gatten zu finden. Leider erfolglos. Aber sie hatte sich ohnehin vorgenommen so bald wie möglich shoppen zu gehen und in richtigen Läden nach etwas zu suchen, nicht nur in irgendwelchen Internetkaufhäusern. Aber das würde sie erst morgen machen, der Vormittag hatte sie einfach zu sehr geschlaucht, heute schaffte sie das einfach nicht mehr. Im selben Moment fiel ihr auch noch ein, dass sie eigentlich noch an den Strand hatte gehen wollen, um der Öffentlichkeit ihren neuen Bikini zu präsentieren, aber alle Sachen dafür zusammen zusuchen, würde bestimmt eine halbe Stunde dauern und bis sich dann einen schönen Platz im Sand gesucht hatte… Die Blondine drehte sich auf den Bauch. Nein, das würde sie auch morgen machen, schließlich würde ihre Masseurin gleich noch kommen und die Maniküre und Pediküre würden bestimmt auch noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Sie seufzte leise. Ein freier Tag, das wäre mal etwas. Immer diese Hektik, das konnte auf Dauer einfach nicht gesund sein. Sie musste dringend einmal Urlaub machen, sich entspannen, denn sie hätte nicht gedacht, dass das Leben an der Seite eines reichen Mannes so stressig war. Aber was tat man nicht alles für die Liebe. Kapitel 14: 014 Missverständnis ------------------------------- Thema 014 Missverständnis Skeptisch betrachtete Sarah das vor ihr stehende, vor wenigen Stunden von ihrer Mutter erworbene Gerät. Es hatte eine kreisförmige, glatte Oberfläche und auf den hellen Plastikgehäuse verkündete eine schwarze, leicht kursive Schrift: Crepeeisen. Sarahs linke Augenbraue wanderte langsam in die Höhe. Kochen war nie so wirklich ihr Ding gewesen und was das Backen anging….na ja, sie hatte es erst einmal versucht. Dabei war der Kuchen aus der Form ausgelaufen. Darauf musste man mal klarkommen. Der Teig eines stinknormalen Kuchens, der normalerweise ekelig und klebrig sein sollte, war ausgelaufen. Ausgelaufen! Wie Wasser. Und jetzt sollte sie Crepes backen. Eine genialer Einfall ihrer Mutter…sonst kam ja niemand auf so hirnrissige Ideen. Nur ihre Mama, die an das verborgene Kochtalent ihrer Tochter glaubte. Was ein Schwachsinn. Genervt griff Sarah nach dem Zettel, der auf dem Küchentisch lag und warf einen Blick drauf. Zucker, Milch, Eier, Buchweizenmehl, Vanillezucker, Mehl, Wasser… Klang einfach. Zu einfach. Von Anfang an zum Scheitern verurteilt, griff sie nach einer Schüssel und fing an. Aber schon bald stellte sich heraus, dass es auf dieselbe Katastrophe hinauslief, wie bei dem Marmorkuchen. Der Teig war total flüssig. Dabei hielt sie sich doch genau an die Anweisungen! Es war doch echt zum Kotzen, aber Sarah überwand sich und machte weiter, doch trotz ihres Optimismus wurde der Teig immer flüssiger, bis man ihn beinahe trinken konnte. Genervt riss Sarah das Fenster auf. „MAMA!“, schrie sie in den Garten hinaus und hörte kurz darauf die Stimme ihrer Mutter, die gerade dabei war die Blumenbeete neu zu bepflanzen. „WAS IST?!“ „DER TEIG IST SCHON WIEDER SO FLÜSSIG!“ Das Mädchen warf einen genervten Blick in die Schüssel und streckte dem Inhalt die Zunge heraus. „DAS MUSS SO SEIN, SCHATZ! ES IST ALLES IN ORDNUNG, DU MACHST DAS TOLL!“ „Das muss so sein“, äffte Sarah ihre Mutter nach, während sie mit einem Löffel in dem vermeintlichen Teig herumrührte, als würde sie eine Suppe umrühren. Vielleicht hatte sie ja doch war vergessen… Obwohl ihre Geduld inzwischen stark strapaziert war, riss sie sich ein weiteres Mal zusammen und zog erneut den kleinen Zettel mit dem Rezept zu sich heran. Mit erzwungener Engelsgeduld ging sie noch einmal alles durch. Ganz langsam und ordentlich, aber sie konnte ihren Fehler einfach nicht finden. Sie hatte alles genau so gemacht wie es auf diesem dämlichen Stück Papier stand. Moment… Da fehlte was… Kam in alles was mit Kuchen und so einem Kram zu tun hatte nicht Backpulver…? Sarahs Augen flitzen über den Zettel….das stand da nicht. Das musste es sein! Aufgeregt lehnte sie sich wieder aus dem Fenster. „MAMA!“ „JA?“ „WIE VIELE PÄCKCHEN BACKPULVER MÜSSEN DAREIN?“ „BACKPULVER? EINS!“ Zufrieden zog Sarah sich wieder in die Küche zurück und holte ein Päckchen Backpulver. Sie hatte das Problem gelöst, sie war ein Genie! Gut gelaunt ließ sie den Inhalt des Tütchens in den Teig rutschen, rührte noch einmal um und musste dann allerdings feststellten, dass sich nicht sonderlich viel verändert hatte. Egal. Jetzt hatte sie keine Lust mehr, wenn dieser olle Teig halt so dünnflüssig bleiben wollte, dann sollte er doch! Wieder genervt stellte sie ihn ein Stück zur Seite und stöpselte den Stecker des Crepeeisens ein und wartete bis die runde Oberfläche heiß war. Da sie keine Ahnung hatte, wie lange das wohl dauern würde, tippte sie das Gerät nach ein paar Minuten mit dem Finger einmal an und sprang aufschreiend zurück. Das mit dem Erhitzen ging schneller als sie gedacht hatte… Am Finger nuckelnd hopste sie in Richtung Spüle und war gerade dabei kaltes Wasser über ihren malträtierten Finger laufen zu lassen, als ihre Mutter die Küche betrat und große Augen machte. „Was ist passiert?“ „Ich hab nur das blöde Dingen da schon einmal an gemacht und mir die Pfoten verbrannt. Ich hab doch gesagt, das ist nichts für mich…“ „Ach was, alles Übungssache…ist es schlimm?“ „Nein geht schon“, murrte Sarah und wandte den Blick von ihrer Mutter ab, während die ihre Gartenhandschuhe auszog und kurz darauf ins Badezimmer verschwand um frisch gewachsen zurück zu kommen. „Dann wollen wir mal“, sagte sie und lächelte Sarah, die noch immer nicht sonderlich begeistert aussah zu, als sie den Teig zu sich heranholte. „Der ist doch prima.“ „Der ist viel zu flüssig, als versuch das ganze jetzt nicht mit irgendwelchen an den Haaren herbeigezogenen Loben zu beschönigen.“ „Nein, ehrlich. Crepeteig muss so sein, damit man ihn auch auf dem Eisen schnell genug verteilen kann, pass auf.“ Mit diesen Worten öffnete sie eine Schublade, holte eine Kelle heraus und schöpfte etwas von den Teig aus der Schüssel und gab ihn vorsichtig auf die heiße Platte, an der Sarah sich kurz zuvor die Finger versenkt hatte. Dann verteilte sie ihn schnell und schenkte Sarah wieder ein aufmunterndes Lächeln. „Siehst du, genau so muss der Teig sein. Das hat du toll gemacht.“ Doch während Sarah die dünne Schicht Teig mustert und ihr schon die leise Hoffnung wuchs, dass sie wenigstens Crepeteig machen konnte, wurde selbiger immer größer. Er wuchs zu allen Seiten und wurde immer dicker. Also so sollte ein Crepe definitiv nicht aussehen. „Komisch“, murmelte ihre Mutter und musterte den Crepe, der inzwischen Ausmaße annahm, die den Eindruck erweckten, dass er genmanipuliert war und zog den Zettel mit dem Rezept zu sich heran. „Hast du alle Zutaten benutzt?“ Sarah nickte. „Plus das Backpulver.“ Ihre Mutter drehte den Kopf. „Backpulver?“ „Ja, ich hab dich doch extra gefragt, wie viele Tütchen, weil ich mir nicht sicher war….“ Genau…und ich habe gesagt, dass du keins reintun sollst, weil in Crepeteig kein Backpulver gehört!“ „Was? Du hast doch gerufen ‚eins’?!“ „Nein, ich habe gerufen ‚keins`.“ Deprimiert betrachtete Sarah den Monstercrepe. Also auch kein Crepeteig. Kapitel 15: 015 Freiheit ------------------------ Freiheit Sie nehmen immer zu. Es werden immer mehr. Die Probleme drohen jeden Tag mich erneut zu ersticken. Obwohl ich schreie. Ich schreie so laut ich kann. Immer wieder. Aber keiner hört mich. Ich bin alleine in dieser gottverdammten Welt. Da ist keiner, der mich hört, der mich rettet, vor den Fluten von Sorgen und Nöten, die mich wegzuspülen drohen. Keiner, der mich versteht. Dabei will ich nur eins, habe nur einen einzigen Wunsch. Frei sein. Einmal frei sein von allem, was mich bedrückt, von all dem, was mich nicht schlafen lässt und meinen Atem so oft schwer werden lässt. Einfach nur Freiheit. In einer Welt die von Milliarden von Menschen und unzähligen Konflikten bevölkert und vom puren Egoismus geprägt ist. Jedes Mal wenn ich mich umschaue gehen mir diese Gedanken durch den Kopf, jedes Mal schaffe ich es nicht aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Ich weiß, dass es keinen Sinn die Probleme anzunehmen, sich von ihnen erdrücken zu lassen, anstatt sie wie all die anderen zu ignorieren, aber ich kann nicht anders. Ich schaffe es nicht, mich von ihnen los zu reisen. Nur wenn ich auf meinem kleinen Balkon stehe gelingt es mir hin und wieder, aber immer seltener. Inzwischen dringen die Abgase bis hin zum fünften Stock und vergiften das spärliche Grün, das ich mit all meiner Liebe hege und Pflege, damit es mir einen Zufluchtort bietet. Es wird immer kleiner, immer brauner, als hätten sie jeden Lebenswillen verloren. Als hätten sie den Wunsch nach Freiheit aufgegeben. Frei sein. Einmal nicht erdrückt werden. Einmal ohne Sorgen leben können. Nicht lange, nur kurz, um zu schmecken, wie es ist. Meine Hände klammerten sich wie immer um das dunkelrot gestrichene Geländer des Balkons. Die Farbe blätterte schon ab, aber es gab mir trotzdem halt. Der einzige Gegenstand, der mich lange gehalten hatte, wenn es mir schlecht gegangen war und ich mich in meine winzige grüne Welt zurückgezogen hatte. Aber die Wirkung ließ nach. Jedes Mal wenn ich jetzt hier her komme, verfolgen mich mehr Sorgen, drücken schwerer auf das dunkelrote Geländer, das mich hält. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich kann die Lasten der Welt nicht mehr auf mich nehmen. Vielleicht bin ich schwach. Schwächer als all die anderen, die jeden Tag hoch erhobenen Hauptes durch leben laufen und sich selten von Rückschlägen beeindrucken lassen, sondern immer ihr Ziel vor Augen halten. Ich kann es nicht ändern. Ich kann nicht mutiger werden als ich bin und ich glaube, dass will ich auch nicht. Will nicht zu einer dieser schrecklichen Marionetten werden, die sich von Ort zu Ort zu begeben. Ich will hier weg. Frei sein, für ein paar herrliche Augenblicke frei sein. Meine Hände schließen sich noch fester um das Geländer. Es ist wackelig, als ich leicht daran rüttle, lösen sich schon nach kurzer Zeit die Schrauben. Die Welt hatte sie gelöst, die Probleme, die darauf eingestürmt waren. Vorsichtig rücke ich es ein Stück zu Seite. Es ist nicht schwer. Gerade zu schon lächerlich einfach, nach all dem, was ich hatte ertragen müssen. Langsam trete ich auf den Rand zu, luge nach unten. Da sind Menschen, Kinder, Autos…und dazwischen ist Luft. Luft, in der die Vögel flogen, ihre Schwingen ausbreiten und in der Lage sind sich von den leichten Windböen tragen zu lassen. Da, wo sie frei sind. Ich schließe die Augen. Ich habe es mir so schwer vorgestellt, aber ich zweifele nicht. Will einfach nur frei sein, ein paar Sekunden lang. Einfach nur atmen und an gar nichts denken. Entschlossen mache ich einen Schritt nach vorne. Kapitel 16: 016 Veränderung --------------------------- Thema 016 Veränderung Fest, beinahe schon brutal rammte sie die letzten Nadeln zwischen die Tücher, die sie eng um ihren Kopf geschlungen hatte. Sie hatte mehrere Wochen gebraucht bis sie in der Lage gewesen war, sie alleine fest genug anzubringen, damit sie über den Tag nicht verrutschten und zu viel preisgaben. Vorsichtig bewegte sie den Kopf, drehte ihn nach rechts und links und nickte dann schließlich. Alles saß. Nur eine Strähne ihrer dunkelbraunen, langen Haare hatte sich selbstständig gemacht, aber das war nicht weiter schlimm. Mit ihren langen, schlanken Finger griff das Mädchen danach und schob sie vorsichtig, aber bestimmt wieder unter die Tücher, dann seufzte sie. Es war Juni und seit mehreren Tagen sehr warm, so dass es unter den Tüchern heute bestimmte wieder heiß werden würde. Ein paar Mal hatte sie daran gedacht ihren Vater zu fragen, ob es nicht reichte, wenn sie ihre Haare an warmen Tagen nur mit einem dünnen Tuch bedecken würde, aber sie hatte die Idee immer wieder zu Seite geschoben. Er würde es nicht erlauben. Sie war seine jüngste Tochter, achtzehn Jahre alt, unverheiratet, sie würde nicht unverhüllt an die Öffentlichkeit treten dürfen. Er würde es nicht wollen. Dabei mochte sie ihre Haare. Viel mehr als ihre Nase, die durch die Kopftücher nur noch mehr in den Mittelpunkt rückte. Sie fand sie zu klein, zu unscheinbar im Gegensatz zu ihrem zu großem Mund und den ihrer Meinung nach zu tief liegenden Augen. Das einzige, was ihr wirklich gefiel, war ihre Augenfarbe – ein wunderschönes, dunkles grün – und die schokoladenbraunen Haare, die sich – wenn sie nicht eingepackt waren – bis auf ihren Rücken ergossen und ihr Gesicht auf eine tolle, wenn auch ungewohnte Art und Weise einrahmten. Zu gerne würde sie den anderen zeigen wie schön sie waren, sich nicht länger hinter diesen altmodischen Kopftüchern verstecken, die von schrecklichen Mustern geschmückt wurden, da ihre Mutter die Tücher kaufte und diese nichts von schönen bunten Farben hielt. Aufmerksam betrachtete sie das traurige Mädchen im Spiegel. Das Gesicht, das ihr von dort entgegenblickte sah nahezu immer traurig aus. Dabei wusste sie doch, dass lachende Menschen viel schöner waren und sympathischer wirkten. Langsam streckte sie die Hand aus, fuhr mit ihren Fingern über das kalte Glas und zeichnete die Umrisse des von Tüchern eingehüllten Kopfes nach. Dann hielt sie plötzlich inne. Mit zusammen gekniffenen Lippen starrte sie ihr Spiegelbild an und mit einem Mal wanderten ihre Hände wieder langsam zu den Tüchern um ihren Kopf. Sie betastete sie, diese einengende Schicht, die sie seit Jahren tragen musste, ohne es wirklich zu wollen. Fast zärtlich wanderten ihre Hände über die Stoffbahnen, bis sie plötzlich anfingen brutal zu werden. Die schlanken Finger vergruben sich in den Falten und rissen daran. Wie ihm Wahn fingen sie an, an den Tüchern zu reißen, die von unzähligen Nadeln gehalten wurden. Es war ihr egal, all das war ihr egal. Ohne etwas dagegen unternehmen zu können, riss sie weiter daran, war nicht in der Lage loszulassen. Der Schmerz, der ihre Kopfhaut durchfuhr, interessierte sie nicht. Sie wollte es loswerden, dieses Gefängnis, dieses einengende Dingen. Einzelne Haare fielen zu Boden, als sie das erste Tuch herunter gerissen hatte und als schließlich auch das weiße Tuch, das immer straffer unter den Dekotuch gespannt war, los war, warf sie es von sich, als wäre es ein Raubtier, das nach ihrem Leben trachtete. Keuchend stand sie vor dem Spiegel, Tränen rannen über ihre Wange, ihre langen Haare waren zerstrubbelt und voller Knoten. Vorsichtig betastete sie ihre schmerzende Kopfhaut, dann griff sie nach einem Kamm. Einem kleinen, aber er würde reichen. Vorsichtig, zärtlich begann sie ihre Haare zu kämen und die Knoten zu entfernen. Als sie dabei einen Blick in den Spiegel warf, sah sie, dass das Mädchen, das sie anschaute, lächelte. Nicht viel, nur ein wenig, kaum sichtbar. Aber es lächelte. Kapitel 17: 017 Schmuck ----------------------- Thema 017 Schmuck Es hatte lange gedauert, bis der Stein so aussah, wie er es jetzt tat. Aber es war die Mühe eindeutig Wert gewesen. Jetzt glänzte er dunkelrot, die Farbe gab ihm etwas Geheimnisvolles, keine Frau würde ihm widerstehen können, auch sie nicht. Seit Jahren verschmähte sie ihn, schlug jede seiner Einladungen aus. Dabei hatte sie ihn noch nie gesehen, sich noch nie mit ihm unterhalten. Und dennoch nahm sie sich das Recht heraus seine Existenz zu leugnen, tat so als gäbe es ihn nicht. Machte ihn zu einem Niemand. Dabei wusste er genau, dass sie die Briefe, die er ihr schickte gelesen hatte, alle. Mit viel Liebe geschrieben, mit einer teuren Feder, die er extra dafür gekauft hatte. Zärtliche Worte auf rosanem Büttenpapier, das von eingestanzten Blumen geziert wurde. Und jedes Mal, bevor er sie in die Briefumschläge gesteckt hatte, hatte er einen Spritzer seines Lieblingsparfüms darauf gegeben. Sein Wunsch war es, diesen Duft an ihr zu riechen. Jedes Mal, wenn er sie heimlich beobachtete, stellte er sich vor, wie er den Geruch von ihrer weichen Haut in seine Nase aufsog. Ihn mit geschlossenen Augen genoss. Doch sie wollte nicht, sie verweigerte sich ihm. Seine langen, dünnen Finger strichen vorsichtig über den Stein. Er war ganz glatt. Wenn er sie nicht haben konnte, wenn ihm nicht die Ehre gebührte auf die aufzupassen, wer dann? Keiner würde so gut auf sie Acht geben können, wie er es tat, niemand würde so wachsam sein. Er griff nach der Goldfassung und einer Schmuckzange. Er würde noch ein wenig dauern, bis der Stein fest in dem Gehäuse saß, aber er hatte Zeit. Es war wichtig, dass er vorsichtig arbeitete, so dass es tatsächlich noch über drei Stunden dauerte, bis der rote Stein von einem goldenen Rahmen geschmückt wurde, an dem eine Kette befestigt war, so dass man sich das Schmuckstück ohne weiteres um den Hals legen konnte. Es war wirklich wunderschön geworden. Sie würde es lieben. Aber noch war es nicht ganz fertig, eine Kleinigkeit fehlte noch. Langsam umfassten seine Finger den Griff der Schublade seines Arbeitstisches und zogen sie heraus. Darin lagen Arbeitsgeräte, doch die interessierten ihn nicht. Er beachtete diese Dinge gar nicht und nahm eine kleine Dose mitsamt einem Pinsel heraus. Zum Schluss holte er aus einem weiteren Schrank Gummihandschuhe und zog sie über, bevor er das Döschen vorsichtig öffnete. Darin war ein helles Pulver. Es war so fein, dass man es wahrscheinlich gar nicht gesehen hätte, wenn man es durch die Luft schleudern würde. Er wusste, dass er vorsichtig damit sein musste, aber seine Hände waren flink, deshalb machte er sich keine größeren Sorgen. Die Rückseite des Kettenanhängers, an dem er so lange gearbeitet hatte, befeuchtete er mit ein wenig Wasser, dann trug er mit dem Pinsel etwas von dem weißen Pulver auf. Und noch etwas. Nur um sicherzugehen, dass es nicht zu wenig war, für den Fall, dass sie es vielleicht trotz seiner Schönheit nur einmal tragen würde. Sobald der Stein um ihren Hals lag, würde das Pulver auf ihrer Haut ruhen, langsam durch sie hindurch in ihren Körper wandern und ihr Herz zum stillstand bringen. Er wollte es nicht tun. Aber es war die einzige Möglichkeit, die ihm noch blieb um auf sie aufpassen zu können. So würde er immer wissen, wo sie war, ohne sich um die Sorgen zu müssen, wenn ihr Auto mal wieder später als gewöhnlich um die Hausecke bog. Mit großer Sorgfalt, legte er das Schmuckstück in eine kleine Schatulle und packte es ein. Morgen würde er es zur Post bringen. Es war das Beste für sie. Kapitel 18: 018 Spaß -------------------- Thema 018 Spaß „Nein bist du nicht, du bist einfach nur fett. Feeeeett!