Mosaik von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Dreist ----------------- Hey Ho :-)! Dies ist meine erste Story, bei der ich den Mut gefunden habe, sie hochzuladen (und das auch nur auf Drängen meiner besten Freundin - danke, Dir^^!). Ich hoffe, Ihr mögt meine Jungs und amüsiert Euch gut :-). Liebe Grüße, BlueMoon ___________________________________________________________________ Es begann an einem Sonntag, dem 30. September des Jahres 2007 um sechzehn Minuten nach Elf. David Spandau steckte gerade bis zu den Ellbogen in einem Fass mit Taubenfutter und versuchte sich die letzten Noten seiner letzten Komposition in Erinnerung zu rufen, als ein befehlsgewohnter Ruf durch die Scheune wehte: „David?! Ah, da bist du ja. Komm raus und hilf mal beim Abladen!“ Der Angesprochene hob den Kopf und strich sich eine blondgelockte Haarsträhne aus den Augen. Im Scheuneneingang, gleich neben der Tierannahme, stand seine Chefin Bettina Eschenbach und sah zu ihm hinüber. Ihr ergrautes Haar ging ihr fast bis zu den Schultern, um den Hals hatte sie ein buntes Tuch geschlungen. „Der neue Zivi ist mit seinen Umzugssachen da,“ erklärte sie, „Die Anderen sind schon bei der Arbeit.“ Ah ja, der neue Zivi. David wusste, dass er aus Hamburg kam und daher ebenfalls im Zentrum wohnen würde, genauso wie er selbst. Er würde also einen Nachbarn bekommen. Was der Neue wohl für ein Typ war? „Ich komme,“ erwiderte David, ließ die Box, die er mit Taubenfutter hatte füllen wollen, in dem Fass liegen und erhob sich. Er folgte seiner Chefin nach draußen, wo ein großer Umzugswagen auf dem kleinen, gepflasterten Hof stand und sich beinahe gegen die hohe Eiche lehnte, die sich in der Mitte des Hofes dem blauen Himmel entgegen reckte. Auf dem Hof herrschte reger Betrieb. Alle Mitarbeiter des Zentrums, die für den Wochenenddienst eingeteilt waren, hatten ihre normale Arbeit unterbrochen, um Möbel zu schleppen. Eric und Ben zwängten soeben einen relativ großes Regal durch die Tür schräg gegenüber, auf der ein gelbes Schild mit der Aufschrift Betreten verboten prangte und die in den Wohnbereich der Zivildienstleistenden führte. Miriam und Freddy wuchteten Umzugskartons von der Ladefläche des Umzugswagens. „David, komm her!“, befahl Freddy rau von der Ladefläche hinunter, sobald David aus der Scheune getreten war, und wischte sich über die schweißnasse Stirn, „Schnapp dir mit Miriam den Teppich, der muss hoch.“ Er deutete auf einen eingerollten, grünen Teppich, der auf zwei nebeneinander stehenden Kisten lag und annähernd drei Meter lang war. „Alles klar,“ erwiderte David und Miriam sprang von dem Wagen hinunter. Sie packten den Teppich, an seinen beiden Enden – David hinten – und setzten sich in Bewegung. Gemeinsam trugen sie den Teppich durch die Tür und die enge Treppe hoch, die zu den drei Zimmern hinaufführte, in denen die Zivis schliefen. Oben am Treppenabsatz angekommen, wollte David sich automatisch nach rechts wenden, zu den beiden leeren Zimmern und den Teppich in einem von ihnen ablegen. Doch Miriam führte ihn zielgerichtet nach links – in Davids eigenes Zimmer. „Äh, Moment mal...,“ japste er, folgte ihr aber. Ihm blieb ja auch gar nichts Anderes übrig. So passierte er nach Miriam und dem Teppich die Türschwelle und – traute seinen Augen nicht. Alle seine Möbel waren verschwunden, der Kleiderschrank, sein Tisch, sein Stuhl und auch die drei Matratzen, auf denen er schlief. Nur noch seine beiden Ärzteposter hingen an den sonnengelben Wänden. Stattdessen befanden sich nun das Regal, ein riesiges Doppelbett und ein teurer Schreibtisch im Zimmer und dazwischen stand ein großer, junger Mann, den David noch nie gesehen hatte. Offenbar der Neue. „Das Regal noch etwas weiter nach links...,“ sagte er gerade zu Eric und Ben, die mit missmutigen und verschwitzten Gesichtern besagtes Regal an einer der Wände hin und her schoben, „Ja, so ist es gut, denke ich...,“ er wandte sich zu David und Miriam um, die das Zimmer soeben betreten hatten, „Ah, da ist ja mein–,“ „Was ist mit meinem Zimmer passiert?!“, fragte David fassungslos und ließ sein Teppichende auf den Boden fallen. „Ah, dann bist du wohl David!“, stellte der Fremde fest und nahm seine dunkle Sonnenbrille ab. Sein Gesicht war markant und gutaussehend, seine Augen braun wie Eichenholz. Interessiert besah er sich sein Gegenüber genauer. „Mhm... Nicht übel...,“ entschied er, David starrte ihn an, „Man hat mir schon gesagt, dass dies dein Zimmer war. Es ist größer als die anderen beiden, daher habe ich es bezogen. Deine Sachen stehen jetzt im ersten Zimmer rechts. Das stört dich doch nicht, oder?“ David setzte zu einer zornigen Antwort an, doch der neue Zivi schnitt ihm das Wort ab: „Cool von dir!“, er ging zu der Wand hinüber, an dem noch Davids Poster hingen und riss sie mit einer fließenden Bewegung ab, „Hier...,“ er reichte sie David, „Die kannst du drüben wieder aufhängen. So, was fehlt jetzt noch? Ah ja, meine Kraftstation und alle Kisten.“ David konnte es nicht fassen. Wer war dieser Lackaffe überhaupt, der wie aus dem Nichts auftauchte und mal eben beschloss, ihn auszuquartieren? Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte in das erste Zimmer auf der rechten Seite. Dieser Raum war wesentlich kleiner als der links, die Wände waren vergilbt und in den Ecken spannten sich Spinnennetze. Überall verteilt standen und lagen seine Eigentümer, der Schrank, der Tisch, dazwischen Bücher, CDs und Klamotten. Seine Matratzen waren nachlässig in einer Ecke aufeinander gestapelt worden. Fluchend klatschte David die beiden Poster auf den kleinen Tisch und sah sich sprachlos um. „Ich glaub’s nicht...,“ presste er durch seine Zähne hindurch. Als er hinter sich Schritte hörte, wirbelte er herum. Miriam hatte das Zimmer betreten und blickte sich ebenfalls um. „Schöne Scheiße...,“ murmelte sie, fuhr mit dem Zeigefinger über eine der Wände und beäugte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre Fingerkuppe war dunkel und staubig. „Das ist hier ein einziges Loch!“, fauchte David ungehalten über das Poltern hinweg, mit dem Ben und Eric die Treppen wieder hinunter hasteten, um Mr. Obercools Kraftstation zu holen, „Das war mein Zimmer und jetzt kommt dieser...Typ...und... Wer, zum Teufel, ist das überhaupt?“ „Der neue Zivi,“ sagte die FÖJlerin schlicht. „Und seit wann können die machen, was sie wollen?!“ „Seit sie Neffen der Chefin sind...,“ David verschlug es die Sprache. „Er...er ist der Neffe von Bettina?“ „Ja, leider...,“ seufzte Miriam, „Daher durfte er dir auch das Zimmer abnehmen. Ich hab gehört, wie er zu Bettina sagte, dass sein Kram unmöglich in das Zimmer hier passt und da meinte sie, dass er deins haben könnte, weil du nicht soviel Platz brauchst.“ „Aber...,“ David schluckte, „Das ist nicht fair. Ich habe voll viel Arbeit in das Scheißzimmer gesteckt, habe es frisch gestrichen und alles und sie kann doch nicht einfach über meinen Kopf entscheiden...,“ Ihm versagte die Stimme. Gerade in diesem Augenblick hatte er seinen wertvollsten Besitz hinter seinem Kleiderschrank liegen sehen. „Alter...,“ stieß er hervor, bahnte sich hastig einen Weg durch sein Eigentum und hob sein Cello vom mäßig sauberen Fußboden auf, „Wie kann der Scheißkerl es wagen?!“ „Wie bitte?“, vernahm er eine gedehnte Stimme von der Tür. David drehte sich um. Der Scheißkerl lehnte sich lässig gegen den Türrahmen. „Hör mal zu!“, brauste David auf, zwängte sich an seinem Tisch vorbei, sodass die beiden Poster hinunter rutschten, und reichte der verdutzten Miriam wortlos das Cello. Dann baute er sich vor dem Neuen auf, was allerdings nur wenig Eindruck machte, da er einige Zentimeter kleiner war, „Über das Zimmer hätten wir reden können, auch wenn ich es total kackendreist finde, dass du mich noch nicht mal gefragt hast, aber dass du mein Cello einfach auf dem Boden ablegst–,“ „Wo hätte ich es denn bitte sonst ablegen sollen?“, fragte der Neue grinsend. „NA, IN DEN KOFFER VIELLEICHT?!“, brüllte David ihn an, dieses überhebliche Grinsen brachte ihn in Rage, „Ich schwör dir, wenn da auch nur ein Kratzer drin ist, dann bezahlst du mir die Neulackierung!“ „Warum schreist du hier so herum, David?