“, schrie der kleine Junge der lachende über den Schulhof lief. Seine Freunde folgten ihm. Das etwas achtjährige Mädchen, das in der Mitte von den anderen stand und ein rotes, mit weißen Punkten gemustertes, Kleid trug, schaute beschämt zu Boden. „Außerdem ziehen Mädchen heute doch gar keine Kleider mehr an!“ „Genau und schon gar nicht so hässliche!“ Das Gelächter wurde wieder lauter. Das Mädchen griff nach ihrem Lederranzen und schulterte ihn. Ihre Augen waren geschlossen. „Und solche Taschen erst. Hast du die von deinem Uropa bekommen?“ Sie atmete tief die frische Frühlingsluft ein und konzentrierte sich. Sie musste einfach nur den Kopf heben und die Augen öffnen. Sie direkt ansehen. Und gehen. Stolz an ihnen vorbei gehen. Aber es war so schwer. So unglaublich schwer. „Quatsch, der kann nicht von ihrem Uropa sein…der ist doch noch viel älter.“ Sie wusste noch nicht einmal wie viele es waren. Sie hatte es nie über gebracht sie zu zählen, die Augen lange genug offen zu halten. Aber nicht mehr lange, dann war die Pause zu Ende. „Na, sehnst du dich wieder nach Mama und weinst gleich?“ Die Stimme war ihr bekannt. Der Junge, dem sie gehörte, wohnte in der Nachbarschaft, da war sie sich sicher. Einfach den Kopf heben. Und die Augen öffnen. Jetzt konnte sie sie sehen. Die Jungs, die um sie herum liefen und mit dem Finger auf sie zeigten, während sie lachten. Und die Mädchen, die am Rand standen, sie beobachteten und die ganze Zeit miteinander tuschelten. Sie konnte sie alle sehen. „Was ist das denn für eine Augenfarbe?“, rief irgendjemand höhnisch. „Kackbraun, stimmt’s?“ Sie waren grün. Dunkelgrün. Beschämt schlug sie wieder die Lider nieder. Sie war sich immer so sicher gewesen, schöne Augen zu haben. Zumindest sagte ihre Oma das immer, wenn sie ihr über den Kopf strich. Das sie schöne Augen hatte und wunderbar dichte Wimpern, um die man sie schon bald beneiden würde. Aber niemand beneidete sie. Kackbraun, hatten sie gesagt. Wieder begann sie auf den Boden zu schauen, während sie einen Fuß vor den anderen setzte und weiter auf das Schulgebäude zuging. Sie rannte nicht. Es würde ohnehin nichts bringen, denn sie wusste, dass die meisten der Jungs schneller laufen konnten als sie. Und wenn sie lief, dann würde sie vielleicht hinfallen und die anderen würden noch mehr lachen. Jeder ihrer Schritte fühlte sich schwer an und eine tiefe Erleichterung durchströmte sie, als die Tür endlich erreicht hatte. „Na versteckst du dich wieder?“ „Wo denn dieses Mal. Wieder in der Klasse oder gehst du aufs Klo und heulst?“ Sie streckte ihre Hand aus und griff nach der Tür. Es fiel ihr schwer sie zu öffnen, da es nicht so leichte Zimmertüren wie zuhause waren. „Guck mal wie schwach sie ist! Sie kann noch nicht einmal eine Tür aufmachen!“ Sie wusste, dass sie jetzt wieder mit dem Finger auf sie zeigten. Mit aller Kraft riss sie an der Tür und auf einmal ging es ganz einfach, aber nur, weil jemand sie von ihnen aufdrückte. „Möchtest du etwas schon rein?“, fragte die Lehrerin und das Mädchen nickte. „Sie ärgern mich schon wieder“, flüsterte sie leise. In ihren dunkelgrünen Augen standen Tränen, aber sie würde nicht weinen, dass hatte sie sich fest vorgenommen. „Du weißt doch, dass sie nur Spaß machen, Lisa. Oder nicht?“. „Doch“, murmelte sie. „Das weiß ich. Sie machen nur Spaß.“ Dann drehte die Kleine sich um und ging langsam in Richtung der Toiletten. Eine einzelne Träne wanderte über ihre Wange. Verärgert über sich selbst, wischte sie sie weg. Kapitel 19: 019 Schmutzig ------------------------- Thema 019 Schmutzig Das heiße Wasser ergoss sich sanft auf ihren Körper. Beinahe liebevoll streichelte es ihre Haut und floss an ihr herab. Die einzelnen Tropfen schienen alles abzuwaschen, jedwede Spuren zu vernichten. Der Dreck, der an ihr haftete, verschwand langsam im Ausfluss und die schöne, nahezu makellose Haut, die sich darunter verbarg, kam langsam wieder zum Vorschein. Als wenn alles wieder gut wäre. Aber das war es nicht. Alles war so unvorstellbar schrecklich, schrecklicher als schrecklich. Die Wimperntusche des Mädchens war verschmiert und hatte einen schwarzen Ring unter ihre Augen gemalt. Ob es vom Wasser herrührte oder doch von den Tränen, die es heimlich weinte, vermochte niemand zu sagen. Sie stand einfach nur da. Stand unter der Dusche und versuchte alles auszulöschen. Alles zu vergessen. Ihre Hand wanderte zu den Shampoodosen und sie begann sich zu waschen. Erst langsam, dann immer schneller, immer heftiger. Sie nahm noch mehr Seife, wollte nichts mehr, als all die Erinnerungen von sich hinunterspülen. Immer mehr Schaum bedeckte sie, immer panischer fuhr sie mit ihren Händen über ihre Arme und Beine um es abzuspülen. Dieses unaussprechliche Grauen. Aber es wollte nicht gehen, es wollte einfach nicht gehen. Mit beiden Händen fasste sie nach den Shampoos und lehrte sie schluchzend über ihrem Kopf aus und verrieb sie überall, aber egal wie oft sie ihren Körper mit den Bürsten und der Seife malträtierte, wie oft sie sich auf unter das Wasser stellte um alles abzuspülen. Es blieb. Sie konnte sie noch immer spüren, die Finger, die sie betatschten. Die Hände, die einfach so, ohne zu fragen… Sie kniff die Augen zusammen, stellte sich wieder unter den Duschkopf und drehte die Wasserzufuhr auf. Sie wollte mehr. Mehr Wasser um sich rein zuwaschen. Doch sie blieben. Die Erinnerungen an die dreckigen Fingernägel, die vor Gier verzerrten Gesichter. Nein, sie wollte es nicht. Wollte sich nicht erinnern. Aber sie konnte es nicht abschütteln. Langsam sank sie in die Knie, als würde sie von der Last des Wassers erdrückt werden. Die nasse Duschwanne gab ihr nur wenig Halt, so dass sie wegrutschte und mit dem Arm gegen die Wand prallte. Den Schmerz registrierte sie gar nicht, während sie auf dem Wannenboden hockte und sich zusammen kauerte wie ein kleines Kind. Sie fühlte sich hilflos und alleingelassen. Missbraucht und unverstanden. Und schmutzig, sie fühlte sich so unglaublich schmutzig. Kapitel 20: 020 Wichtig ----------------------- Thema 020 Wichtig Wieder durfte sie nicht hinaus, sondern musste den ganzen Nachmittag an ihrem kleinen Schreibtisch sitzen. Draußen war es heiß und die Schwüle in ihrem Zimmer war kaum auszuhalten, aber sie wusste genau, dass sie ohnehin nicht zu den anderen ins Freibad durfte. In zwei Tagen schrieb sie ihre letzte Mathearbeit von der es abhing, ob sie vielleicht die Chance hatte, ohne Nachprüfung in das nächste Schuljahr versetzt zu werden. Und eine Nachprüfung war ihr persönlicher Alptraum. Ihre Eltern würden es niemals zulassen, dass sie die Klasse einfach wiederholte, sie würde den ganzen Sommer über lernen müssen, wenn sie die Arbeit in zwei Tagen nicht wenigstens drei schrieb. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren, es war so heiß, so schwül und sie durfte nicht raus. Denn Schule ist Bildung und Bildung ist wichtig – wichtiger als alles andere im Leben. * „Du wusstest doch, dass du die Sachen mitbringen solltest. Wie sollen wir denn jetzt weitermachen?“ Wütend schaute die junge Frau ihre Freundin an. Die zuckte nur mit den Achseln. „Dann machen wir halt morgen weiter. Wie müssen uns doch nicht immer so hetzten. Wir machen seit Tagen nichts anderes an deinem ollen Projekt zu arbeiten.“ „Mein olles Projekt? Spinnst du? Du weißt genau, dass es ein Erfolg sein muss, damit ich befördert werde! Du hast mir versprochen, dass du mir hilfst!“ „Das mach ich doch auch, aber es ist doch nicht schlimm, wenn wir einfach mal eine Pizza essen gehen, dann die Teile holen und weiter machen. Zwei Stunden Pause werden uns doch nicht umbringen, wir liegen doch super in der Zeit!“ „Zwei Stunden Pause?! Zwei Stunden? Ich dachte du wüsstest, was das ganze für mich bedeutet, wie wichtig es für meine Zukunft ist!“ * „Papa? Gehen wir Pommes essen? Bitte Papa, wir waren schon sooooo lange nicht mehr Pommes essen!“, flehte der kleine blonde Junge an der Hand seines Vaters. Der war Mitte dreißig und lächelte nur, während er zu der Pommesbude hinüber blickte. „Nein, mein Kleiner. Du weißt doch wie ungesund Pommes sind….davon wirst du kugelrund.“ „Bitte Papa! Mit Oma bin ich auch schon einmal Pommes essen gewesen. Sie hat gesagt, wenn man sie nur manchmal isst, dann wäre das gar nicht schlimm. BittePapa!“ „So was hat die Oma gesagt? Dann muss Papa wohl mal mit Oma reden. Von Pommes wird man immer dick und kugelrund. Willst du irgendwann mal kugelrund sein?“, fragte der Mann und blickte hinunter zu seinem vierjährigen Sohn, der ihn aus großen Augen anschaute und schließlich mit dem Kopf schüttelte, weil er wusste, dass sein Vater genau das von ihm erwartete. Und er hatte Recht, sein Papa lächelte zufrieden und zog ihn weiter. „Siehst du. Du musst immer an deine Zukunft denken, dass ist wichtiger als Pommes essen zu gehen.“ * „Krankenschwester! Wo ist meine Mutter?“ Die in weiß gekleidete Frau mittleren Alters drehte sich um und erblickte eine Frau in ihrem Alter, die in ein enges Kostüms gezwängt war. „Entschuldigen Sie“, sie lächelte freundlich „Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Ich will wissen wo meine Mutter ist! Sie sollte dort drüben in Zimmer 245 liegen, aber ihr Bett ist leer und auf der Toilette ist sie auch nicht!“ „Meinen Sie Frau Meinzer?“, fragte die Krankenschwester – noch immer freundlich – nach. „Natürlich, wenn denn sonst“, fauchte die Fremde. „Frau Meinzer hat darum gebeten nach draußen zu gehen, sie meinte sie sehne sich nach ein bisschen Sonne, nachdem sie jetzt schon seit zwei Monaten hier ist. Unser neuer Praktikant war so freundlich und hat sie in einen Rollstuhl gesetzt und ist mir ihr ein bisschen nach draußen gegangen.“ „Was?! Meine Mutter ist 83 Jahre alt und hat eine stark angegriffene Gesundheit, wissen Sie eigentlich, was sie sich da draußen für Krankheiten holen kann? Wofür bringe ich sie denn in ein Krankenhaus? Ich dachte, man wäre hier in der Lage auf sie aufzupassen!“ „Sie können unbesorgt sein, es wird ihr nicht schaden ein bisschen an die frische Luft zu kommen, ganz im Gegenteil. Wie können Sie nicht einfach wochenlang hier drin gefangen halten. Aus gesundheitlicher Sicht, besteht wegen diesem kleinen Ausflug keiner Gefahren-“ „Frische Luft“, zischte die Businessfrau verächtlich. „Ihr Leben ist wichtiger als frische Luft und ein bisschen Sonne.“ Damit stürmte sie davon. * Zärtlich strich er ihr mit dem Finger über die Wange. „Das ehrt dich natürlich.“ Sie schaute stirnrunzelnd zu ihm auf. Die zehn Zentimeter Größenunterschied gaben ihr immer das Gefühl noch kleiner zu sein, als sie ohnehin schon war. „Hä? Wieso ehrt mich das?“ „Na ja, hast du schon einmal drüber nachgedacht, dass sich das alles vielleicht ändern könnte.“ „Was könnte sich ändern?“ „All das hier. Vielleicht magst du mich in einem Jahr gar nicht mehr.“ Ihre Augen wurden zu schlitzen. „Wenn du mich nicht willst, dann sag es einfach und komm mir nicht mit so einem Mist.“ „Quatsch. Das einzige was ich mich frage ist, warum du mich willst. Was wenn sich alles in ein paar Monaten schon wieder geändert hat und du mich nicht mehr magst?“ Sie schüttelte fasziniert und etwas ungläubig den Kopf. „Ich glaube, dass ist der größte Schwachsinn denn ich bis jetzt gehört habe. Was interessiert mich in ein paar Monaten? Ich kann mir doch nicht immer den Kopf über das zerbrechen, was irgendwann einmal sein wird. Ich mag dich jetzt, du bist mir jetzt wichtig.“ Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Kapitel 21: 021 Tattoo ---------------------- Thema 021 Tattoo Es hatte lange gedauert, bevor ich mich endlich dazu entschieden hatte. Aber als es dann so weit war, wusste ich, dass ich meine Meinung nicht mehr ändern würde. Was meine Frau davon hielt, war mir egal. Unsere Ehe war ohnehin am Ende. Wir konnten uns schon seit Monaten nicht mehr in die Augen sehen und wenn sich unsere Blicke dennoch zufällig begegneten schlugen wir beide schnell die Lider nieder. Es tat mir Leid, dass es so kommen musste, denn ich liebte sie, wie ich keine andere Frau liebte und dennoch konnte ich momentan nichts tun, um das, was uns einmal miteinander verbunden hatte, aufrecht zu erhalten. Als ich die Tür öffnete, die mich in den kleinen Tattoo- und Piercingladen führte, klingelte eine Glocke und überrascht blickte ich nach oben. Ein so liebliches Klingeln hätte ich an vielen Orten erwartet, aber nicht an einem wie diesem. Ich wertete es als gutes Zeichen. Ich tat das richtige. „Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“ Der junge Mann, der mich ansprach, war vielleicht zwanzig Jahre alt und seine Arme waren über und über mit bunten Tattoos bedeckt. Es viel mir schwer die Augen davon abzuwenden, aber schließlich schaffte ich es doch mich davon loszureißen und ihm Gesicht zu blicken, das von mehreren Piercings geschmückt wurde. „Ich habe lange darüber nachgedacht, aber jetzt habe ich mich endlich entschieden. Ich hätte gerne ein Tattoo.“ „Kein Problem“, der Mann lächelte. Obwohl er so viel anderes war, als die Menschen die ich kannte, war er mir sympathisch. „Wissen Sie schon an welcher Stelle und welches Motiv, oder wollen sie sich ein paar Vorlagen ansehen?“ „Nein“, sagte ich. „Ich weiß, was ich will.“ Vorsichtig tastete ich nach dem Foto in meiner Tasche, nur um mich zu vergewissern, dass es auch wirklich noch da war. „Na dann wollen wir mal“, sagte er euphorisch und scheuchte mich nach hinten, in spezielle Räumlichkeiten. Irgendwie schaffte er es mir meine Angst und auch meine restlichen Zweifel zu nehmen. „Sie müssen den Arm so halten. Dann werde ich die Vorlage aufmalen und wenn Ihnen die zusagt, steche ich es mit den Nadeln nach. Ist das in Ordnung?“ „Ich will die Vorlage nicht sehen. Machen Sie einfach, ich vertraue Ihnen.“ Ein paar Sekunden später spürte ich, wie er anfing an der Innenseite meines linken Oberarms herumzufummeln. Was genau dieser Kerl da jetzt tat, wusste ich nicht, ich wollte es auch nicht wissen. Es fiel mir nicht schwer meinen Arm in dieser seltsamen Position zu halten, was mich selber wunderte, aber wahrscheinlich lag es daran, dass ich in den letzten Monaten einfach abgestumpft war, egal worum es ging. Erst als ich spürte, wie mir die Nadel unter die Haut fuhr, zuckte ich kurz zusammen. Es war, als würde ich aufwachen. Als würde mir irgendetwas einen Schups geben und sagen: „Bekomm dein Leben endlich in den Griff!“ Aber so einfach war das nicht. Als das Tattoo fertig war, war meine Haut wund und rot. Alles war ein wenig geschwollenen, aber der Mann, der es mir gestochen hatte, lächelte wieder auf seine freundliche Art. „Das ist normal, sie müssen es die nächsten Tage gut eincremen, weil die Haut jetzt natürlich stark beansprucht wurde. In knapp zwei Wochen sieht das dann schon ganz anders aus.“ Ich nickte nur und blickte zu meinem Tattoo herab. Es würde auf ewig mein sein. „Darf ich fragen, warum Sie das Tattoo haben wollten? Ich mache das nicht bei jedem, wirklich und wenn sie nicht drüber reden wollen, ist das auch OK….nur, irgendwie habe ich das Gefühl, dass es nicht nur einfach nur ein Tattoo ist, sondern auch etwas zu erzählen hat…“ Der Mann war ein wenig unsicher und es schien, als würde er es schon bereuen, dass er mich darauf angesprochen hatte, aber dass machte ihn seltsamerweise nur noch sympathischer. Irgendetwas an ihm mochte ich und ohne sagen zu können was es war, bewegte es mich dazu, ihm – einem völlig Fremden – meine Geschichte anzuvertrauen. Genau zehn Tage vergingen, bis meine Frau das Tattoo bemerkte. Es mag wie eine Ewigkeit klingen, dafür, dass wir verheiratet sind, aber mich überraschte es, dass es nicht noch länger gedauert hat. „Was hast du da am Arm?“, fragte sie mich und ich tat so, als wüsste ich nicht, was sie meinte. Sie hasste Tattoos und Piercings, war der Meinung dass eine reine, saubere Haut etwas viel wunderbareres war, als eine bunte. „Was meinst du?“ „Na, das an deinem Arm.“ Sie schaute mich wütend an, denn ihr war bewusst, dass ich genau wusste, worauf sie anspielte und ein paar Sekunden später schien auch sie es zu erkennen, was es war. „Du hast dich tätowieren lassen?“ Ungläubigkeit sprach aus ihrer Stimme und ein wenig entsetzt strich sie sich ihre blonden Haare hinters Ohr. „Ohne es mir zu sagen? Du weißt doch genau, dass ich- “, dann brach sie ab. Ihr schien bewusst zu werden, dass sie genau dort anfing, wo wir noch vor kurzem aufgehört hatten. Wir schrien uns an, waren wütend aufeinander. Vor einer Stunde hatten wir uns darauf geeinigt damit aufzuhören, sie hätte es nicht gewollt. „Darf ich es mir ansehen?“, fragte sie plötzlich leise in die Stille hinein. Ich war überrascht und nickte schließlich. Sie stand auf und kam zum Sofa hinüber, wo sie sich neben mir nieder ließ. Dann fasste sie sanft meinen Arm und drehte ihn ein wenig. Sie schwieg. Eine ganze Weile starrte sie das kleine Bild an und als sie mich schließlich wieder losließ, wischte sie sich die Tränen aus den Augen, bevor sie mich schließlich ansah. Direkt in die Augen. Ich konnte dem nicht lange standhalten und lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Tattoo. „Ich hatte Angst, dass ich sie sonst vergesse. Dass ich irgendwann aufwache und mich einfach nicht mehr genau daran erinnern kann, wie sie aussieht.“ Meine Stimme versagte und jetzt spürte auch ich die Tränen in die Augen, während ich auf das kleine lachende Gesicht schaute, dass jetzt meinen Oberarm zierte. Meine kleine vierjährige Tochter. Sie war alles für mich gewesen, nein sie war es immer noch. Ich wusste, dass ich seit dem Autounfall, seit ihrem Tod nicht mehr derselbe war, aber ich schaffte es einfach nicht, mich von ihr loszureißen und dann vor einer Weile war ich aufgewacht und hatte das erste mal nicht direkt ihr Gesicht vor Augen gehabt. Eine panische Angst war in mir aufgestiegen, die Angst, dass ich irgendwann vielleicht aufwachen würde und mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern konnte. Doch jetzt trug ich sie immer bei mir und wenn ich meinen Arm an meinen Körper drückte, war sie direkt an meinem Herzen. Kapitel 22: 022 Hinrichtung --------------------------- Thema 022 Hinrichtung Bastian war seit vier Tagen unterwegs – seit sein Vater gestorben war, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, dass regelmäßig Fleisch bei seiner Familie auf den Tisch kam, weshalb er sich alle paar Wochen aufmachte, um jagen zu gehen. Das war zwar anstrengend, aber gleichzeitig auch die billigste Variante um an dieses Lebensmittel zu gelangen und er wusste, dass sowohl seine Mutter als auch seine Schwester es ihm danken würden, wenn er nun mit seiner Beute nach Hause kam. Einen fetten Rehbock hatte er erwischt, der so schwer war, dass ihm bereits die Schulter schmerzte, auf der er das Tier nach Hause trug. Mit ein wenig Glück warf er so viel Fleisch ab, dass sie einen Teil davon würden verkaufen können. Auch wenn es noch eine knappe Stunde Fußmarsch bis zum Dorf war und auch wenn das Gewicht des Rehbocks ihn langsamer machte, war er zuversichtlich seine Heimat noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Er war erst neunzehn Jahre alt und seine Beine waren jung, der Weg sollte zu schaffen sein, außerdem trieb ihn der Gedanke an ein Bad, mit dem er den Schmutz abwaschen konnte und an ein Bett mit einer weichen, strohgefüllten Matratze zusätzlich an. Ausdauernd setzte er einen Schritt vor den anderen und tatsächlich, kurz nachdem die Sonne untergegangen war, konnte er das Dorf in zwei Meilen Entfernung erspähen, doch je näher er kam, desto klarer wurde ihm, dass irgendetwas anders war. Die Felder rund um das Dorf waren verlassen, fast so, als würde niemand dort leben. Irgendetwas war in den letzten vier Tagen, in denen er auf Jagd gewesen war, vorgefallen, da war er sich sicher. Ein alter Mann kam ihm nach einer Weile entgegen, von dem er wusste, dass er ein wenig außerhalb wohnte. Obwohl er ihn freundlich grüßte, schaute der Mann nur kurz auf, machte große Augen und schüttelte den Kopf, bevor er weiterschlurfte ohne ein Wort zu sagen. Bastian schrieb das dem Rehbock auf seiner Schulter zu, wahrscheinlich hatte ihm keiner zugetraut alleine einen solchen Fang zu machen. Er schob den Gedanken an den Mann beiseite und ging weiter, bis er schließlich erkannte, was in dem Dorf vor sich ging. Der rötliche Schein, der nun zu sehen war, wurde mir jedem Schritt, den er tat größer und schon bald war er sich sicher, dass man auf dem kleinen Marktplatz ein Feuer von beachtlicher Größe geschürt haben musste. Dass das Dorf brannte, daran verschwendete er keinen Gedanken. Der Großteil der Hütten war klein– und aus Stein gebaut. Einzig für die Dächer wurde Stroh und Reisig genutzt, dass regelmäßig erneuert werden musste. Wenn das Dorf brannte, dann sah es anders aus, das wusste er aus Erfahrung, denn erst ein Jahr zuvor hatte sich im Sommer ein paar der Dächer entzündet. Obwohl er erschöpft war, beschleunigte er seine Schritte – die Neugier trieb ihn an. Er wusste von einem Fest, aber er war sich sicher, dass es erst in einer Woche stattfinden sollte und ihm wollte kein Grund einfallen, der die Dorfgemeinschaft dazu bewegt hätte, es zu verlegen außer – natürlich! Eine Hexenverbrennung! Allein der Gedanke daran ließ ihm den Atem stocken. Noch vor kurzem hatte er einen Priester darüber reden hören. Hexen waren hinterhältig und böse. Mit ihrem Tun wandten sie sich nicht nur von Gott ab, sondern versperrten auch anderen Unwissenden den Weg in das Reich des Himmels. Aber eine Hexe in seinem Dorf? Voller Unglaube blieb er stehen und betrachtete den rötlichen Feuerschein. Eine Frau, die wenigstens flüchtig kennen musste, hatte sie alle in Gefahr gebracht! Sie hatte die Freundlichkeit des Dorfes ausgenutzt und sie alle vielleicht für immer aus Gottes Reich ausgesperrt! Wie konnte sie nur? Es biss die Zähne zusammen und stapfte weiter. Katherina! Das Mädchen, das er nächstes Frühjahr zu seiner Frau nehmen wollte! Er ließ den Rehbock fallen, verschwendete nicht einen Gedanken an die Beute, auf die er vor kurzem noch so stolz gewesen war, und rannte los. Seine müden Beine und schmerzenden Muskeln protestierten, doch er ignorierte es. Nicht sie! Nichts sie! Lass nicht sie es gewesen sein! Immer wieder hämmerte es in seinem Kopf und während er rannte betete Bastian, dass nicht die hübsche junge Frau mit den feinen blonden Haaren, die er so lieb gewonnen hatte, auf dem Scheiterhaufen stand. Erst als er die ersten Häuser des Dorfes hinter sich gebracht hatte und er auf die Menschenmassen stieß, die sich um das hohe Feuer voller Neugier, Angst und Erleichterung versammelt hatte, blieb er keuchend stehen. Luft in sich saugend kämpfte er sich mit müden Armen und einer entsetzlichen Furcht im Herzen weiter nach vorne, bis er schließlich erkennen konnte, dass die Frau, die vor Schmerzen schreiend im Feuer stand, weder jung noch blond war. Seine Auserwählte war unschuldig. Die Erleichterung, die ihn durchströmte war so unglaublich groß, dass er sich darüber wunderte sie nicht mit Händen fassen zu können. Langsam wurde ihm schließlich klar, was das bedeutete. Seine Zukunft war nicht gefährdet, sobald er noch etwas Geld gespart hatte, würde er heiraten können. Er würde Kinder haben, mit der Frau, die er begehrte und er würde seiner Familie ein Haus bauen, direkt am Dorfrand und nicht so weit außerhalb, wie seine Mutter lebte, weil diese sich unter Menschen auf Dauer unwohl fühlte. Er würde glücklich sein, vor allem, weil die Inquisitoren da gewesen und sein Heimatdorf von der schrecklichen Plage der Hexen befreit hatten so dass keine Gefahr mehr drohte. Bei dem Gedanken an die Hexe blickte er wieder auf und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau im Feuer. Die Flammen leckten an ihrem sich vor Schmerzen hin und er windendem Körper und wenn ihre markerschütternden Schreie nicht die Luft zerschnitten hätten, hätte es den Anschein gehabt, dass das Feuer sie liebkosen würde. Einen Momentlang war er versucht sich abzuwenden, aber ihm wurde schnell bewusst, dass seine Neugier größer war und ihn daran hinderte zu gehen. Die Gestalt der Frau kam ihm sehr bekannt vor, auch wenn sie ihm den Rücken zuwandte und der inzwischen zerrissene und brennende grünliche Rock, weckte Erinnerungen. Er kannte diese Frau. Eilig kämpfte er sich durch die Menschenmassen um auf die andere Seite des Scheiterhaufens zu gelange, bevor das Leben den verfluchten Hexenkörper verließ und zu seinem Erstaunen, machten ihm die Leute sogar Platz. Er dankte ihnen nicht, sondern ging einfach weiter, von Angst und Neugier gleichermaßen getrieben. Schließlich waren es nur noch wenige Schritte, bis er sie würde erkennen könne. Er kämpfte sich noch zwei Meter nach vorne und blickte dann auf, direkt in das schmerzverzerrte Gesicht der Hexe, die mit letzter Kraft den Kopf hob, direkt in das Gesicht seiner Mutter. Kapitel 23: 023 Zukunft ----------------------- An Freischalter: Ich weiß, dass die Rechtschreibung nicht ganz korrrekt ist, aber das ist beabsichtigt....eine Art Spezialeffekt, weil es sich um den Tagebucheintrag einer achtjährigen handelt. Es ist eine Ausnahme und ich hoffe, das geht ok (: Thema 023 Zukunft Libes Tagebuch, ich weis, das ich jetzt schon seid ein par Tagen nicht mer geschrieben habe, aber um mich herum ist es zimlich drunter und drüber gegangen, ich hoffe du füllst dich jetzt nicht vernachlässigt. Wen ja, dann tut es mir Leid. Wirklich. Aber dafür kann ich dir jetzt um so mehr erzälen, obwohl ich nicht glaube, dass du es alzu toll finden wirst. Ich bin wieder im Krankenhaus. Mama hat gesagt, das es ganz bestimt nichts Schlimes ist, aber ich glaube ihr nicht. Ich habe gehört, wie der Arzt zu ihr und Paps gesagt hat, das meine Blutwerte wieder schlecht geworden sind. Dan hat er mich ganz viele Sachen gefragt und ich hab im schließlich erzählt, dass ich manchmal etwas schlap bin, wie an dem Abend, an dem den anderen Fusball gespielt habe und auf einmal ales schwarz war vor meinen Augen, erinerst du dich? Na ja, Mama war zimlich böse, weil ich ihr das nicht vorher schon gesagt habe und als sie mich gefragt hat warum ich das nicht gemacht habe, habe ich ir gesagt, das ich nicht wider ins Krankenhaus wollte, weil die Nadeln, mit denen sie mich piksen, imer so wetun. Da hat sie gar nichts gesagt und ist gegangen. Ich glaube da sie hat geweint, aber sicha bin ich mir nicht. Ich hab deswegen irgendwi ein schlechtes Gewisen, aber ich hab doch recht! Ich finde ich war schon lange genug im Krankenhaus, viel länger als all die anderen Kinder in meiner Klasse. Und das ales nur wegen so einem ollen Krebs, dabei tut er mir gar nichts. Sie sagen mir imer, das das so eine komische Krankheit ist, die einen von inen heraus aufrisst, aber das glaube ich inen nicht. Das würde ja wehtun und mit tut gar nichts weh, wenn ich zu Hause bin, nur wenn ich ins Krankenhaus muss, dann tut einfach ales weh. Aber daran sind der Arzt und die Schwestern Schult, die mir einfach ganz viele Nadeln in die Haut piksen und irgendetwas in mich reinspritzen und nicht der Krebs, der tut mir nichts. Ich will wieder nach Hause. Mein eigenes Bett, das Papa mir selber gebaut hat, als ich letztes Jahr aus dem Krankenhaus gekommen bin, ist viel schöner und bequemer als das, in dem ich jetzt lige. Außerdem ist meine Bettwäsche nicht so ekelig weiß, sondern blau. Mit bunten Sternen Eigentlich gibt es keine bunten Sterne, das weiß ich, ich bin ja nicht blöd. Das hab ich Papa auch gesagt, aber er hat nur gelacht und gesagt, das ales möglich wäre, wenn man nur ganz fest dran glaubt, das würde man ja an mir sehen. Manchmal ist Papa ja ein bisschen komisch. Na ja, egal. Ich wil nach Hause, aber ich darf nicht. Dabei hat mein Bruder mir versprochen, das er mir ein Buch vorließt, das er extra für mich gekauft hat. Er hat gesagt darin wird von ganz vielen Sachen erzählt, die es noch gar nicht gibt, weil man sich noch erfinden muss und das finde ich cool. Ich will solche Sachen irgendwan mal erfinden, wen ich groß bin. So ganz verücktes Zeug, wo sonst keiner drauf kommt. Ich hab das schon ganz vielen erzählt und die meisten haben gelacht und gesagt, das ich das bestimmt machen würde und das sie mir dan dabei helfen würden. Mama hat geweint und Papa hat traurig gegukt. Nur Opa hat meine kleine Hand genomen – irgendwie sind meine Hände viel kleiner, als die von den andern Kindern, obwohl ich mit fast acht Jaren sogar die älteste in der Klasse bin. Meine Mama hat gesagt, das sie wachsen würden, wen ich aus dem Krankenhaus raus bin, aber irgendwie sind sie imer noch so klein – und er hat gesagt, das ich das auf jeden Fall machen würde. Es meinte, das es bestimmt geht, wenn ich groß bin und fleißig arbeite. Ich glaube er hat recht, wenn das Krankenhaus mich entlich mal in Ruhe lassen würde, dan könnte ich endlich groß werden und endlich ganz viele tolle Sachen erfinden. Ja, das wünsch ich mir, das wäre eine tole Zukunft, aber jetzt jucken wider die bescheuerten Nadeln in meiner Haut und ich glaube auch dass meine Hare langsam wider ausfallen. Und das alles nur wegen diesem blöden, häslichen Krankenhaus. Kapitel 24: 024 Angst --------------------- Thema 024 Angst Sabine starrte in den großen Ganzkörperspiegel. Sie wusste, dass die Frau, die von dort aus zurückstarrte, niemand anders als sie selbst sein konnte, doch in diesem Augenblick wollte sie es einfach nicht wahrhaben. Das vor Sorge eingefallene Gesicht, die tiefen Augenringe, die von einer Nacht zeugten, in der sie keinen Schlaf gefunden, sondern sich immerzu von einer Seite auf die andere gewälzt hatte – das konnte unmöglich zu ihr gehören. Zu ihr, die ihre Leben doch so fest im Griff hatte, die eine glückliche Kindheit gehabt und es bis an eine der besten Universitäten des Landes gebracht hatte mit der Aussicht auf einen glatten Einserdurchschnitt. Ihre Finger legten sich auf ihre Brust, dort wo ihr Herz war und hielten inne. Sabine konnte spüren, wie es pochte, schnell, unbarmherzig von ihrer Angst zeugend. Dann wanderten ihre Hände weiter abwärts, strichen sanft über die nackte Haut ihres Bauches und ruhten dort schließlich. Sie konnte selbst nicht sagen, was sie dazu bewegt hatte, aber ein paar Minuten zuvor hatte sie das Bedürfnis verspürt, sich noch einmal so zu betrachten, wie sie jetzt war, denn sie war sich sicher, dass sich alles ändern würde, ganz egal wie sie sich entschied. Oder ob sie sich entschied. Sie konnte es auch einfach geschehen lassen, so tun als hätte sie nichts bemerkt. Ihr Blick wanderte im Spiegel auf und ab, musterte ihren fein gebauten, schlanken Körper, die weichen blonden Haare, die sie eben noch mit so viel Sorgfalt gewaschen hatte. Der flache Bauch, auf dem ihre Hände ruhten, die kleinen spitzen Brüste, die vielleicht nicht jedem gefielen, aber ihrer Meinung nach gut mit dem Rest ihres elfenartigen Körpers harmonierten. Was, wenn sie viel zu schwach für so etwas war, wenn ihr Körper zu klein war, um so etwas überleben zu können? Und was war, wenn sie es schaffte, wenn sie es wirklich tat und alles gut ging? Was würde geschehen, wie würde sie weitermachen? Konnte sie überhaupt weitermachen? Konnte sie ein neues Leben anfangen? War sie überhaupt in der Lage, so etwas zu schaffen? Sie spürte, wie sich ihre Muskeln zusammenkrampften und sah im Spiegel, dass ihre Hände zitterten, obwohl sie fest auf ihrem Bauch auflagen. Warum? Warum war so etwas geschehen? Ihr Leben war so perfekt gewesen, so kontrollierbar und jetzt stand sie am Abgrund, voll Sorge und Angst blickte sie in die Zukunft. Was sollte sie mit dem kleinen Wurm anstellen, der jetzt in ihrem noch flachen Bauch heranwuchs? Wie sollte sie einen Platz für ein Kind in ihrem Leben finden? Kapitel 25: 025 Kampf --------------------- Thema 