“ Natürlich. Jetzt musste auch noch die Chefin auftauchen. Mühsam wandte David den Blick von dem arroganten Neuling ab, der ihn unablässig grinsend beobachtete, und schaute zu Bettina Eschenbach hinüber, die am Treppenabsatz erschienen war. Er war zornig und fühlte sich ungerecht behandelt, doch es lag weder in seiner Natur, andere aus dem Team – auch wenn sie noch nicht richtig zum Team gehörten – bei der Chefin anzuschwärzen, noch vor der Chefin herum zu jammern. Also schloss er den Mund, schluckte seine Wut hinunter und sagte: „Es ist nichts, ich...habe mich nur über den...plötzlichen Zimmerwechsel etwas...erschrocken...,“ Das war maßlos untertrieben und alle, die im Raum standen, wussten das. „Ah ja, das hatte ich vergessen, dir zu sagen,“ meinte Bettina sorglos und trat nun ebenfalls in das Zimmer, während Freddy, Eric und Ben hinter ihr Umzugskartons die Treppe hoch schleppten, „Aber für deine Sachen reicht es ja aus und wir haben auch noch was von der Wandfarbe im Keller. Dann kannst du ja hier auch noch mal streichen,“ sie wandte sich an ihren Neffen, „Am besten wir regeln das gleich mit deinem Vertrag. Gehn wir ins Büro, deine Sachen kannst du danach in aller Ruhe einräumen.“ „Ich komme,“ meinte der Neue, grinste David an und zwinkerte ihm tatsächlich zu. Dann folgte er Bettina aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. David starrte ihm mit offenem Mund nach. „Dieser Kerl hat sie doch nicht mehr alle...,“ zischte er. „Da bin ich ganz deiner Meinung...,“ seufzte Miriam und trat neben ihn, sein Cello noch immer in den Armen, „Der wird bestimmt eine tolle Bereicherung für unser Team.“ David stöhnte auf und ließ die Schultern hängen. „Ja, richtig... Der bleibt ja jetzt...,“ Missmutig schaute er sich in seinem neuen Zimmer um. Sein Blick fiel auf das einzige Fenster, wo das Sonnenlicht matt durch die verschmierte Glasscheibe schien. Im Gegensatz zu den beiden großen Fenster in seinem alten Refugium hatte es keine Vorhänge. „Mach dir keine Sorgen,“ sagte die FÖJlerin tröstend, legte sein Cello auf den Matratzen ab und ihre Hand auf seine Schulter, „Ich helfe dir beim Einräumen deiner Sachen und beim Streichen auch.“ Er sah sie an. „Echt, das würdest du machen?“ „Klar,“ sie lächelte, einige honigblonde Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Knoten gelöst und fielen ihr in die grünbraunen, von langen dunklen Wimpern umrahmten Augen, „Wir können gleich nach Feierabend anfangen, wenn du magst.“ „Oh ja, das wär super. Danke, Miri!“ „Kein Problem!“ Sie sahen Eric und Ben dabei zu, wie sie schimpfend ein sperriges Fitnessgerät die Treppe hoch hievten und gingen dann wieder zurück auf den Hof. Der Umzugswagen war verschwunden und Freddy saß allein auf dem letzten Umzugskarton und rauchte. Als David und Miriam durch die Tür den Hof betraten, sah er auf. Der Tierpfleger war schlank und kräftig gebaut und sein Haar so kurz, dass man die Farbe unmöglich feststellen konnte. „Na...?“, sagte er mit seiner tiefen, rauen Stimme und zog gierig an seiner Zigarette, „Hast du dich mit deinem neuen Zimmer angefreundet?“ David schnaubte grimmig und verschränkte die Arme. „Ich pack’s immer noch nicht richtig.“ „Glaub ich dir. Ich sag’s euch, mit dem Typen werden wir noch ne Menge Ärger haben,“ prophezeite Freddy und schnippte Asche auf den mit Natursteinen gepflasterten Hof, „Solche Typen kenne ich...,“ David seufzte. „Soll ich die Kiste noch hoch schleppen?“, fragte Miriam den Tierpfleger. „Nee, danke, das mach ich gleich noch,“ brummte Freddy und zertrat den Glimmstängel auf dem Boden, „Du kannst dich wieder um die Papageien kümmern.“ „Okay,“ sie wandte sich an David, „Wir treffen uns nach Feierabend in der Zivi-Küche?“ „Ja, gut.“ Sie lächelte ein letztes Mal und verschwand dann wieder in der Scheune. Freddy und David sahen sich nachdenklich an. „Tja... Nicht jeder kann Neffe der Chefin sein,“ sagte Freddy schließlich und grinste schief. „Aber warum unbedingt so einer?“ „Keine Ahnung,“ er hob die zertretene Zigarette vom Boden auf und erhob sich, „Ich schlepp den letzten Karton jetzt noch hoch und dann mach ich mich auch wieder an die Arbeit. Ich will die Nord noch vor der Mittagspause fertig kriegen.