025 Kampf Fernandos sah sich um und betrachtete mit einem Kennerblick das Grün um sich herum. Er befand sich in dem größten Gartenbaucenter, das die Umgebung zu bieten hatte. Mit seinen gerade einmal einhundertsechsundfünfzig Zentimetern war ein Großteil der riesigen Pflanzen um ihn herum ein gutes Stück größer als er selbst, doch das ignorierte er geflissentlich. Er war seit fünfundzwanzig Jahren Hobbygärtner und seit zwanzig Jahren Eigentümer des wohl schönsten Schrebergartens, den die Welt je gesehen hatte. Das einzige was jetzt noch fehlte, war eine Blume, die sich perfekt in die Harmonie seiner anderen Pflanzen einfügte und den kleinen, kahlen Platz neben dem Hotensienbusch zieren würde. Wäre ja gelacht, wenn er die nicht finden würde. Suchend schlenderte er weiter durch die Regale voller Blumentöpfe, Gießkannen und Samenpakete, doch es war als würde das, was er suchte, immer wieder vor ihm weglaufen. Jedes Mal wenn er glaubte die richtige Blume erspäht zu haben, stellte sich bei näherer Betrachtung doch heraus, dass sie gänzlich ungeeignet war – doch dann, dann sah er sie. Er wusste sofort, dass sie die richtige war. Das kräftige Grün der Blätter, das leuchtende Rot der Blüten, dass schon weitem alle Blicke auf sich zog, o ja, sie war es. Fernandos griff wieder nach seinem Einkaufskorb, in dem er schon ein paar unwichtige Dinge untergebracht hatte, und steuerte geradewegs auf seine Auserwählte zu. Sie war die letzte dieser Sorte, all ihre Geschwister waren schon verkauft, doch sie stand noch immer da, mit stolz erhobenem Kopf und wartete – zweifelsohne auf ihn. Er kam ihr immer näher, doch er war noch gut und gerne hundert Meter entfernt, als er ihn am anderen Ende des Ganges sah. Phillipe Demont. Der kleine Wichtigtuer, dessen Schrebergarten nicht weit von Fernandos’ entfernt lag. Er brauchte nur Sekunden, um zu begreifen, dass Demont die Blume ebenfalls erspäht hatte, doch er tat so, als hätte er sie gar nicht bemerkt und betrachtete flüchtig all die Dinge, die sich im Regal zu seiner Linken befand, während er unauffällig seine Schritte beschleunigte. Ein Blick aus den Augenwinkeln zeigte ihm, dass sein Rivale es ihm gleichtat. Ihr Abstand zu der Blume war derselbe, aber er – Fernandos – hatte sie ohne Zweifel zu erst gesehen. Es. War. Seine. Er drehte den Kopf wieder nach vorne und schaute Phillipe Demont direkt an. Seine Augen verengten sich und noch einmal beschleunigte er seine Schritte, er rannte schon fast mit seinen kurzen Beinen, während er den Einkaufswagen klappernd vor sich herschob. Er wollte diese Blume, sie war perfekt und niemand anderes hatte das Recht Anspruch auf sie zu erheben. Der Einkaufswagen und der kleine Mann dahinter beschleunigten noch einmal, doch Phillipe Demont gelang es einen Vorsprung zu ergattern, den er immer weiter ausbaute, er würde als erster da sein! Fernandos Augen weiteten sich. Das durfte einfach nicht wahr sein! All seine Kraft legte er in seine von Gott zu kurz geformten Beinen, doch sie wollten einfach nicht schneller laufen. Und dann sah er, wie Demont seinen Einkaufswagen schlitternd zum stehen brachte und seine Hand nach der Blume ausstreckte. Nein, nein, nein, das durfte nicht sein! Es war seine Blume, ganz allein seine Blume! Der Einkaufswagen, der vor ihm herrollte, polterte gegen all mögliche Gegenstände, zerstörte die Blütenpracht, der am Rand stehenden Blumen, schmiss Töpfe und Gieskannen um, doch das alles interessierte Fernandos nicht. Wenn er sie nicht haben konnte, dann sollte sie auch kein anderer haben. Mit einem Aufschrei steuerte er den Einkaufswagen auf Demont zu. Der riss die Augen auf, doch er konnte nicht mehr ausweichen und stolperte zurück. Verzweifelt versuchte er an einem Regalbrett halt zu finden, doch Fernandos stürzte sich auf ihn, so dass er weiter fiel und das Regal über den beiden zusammenbrach. Trotz allem hatte Phillipe die Blume nicht losgelassen, Fernandos griff danach, aber er gab sie nicht frei. Der Angreifer brüllte laut und wütend auf, dann tastete er zwischen den Brettern und Verkaufsgegenständen herum und zog schließlich eine Blumenschere hervor. Ein gefährliches Glitzern trat in seine Augen und seinem Opfer fehlte die Luft zum atmen, während ihm die Schweißtropfen der Angst an der Schläfe hinunterliefen. Fernandos löste den Sicherheitsverschluss der Schere und beugte sich vor, immer weiter über Demont hinweg, während sich ein schreckliches Grinsen auf seinem Gesicht breitmachte und seine Augen vor Vorfreude blitzen. Dann langte er auf einmal über sein Opfer hinweg und schnitt der Blume den Blütenkopf ab, bevor er sich erschöpft zur Seite fallen ließ. Es war seine Blume und wenn er sie nicht haben konnte, dann niemand. Kapitel 26: 026 Vampir ---------------------- Thema 026 Vampir Das Lachen der Kinder, die sich in dem großen Raum versammelt hatten, war schon von weitem zu hören. Sie alle waren bunt bemalt, mal mit leuchtenden, mal mit düsteren Farben geschmückt und in Kostüme gekleidet. Sich an den Händen halten tanzten sie zu der fröhlichen Musik, die so gar nicht zu Halloween passen wollte, und zeigten häufig kichernd auf die ausgehöhlten Kürbisse, die sie mit ehr amüsanten, als mit furchterregenden Grimassen anstarrten. Alle Ungeheuer der Nacht waren in dem Saal vertreten. Als Wölfe hatten sich die Kinder verkleidet, als übergroße Spinnen, als Gespenster, sogar als Frankenstein und auch einen kleinen Vampir gab es. Das Mädchen mit dem übergroßen Gebiss aus Plastik war weiß geschminkt, mit roten Lippen und trug einen langen, schwarzen Umhang. Ausgelassen lief es durch den Raum und rief immer zu, dass sie ein Vampir sei. Die Betreuer des Festes, taten allesamt so, als würden sie sich vor ihr beinahe zu Tode erschrecken, was das Kind immer wieder zum Kichern brachte. Nur einer schien keine Angst vor ihr zu haben, sondern ging vor ihr in die Knie und betrachtete sie mit einem Lächeln. „So, so, du bist also ein kleiner Vampir? Ein echter, kleiner Vampir?“ Die Kleine betrachtete das blasse Gesicht des Mannes, die seltsam düster und geheimnisvoll wirkenden Augen, dann lachte sie. „Aber nein, echte Vampire gibt es doch gar nicht!“, rief sie und der Fremde lächelte und zeigte dabei eine Reihe spitzer, weißer Zähne. „Nein, hier drin gewiss nicht. Wenn du ein richtiger Vampir werden willst, dann musst du in den Wald gehen, den dort leben sie.“ „Wirklich?“, fragte das Mädchen, das vielleicht fünf Jahre alt sein mochte, mit großen Augen. „Und dann wird man ein richtiger Vampir mit langen Zähnen?“, sie war so aufgeregt, dass ihr das Gebiss aus dem Mund fiel. Behände fing sie es mit ihren kleinen Händen auf und sah dann, dass der Fremde ihr die seine hinhielt. „Was meinst du, sollen wir ein kleines Abenteuer wagen und draußen im Wald verstecken spielen?“, wieder lächelte er breit und fügte dann hinzu: „Ich petz auch nicht.“ Er zwinkerte dem Mädchen zu. Das zögerte ein wenig. „Werden wir dann auch Vampire treffen?“, fragte es dann und der Mann lachte heiser. „ O ja, da bin ich mir sicher. Also, was ist?“ Ein kurzes Zögern, doch dann gewann die Abenteuerlust der Kleinen überhand und sie griff aufgeregt nach der ihr dargebotenen Hand. Kapitel 27: 027 Gift -------------------- Thema 027 Gift „Und haaaalt, stillgestanden!“ Das Stapfen der Mitglieder der Vergiftungseinheit Nummer siebzehn verstumme. Jeder kleine Tropfen, der an dieser Mission beteiligt war, nahm Haltung an und wartete stumm auf die Befehle seines Anführers. Dieser marschiert auf und ab, begutachtete seine Männer und nickt zufrieden. Sie gehörte zwar nicht zu den Eliteeinheiten, von denen man in der Regel nur winzigste Milligramm brauchte um einen Auftrag zu erfüllen, aber auch diese Leute würden gute Dienste leisten und den Körper, in den sie sich unbemerkt begeben hatten, innerhalb von wenigen Minuten zu Fall bringen, da war sich der Führer des Trupps sicher. „Also gut, ihr kennt euren Auftrag! Teileinheit eins kümmert sich wie abgesprochen um das Herz, Teileinheit zwei ist für das Gehirn zuständig und macht das anständig Jungs, wir wollen nicht auffallen! Wehe euch, der Kerl fängt an zu sabbern während ihr ihn erledigt, so wie der letzte, das bemerkt nicht nur jeder und ist ekelig, sondern zeugt von schlechter Arbeit, also reißt euch zusammen, sonst gibt’s Abzüge und ihr werdet wieder in den normalen Verwaltungsdienst zurückversetzt, verstanden?“ Der Leiter der Vergiftungseinheit betrachtete kritisch die Gesichter seiner Untergeordneten. Keine Miene zuckte, sie waren gut trainiert, doch dennoch war er sich sicher, dass seine Worte angekommen waren. „Sehr gut, dann ab an die Arbeit, ihr wisst, was ihr zu tun habt! Die anderen kümmern sich wie gewohnt um den Rest. Macht überall ein bisschen was kaputt, ein paar Adern und so weiter, die übliche Prozedur. Hopp hopp, worauf wartete ihr noch?“ Der kleine Gifttropfen klatschte in die Hände und sofort setzten sich alle in Bewegung. Das Stampfen auf dem Boden der Ader, durch die sie gerade wanderten, erschien Unheil verkündend, doch schon kurz darauf teilten sie sich auf und nutzten verschiedene Blutbahnen um an ihr Ziel zu gelangen. Mit Routine kappten sie Verbindungen und wühlten die Zellen durcheinander und mit jeder Sekunde konnte jeder Milligramm Gift, egal in welchem Körperteil er arbeitete, spüren, wie der Erfolg näher kam. Das Blut floss langsamer, wurde schwerfälliger und bewegte sich schließlich gar nicht mehr. Ein ganz junges Mitglied der Einheit, das erst das dritte Mal dabei war und sich an der Leber zu schaffen gemacht hatte, reckte triumphierend die Faust in die Luft und leckte sich mit der Zunge instinktiv über die spitzen Zähne, mit denen er wie all die anderen die kleinen, kaum sichtbaren und harmlos wirkenden Löcher in die Organe geknabbert hatte, die eine so verhängnisvolle Wirkung für einen großen, starken Körper haben konnten. Vor Freude schrie der kleine Tropfen. Sie hatten gesiegt, so wie sie fast immer siegten, weil kaum jemand ihnen etwas entgegen zu setzen hatte. Kapitel 28: 028 Allein ---------------------- Thema 028 Allein Jederzeit und immerzu ist er allein. Egal wie sehr er sich zu allen Seiten streckt, immer scheint er einsam in der Finsternis und findet nie einen Gefährten, der ihm Gesellschaft zu leisten vermag. Mit jedem Jahr fällt es ihm schwerer, doch weder kann er aufhören zu tun was er tut, noch vermag seine Schwester es, die mit demselben Schicksal bestraft wie er, des Tages ihre Kreise zieht. Nur selten ist es ihnen möglich sich zu sehen, noch viel seltener einander zu treffen und gegenüberzustehen um sich zuzuwinken. Doch nie, niemals sei es ihnen vergönnt einander zu berühren, die Hand zu schütteln oder sich zu umarmen, vielleicht sogar einander die Tränen vom Gesicht zu wischen, die sie geweint in all den Jahren der Einsamkeit. Stattdessen sind sie allein, das einzige was sie tun können, ist es die Menschen zu betrachten wie sie miteinander Arm in Arm über die Welt schlendern, oder sie besehen sich die Sterne, wie sie in Massen über den Horizont tanzen. Lange Zeit waren sie wütend über die Ungerechtigkeit die ihnen auferlegt worden ist, sie waren zornig und verzweifelt, doch nun, nachdem sie so vieles gesehen, nun freuen sie sich so oft sie es vermögen an der Gemeinsamkeit der Menschen, die von ihnen so viele glücklich zu machen vermochte. Die Tränen der Bitterkeit, des Zorns und der Wut, die die Geschwister geweint, hatten sie rein gewaschen, so dass sie endlich in der Lage, sich an des anderen Glück zu erfreuen, so dass sie endlich in der Lage zu lächeln trotz der Ewigkeit der Einsamkeit zu der sie verdammt, in der sie getrennt voneinander den Tag der Menschen erhellen oder mit einem zauberhaften Schein ihren Schlaf bewachen. Kapitel 29: 029 Liebe --------------------- Thema 029 Liebe „Sag mal, was willst du eigentlich von mir?“ Jasmin lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie saß auf einem großen Bett, das von Decken und Kissen überzuquellen schien. Markus stand genervt im Türrahmen und sogar dabei sah er noch unglaublich sexy aus. „Nur ein bisschen Ehrlichkeit. Ich wüsste nicht, warum das du viel verlangt wäre!“, warf sie ihm schließlich vor die Füße und kniff dann die Lippen zusammen. „Was?“ „Was was? Ich weiß, dass du gestern bei den Mädchen von der Tanzgruppe warst.“ Er fuhr sich durch die Haare und seufzte. Es waren dunkelblonde, etwas längere Haare. Aber auch nicht zu lang. Perfekt halt. Wie alles andere an ihm auch. „Du weißt genau, dass meine Schwester dort tanzt“, antwortete er schließlich ruhiger. „Ja, und ich weiß auch, dass du es dir nie nehmen lässt, sie in der Umkleide abzuholen, wenn du sie abends mit nach Hause nimmst und jetzt versuch ja nicht, mir was anderes zu erzählen! Corinna hat es mir gesagt, dass du wieder da warst, obwohl du genau weißt, dass ich es hasse!“ „Darf ich jetzt niemand anderes mehr sehen als dich?“, fragte er kalt. Jasmin antwortete nicht. Sie hasste es, sich mit ihm zu streiten, aber er schaffte es immer wieder, sie so wütend zu machen. „Das hab ich nicht gesagt“, murmelte sie leise und blickte auf ihre Hände. Überall hin, nur nicht zu ihm. „Warum machst du dann so einen Aufstand?“ „Weil ich nicht will, dass du andere halbnackte Mädchen in Umkleiden besuchst.“ „Mein Gott Jess, ich hab ihre Tasche geholt und falls es dich interessiert, waren sie und Corinna die letzten in dem Raum. Glaubst du allen Ernstes ich wäre da sonst rein gekommen, ohne, dass die anderen alles zusammen geschrien hätten?“ „Ach. Du kommst doch überall rein, ohne das die Mädchen schreien würden, weil sie wollen dass du gehst. Das weißt du genau, also tu jetzt nicht so, als wäre es nicht wahr“, fauchte sie und dachte an seinen Körper. An sein tolles Gesicht. Seine Muskeln. Er war gut aussehend und beliebt. Jasmin konnte sich noch gut daran erinnern, wie verdutzt alle gewesen waren, als sie mit ihm zusammen gekommen war. Und das war sie jetzt schon seit vier Monaten ohne, dass sie sagen konnte warum. Sie liebte ihn, ja, ganz ohne Zweifel, aber bis jetzt konnte sie sich nicht erklären, was zum Teufel er an ihr fand. „Ich kann es nicht ändern“, erwiderte er dann nüchtern. „Nein, aber du könntest es wenigstens nicht drauf anlegen. Es ist ohnehin schon so…unbegreiflich und schwer für mich, da musst du nicht auch noch gezielt dafür sorgen, dass du von tollen Mädchen, mit erstklassigen Figuren, langen blonden Haaren und sexy Tütü umgeben bist, oder?“, ihre Stimme wurde immer leiser. „Was?“, fragte er verdattert. „Jetzt tu doch nicht auch noch so unschuldig. Ich meine, ich weiß auch so schon, dass ich es mit diesen super Mädels nicht aufnehmen kann. Meine Maße sind definitiv nicht 90 - 60 -90, meine Haare sind nicht schön blond und ich bin nicht halb so makellos wie die es sind, schon allein deshalb weil ich mich nicht in Ballettsälen aufhalte sondern draußen, mich ständig verletzte und überall irgendwelche Narben habe, die von meiner Blödheit zeugen. Es ist ohnehin schon schwer genug für mich nachzuvollziehen, warum du bei mir bist und nicht bei einer von denen – versteh das nicht falsch, ich hab nichts dagegen, bei weitem nichts – aber trotzdem bin ich ehrlich genug zu mir selber um zu wissen, dass ich nur ein kleines, vielleicht leicht übergewichtiges Mädchen bin, das jetzt gerade noch nicht einmal in sexy Dessous vor dir steht, sondern in einer gestreiften Boxershorts, verstehst du denn nicht, dass ich das ohnehin kaum fassen kann?“ Eine Träne lief ihr die Wange herab und sie schämte sich dafür. Mit aufeinander gepressten Lippen wandte sie den Kopf ab und starrte die Wand an. Keiner von ihnen sagte noch ein weiteres Wort, bis Jasmin schließlich aus den Augenwinkeln registrierte, wie Markus sich bewegte, doch zu ihrer Verwunderung drehte er sich nicht rum und ging, oder kam auf sie zu – er zog sich aus. Leicht verdattert drehte sie den Kopf wieder so, dass sie ihn direkt ansehen konnte, während er aus seiner Hose schlüpfte. „Was machst du da? Ich…meinst du, dass ist gerade der richtige Zeitpunkt-“ Er schmiss seine Hose in eine Ecke und stand nun nur noch mit einem T-Shirt und seiner Simpson Boxershorts vor ihr. Sie hatte ihm die geschenkt, weil sie genau wusste hatte, dass er sie unbedingt hatte haben wollte. „Ich steh auf Boxershorts“, entgegnete er dann nüchtern. „Nur um etwaige Missverständnisse zu klären. Also atme mal tief durch. Wenn ich mit einer von diesen blonden Schönheitsidealen zusammen sein wollte, dann wäre ich jetzt nicht hier, oder? Also mach dir mal keine Sorgen um so was, ich mag es, dass du nicht so bist“, seine Stimme wurde immer leiser. Jasmins wusste nichts dazu zusagen, wie er in seinen Boxershorts vor ihrem Bett stand, nur damit sie sich besser fühlte. Dann streckte er auf einmal die Hand aus. „Komm, wir gehen was essen. Ich lad dich ein.“ „Was?“ „Essen? Wir beide? Italiener würde ich sagen.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Wie gesagt, ich hab nicht sonderlich viel an.“ Er schaute hinab auf seine nackten Beine, dann zuckte er mit den Achseln und lächelte. „Ich auch nicht. Also komm, zusammen ist es nicht ganz so peinlich.“ Jasmin fragte sich, ob er sich gerade einen dummen Scherz mit ihr erlaubte, doch er hielt ihr noch immer die Hand hin. Und dann musste sie auf einmal lachen und ließ sich von ihm hochziehen. Hand in hand gingen sie die Treppe hinab und sie schloss schließlich die Haustür hinter ihnen zu, während ihr der kalte Herbstwind um die Beine strich. „Ich bin noch nie in Boxershorts essen gegangen“, murmelte sie schließlich. Markus grinste. „Ich auch nicht, aber es gibt immer ein erstes Mal“, dann legte er einen Arm um sie und zog sie nah zu sich, während sie zum Italiener schlenderten. Kapitel 30: 030 Schönheit ------------------------- Thema 030 Schönheit Es war das erste Mal gewesen, dass ich mit jemandem aus gewesen war. Normalerweise waren die Menschen zwar freundlich zu mir, doch sobald der Kontakt ein wenig enger wurde, schreckten sie vor mir zurück. Nett zu jemandem zu sein, von dem man wusste, dass er stets einen Behindertenausweis bei sich trug, war eine Sache, mit ihm befreundet zu sein, eine andere. Deswegen war es umso seltsamer für mich gewesen, als das Mädchen an meiner Seite gesagt hatte, dass sie auch meine Hand nehmen und mir zeigen könne, wo es langgeht, damit ich mit meinem Blindenstock nicht allzu hilflos vor mir herumtaste. Erst war ich dagegen gewesen. Mein Stock zeigte mir schließlich nicht nur, wo eine Wand war, sondern auch, wo sich ein Absatz befand, der für jemanden wie mich schnell zu einer gefährlichen Stolperfalle werden konnte. Doch dann überwand ich mich. Sie machte ihre Sache gut. Vor jedem noch so kleinem Hindernis warnte sie mich rechtzeitig und ich stolperte nur ein einziges Mal. Das war, als ich mich nicht auf ihre Stimme, sondern auf ihre Hand konzentriert hatte. Sie war nicht sonderlich groß, aber auch nicht so klein, wie die eines Kindes. Sie war feingliedrig und die Haut weich, das spürte ich sofort. Dann stolperte ich. Ich merkte sofort, dass es ihr Leidtat, aber ich versicherte ihr, dass es meine eigene Schuld gewesen war, da ich abgelenkt gewesen war. Auf was ich mich konzentriert hatte, das verriet ich ihr nicht. Es dauerte eine gute halbe Stunde bis wir vor meiner Haustür standen. Obwohl ich darauf bestanden hatte, sie nach Hause zu bringen, so wie es sich gehörte, hatte sie meinen Wunsch nicht respektiert. Sie sagte, ihr wäre unwohl dabei zu wissen, dass ich spät abends alleine nach Hause ließ, schließlich sei ich blind. Ich fand es gut, wie sie das sagte, die wenigsten sprachen es direkt aus, die meisten bevorzugten es immer drum herum zu reden. Also hatte sie mich nach Hause gebracht, irgendwie hatte ich das nett gefunden, auch wenn ich protestiert hatte. Ich bin schon lange blind, erklärte ich, ich kann damit umgehen. Du schon, antwortete sie, aber ich noch nicht, also lass mich dich nach Hause bringen. Auf dem Weg hatte sie mich gefragt, wie es wäre mit jemandem wegzugehen, dessen Gesicht man nicht kannte. Normal, hatte ich ihr geantwortet, ich kenne es nicht anders. Du weißt nie, wie jemand aussieht, hackte sie nach, weißt nie, ob derjenige hübsch ist, oder nicht? Ich kann nur mit den Händen sehen, erwiderte ich, doch ich habe genug Anstand um nicht jedem im Geicht herum zu fummeln. Ich lächelte und blieb dann stehen. Wir sind da, verkündete ich, vierundzwanzig Schritte hinter der Straßenabbiegung, da wohne ich. Ich hob die Hand und zeigte ins Schwarze Nirgendwo. Sie blieb stumm, vielleicht war sie erstaunt. Stimmt’s?, wollte ich wissen. Zögernd sagte sie ja. Sie nahm meine Hände und vorsichtig hob sie sie hoch. Es verwunderte mich, doch nur solange, bis ich ihre weiche Haut unter meinen Fingerspitzen spürte. Ihre Wangen. Ich würde mir wünschen, dass du weißt, wie ich aussehe, erklärte sie dann, aber sag mir, was du denkst. Ich war verunsichert. Bist du sicher, setzte ich an, doch sie unterbrach mich sofort. Ja. Noch immer zögernd ließ ich meine Finger langsam weiterwandern. Sag mir, was du denkst, sag mir, wie du mich siehst, forderte sie mich auf. Das hatte noch nie jemand von mir verlangt, ich wusste nicht, was ich sagen sollte, was sie hören wollte. Doch ihr erwartungsvolles Schweigen drängte mich. Hohe Wangenknochen, tief liegende Augen und, ich ließ die Finger weitertasten, eine Stupsnase. Ich musste unwillkürlich Lächeln, ihre Nase fühlte sich beinahe genauso an wie die meiner kleinen Schwester. Weiter, sagte sie. Ich tastete, spürte, wie ich ihren Lippen näher kam. Darf ich?, flüsterte fast und spürte, wie sie nickte. Vorsichtig ließ ich die Kuppe meines Fingers über ihre Lippen tanzen. Eine volle Unterlippen, die obere ist ein wenig schmaler, sagte ich dann, ein interessantes Gesicht. Ein schönes Gesicht. Kapitel 31: 031 Sicherheit -------------------------- Thema 031 Sicherheit Rennen. Rennen. Der Gedanke pocht in mir. Rennen. Ich spüre, wie ich die Beine hebe, mich abdrücke vom feuchten Boden. Der Atem in meinem Nacken. Er streicht sanft über meine Haut, liebkost meinen Hals. Er warnt mich vor der Gefahr. Schneller. Schneller. Es hämmert in meinem Kopf. Der Schlamm unter mir, er will mich nicht gehen lassen, er hält mich fest. Kämpfen. Kämpfen. Es endet nicht. Es verfolgt mich, jagt mich, es will mich. Die Angst treibt mich voran, lässt mich laufen, lässt mich um mein Leben kämpfen. Mein Herz, es eilt, es pumpt, ich höre es in meinen Ohren. Eilen. Eilen. Rennen. Fliehen. Ich spüre es näher kommen, immer näher kommen. Ich keuche, ich sauge die Luft in meine Lungen. Leben. Leben. Die Hand, sie legt sich auf meine Schulter. Sie scheint mich nieder zu drücken, gefangen zu halten. Ich will mich wehren, doch die Kraft fließt aus mir hinaus, wie ein strömender Fluss. Ich kann sie nicht aufhalten, ihren Verlust nicht verhindern. Meine Beine, sie geben nach, sind zu schwach, der Morast hält sie fest. Der Druck der Hand, er wird stärker. Ich stolpere, finde keinen Halt. Die Knie, sie schlagen auf, ich spüre den Schmerz, den Dreck. Aufstehen. Rennen. Laufen. Aufgeben. Es flüstert in mir. Die Stimmen, sie verstummen nicht. Kämpfen. Kämpfen. Aufgeben. Meine Muskeln, sie spannen sich an, sie rebellieren, doch ich bin am Ende, kippe vornüber. Meine Lippen küssen den Schlamm, mein Gesicht, es scheint zu glühen, nach meinem Lauf. Ich will nicht sehen, will nicht wissen, was mich jagt. Tiefer presse ich mich in den Dreck, registriere, wie sich der weiche Boden, an meinen Körper schmiegt, doch nicht lange und etwas zerrt an mir. Ich will nicht, ich will nicht. Aber nirgendwo findet sich noch Kraft in mir, nichts habe ich dem Bösen entgegen zu setzen. Die Augen fest verschlossen, werde ich auf den Rücken gedreht. Nicht sehen, nicht hinsehen. Ich merke, wie mir das dreckige Haar aus dem Gesicht gestrichen wir. Nicht hinsehen, nicht die Augen öffnen, flüstert es in meinem Kopf und doch kann ich nicht widerstehen und werfe einen blinzelnden Blick aus mir und meiner Schwärze hinaus. Und da ist es über mir und starrt mich an. Mein Gesicht. Ich schrecke hoch. Mein Körper. Schweißnass. Tief luftholend sitze ich zwischen meinen Laken, keuche. Es dauerte, bis ich registriere, dass ich wieder in der Realität angelangt bin. Sicher vor meinen Träumen und meiner Fantasie. Kapitel 32: 032 Besessenheit ---------------------------- Thema 032 Besessenheit Jedes Mal wenn ich durch die dunkeln Gassen gehe, spüre ich ihn. Mit seinen schlanken Fingern greift er nach mir und streicht mit seiner Kälte über meine warme Haut. Egal wie schnell ich gehe, wie groß ich meine Schritte mache, er lässt mich nicht allein, bis ich die Dunkelheit verlasse. Sobald ich die ersten Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht spüre und Stimmen an mein Ohr dringen, ist er verschwunden, zieht sich so blitzartig zurück, dass man es kaum merkt. In solchen Momenten rufe ich ihn und lache ihn aus, weil er sich nicht aus seinem dunkeln Versteck hinauswagt, weil niemand seinen hageren Körper zu Gesicht bekommen soll, nicht vor der Zeit. Doch auch wenn er mich im Licht noch nicht zu erreichen vermag, so weiß ich doch, dass er mich nie alleine lässt, dass er immerzu auf den Moment wartet, in dem er dann mit seinen langen, weißen Fingern nach meiner Seele greift. Kapitel 33: 033 Konfrontation ----------------------------- Thema 033 Konfrontation Stumm legte der Polizist drei Fotos auf den Tisch. Sie waren groß, größer als normale Fotos, so dass das Grauen darauf einem ins Gesicht geschleudert wurde, ob man wollte oder nicht. „Vielleicht erkennen Sie nicht genau, was es ist. Wir haben auch eine ganze Weile gebraucht, bis wir das Geschlecht identifizieren konnten, so verstümmelt war die Leiche.“ Dem Polizist gegenüber saß ein Mann. Seine Haare lichteten sich und sein Gesicht war von vielen Falten durchzogen. Ihm war anzusehen, dass er kein einfaches Leben gehabt hatte, dass er wahrscheinlich viel Leid hatte ertragen müssen. Er griff nach einem der Fotos und betrachtete den darauf sichtbaren seltsam verrenkten Körper, der aus unzähligen Wunden geblutet zu haben schien. Die Hände zitterten leicht und schließlich ließ er es einfach wieder fallen und versuchte wegzuschauen. Der Polizist aber kannte keine Gnade. Er zog ein weiteres Bild aus seinem Aktenordner und legte es auf den Tisch. Dies Mal war keine Leiche zu sehen, sondern ein kleines Mädchen. Lange blonde Haare und ein freundliches, kindliches Lächeln, das jeden dazu brachte, sie sofort ins Herz zu schließen. „Das ist Angelika Forster. Das letzte Mal wurde sie am fünften Juni auf dem Spielplatz im Stadtpark gesehen. Kennen Sie das Mädchen?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf, blieb aber stumm, als würde er es seine Stimme nicht zutrauen ein vernünftiges Wort aus sich heraus zu bringen. „Sind Sie sicher, dass Sie sie nicht kennen?“, fragte der Polizist noch einmal, eindringlicher, schärfer. Der Mann schaute auf und schluckte. Dann öffnete er den Mund und sagte leise: „Doch, ich kenne sie. Angelika ist die Enkeltochter von Markus Forster. Sie wohnen an der oberen Straßenecke. Ich glaube, er zieht sie groß.“ Dann schwieg er wieder. „Anhand von den Haaren konnten wir das Mädchen, das wir im Wald gefunden haben als Angelika Forster identifizieren. Sie hat dort etwa vier Tage gelegen, ist also seit knapp einer Woche tot. Wissen Sie, wer Grund gehabt hätte das Kind umzubringen?“ Der Gefragte schüttelte den Kopf. „Nun gut“, fuhr der Polizist fort und zog ein paar Blatt Papier aus dem Ordner. „Obwohl es geregnet hat, während die Leiche so einsam in der Gegend herumlag, haben wir es geschafft einige Fingerabdrücke zu nehmen.“ Er sah auf und nahm den alten Mann genau ins Visier. „Unter anderem Ihre, Herr Mender. Können Sie mir erklären, wie Ihre Fingerabdrücke auf die Kette und die Schuhe des Mädchens gelangen konnten?“ „Sie hat mir die Kette vor ein paar Wochen einmal gezeigt.“ „Und die Schuhe?“ „Ich habe ihr gezeigt, wie man eine Schleife bindet. Sie war doch erst sechs.“ Der Polizist legte eine Kunstpause ein, nippte an seinem Kaffee und richtete seine Aufmerksamkeit letztendlich wieder auf sein Gegenüber. „Wir haben versucht die Tat zu rekonstruieren. Angelika ist morgens wie immer zur Schule gegangen. Nachmittags war sie dann mit einer Freundin verabredet, mit deren Mutter sie in den Park gegangen ist. Laut Aussage dieser Frau, war das Kind dann auf einmal verschwunden. Wir vermuten, dass sie jemanden getroffen hat, denn sie kannte. Jemanden, dem sie vertraute. Haben Sie vielleicht eine Idee, wer das gewesen sein könnte?“ Der alte Mann hatte die Hände im Schoss zusammengefaltet und starrte nach unten, während er den Kopf schüttelte. Er war Mitte siebzig und seit zehn Jahren Witwer. Sein Sohn und dessen Frau waren vor drei Jahren bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen. „Mit diesem Bekannten ist sie schließlich weggegangen. Wahrscheinlich hat er sie dazu überredet, ihrer Freundin nicht bescheid zu sagen und einfach mitzukommen. Außerdem hat er ihr Schokolade geschenkt um sie endgültig zu überzeugen. Wir konnten sie in ihrem Magen und außerdem an ihren Zähnen finden. Unsere Spezialisten haben sogar herausgefunden, um welche Marke es sich handelt. Ihre Lieblingssorte, was wieder darauf hinweißt, dass ihr der Mann, den sie dort getroffen hat, nicht unbekannt war.“ Mit einer geschickten Handbewegung schob der Polizist die Fotos noch näher an den Mann heran, so dass er gezwungen war sich die kleine Kinderleiche anzusehen. „Sobald sie alleine waren, hat der Mann ein Messer gezückt. Anhand der Wunden können wir sagen, dass er wie ein Verrückter und voller Wut auf das unschuldige Mädchen eingestochen haben muss. Er war völlig von Sinnen und hat sie anschließend einfach weggeworfen, als wäre sie ein Stück Dreck.“ Der Befragte begann leicht zu zittern. „Warum sind Sie am Tatort aufgetaucht, als wir das Mädchen gefunden haben? Warum waren Sie ausgerechnet in einer so einsamen Gegend spazieren?“ Der alte Mann schwieg und der Beamte beugte sich nach vorne. „Ich erzähl Ihnen jetzt, warum ihre Fingerabdrücke auf der Kette und den Schuhen waren, Herr Mender, einverstanden? Sie mochten Angelika, sie war ein nettes Mädchen aus der Nachbarschaft, dem sie immer zugewinkt haben, wenn es auf dem Fahrrad die Straße herunterfuhr. Aber ihren Großvater mochten sie nicht. Sie hassen Markus Forster nahezu.“ Der Polizist lehnte sich zurück. „Ist es richtig, dass Sie seit dem Tod ihres Sohnes das Sorgerecht für ihre Enkeltochter hatten?“ Der Mann nickte. „Und ist es auch richtig, dass sie unter bis heute nicht geklärten Umständen vor knapp anderthalb Jahren verschwunden ist und Markus Forster aufgrund stichhaltiger Beweise lange der Hauptverdächtige in diesem Fall war?“ Dieses Mal reagierte der Rentner gar nicht. Sein Blick ruhte auf dem Bild von Angelika, die noch immer so unbekümmert von dem Papier herunterlachte, obwohl sie bereits sei drei Tagen in der Leichenschauhalle lag. „Er ist freigesprochen worden“, gab Herr Mender schließlich sachlich zur Antwort und schaute auf. „Genau“, stimmte der Polizist zu. „Und zwar vor ziemlich genau drei Wochen. Das ist noch nicht sonderlich lange her und trotz der Freispruchs sind Sie der festen Überzeugung, dass er etwas mit dem Verschwinden der Ihnen anvertrauten Enkeltochter zu tun hat, richtig?“ Der Angesprochene schwieg wieder. „Wir haben bei der Durchsuchung ihrer Wohnung eine Packung der Schokolade gefunden, die Angelika so gerne gemocht hat. Ein Stück fehlte. Warum hatten Sie die Schokolade im Haus?“ „Ich esse sie auch hin und wieder.“ „Nein, das tun Sie nicht. Sie leiden seit Jahren an diversen Krankheiten, unter anderem einer Laktoseintoleranz, Sie dürfen keine Milchprodukte essen.“ Schweigen. „Am Tag von Angelikas Verschwinden, haben Sie sich ein Stück der Schokolade, die sie extra gekauft haben, in die Tasche gesteckt und sind zum Spielplatz gegangen. Dort haben Sie das Mädchen abgefangen, ihm die Süßigkeit geschenkt und sie überredet mit Ihnen spazieren zu gehen. Währenddessen ist ihr ein Schuh aufgegangen, den Sie wieder zugebunden haben. Als das Kind allerdings nach einer Weile wieder zurückwollte, da es Angst hatte, dass man sich Sorgen um sie macht, haben Sie sie abgelenkt, in dem Sie sie gefragt haben, woher sie die Kette hat, die sie trägt. Da das Kind das Schmuckstück in ihrer Bastelgruppe selbst angefertigt hat, hat sie es Ihnen voller Stolz gezeigt.“ Eine kurze Pause. „Als Sie schließlich mit dem Mädchen alleine waren, haben Sie sich vorgestellt, wie Sie immer mit ihrer eigenen Enkeltochter spazieren gegangen sind und wie Sie es immer noch tun würden, wenn sie nicht verschwunden wären. In diesem Moment sind Sie unglaublich wütend geworden, wütend auf die Welt, aber im Besonderen auf Markus Forster, den sie bis heute für den Schuldigen halten.“ Wieder eine Pause. „In diesem Moment konnten Sie sich nicht mehr zurückhalten, nicht wahr? Sie haben einfach alles raus gelassen, Sie wollten diesem Dreckskerl zeigen, wie es ist, wenn man alles verliert, nicht wahr?“ Die Stimme des Polizisten wurde immer leiser immer eindringlicher. Der alte Mann wehrte sich nicht, er hörte einfach nur zu und starrte auf seine Hände. „Irgendwann sind Sie dann wieder zu Bewusstsein gekommen und haben gesehen was Sie getan haben, haben gesehen, dass Sie einfach immer und immer wieder auf das arme Nachbarsmädchen, das Sie immer so an ihre Enkelin erinnert hat, eingestochen haben. Aus Ekel und Angst vor sich selbst, haben Sie die Leiche ins Gebüsch geschmissen und verschwunden, war es nicht so?