“ David nickte. „Dann bis später, ich muss auch.“ Während der Tierpfleger seine Zigarette in den Aschenbecher warf, der auf dem Fensterbrett neben der Tür stand, ging David wieder in die Scheune, zurück zu seinem Fass mit Taubenfutter. Kapitel 2: Nackt ---------------- David saß in der Zivi-Küche auf der Bank am Esstisch, rührte in seiner zweiten Tasse Kaffee und gähnte. Es war fünf nach acht und außerdem Montag. Kein gutes Omen. Er und Miriam hatten am vergangenen Abend noch bis halb zwölf sein neues Zimmer ausgeräumt, gesäubert, mit Zeitung ausgelegt und fröhlich gelb gestrichen. Die FÖJlerin hatte in ihrer eigenen Wohnung unterm Dach noch hellblaue Vorhänge für ihn gefunden und nun sah sein neues Zimmer gar nicht schlecht aus. Nur die Einrichtung ließ noch etwas zu wünschen übrig, da sie zum Schluss alles nur noch blindlings hineingestellt hatten, um schnell in die Federn zu kommen. Heute Abend würde er seine Möbel solange hin und her rücken, bis alles hinein passte und halbwegs wohnlich wirkte. Den neuen Zivi, von dem er noch immer nicht den Namen kannte, hatte er an diesem Abend zum Glück nicht mehr gesehen. Besser so, vielleicht hätte er ihn sonst niedergeschlagen. Inzwischen war seine Wut weitesgehend verraucht. Vielleicht hatten er und Mr. Obercool ja nur einen schlechten Start gehabt. Vermutlich war er gar nicht so übel. Außer David waren Freddy und Sebastian schon da. Sebastian, wie Eric ein ehrenamtlicher Mitarbeiter, saß neben David und las die Bildzeitung, die Heiko wie jeden Morgen mitgebracht hatte. Sein Cap verdeckte sein kurzes schwarzes Haar, an seinem linken Ohr baumelte ein goldener Ring. Freddy lehnte am geöffneten Fenster, das zum Parkplatz hinaus führte, und rauchte schweigend. Auf der Fensterbank standen ein Aschenbecher und seine Kaffeetasse. In diesem Moment klingelte es an der Tür, die in den Hof führte. „Ich geh schon...,“ murmelte David, stemmte sich vom Tisch hoch und schlurfte durch den Flur, an der kleinen Küchenzeile und der Tür zum Zivi-Bad vorbei, um zu öffnen. Es war Linda und sie strahlte, wie jeden Morgen. „Hallo!“, flötete sie gut gelaunt. „Morgen...,“ brummte David und schloss die Tür hinter ihr wieder. „Wasn mit dir los?“, fragte Linda verwundert, „Wenig Schlaf gehabt?“ „Das kannste laut sagen...,“ er gähnte ein weiteres Mal, während sie hintereinander zurück in die Zivi-Küche gingen und er auf ihren kastanienbraunen Pferdeschwanz blickte, der ihren Nacken streichelte, „Bin erst nach halb eins ins Bett gekommen.“ „Oh, dann versteh ich das. Guten Morgen!“ „Morgen, Kleine,“ Sebastian wandte sogar den Blick von der Zeitung ab, um ihr strahlendes Lächeln zu erwidern. „Morgen,“ knurrte Freddy, allerdings nicht unfreundlich. „Schönes Wochenende gehabt?“, erkundigte sich Linda und ließ sich auf das kleine Sofa fallen, das dem Esstisch gegenüber an der Wand stand. „Joa, war ganz schön,“ lächelte Sebastian. „Mhmpf...,“ machte Freddy. An der Tür zum Hof klackerte es und kurz darauf flog sie auf. Mit ein paar großen Schritten hatte Heiko den Flur durchquert. „Guten Morgen, Heiko!“, trällerte Linda. „Halt die Schnauze!“, erwiderte Heiko schlicht und stürmte an dem Esstisch vorbei, durch die Tür, die links in den Seminarraum und von da über eine kurze Treppe zu den Büroräumen führte. „Gute Laune wie immer,“ kommentierte Linda diese Beleidigung und grinste. „So kennen und lieben wir ihn...,“ schmunzelte David. „Habt ihr den neuen Zivi schon kennen gelernt?“, fragte die Praktikantin arglos an die drei Jungs gewandt. Sebastian schüttelte den Kopf, Freddy grinste schief und David schnaubte. „Aha,“ machte Linda, „Soll heißen?“ „David hat ihn schon von seiner liebenswertesten Seite kennen gelernt,“ frotzelte Freddy. Linda wandte sich wieder an David. „Ach ja? Was hat er getan?“ In kurzen Sätzen berichtete David ihr von dem erzwungenen Zimmertausch und der Dreistigkeit, mit der ihn der Neue behandelt hatte. „Nicht ernsthaft?“, Linda starrte ihn fassungslos an, „Was ist denn das für nen Scheißverhalten? Und Bettina hat das zugelassen?