“ Stille. Erdrückende Stille. Der Mann atmete lauter. „Und als Sie dann zu Hause waren haben Sie versucht das ganze zu vergessen, doch Sie konnten es nicht. Sie haben immerzu daran denken müssen, sind mitten in der Nacht schweißgebadet aufgewacht und haben angefangen sich selbst zu verachten, für das, was Sie dem armen Mädchen angetan haben. Und irgendwann ist es dann zu schlimm geworden, Sie sind aufgestanden und sind wieder zu ihr gegangen. Ihr schlechtes Gewissen war, weil Sie sie nach der Tat einfach weggeworfen haben, ist einfach zu groß geworden. Sie wollten wenigstens etwas wieder gut machen, indem Sie sie liebevoller behandeln. Deswegen hatten Sie auch die Decke und den Waschlappen dabei, als wir Sie getroffen haben. Es war kein Zufall, wie Sie sagten. Sie wollten das Blut von dem Mädchen abwaschen und in die Decke einwickeln, um sie nicht einfach so dort liegen zu lassen. Aber es war zu spät, nicht wahr?“ Der Mann antwortete noch immer nicht. Kein Wort der Verteidigung brachte er hervor, während er auf die Bilder starrte, die ihm das Grauen vor Augen führten. Aber der Polizist musste keine zustimmenden Worte hören, die Tränen der Verzweiflung und der Reue, die über die Wange des alten liefen und schließlich auf eines der Fotos tropften, waren Antwort genug. Kapitel 34: 034 Belästigung --------------------------- Thema 034 Belästigung Es war kurz nach Mittag, als Dana das Universitätsgelände verließ und tief durchatmete. Soeben hatte sie ihre letzte Prüfung für dieses Semester hinter sich gebracht und nach den letzten drei Wochen, in denen sie mehr als intensiv gelernt hatte, war sie jetzt fest entschlossen, den Rest des Tages zu genießen, bevor sie morgen früh ihre Koffer packte und ihre Familie besuchen fuhr. Erleichtert darüber, endlich von dem ganzen Druck befreit zu sein, eilte sie schließlich zur U-Bahn. An diesem Tag schien ihr das Glück gewogen, denn sie schaffte es gerade noch in das Gefährt zu schlüpfen, bevor der schrille Pfeifton ertönte und die Türen sich automatisch schlossen. Doch als sie losfuhr, bereute sie es schon wieder in die U-Bahn gestiegen zu sein. Sie fuhr ohnehin nur vier Stationen und bei dem herrlichen Wetter hätte sie sich ruhig die Zeit nehmen und zu Fuß gehen können. Sie blickte sich um, aber sie erkannte niemanden. Alles was sie sah, waren gelangweilte Leute, die in irgendwelche schlechten Zeitungen vertieft waren, die Augen geschlossen hatten oder einfach durch das Fenster in die Dunkelheit des Tunnels starrten. Nein, das wollte sie sich nicht länger antun. Kurzerhand stieg sie an der nächsten Station wieder aus und war froh, als sie die Station verlassen hatte und über die Straße schlenderte, während die Sonne ihr den Nacken wärmte. Solange sie im Stress war und vom Prüfungsdruck heimgesucht wurde, war sie einfach nicht in der Lage solche Dinge zu genießen, doch jetzt kam ihr der Augenblick einfach so wunderbar vor. Während sie weiterging, kam sie an einem kleinen Buchladen vorbei und hielt prompt an, um die Auslage zu betrachten. Wenige Minuten später hatte sie den kleinen Laden betreten und noch ein wenig später hatte sie ihn mitsamt einem neuen Buch verlassen. Als sie endlich ihre kleine Wohnung erreicht hatte, nachdem sie die gefühlten hundert Stufen hinaufgestapft war, zog sie sich eine bequeme Jogginghose an und holte sich eine Flasche Saft aus dem Kühlschrank. Die Flasche unter den Arm geklemmt griff sie nach ihrem neuen Buch und öffnete schließlich ein Fenster um die frische Luft hineinzulassen. Zum Schluss ließ sie sich in ihrem Lieblingssessel nieder, legte die Beine auf das Fensterbrett und schlug voller Vorfreude die Seiten auseinander. Es dauerte nicht lange und sie war völlig darin vertieft. Sie wollte gerade mit dem zweiten Kapitel anfangen, als sie es hörte. Ein leises Summen. Gekonnt ignorierte sie es und konzentrierte sich auf die Buchstaben, doch es wollte einfach nicht verschwinden. Stattdessen kam es immer näher, summte an ihrem Ohr, entfernte sich, kam wieder zurück. Summte an ihrem anderen Ohr. Genervt schlug sie mit der Hand nach dem Insekt und es verschwand. Aber nicht lange. Nur wenige Minuten später war es wieder da, belästigte sie mit dem penetranten Geräusche, das solche Tiere beim Fliegen von sich zu geben pflegten. Wieder schlug sie danach, doch dieses Mal ließ es sich nicht einfach vertreiben. Es summte friedlich vor sich hin und weigerte sie zu gehen. Dana fühlte sich gestört, schlug immer wieder nach der fetten Fliege, die sich schließlich dreist auf dem frischen, weißen Papier ihres neu erworbenen Buches setzte. Ganz selbstverständlich saß das Insekt dort, als würde es dort hingehören und nirgendwo anders. Es fing an, sich die Fühler zu putzen und die junge Frau betrachtete das Tier fassungslos. Kurz überlegte sie, ob sie nicht einfach die Seiten zusammenschlagen sollte, aber das brachte sie nicht übers Herz. Nicht der nervtötenden Fliege zu liebe, viel mehr dem Buch. Es mit solcher Absicht zu verschmutzen und es auf diese Art und Weise zu missbrauchen, das lag nicht in ihrer Natur. Also wedelte sie wieder mit der Hand und verscheuchte sie wieder. Aber sie kam zurück, ließ sich auf ihrem Handrücken nieder und taperte mit den kleinen Beinen auf ihrer empfindlichen Haut herum. Sie zuckte zusammen, die Fliege entfernte sich wieder, nur um einen erneuten Angriff zu starten. Eine ganze Weile ging das so, bis es Dana zu viel wurde. Gereizt stand sie auf. Warum gönnte man ihr noch nicht einmal heute ein wenig Ruhe und Zeit für sich? Nein, jetzt, da sie einmal lesen wollte, da kam so eine kleine, fette Fliege und machte sich an sie ran. Sie ging in die Küche und öffnete eine Schublade. Dann öffnete sie eine weitere und nachdem sie die Hälfte ihrer Schränke durchwühlt hatte, zog sie schließlich triumphierend eine Fliegenklatsche hervor. Wer sich mit ihr an ihrem ersten freien Tag anlegte und es wagte sie zu belästigen, der würde es bereuen. Und dabei war es ihr egal, ob es sich dabei um den nicht müde werdenden Nachbarn, der sie seit Monaten zum Essen ausführen und die Absage einfach nicht akzeptieren wollte, handelte, oder um eine kleine, penetrant summende und viel zu fette Fliege. Kapitel 35: 035 Held -------------------- Thema 35 Held „Nein!“, sagte er stolz. „Das wirst du nicht schaffen, ich werde es nicht zulassen, dass du die Macht an dich reißt. Der einzige, der hier etwas zu sagen hat, bin ich. Niemand anderes, verstanden?“ Der Junge stolzierte wütend durch sein Zimmer und hob das Kinn um einen größeren Eindruck zu machen. Eine Rebellion drohte, er hatte es schon lange gemerkt und nun hatte er endlich den Aufrührer ausfindig gemacht. „Niemand hat das Recht, sich über mich erheben zu wollen, absolut NIEMAND!“, schrie er jetzt und stampfte wütend mit den Beinen auf den Boden. Es war einfach eine Unverschämtheit. Doch obwohl er sich alle Mühe gab so respekteinflössend zu klingen, wie nur irgend möglich, so musste er doch feststellen, dass er scheiterte. Warum sonst, hätte dieser Mistkerl ihn auf einmal angreifen sollen? Doch dem Himmel sei Dank hatte er es rechtzeitig kommen sehen. Aus den Augenwinkeln hatte er registriert, wie er sich bewegte und einen Schritt auf ihn zugemacht hatte. Die Drohgebärde war mehr als offensichtlich gewesen. Aber er war kein Feigling, er gehörte nicht zu denen, die zwar etwas zu sagen hatten, sich aber, wenn es ernst wurde nur hinter ihrem Bett versteckten, o nein. Wer sich mit ihm anlegte, der würde es bereuen. Noch bevor dieser unheimliche dreiste Untertan auf ihn losgehen konnte, hatte er schon einen Gegenangriff gestartet. Mit einem lauten Schrei schmiss er sich auf seinen Gegner, drückte ihn zu Boden und hielt seine Arme, so gut es ging, fest. „Du elender Verräter“, schimpfte der Junge dann auf ihn ein, während sein Gesicht rot vor Wut wurde. Der andere wehrte sich, er schlug um sich, aber er hatte das Kind eindeutig unterschätzt. Das riss ihn mit aller Kraft in die Höhe und wollte ihn aus dem Fenster schleudern um ihn zu besiegen. Doch sein Gegner brachte ihn mit seinem Gestrampel so sehr aus dem Gleichgewicht, dass er sich mit der Wange an einer Ecke des großen Kleiderschranks stieß. Dann trat der andere noch einmal zu, mit aller Wucht gegen sein Knie. Der Junge stöhnte, aber er würde sich nicht unterkriegen lassen. Er war nicht so einer, der einfach aufgab. Er war der Herrscher hier und man hatte ihm zu gehorchen. Rebellion und Verräter würde er nicht dulden. Mit Mühe richtete er sich auf, schupste seinen Widersacher und trat auf ihn ein. Voller Wut wie er war, stieß er sich dabei auch noch den Ellenbogen, der schmerzhaft anfing zu pochen. Und das alles nur, weil manche einfach nicht wussten, wo ihr Platz war. Mit einem Mal beugte er sich vor, griff nach dem Rebell und brachte es endlich über sich, ihn aus dem Fenster zu werfen. Dann atmete erst einmal tief durch und wusste nicht, wie er mit den zwei Händen, die er besaß, die drei schmerzenden Stellen an seinem Körper reiben sollte. Doch dann zuckte er nur die Achseln. Es hatte sich gelohnt, er hatte gesiegt. Er hatte allen gezeigt, dass noch immer er das sagen hatte. Ein Problem weniger. Kurz darauf verließ der Junge das Zimmer und stolperte, angeschlagen von seinen Verletzungen, ins Bad. Dort musste er sich auf die Zehenspitzen stellten um den kleinen Medizinschrank zu öffnen, der an der Wand hing. Da er so klein war, gelang es ihm auch nicht ohne weiteres die Box mit den Pflastern herauszuholen, so dass ihm auch noch ein paar Mullbinden entgegen kamen. Er legte sie zur Seite und machte sich dann daran, seine Verletzungen zu verarzten. Mit Sorgfalt und Geduld rieb er ein wenig Creme auf seine Wange, seinen Ellenbogen und sein Knie und verklebte sie mit einem Pflaster. Er war noch einigermaßen gut bei diesem Kampf davon gekommen, sein Gegner war weit aus schlimmer zugerichtet, da war er sich sicher. Das übergebliebene Verbandsmaterial ließ er einfach liegen und verließ dann den Raum. Es wurde an der Zeit nachzusehen, ob der Rebell noch in der Lage war zu laufen oder ob er nicht vielleicht sogar schon geflohen war. Es wäre eindeutig das Beste für ihn. Während er die Treppe hinunter ging, gab er sich Mühe so fest wie möglich aufzustampfen, um Eindruck zu machen. Schließlich hatte er einen Ruf zu verlieren und er gerade nach dem Kampf wollte er, dass man ihm und den Verletzungen, die er erlitten hatte, Respekt zollte. Als er schließlich die Straße betrat, wurde er neugierig, denn irgendwo hier musste derjenige liegen, den er so mitleidlos aus dem Fenster geworfen hatte. Er warf einen schnellen Blick um sich, dann sah er ihn auf dem Bürgersteig, nahe der Hauswand. Der Rebell. Der Teddybär. Er nährte sich, betrachtete ihn kurz und merkte, dass er noch am Leben war. Das war gut, er wollte seine Untertanen nicht umbringen, auch nicht die, manchmal aufsässig waren. Aber er musste ihnen nur einmal eine Lektion erteilen. In Siegespose stellte der Junge seinen Fuß auf das Stofftier und fühlte sich das erste Mal an diesem Tage wieder wie ein richtiger Held. -------- Das passende Bild, auf dem der Junge und das besiegte Plüschtier zu sehen sind, unter diesem Link: http://animexx.onlinewelten.com/fanart/zeichner/267213/1462324/ Kapitel 36: 036 Kunst --------------------- Thema 036 Kunst Das kleine Kind griff nach einem Wachsmalstift und nahm ihn unbeholfen in die Hand. Niemand hatte ihm bis jetzt gezeigt, wie man solche Dinge am besten hielt, um mit ihnen möglichst gut auf dem dünnen Papier, das vor ihm lag, malen zu können. Unsanft drückte es die bunte Spitze auf das Weiß und schrie auf, als es den Stift wieder wegnahm und ein roter Fleck darauf zurückblieb. Überwältigt betrachtete es das Rot und versuchte schließlich erneut sein Glück. Ein zweiter roter Fleck, dieses Mal etwas weiter oben. Wieder jubelte das Kind so begeistert, als hätte es eben den Sinn seines Lebens gefunden. Schließlich griff es nach einem neuen Stift. Er war grün, aber das war irrelevant, denn Farben sagten ihm noch nichts. Natürlich konnte es sie unterscheiden, wusste durchaus, dass gelb anders aussah als blau, doch wer braucht in einem solchen Alter schon Begriffe für all die wunderlichen Dinge um einen herum. Das Kind wusste auch, was ein Schmetterling war, dass er bunt war und im Sommer durch den Garten flog und dennoch konnte es mit den Wörtern Schmetterling, bunt und Sommer nichts das Geringste anfangen. Mit seinen anderthalb Jahren gab es viel faszinierende Dinge als das Aneinanderreihen von Lauten, um die unbegrenzte Schönheit irgendwelcher Gegenstände in einfache, stumpfe Silben zu pressen, die nicht ansatzweise in der Lage waren, ein Bild der Wirklichkeit zu malen. Nicht so schön, wie das Kind es konnte. Mit den blauen, grünen und roten Wachsmalstiften, die es so unbeholfen auf das Papier drückte, dass jeder Erwachsene, der es gesehen hätte, sofort zu ihm geeilt wäre, um ihm zu helfen. Um ihm zu erklären, dass es einen Kreis ausmalen musste. Ihm zu sagen, dass eine Sonne nicht blau und lang, sondern rund und gelb war. Ihm zu zeigen, wie es die Wirklichkeit auf das Papier bannen konnte. Aber es war niemand der, der ihm hätte helfen können. Es war niemand da, der hätte sehen können, dass das Kind keinerlei Hilfe bedurfte. Dass es glücklich war mit dem, was es im Begriff war zu schaffen. Die vollkommene Überraschung und Zufriedenheit, die es erfüllte und die es noch nicht in Worte fassen konnte, wenn es den Stift auf das Papier drückte und einfach einen bunten Punkt hinterließ. Niemand konnte nachvollziehen, wie es sich so sehr über einen einfachen, nicht einmal gerade gezeichneten Strich freuen konnte, der über das Papier hinausragte und auf dem Küchentisch fortgesetzt wurde. Und dennoch ging das Kind in seiner Welt auf, war glücklich mit den Farben um sich herum, die es benutzten konnte, wie es wollte. Freute sich über das Papier, das es nach belieben gestalten konnte, ganz so, als wäre es eine eigene Welt aus bunten Dingen, die von ihm allein erschaffen wurde. Es war zufrieden mit sich und seiner Kunst, die aus ihm herausströmte, wie Wasser einen Fluss entlang und die von niemandem gebremst wurde, der dem Kind sagen konnte, dass eine Sonne gelb war. Kapitel 37: 037 Horror ---------------------- Thema 037 Horror Ich wusste, dass er da war. Ganz in der Nähe. Hundertprozentig. Der Angstschweiß lief mir an der Stirn herab, aber ich traute mich nicht, ihn abzuwischen. Die Bewegung hätte seine Aufmerksamkeit wecken können. Stattdessen drückte ich mich, so unauffällig wie möglich, immer tiefer in die Wandnische. Ich hörte die Schritte der Passanten, die ein paar Meter weiter die Hauptstraße entlang eilten. Wahrscheinlich erledigten sie noch die letzten Einkäufe vor Ladenschluss, schließlich war morgen Sonntag. Da! Ein Zittern durchfuhr mich und ich warf einen vorsichtigen Blick die schmale Seitengasse herab, aber sie war leer. Nur eine Ratte huschte über den schlecht asphaltierten Weg. Aber das hieß nichts, ich wusste schließlich, dass er ein Meister im Tarnen und Verstecken war. Nur weil ich ihn nicht sehen konnte, hieß das noch lange nicht, dass er nicht da war. Mein sechster Sinn sagte mir, dass sich dieses Monster in der Nähe aufhalten musste. Getrieben von seiner Blutgier wartete er in irgendeiner Ecke, genau wie ich darauf wartete, dass er endlich verschwand. Oder mich tötete. Wenn er mich fand, dann wollte ich sterben. Auf keinen Fall wollte ich auf ewig dazu verdammt sein, als Untoter über die Welt zu gehen und einem Menschen nach dem anderem das Blut aus dem Körper zu saugen. Zu einer Kreatur der Finsternis gemacht zu werden, das war für mich die schrecklichste Vorstellung die es gab. Lieber wollte ich sterben und ihn unter Schmerzen bis zum Ende von mir trinken lassen, ohne Gegenwehr. Aber das würde nicht nötig sein, nicht wenn er mich übersah. Wenn er einfach an mir vorbei gehen würde. Er kam näher. Wieder war ich mir sicher. Krampfhaft versuchte ich meinen Körper ruhig zu halten, aber mein Zittern verstärkte sich. Zu groß war die Angst vor seinen Augen und seinen Zähnen. Die Zähne eines Raubtiers. Noch immer hörte ich die Schritte der Leute und fragte mich, wie sie so naiv sein konnten. Warum versteckten sie sich nicht? Es würde ihnen nichts bringen, aber wieso versteckten sie sich nicht in einem der Häuser? Einfach um Überlebenswillen zu zeigen. Einen Moment lang fuhr mir durch den Kopf, dass ich sie warnen musste. Vor dem Boten des Bösen, der sie alle innerhalb von einer Minute umbringen konnte, aber dann drückte ich mich noch tiefer in die Mauernische. Warum sollte ich es tun? Jahrelang hatte ich es versucht und keiner hat mir zu gehört. Stattdessen hatten sie mich in eine Psychiatrie gebracht. Nicht wissend, was für einer Gefahr sie ausgesetzt waren. Ich spürte einen kalten Luftzug und drehte mich wieder dem anderen Ende der Gasse zu, während ich versuchte, die Schritte der ahnungslosen Menschen auszublenden. Aber es ging nicht. Ich hörte sie schwatzen und lachen. Weinen und schimpfen. Menschen halt. Eine schreckliche Spezies und doch so einzigartig. Sie hatten mir nicht geglaubt, keiner von ihnen obwohl ich sie gewarnt hatte. In alle Medien bin ich gegangen, habe Artikel veröffentlicht und das Internet genutzt. Sogar einen Radioaufruf habe ich gestartet. Alles um die Menschheit vor dieser schrecklichen Bestie, die sich an all ihrem Blut laben wollte, zu warnen. Aber hoffnungslos. Keiner von ihnen hatte mir zugehört. Keiner war bereit gewesen der Wahrheit ins Auge zu blicken. Stattdessen lebten sie ihr Leben weiter und genossen ihre Perfektion, ihre Macht gegenüber den anderen Lebewesen. Wenn sie doch auf mich hören würden! Wenn sie mir doch glauben würden, dass es noch jemanden gab, der noch hundertmal intelligenter war als sie. Und das dieser Jemand ihnen auch noch nach dem Leben trachtete. „Hier sind Sie ja endlich.“ Ich schrak zusammen und kauerte mich noch tiefer in die Ecke. Ein paar Sekunden lang wartete ich darauf, dass sich sie Zähne durch meine Haut bohrten, aber nichts geschah. Ich öffnete die Augen und blinzelte den Mann der vor mir stand an. Es war der Leiter der Psychiatrie. Mein Arzt. Einer dieser Unwissenden, die mir nicht glaubte. Auch er würde sterben, früher oder später. „Kommen Sie, wir fahren zurück zur Klinik.“ Ich schaute zu ihm hoch. „Wir müssen sie warnen. Er ist hier.“ „Wenn er hier ist, dann sollten wir als erstes verschwinden, finden Sie nicht? Am Besten fahren wir zurück in die Klinik, dort sind Sie sicher.“ Ich schüttelte den Kopf, aber niemand beachtete es. Sie zogen mich auf die Beine und trieben mich in Richtung des Autos, wie ein Tier. Als wir auf die breite Straße traten, schaute ich mich um. Immer noch diese unschuldigen Leute. Ein paar Sekunden später saß ich im Fahrzeug und spürte wie der Motor ansprang. Er würde mir folgen, schließlich wusste er, dass ich als Einziger von seiner Existenz wusste. Es war dunkel, ich lag in meinem Bett und starrte an die Decke. Ich hatte drei Stunden zu einer extra Therapie gemusst. Schließlich hatte ich Halluzination und leidete an Paranoia. Glaubten sie alle. Ich wusste es besser. Dieser verdammte Vampir, es gab ihn wirklich. Das Fenster zu meiner rechten quietschte und ich schrak hoch. Wie konnte es quietschen? Ich hatte es zu gemacht. Vorsichtig setzte ich mich auf. Das Fenster war weit offen. Ich schlug die Bettdecke zurück, stand auf, schloss es und legte mich wieder hin. Dann drückte ich auf den roten Knopf. Ein paar Minuten später kam eine Schwester herein. „Jemand war in meinem Zimmer und dieser Jemand wollte mich umbringen.“ „Nein, ich bin sicher, dass niemand hier war. Sie haben bestimmt nur schlecht geträumt.“ „Doch. Er war hier. Sie wissen schon wen ich meine. Am besten ist es, wenn man sich nur noch zu zweit aufhält, ich glaube, dann greift er nicht an.“ „Ihr Vampir existiert nicht.“ „Und wenn doch?“ „Dann sind Sie hier sicher. Versuchen Sie jetzt zu schlafen.“ Dann schloss sich die Tür wieder. Niemand glaubte mir. Wieder quietschte das Fenster. Ich traute mich kaum zu atmen, denn er war hier. Ich wusste es. Ich öffnete die Augen und sah ihn über mir. Sein dunkler Blick drang bis in mein Innerstes und sein kaltes Lächeln ließ mich versteinern, dann beugte er sich weiter zu mir herunter und ich machte mich auf den Tod gefasst. Keuchen schreckte ich hoch und spürte eine Hand an meinem Arm. „Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung.“ Es war eine der Schwestern und am Fußende meines Bettes stand der Arzt. „Bin ich tot?“ Er lächelte ansatzweise. „Nein. Sie sind nicht tot.“ „Aber er war hier. Der Vampir.“ „Es gibt keinen Vampir. Am besten Sie beruhigen sich jetzt ein bisschen und kommen dann zum essen.“ Der Mann lächelte noch einmal, dieses Mal breiter, und ich sah mich um. Sofort fiel mein Blick auf das geöffnete Fenster. Ich wandte mich an die Schwester: „Haben Sie das Fenster geöffnet?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das haben Sie wahrscheinlich gemacht, bevor sie gestern zu Bett gegangen sind.“ Die Schwester verließ das Zimmer und ich starrte mir schreckgeweiteten Augen auf das geöffnete Fenster. Er würde wieder kommen. Nächste Nacht. Kapitel 38: 038 Mulitasking --------------------------- Multitasking Gekonnt angelte Max sich die Papiertüte vom Beifahrersitz und schaffte es gerade noch rechtzeitig abzubremsen, als das Auto vor ihm wegen einer Ampel langsamer wurde. Fluchend ließ er die Tüte in seinen Schoß fallen und als er feststellte, dass sie Ampel auf rot umgesprungen war, ließ er das Lenkrad los und öffnete sie. Gierig griff er den nach Burgern darin, als die Ampel auch schon wieder grün wurde. Da er es eilig hatte, war er nicht bereit zu warten. Außerdem fingen die Leute hinter ihm schon an zu hupen. Er trat auf das Gaspedal und lenkte mit einer Hand um die Kurve, während er in der anderen einen der verpackten Burger hielt, und ihn mit den Zähnen aus seiner Papierhülle befreite. Anschließend biss herzhaft hinein und als er auf eine Landstraße kam, die eine ganze Weile nur geradeaus führte, trat er das Gaspedal durch und ließ das Lenkrad los, um nach der Coladose zu greifen. Während er dabei war, durch den langen Strohhalm das Getränk in sich hineinzuschlürfen, steuerte er den Wagen mit den Ellenbogen, indem er sie auf den Lenker aufstützte. Ohne Probleme ließ er vier Kilometer hinter sich und öffnete gelassen einen weiteren Burger, als sich auf einmal ein Auto vor ihm abzeichnete. Ein Stöhnen entfuhr ihm, er hasste es, wenn er irgendwelche langsamen Sonntagsfahrer vor sich hatte. Er stopfte sich den Rest seiner Mahlzeit zwischen die Zähne und beachtete nicht, dass es so viel war, dass er mit offenem Mund kauen musste. Dann drückte er ungeduldig auf die Hupe, blinkte und setzte zum Überholen an, als er sah, dass ihm auf der anderen Spur jemand entgegen kam. Er nahm den Fuß vom Pedal, reihte sich wieder hinter dem Sonntagsfahrer ein und griff gelassen nach der Coladose. In seinen ohnehin überfüllten Mund goss er sich noch etwas von dem koffeinhaltigen Kaltgetränk, dann scherte er wieder zum überholen aus. Er schluckte einen Teil seines Essens herunter und gab Gas, während er weiterkaute und mit einer Hand schon wieder in der Plastiktüte nach etwas zu essen suchte. Kurz wanderte sein Blick auf die kleine Uhr, was zur Folge hatte, dass er den Motor noch höher trieb. Er war viel zu spät dran. Wie noch ein paar Minuten zuvor biss er mit den Zähnen die Verpackung des dritten Burgers auf und beachtete die entsetzten Blicke der beiden Sonntagsfahrer nicht. Es ging sie schließlich überhaupt nichts an, wenn er ein bisschen zu spät unterwegs war. Seine Zähne versenkten sich in dem labbrigen Burgerbrötchen und geschickte lenkte er das Auto mithilfe seiner Ellenbogen wieder zurück auf die rechte Spur und hoffte, dass ihm nun niemand mehr den Weg versperren würde. Doch er wurde nicht erhört, nur ein paar Kilometer weiter hatte er erneut jemanden vor sich, der sich an die Höchstgeschwindigkeit hielt. Inzwischen mit dem vierten Burger beschäftigt, machte er sich daran, ihn zu überholen, als zu allem Überfluss auch noch sein Handy klingelte. Die Ellenbogen wieder auf den Lenker gestützt, die Cola zwischen den Beinen und den Burger im Mund, zog er das kleine piepende Telefon aus seiner Tasche, nahm ab und klemmte es sich zwischen Ohr und Schulter. Anschließend nahm er den Burger, den er mit den Zähnen festgehalten hatte, wieder in die Hand, legte die andere an den Lenker und fragte sich, wie zum Teufel seine Schwester jetzt dazu kam, ihn zu stören. Er gab Gas, konnte es gerade noch verhindern, dass die Cola überschwappte, als er viel zu schnell wieder auf die rechte Spur wechselte, und schnauzte: „Ich habe einen Termin, bin viel zu spät dran, ständig Sonntagsfahrer vor mir, einen Burger zwischen den Zähnen und eine Cola zwischen den Beinen. Was willst du?“ Kapitel 39: 039 Wüste --------------------- 039 Wüste „Also, heute Abend um neun? Ich hol dich auch ab, damit du nicht laufen musst, wenn es immer noch regnet.“ Das angesprochene Mädchen mit den langen blonden Haaren, wandte sich hin und her. Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, klemmte sie hinters Ohr und schaute ihren Gegenüber nicht an. „Ich weiß nicht“, sagte sie schließlich. Jens, der ihr das Angebot gemacht hatte, beugte sich ein wenig über den Tisch und betrachtete sie stirnrunzelnd. Es war offensichtlich, dass er eine solche Antwort in letzter Zeit anscheinend häufiger bekommen hatte. „Alles in Ordnung?“, fragte er deshalb nur und das Mädchen nickte nur. „Warum sollte irgendetwas nicht in Ordnung sein?“ Der Gefragte lehnte sich wieder zurück und griff nach seinem Glas. Er zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck. „Keine Ahnung. Ist schließlich total normal, dass du momentan jeden Abend alleine zu Hause sitzt, mit keinem mehr redest und ich doch schon zur Tür hinausschleifen musste, damit du mit mir frühstücken gehst und nicht verhungerst.“ Verärgert schaute das Mädchen, das Alisha hieß auf. „Ich verhungere schon nicht, ich bin durchaus in der Lage, mich mit Nahrungsmitteln zu versorgen.“ „Ja, das sehe ich. Was sagt die Waage den morgens zu dir? Fünfzig Kilo bei fast ein Meter achtzig? Oder sind es doch einundfünfzig?“ „Das geht dich einen Scheißdreck an“, fauchte Alisha und öffnete die Wasserflasche, die zwischen ihnen auf dem Tisch stand und ließ ihren inzwischen kalten Kaffee einfach unangerührt stehen. Die gequälte Miene von Jens registrierte sie gar nicht. Sie wusste nicht, dass ihre Clique sich Sorgen machte. Dass viele von ihren Freunden regelmäßig bei ihr vorbeischauten und anriefen, um zu fragen, ob es ihr gut ginge. Wie sollte sie es auch wissen? Das Telefon hatte sie ausgestöpselt, der Akku ihres Handys war kaputt und ihre Klingel hatte sie abgeschaltet. Einfach nur, um das zu bekommen, was sie haben wollte. Ein kleines bisschen Ruhe. Ein kleines bisschen Einsamkeit zum nachdenken. Alisha hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimme, irgendetwas war nicht in Ordnung, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war. Sie konnte einfach nicht den Finger darauf legen, aber ohne zu wissen, wann es geschah, hatte sie die Entscheidung getroffen, dass sie diese Situation genauso handhaben würde, wie die Zeit, in der ihr Vater zum Alkoholiker geworden war. Sich zurückziehen und einschließen. Abwarten bis der Sturm vorbei war, bis die Sandkörner die alles Schöne in ihrem Leben unter sich zu begraben drohten, von einer sanften Brise wieder fort getragen worden war. Bis zum Morgen hatte es funktioniert sich zu verstecken, bis Jens angefangen hatte mit Steinen an ihr Fenster zu schmeißen und sie den Fehler begangen hatte, hinauszuschauen. Zwei Stockwerke unter ihr hatte er gestanden mit einem Gesichtsausdruck der zeigte, dass er sauer war und Alisha hatte es nicht fertig gebracht das Fenster einfach wieder zu schließen. Zwei Stunden hatte es gedauert, doch dann hatte sie sich eine Jacke übergezogen und war zu ihm hinunter gegangen. Und jetzt saßen sie hier, in einem Cafe zwei Straßen weiter. Anfangs war es so gewesen, als wäre alles wie immer. Er hatte ihr viel erzählt, von diesem und jenem, was sie verpasst hatte. Doch jetzt nahm alles eine Wendung, jetzt wollte er eine Erklärung. Alisha würde ihm gerne eine geben. Aber sie hatte keine. Nicht einmal eine kleine. „Es kommen auch nicht viele. Ich glaube, wir wären zu viert, maximal zu fünft mit dir. Nur zwei oder drei Stunden, länger geht ohnehin nicht weil Clara morgen früh Vorlesung und du weißt ja, wie sie dann ist.“ Er zog eine Grimasse, genauso wie früher und auf einmal hatte Alisha ein unglaublich schlechtes Gewissen. Gegenüber allen, die sie ihm Stich gelassen hatte. Einfach so und ohne Grund. Nur wegen diesem Sand, der ihr die Sicht nahm und den Weg versperrte. Sie antwortete nicht, sondern starrte Jens nur wortlos an. Liebend gerne hätte sie sich entschuldigt, bedankt, nein gesagt, ja gesagt. Sie wusste es nicht. Sie konnte es nicht. Sie hatte einfach nichts zu sagen. Und dann sah sie ihn. Diesen Kummer in seinen Augen. Und da wusste sie, dass sie am Abend nicht mitkommen würde. Sie würde es nicht ertragen, dass in allen zu sehen. Dieses Mitleid, dieses Bedauern. Sie wollte sich dem nicht stellen. Sie konnte sich ihm nicht stellen. Es ging einfach nicht. Und auf einmal kamen die Worte ganz einfach aus ihrem Mund. Fast ohne, dass sie es bemerkte. „Leihst du mir deinen Regenschirm? Ich geh nach Hause.“ Ein Teil von ihr bereute es, noch während sie es sagte und der andere redete ihr immer wieder ein, dass die das Richtige tat. „Nein“, antwortete er. Alisha zuckte mit den Achseln. Dann würde sie halt nass werden. Im Aufstehen schlüpfte sie in ihre dünne Jacke und hörte dann Jens Seufzen. „Es regnet wie aus Eimern. Ich fahr dich, warte eine Minute.“ Jetzt schien er nicht mehr sauer. Zumindest nicht darauf, dass sie gehen und sich all dem nicht stellen wollte. Nur darauf, dass sie scheinbar annahm, dass er sie allein durch den Regen laufen lassen würde. Gehorsam wartete das Mädchen. Jens bezahlte, dann gingen sie schweigend zum Auto. Minuten später standen sie vor dem Haus, in dem Alisha eine kleine Wohnung hatte. „Hier“, sagte Jens und drückte ihr eine kleine Packung in die Hand. Überrascht schaute sie auf. „Was ist das?“, fragte sie und er grinste. „Ein neuer Handyakku. Ich weiß doch, dass deiner ständig kaputt ist. Er ist ganz einfach einzubauen, das schaffst sogar du.“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste auch nicht, ob sie sich freute, oder nicht. Deshalb nickte sie nur, steckte das kleine Packet in ihre Jackentasche und sagte: „Danke“, dann öffnete sie die Tür und stieg aus. „Alisha“, hörte sie ihn noch einmal und blieb stehen. Aber sie drehte sich nicht um, um Jens anzusehen. „Heute Abend. Um Acht. Wenn ich nichts mehr von dir höre, hole ich dich ab. Und wag es nicht, mich wieder zwei Stunden vor deinem blöden Fenster stehen zu lassen.“ Dann hörte sie, wie die Fensterscheibe wieder nach unten gedreht wurde. Kurz darauf heulte der Motor leise auf und das Auto verschwand. Mitsamt Jens. Erst jetzt konnte sie wieder tief durchatmen. Jetzt war wieder alles gut. Nur noch sie und der Sand. Dann befühlte sie das Packet in ihrer Tasche. Der Handyakku. Irgendwie wollte sie mitgehen, sie wollte so gerne mitgehen, aber ein Teil von ihr wusste, dass sie doch nur zuhause sitzen würde, auch wenn sie es gar nicht wollte. Aber der Sand, er hielt sie einfach fest. Und dann kam es ihr in den Sinn. Sie musste nicht abwarten, bis die laue Brise kam, die ihn langsam, gang langsam wieder wegwehte. Sie musste ihn selbst beseitigen. Sie hatte keine Ahnung wie, nicht einmal eine Idee, aber mit einem Mal war ihr klar, dass nicht einfach so alles werden würde wie früher, wenn sie abwartete. Sie musste etwas tun, irgendwas. Irgendwie musste sie eine Schaufel und genügend Kraft finden, damit sie den Sand beiseite schippte. Eigenhändig. Sie musste zu einem Bagger werden, der sich nicht aufhalten ließ, ganz egal wie groß die Dünen waren, die ihm die Sicht nahmen. Und mit einem Mal war sie dankbar. Obwohl sie ihn nicht hatte sehen wollte, war sie Jens dankbar dafür, dass er zwei Stunden vor ihrem Fenster gestanden und gewartet hatte. Dass er ihr gesagt hatte, er würde sie heute Abend abholen, während ihm wahrscheinlich klar war, dass sie nicht kommen würde. Aber sie hatte einfach keine Zeit. Sie musste eine Schippe suchen. Eine große. Kapitel 40: 040 Magie --------------------- Magie „Papa, schau mal, ein Schmetterling!“ Ein kleines Mädchen von etwa sieben Jahren lief voller Begeisterung auf das fliegende Geschöpf zu. Die langen blonden Haare waren zu Zöpfen zusammen geflochten worden und während das Kind fröhlich zwischen den Blumen hin und her hüpfte, sprangen sie in die Luft und wirbelten herum. Die kurzen Beine drückten sich immer wieder mit aller Kraft vom Boden ab, um dem Schmetterling zu folgen. So frei zu fliegen, wie er es tat. „Marie! Komm zurück. Mama wollte sich doch die Blumen angucken und nicht irgendwelchen Insekten nachlaufen. Sie wartet bestimmt schon auf uns!“ Enttäuscht hielt das Mädchen inne, aber es drehte sich nicht um, sondern ließ das kleine flatternde Wesen nicht aus den Augen. Mit welcher Leichtigkeit es sich durch die Lüfte bewegte und die Welt mit seiner Schönheit bereicherte! Wie sehr sich das Mädchen in diesem Moment danach sehnte, ebenso fliegen und flattern zu können. Und so schön zu sein, so schön bunt. „Marie, jetzt komm endlich!