“, ungläubig schüttelte sie den Kopf, „Das ist echt voll mies. Hast du denn alles geschafft? Wenn nicht, kann ich heute gern etwas länger bleiben und dir noch helfen.“ „Lieb von dir, aber den Rest schaff ich wohl allein. Danke.“ Er lächelte. Heiko kam die Treppe zu den Büroräumen wieder hinunter getrampelt, knallte die Tür hinter sich zu und warf sich auf einen der beiden Stühle am Tisch, seinen erklärten Privatstuhl. Er war groß und schlank, Mitte Vierzig und hatte für einen Mann auffällig lange Wimpern. „Gibt’s noch Kaffee?“, raunzte er und schnappte sich seine Tasse, die immer auf dem Radio neben ihm stand und nie ausgewaschen werden durfte. „Nimm dir...,“ erwiderte David, der wieder neben Sebastian Platz genommen hatte und an seinem eigenen Kaffee nippte. „Was ist los, Lockenkopf?“, wollte Heiko von ihm wissen, während er die Kaffeekanne packte und sich Kaffee in die Tasse schüttete, „Du siehst ja noch beschissener aus als sonst.“ „Die Nacht war kurz,“ entgegnete David. „Der neue Zivi hat ihn gezwungen, in eins der beiden Zimmer rechts umzuziehen,“ erklärte Sebastian und klatschte die Bildzeitung auf die Tischplatte, „Ihm waren sie zu klein.“ „Dieser geleckte Hanswurst?“, Heiko zog die Zuckertüte zu sich und löffelte sich mehrmals mit seinem nassen Kaffeelöffel Zucker in die Tasse, „Ist das nicht der Neffe von Miss Finster?“ „Ja, genau, deshalb kann er sich so was auch erlauben...,“ murrte David. „Mach dir nix draus, Lockenkopf. Hast du denn alles für dein neues Zimmer?“, erkundigte sich Heiko und zog sich die schwarze Mütze, die er immer trug, tiefer in die Stirn, „Sonst besorg ich dir noch was. Ich muss heute Nachmittag eh zum Baumarkt.“ „Nein danke, Heiko. Ich habe alles, was ich brauche.“ Das war typisch für den zweiten Tierpfleger. In einer Sekunde war er beleidigend und unfreundlich, in der nächsten fürsorglich und sanft. Es klingelte wieder an der Tür. Diesmal ging Linda die Tür öffnen und kam mit Eric zurück, dem großen, breiten und bebrillten Reptilienfreund. „Morgen,“ sagte er lächelnd. „Morgen,“ machten die Anderen im Chor. Um fünf vor halb neun rauschte Bettina Eschebach – auch Miss Finster genannt – das erste Mal durch die Zivi-Küche durch. Sie grüßte ihre versammelten Mitarbeiter und verschwand anschließend Richtung Tierbetrieb, um nach dem Rechten zu sehen. Ein paar Minuten später war sie auch schon wieder da und stellte sich in der Mitte der Küche auf, sodass sie alle im Blick hatte. „So, dann kann’s ja losgehen,“ sie warf einen Blick auf ihre Uhr, „Sind denn alle da?“ „Miriam und Jessika haben frei,“ sagte Linda vom Sofa. „Ben auch,“ fügte David hinzu, „Der hat ja ab heute Nachtschicht.“ „Richtig, also–,“ „Der Neue fehlt noch,“ bemerkte Linda. Alle Gesichter wandten sich ihr zu. „Was?“, fragte sie treuherzig, „Heute ist doch sein erster Arbeitstag, oder nicht?“ „Richtig,“ erwiderte Bettina, „Er verspätet sich. David, geh bitte nach oben und hole ihn, ja? Wir warten solange.“ David starrte seine Chefin an. Das war ja wieder klar. Ausgerechnet er musste jetzt hoch laufen und Mr. Obercool holen, nur weil der zu unterbelichtet war, um simple Arbeitszeiten einzuhalten. Einen Moment wollte er sich weigern. Doch der Chefin widersprach man nicht, nicht als Zivi. Also nickte er und erhob sich von der Bank. „Sicher, bin gleich zurück.“ Er verließ die Küche, trottete durch den Flur und hinter der Hoftür die Treppe hoch, die zu den Zivi-Räumen führte. Am Treppenabsatz wandte er sich nach links, zu seinem Ex-Zimmer, seufzte einmal und klopfte an die geschlossene Tür. „Hey...,“ rief er und zögerte – er wusste seinen Namen ja immer noch nicht, „Dings! Es ist halb neun, wir wollen anfangen, nur du fehlst noch.“ Er wartete. Pennte der Kerl etwa noch? Da hörte er Geräusche hinter der Tür und trat zurück. Einen Moment später wurde sie von innen geöffnet. „Guten Mor–,“ Weiter kam er nicht. Dings stand vor ihm. Breit grinsend und vollkommen nackt. „Hi, David,“ sagte er und lehnte sich an den Türrahmen, als wäre es das Normalste der Welt einem Kollegen nackt die Tür zu öffnen, „Was kann ich für dich tun?“ „Äh...du...ich...,“ David wusste nicht, was er sagen wollte. Sein Magen drehte einen wilden Salto und seine Augen zuckten wie selbstständige Wesen über den bloßen Körper seines Gegenübers. Mr. Obercool war schlank, muskulös und er hatte breite Schultern und eine schmale Taille. Sein bestes Stück ließ keine Wünsche offen. Reiß dich zusammen und starr ihn nicht an wie ein Vollidiot!, blaffte er sich in Gedanken an. „Ich...würde sagen, du ziehst dich an und kommst runter,“ erklärte David und schaffte es glücklicherweise, seine Stimme gelassen und unbeeindruckt klingen zu lassen, „Wir warten alle auf dich.“ „Oh, tatsächlich?“, Dings tat überrascht, doch sein Schmunzeln wuchs weiter, unverwandt beobachtete er David, „Dann sollte ich mich wohl wirklich anziehen, was? Möchtest du mir nicht dabei helfen?“ David starrte ihn an. Sein Herz raste. Wie bitte? Hatte er das gerade wirklich gefragt? Das konnte doch nur ein saudummer Witz sein! In seinem Magen begann es zu brodeln. Dieser Typ hatte doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! „Nein, danke!“, fauchte er , „Du bist Zivi, du solltest das inzwischen allein können! Ich geh runter, komm nach, wenn du fertig bist!“ Dann drehte er sich auf dem Absatz um und polterte die Treppe hinunter, ohne sich noch mal umzudrehen. Dieser Kerl war doch wahnsinnig! Beim Anziehen helfen... Unfassbar! „Er kommt gleich,“ informierte er die Anderen, sobald er zurück in der Zivi-Küche angekommen war und ließ sich neben Linda aufs Sofa fallen. Sein Gesicht schien zu glühen und er fächelte sich etwas Luft zu. „Gut, dann fangen wir schon mal an,“ bestimmte Bettina und sah in die Runde, „Wer möchte was machen?“ Einige Sekunden herrschte Schweigen. „Ich geh raus,“ sagte David dann. Frische Luft würde ihm gut tun. Außerdem war es draußen am unwahrscheinlichsten gewissen Zivis über den Weg zu laufen... „In Ordnung,“ willigte die Chefin ein, „Denk daran, dass Franziska nur noch sechs Küken kriegt.“ David nickte und lehnte sich im Sofa zurück. „Weiter?“, fragte Bettina. „Ich mach vorne,“ sagte Freddy rau. „Gut. Dann kannst du gleich mit den Mäusen anfangen. Futterküche und Quarantäne hat Phillip soweit fertig.“ „Okay,“ brummte Freddy. „Ich schau mir gleich erst mal die neue Schleiereule in der Quarantäne an,“ erklärte Heiko. Miss Finster nickte nur. „Papageien?“ „Kann ich machen,“ bot Sebastian an. „Soll ich dann die Schildkröten übernehmen?“, erkundigte sich Linda. „Okay,“ nickte Bettina und Linda und Sebastian lächelten sich zu. Dann wandte die Chefin sich an Eric, „Rep.-Raum?“ „Ja...,“ In diesem Augenblick erklangen Schritte auf der Treppe und im Flur und dann stand er im Eingang der Zivi-Küche: Mr. Hilf-Mir-Beim-Anziehen. Davids Gesicht verfinsterte sich. Der Kerl trug tatsächlich ein hellblaues Tommy Hilfiger Shirt, eine brandneue Jeans und die teuersten Pumaschuhe, die es im Moment zu kaufen gab. Seine Sonnenbrille saß auf seinem hochgegelten, dunklen Haar. So wollte er doch nicht in den Tierbetrieb? Da hätte er lieber nackt bleiben sollen... „Morgen zusammen!“, tönte der Neue fröhlich und sah in die Runde. „Morgen...,“ kam die zögerliche Antwort. „Schön, dass du jetzt auch zu uns gefunden hast,“ erwiderte Bettina und David freute sich, leichten Unmut in ihrer Stimme zu hören, „Normalerweise treffen wir uns pünktlich um halb neun. Ich würde dich bitten, dich ab jetzt nicht mehr zu verspäten.“ „Ich tu mein Bestes!“, entgegnete der Neue und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, dann wandte er sich an seine Kollegen, „Ich heiße Sascha Locon und freue mich darauf, euch alle kennen zu lernen.“ Sie starrten ihn an, nur Linda erwiderte freundlich sein Lächeln. David verkniff sich ein Schnauben. „Okay, Sascha,“ ergriff wieder Bettina das Wort, „Wo möchtest du am liebsten zuerst mitgehen?“ „Am liebsten...,“ antwortete Sascha und seine Augen richteten sich verschmitzt auf David, „Am liebsten würde ich mit David mitgehen.“ Stille trat ein. Davids Inneres versteinerte vor Entsetzen. Wie bitte? Nein, das konnte doch nicht sein Ernst sein! Bitte nicht! „Gut...,“ sagte Bettina langsam und David wandte ihr voller Verzweiflung sein Gesicht zu, „Dann gehst du mit David nach draußen.