“ Mit einem Ruck riss sich die Angesprochene los, drehte sich um und lief zurück zu ihrem Vater. Er stand etwa hundert Meter von ihr entfernt und trug - wie fast immer - einen Anzug. Eine Krawatte hatte er sich allerdings nicht umgebunden, auch der oberste Hemdknopf war geöffnet. Marie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er am Morgen verkündet hatte, dass ein kleiner Sonntagsausflug in den blühenden Gärten, die man am Wochenende immer besichtigen konnte, nicht so wichtig waren, als dass er den ganzen Tag zu elegant herumlaufen musste. Er hielt seiner Tochter eine Hand entgegen und Marie ergriff sie ohne weiteres, als sie ihren Vater erreicht hatte. Sie mochte ihn über die Maßen – genau wie ihre Mutter – nur waren ihr ihre Eltern in manchen Momenten zu ernst. Liebend gerne hätte sie sich den Schmetterling noch ein wenig angesehen, aber sie wusste, dass ihre Mama es nicht mochte, wenn sie trödelte und sie wollte nicht, dass ihre Mama böse auf sie war. „Papa, warum können Schmetterlinge fliegen?“ „Sie lernen es, wenn sie noch klein sein. Genau so, wie du laufen gelernt hast.“ Zusammen folgten sie dem Weg, der auf einen Springbrunnen zuführte, an dem Marie bereits ihre Mutter erkannte. Diese war tatsächlich schon ein ganzes Stück vorausgegangen. Das Mädchen ließ sich davon jedoch nicht beirren und zog am Ärmel ihres Vaters, damit er sich ihr wieder zuwandte. „Ist es nicht schwierig zu fliegen, Papa?“ Er schüttelte den Kopf und schenkte ihr ein Lächeln. „Nein, für Schmetterlinge ist es das nicht. Sie können es einfach, springen in die Luft und fliegen, ohne darüber nachzudenken. Wenn du etwas siehst, dann läufst du doch auch einfach darauf zu und denkst nicht darüber nach, dass deine Beine sich bewegen, oder?“ Maries Gesicht nahm einen nachdenklichen Gesichtsausdruck an und sie starrte vor sich hin, als wäre sie in einer anderen Welt. Ihre Schritte wurden langsamer, konzentrierter und wieder entlockte sie ihrem Vater ein Lächeln mit dem, was sie tat. Schließlich verkündete sie: „Nein. Also, ich meine … ich glaube, ich gehe und laufe einfach so. Aber das ist doch auch viel einfacher, als zu fliegen.“ „Alles eine Frage der Übung“, wurde ihr im nächsten Moment geantwortet und begeistert schaute sie zu ihren Eltern auf, denn inzwischen waren sie bei ihrer Mutter angekommen. „Also kann ich auch fliegen, wenn ich ganz viel übe, ja? Genau so wie Peter Pan und Tinkerbell?“ Ihre Augen glänzten voller Vorfreude und ihrem Vater tat es im Innern weh, diese Hoffnung zu Nichte machen zu müssen. Sanft strich er ihr übers Haar und sagte leise: „Nein mein Herz, du kannst nicht fliegen lernen. Der Schmetterling kann ja auch nicht einfach so laufen und rennen, wie du es machst.“ Doch so schnell wollte Marie nicht aufgeben. So schnell ließ sie sich ihren Traum nicht zerstören. „Aber Peter Pan fliegt doch auch! Und er ist auch kein Schmetterling! Er fliegt einfach so durch die Gegend, ganz ohne Flügel!“ Der Angesprochene seufzte, wieder kaum hörbar. „Ja, aber Peter Pan hat ja auch den Feenstaub von Tinkerbell. Er fliegt mit Magie.“ „Und warum-“, begann das Mädchen direkt, doch dieses Mal wurde es von seiner Mutter unterbrochen, die von dieser sinnlosen Unterhaltung scheinbar ein wenig genervt zu sein schien. „Weil es keine Magie gibt, Marie. Nur in Filmen und Büchern, nicht in unserer Welt. Deshalb kannst du nicht fliegen.“ Das brachte die Kleine schließlich zum verstummen. Still, und vielleicht auch ein wenig enttäuscht, schaute sie sich die Blumen und in Form geschnittenen Hecken an, die ihre Mutter so begeisterten. Auch wenn sie sich nicht beschwerte und mit den Gedanken an einem ganz anderen Ort war, so fühlte sie doch die Erleichterung in sich, als sich der Tag endlich dem Ende zuneigte. Ihr Vater spürte ihr Ungeduld und das Verlangen, den Garten endlich zu verlassen und nicht mehr über die fein geharkten Wege laufen zu müssen. Während Maries Mutter noch ein paar Fotos machte, drückte er ihr aufmunternd die Hand. Sie rang sich ein Lächeln ab, doch im selben Moment sah sie etwas, dass ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Mann mit einem Zylinder stand nahe dem Ausgang. Vor ihm lag eine schwarze, große Tasche und das Mädchen konnte trotz der Entfernung die bunten Bälle darin erkennen. Begeisterung und Faszination durchströmten sie und ohne ein weiteres Wort machte sie sich von ihrem Vater los und rannte darauf zu. Sie lief, ohne darüber nachzudenken, dass sie lief. Noch bevor sie an ihrem Ziel angekommen war, begann der Mann mit den Bällen zu jonglieren. Erst drei, dann vier und schließlich fünf. Fünf Stück! In verschiedenen Farben, immer höher und höher. Marie hörte, wie sie gerufen wurde, doch sie beachtete es nicht und rannte weiter. Sie sah, dass die Tasche beinahe komplett gefüllt war und der Jongleur mit Sicherheit schon alles gepackt hatte, um Feierabend zu machen. Doch nur für sie ließ er die Bälle noch einmal durch die Luft tanzen, ließ sie fliegen. Mit großen Augen betrachtete Marie das Spektakel und musste den Kopf in den Nacken legen, um alles sehen zu können. Zum Schluss wurden es wieder weniger Bälle. Aus fünf wurden vier, dann auf einmal waren es nur noch drei und schließlich hörte der Mann ganz auf und ließ die Bälle geschickt in seine Tasche kullern. „Wie machst du das?“, wollte Marie sofort wissen und ließ dem Jongleur keine Sekunde Ruhe. „Bälle können doch gar nicht fliegen und durch die Luft tanzen. Man kann sie nur werfen, aber richtig alleine fliegen - so wie eben – das können sie doch gar nicht!“ Der Mann lächelte, schloss die Tasche und antwortete: „Magie.“ „Quatsch“, widersprach das Mädchen direkt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das gibt es in Filmen und Büchern, aber nicht in Wirklichkeit“, erklärte es selbstbewusst. „Hat meine Mama mir erklärt.“ Der Fremde lächelte noch immer, beugte sich ein wenig vor, so dass sein Gesicht ganz nahe an Maries war und flüsterte: „Natürlich gibt es Magie.“ Dann zauberte er geschickt eine Münze hinter ihrem Ohr hervor und zwinkerte. „Man muss nur ganz fest daran glauben.“ Kapitel 41: 041 Märchen ----------------------- 41 Märchen Es war ein wunderschöner, sonniger Tag, als das kleine Mädchen beschloss, dass es seine Großmutter besuchen wollte. Es griff nach seiner blauen Kapuzenjacke und dem Rucksack, der unter der Garderobe stand. Es stopfte einige Süßigkeiten und eine große Flasche Cola hinein, so wie die Blumen, die es mitnehmen sollte. Anschließend machte es sich auf den Weg. Gut gelaunt hüpfte es den Weg entlang und achtete darauf, immer auf dem Bürgersteig zu laufen. Ihre Großmutter hatte ihm einmal erzählt, dass an dieser Stelle vor vielen Jahren, als sie selbst noch ein Kind gewesen war, nur ein schmaler, einsamer Pfad verlaufen war. Heute hingegen befand sich hier eine breite und stark befahrene Straße, die nur einen schmalen Bürgersteig ihr Eigen nannte. Das Mädchen setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und achtete darauf, nicht von einem der großen Lastwagen gefressen zu werden. Es dauerte jedoch nicht sonderlich lange, bis ihm anfingen die Beine zu schmerzen. Die Kleine ging nur selten zu Fuß, meistens wurde sie von ihrer Mutter überall hin gefahren. Das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass der Knopf ihrer Hose sich nicht mit richtig schließen ließ. Die blaue Kapuzenjacke wurde auch langsam eng, aber das war nicht weiter schlimm, sie würde ihrer Mama einfach sagen, dass sie eine neue brauchte und dann würden sie zusammen einkaufen gehen. Tapfer stapfte das Mädchen weiter, aber nach ein paar hundert Metern gab es schließlich vorerst auf. Erschöpft ließ es sich auf seinen Hosenboden fallen und atmete tief ein. Dann zog die Kleine den Rucksack zu sich heran und holte die große Colaflasche heraus Sie war soweit gelaufen, da hatte sie sich das verdient. Als sie, nachdem sie einen großen Schluck genommen hatte, nach den Süßigkeiten suchte, fielen die Plastikblumen aus dem Rucksack. Ihre Mutter hatte extra künstliche mitgebracht, da die Großmutter ohnehin keine Lust hatte, die Blumen zu gießen, weshalb echte Pflanzen schnell eingingen. Während das Mädchen am Straßenrand saß und die Süßigkeiten in sich hineinstopfte, wurde es beobachtete, doch das bemerkte es nicht. Ein paar hundert Meter entfernt hockte zwischen den Bäumen ein Wolf, der das Kind genau im Blick hatte. Die rote Zunge hing ihm aus dem Maul und verzweifelt hoffte er darauf, dass das Mädchen sich ihm in wenigen Minuten näherte. Er hatte extra darauf geachtet, sich ganz in der Nähe der schönsten Blumenwiese zu platzieren, denn vor einigen Generationen hatte einer seiner Vorfahren es genau an dieser Stelle geschafft ein Mädchen, das allerdings einen roten Mantel getragen haben soll, zu überreden, Blumen für seine Großmutter zu pflücken. So hatte er es damals geschafft sowohl das Kind, als auch die Oma hinters Licht zu führen und sie beide aufzufressen. Die Geschichte hatte für den armen Wolf zwar kein gutes Ende genommen, aber dennoch wurde sie von Generation zu Generation weitergegeben. Und jetzt hatte der junge Wolf, der im Gebüsch hockte, die einmalige Chance es seinem Vorfahr gleichzutun. Alles in ihm war angespannt, als er schließlich sah, wie das Mädchen sich erhob, die Sachen packte und den Bürgersteig der Straße verließ, um direkt auf ihn zu zukommen. Der kürzeste Weg zum Haus der Großmutter führte über diese Blumenwiese, das wusste der Wolf genau. Es fiel ihm schwer, das instinktive Schwanzwedeln zu unterdrücken, aber er gab sich alle Mühe, schließlich wollte er sich nicht frühzeitig verraten. Doch es dauerte ungewöhnlich lange, bis das Mädchen die Wiese erreichte und der Wolf bemerkte, dass die Kleine nur langsam vorwärts kam. Als es schließlich doch in Reichweite war, sah der Wolf, dass sie einen Strauß Plastikblumen in den Händen hielt. Wir sollten er sie jetzt überreden Blumen zu pflücken, so wie es sein Vorfahr getan hatte? Das Kind kam immer näher und je näher es kam, desto offensichtlicher wurde es, wie dick es war. Der Wolf war so überrascht, dass sogar der Drang zum Schwanzwedeln verschwand. Wie sollte er ein solches Kind verschlingen? Es war zu groß, zu dick und es passte schlichtweg nicht in seine Magen. Erst Recht nicht zusammen mit der Großmutter, die auch noch auf seinem Speiseplan stand. Er kauerte sich zusammen und ließ seinen Kopf winselnd auf seine Vorderpfoten sinken. Das Mädchen hörte das Winseln des enttäuschten Wolfes nicht, sondern ging einfach daran vorbei, während das Tier es vorbeiziehen ließ. Und die Moral von der Geschicht’, dicke Kinder frisst man nicht ;) Kapitel 42: 042 Ablehnung ------------------------- 042 Ablehnung Meine Beine sind bereits eingeschlafen. Ich habe sie nah an meinen Oberkörper herangezogen und sie mit meinen Armen umschlungen. So, als will ich sichergehen, dass sie mir keiner wegnimmt. Das Sofa auf dem ich sitze und warte sinkt immer weiter ein, als würde es nach so langer Zeit in der ich mich nicht gerührt habe und einfach nur dasitze, keine Kraft mehr haben mich zu tragen. Ich warte förmlich darauf, dass es einbricht. Das wäre dann der absolute Höhepunkt meines ohnehin nicht mehr zu rettenden Tages. Ein Seufzen entfährt mir und ich vergrabe mein Gesicht in den Armen. Nichts anderes als Reue ist in mir. Füllt mich aus. Vollkommen. Diese Schuld, die mich niederdrückt. Hässlich. Anfangs habe ich mir noch einreden können, dass ich betrunken gewesen bin. Nein, das habe ich mir nicht eingeredet. Das ist Fakt. Aber ich habe mich verzweifelt an den Gedanken geklammert, dass das eine Entschuldigung ist. Für das. Was passiert ist. Der Wein rinnt meine Kehle hin. Es ist mein erstes Glas, vorher habe ich nur Cocktails getrunken. Sex on the beach. Alles harmlos. Ich schaue mich um. Ich bin nicht alleine hier, jemand begleitet mich. Wer? Ein Gesicht taucht in meinen Gedanken auf. Verschwommen. Ich betrachte das Glas. Es ist bis knapp zu Hälfte gefüllt. Der Wein schmeckt fürchterlich. Ich mag keinen Wein. Und ich bin noch nicht betrunken genug, als dass ich ihn jetzt genießen könnte. Glaube ich. Ich schließe die Augen und kippe die Flüssigkeit einfach in mich hinein. Dann stehe ich auf. Suche nach dem Toilettenzeichen. Meine Beine stolpern los. Der Boden wackelt. Als geht die Welt unter. Einfach so. Ich suche nach Halt. Ich klammere mich an irgendeinen Arm, der mich vor einem Sturz bewahrt. Ich stolpere weiter. Durch die tanzende Menge. Der Bass dröhnt. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Mein Herz schlägt passend zum Beat. Glaube ich. Der Boden klebt. Alles dreht sich. Ich falle. Wieder wandern meine Gedanken in Richtung einer Aspirin. Diese Kopfschmerzen. Mein Hirn dröhnt, als hätte ich wochenlang Drogen genommen. Dabei habe ich nur getrunken. Alkohol. Ein paar Stunden. Und dennoch zu lange. Einfach zu viel. Ich gönne mir keine Tablette. Ich habe es verdient zu leiden. Richtig zu leiden. Bis er da ist. Und mir vergibt. In meinem Magen rumort es, doch da ist nichts mehr, was ich erbrechen könnte. Dafür habe ich in der vergangenen Nacht einfach zu häufig die Kloschüssel umarmt. In mir ist nichts. Gar nichts. Nur Restalkohol und ein schlechtes Gewissen. Eine unglaublich widerliche Kombination. Was wenn nicht alles wieder gut werden würde? Bei dem Gedanken daran wird mir übel. Das Gefühl ist noch intensiver als das, das mich bei dem Gedanken an Alkohol heimsucht. Und bereits das ist zum kotzen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Hände. Hände, die mich auffangen. Lichtblitze. Musik. Ein Gesicht, schiebt sich in mein Blickfeld. Unbekannt. Sie lassen mich nicht los, die Hände fahren über meinen Körper. Ich will mich losreißen, doch so sehr ich mich bemühe, ich kann es nicht. Kann es einfach nicht. Mein Körper gibt sich hin, beginnt zu tanzen. Bewegt sich. Bass. Stimmung. Schweiß. Sie sind noch immer dort, die Hände. Doch sie stören mich nicht. Nicht mehr. Das Gesicht. Unbekannt. Es kommt näher. Alles dreht sich. Atem. Lippen. Der Blick seines Mitbewohners liegt auf mir, ich weiß es genau. Ich kann es förmlich spüren. Das nagende Gefühl in mir verstärkt sich immer mehr. Er weiß, was passiert ist. Er hat mich gesehen. Zusammen mit ihm. Sie waren zufällig auch dort gewesen. Sie waren da und haben mich beobachtet. Sie waren dabei, als mich der Alkohol meine Prinzipien vergessen ließ. Meine Erziehung. Meine Liebe. „Ich weiß nicht, wann er kommt“, höre ich ihn sagen. Ich ignoriere ihn, denn es ist völlig egal, wann er kommt. Wichtig ist nur, dass ich mit Kopfschmerzen, ohne Aspirin und voller Reue und Verzweiflung auf seinem Sofa sitze und auf ihn warte. Um mich zu entschuldigen. Auch wenn es noch Tage dauern würde, bis er zur Tür hereinkam. Ich würde hier sitzen. Und betteln. Um Vergebung. Tränen brennen in meinen Augen, doch ich gebe mein Bestes sie nicht zu weinen. Man soll nicht um Dinge weinen, die noch gar nicht verloren sind. Hat meine Oma gesagt. Noch nicht verloren. Noch. Das Sonnenlicht, das durchs Fenster scheint wird immer schwächer und ich ignoriere das Ticken der Uhr. Versuche, die Sekunden nicht weiter zu zählen. Verlangen. Es brennt in mir. Gier, die mich auffressen will und dieser unglaubliche Durst in meiner Kehle. Lippen. Haut. Zunge. Blicke. Auf einmal liegen sie auf mir. Seltsam schwer. Ich kämpfe wieder darum mich loszureißen. Unbehagen. Dann sehe ich ihn. Wie er am Rand der Tanzfläche steht und mich dabei beobachtet. Wie ich ihn betrüge. Mit diesem harten Gesichtsausdruck schaut er mich an. Schaut mich einfach nur an. Ich versinke. Eine Hand streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ganz vorsichtig und schüchtern. Ich sehe auf und blinzle den Schlaf aus meinen Augen. Er ist da. Steht vor mir und sieht mich an. Seltsam. Wie er mich noch nie angesehen hat. „Ich…“, setze ich an, doch sein leichtes Kopfschütteln lässt mich verstummen. Sein Blick ruht auf mir. Blaue Augen. Wie das Meer. Oder der Himmel. Traurige Augen. Ein trauriges Lächeln. Die Uhr springt auf halb elf. „Geh nach Hause“, flüstert er. Noch trauriger. „Ich…“, setze ich erneut an, doch er unterbricht mich. „Bitte. Geh einfach nach Hause.“ Noch ein kurzer Blick. Eine hilflose Geste mit seinen Händen. Dann dreht er sich um. Und geht. In sein Zimmer. Ich lausche. Stumm. Eine Träne rinnt über meine Wange. Der Schlüssel in der Tür dreht sich. Ich kann es hören. „Es tut mir Leid“, murmele ich. Ganz leise. Eine zweite Träne sucht sich ihren Weg. Ich kann es spüren. Dann eine dritte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)