“ „Aber...,“ krächzte der Angesprochene. „Du kannst draußen Hilfe gebrauchen,“ schnitt Bettina ihm das Wort ab, „Zeig ihm alles, damit er sich möglichst schnell allein zurecht findet. Dann hätten wir ja alles. Gudi.“ Die Mitarbeiter erhoben sich stühlerückend. Alle, außer David. Er saß auf dem Sofa und starrte fassungslos zu Mr. Ich-Will-Mit-David-Mitgehen hinüber. Der grinste breit und zwinkerte ihm zu. Kapitel 3: Durchgedreht ----------------------- Hey zusammen :-)! Dieses Kapitel wird wahrscheinlich nicht so witzig wie das Letzte und es macht nix, wenn Ihr durch die Beschreibungen nicht gleich durchsteigt^^. Mir war nur wichtig, dass ihr von der Aufteilung der Gebäude mal gehört habt, für die Geschichte ist dieses Wissen jedoch nicht unbedingt grundelegend^^. Viel Spaß mit den beiden Idioten :-)! Liebe Grüße, BlueMoon ____________________________________________________________________ Inzwischen waren sie allein in der Zivi-Küche und David wusste nicht genau, was er lieber tun wollte, wegrennen oder besser gleich krepieren. Natürlich bot es sich auch an, sich auf Dings zu stürzen und ihn wortlos zu erwürgen. Dann wäre er sofort alle Probleme los und könnte in Ruhe das Außengelände versorgen. Doch dummerweise war Mr. Ich-Stelle-Mich-Nackt-Vor-Meine-Kollegen ja der Neffe von Bettina und somit gegen Mordversuche abgesichert. Sehr wahrscheinlich würde es sie nicht völlig kalt lassen, wenn er erwürgt würde... Das war zwar schade, aber nicht zu ändern. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, er würde die Zähne zusammen beißen und das durchstehen müssen. Er würde Sascha einfach ignorieren und sich nicht provozieren lassen, komme was wolle. Er würde ihm alles erklären, höflich aber kalt, seriös und kompetent. Dann würde es schon gehen... Im Notfall könnte er Dings einfach beim Krähenboss Corvus und seinen bösen Brüdern einsperren. Die würden ihn dann schon zurecht stutzen. „Also...,“ sagte er tapfer, stand vom Sofa auf und blickte zu Sascha hinüber, der ihn immer noch schmunzelnd musterte, „Wollen wir dann los?“ „Gern...,“ antwortete der und plinkerte mit den Wimpern, „Ich folge dir überall hin...,“ Nicht provozieren lassen... „Aha, von mir aus. Aber erst mal...,“ er blickte an Dings hinauf und hinunter, „Willst du wirklich in diesem Aufzug auf dem Gelände herumlaufen?“ „Wieso nicht?“, fragte Sascha unbekümmert. „Nun, wie du vielleicht bemerkt hast,“ erwiderte David und versuchte seine Stimme mit aller Macht ruhig und geduldig klingen zu lassen, „Hat es gestern Nacht geregnet und folglich wird der Boden aufgeweicht und matschig sein.“ „Und?“, dieses dumme Grinsen wollte einfach nicht aus seinem Gesicht verschwinden. „Äh...?“, machte David fassungslos. Dieser Vollidiot konnte doch nicht wirklich so schwer von Begriff sein?! „Ich dachte nur, dass du vielleicht nicht willst, dass deine Schuhe und deine Hose unnötig dreckig werden...?“ „Ach, David...,“ schmachtete Sascha und David wurde ganz flau im Magen, „Ich finde es so süß, dass du dir solche Gedanken über mich machst!“ Es war doch nicht zu glauben! Dieser Kerl war doch absolut krank im Hirn. „Hör mal!“, brauste David auf, doch er schaffte es noch, sich zu beherrschen. Er atmete einige Male tief durch und stellte sich dabei vor, wie er Mr. Ich-Finde-Dich-Süß dieses nervtötende Lächeln aus dem Gesicht prügelte. „Hör mal...,“ sagte er dann ruhiger, doch mit geballten Fäusten, „Hast du Gummistiefel?“ „Nein, habe ich nicht.“ „Aha... Nun, ich habe zwei Paar. Ich leihe dir eins. Wir müssten ungefähr die gleiche Größe haben.“ „Wie lieb von dir!“ David ignorierte Dings geflissentlich und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war bereits viertel vor Neun und sie standen immer noch in der Zivi-Küche herum und daddelten. Hätte er allein gehen dürfen, würde er bereits in der Ost Kükenreste zusammen kratzen. „Ich gehe jetzt in den Keller und hole mein anderes Paar Gummistiefel,“ erklärte David kühl, „Und es ist mir schnurz, ob deine Klamotten in den Arsch gehen beim Arbeiten oder nicht. Aber falls du an deinen Sachen hängst, dann ist das der richtige Moment, um in dein Zimmer zu gehen und dich umzuziehen. Bis gleich.“ Er drehte sich um und öffnete die schmale Tür, die rechts neben dem Esstisch über eine kurze Treppe runter in den Keller führte. Hier wurden außer den Arbeitsschuhen der Mitarbeiter, Unmengen von Getränkekisten und alten Meisenknödeln, die Knabberspuren von Mäusen aufwiesen, alles gelagert, was auf dem Dachboden keinen Platz mehr gefunden hatte: Tische, Stühle, Geschirr, Kaffeekannen, bemalte Holzstörche, ein Schrank, dessen Inhalt David unbekannt war, und ein Haufen anderer Sachen – verstaubt und vorzugsweise kaputt. David hatte sich gerade nach seinem zweiten Paar gelber Gummistiefeln gebückt – das andere, grüne Paar trug er bereits – als er jemanden hinter sich spürte. Er richtete sich auf, fuhr herum und zuckte zusammen. Er fand sich Nase an Nase mit Sascha wieder. „Hallo,“ sagte der und lächelte schon wieder. David schreckte von ihm zurück. „Was soll das denn?“, fauchte er zornig. „Ich habe doch gesagt, dass ich dir überall hin folgen werde,“ antwortete Mr. Ich-Kann-Nonstop-Grinsen fröhlich. Reg dich nicht auf... Nicht aufregen...! „Daraus schließe ich, dass du dich nicht mehr umziehen willst. Deine hübschen Prollsachen sind dir also schnuppe?“ „Ich habe noch mehr davon...,“ „Aha.“ So ein Scheißangeber! Soll er doch gleich sagen: Ich bin stinkreich und will es rumzeigen! „Übrigens...,“ schmunzelte Sascha und sein Grinsen wuchs erneut, er machte wieder einen Schritt auf David zu, „Ich habe mich zwar als Sascha Locon vorgestellt, aber du...,“ er ließ seine Stimme verheißungsvoll verhauchen, „...du darfst mich Meister nennen.“ David starrte ihn an. Ihm wurde übel. Wie bitte? Meister?! Der war inzwischen wohl vollkommen durchgedreht! David schluckte seine aufkeimende Wut runter und atmete die trockene Kellerluft ein. Ganz ruhig... Nur nicht provozieren lassen... „Ach, tatsächlich?“, erwiderte er kalt, „Wirklich sehr schmeichelhaft, aber ich lehne dankend ab!“, mit Nachdruck stopfte er ihm die Gummistiefel in die Arme, „Hier! Zieh die an und dann lass uns endlich los. Wir haben schon viel zu viel Zeit verplempert!“ „Wie du meinst...,“ schmunzelte Mr. Ich-Habe-Keine-Eigenen-Gummistiefel. David schnaubte und stapfte aus dem Keller, die kleine Treppe hoch und zurück in die Zivi-Küche. Sein Puls pochte immer noch ungewöhnlich schnell. Und ihm war sehr heiß. Meister! Der hatte sie doch nicht mehr alle beisammen! Meister! Kurz darauf kam auch Sascha wieder aus dem Keller gestapft, an seinen Füßen Davids gelbe Gummistiefel. „Da bin ich!“, trällerte er. „Toll...,“ brummte David, „Dann los...,“ Sascha folgte ihm durch den Flur und durch die Tür zum Hof. Von da aus wandten sie sich nach links, zum Eingang der Scheune. Eine Hälfte der Doppeltür war geöffnet und nur eine rotweiß gestreifte Kette hinderte mögliche Besucher daran, unbefugt in den Tierbetrieb zu spazieren. David duckte sich unter der Kette hindurch und stand in der vorderen Scheune. Direkt links neben ihm stand ein weißer, schlichter Tisch, mit Telefon, Kugelschreiber und einem Haufen weißer Karteikarten ausgestattet: Die Tierannahme. Dieser Tisch drückte sich an einen weißen, riesigen Kühlschrank, in dem sich alles Essbare für die Tiere – von Salat für die Landschildkröten, über Obst für die Papageien, bis zu den toten Eintagsküken für die Greifvögel – befand. Rechts vom Scheunengang war die große, weiße und sehr dicke Tür der begehbaren Kühltruhe, in der alle Tierleichen aufbewahrt wurden. Geradeaus führte eine weitere Tür, die mit Postern von Schlangen und Eidechsen beklebt worden war, in den Reptilienraum. Schweigend führte David Sascha links an dem Kühlschrank vorbei und durch eine weiße Tür, die nur angelehnt war. Sie betraten einen länglichen Raum, der durch eine Art Torbogen in zwei Teile geteilt wurde. Im ersten Teil standen an den beiden langen Wänden schmale Tische, auf denen sich eine schwarze Box an die andere schmiegte. Im zweiten Teil befanden sich überall an den Wänden Käfige und rechts eine Tür, die nach draußen auf den Waschplatz führte. Dieser Raum wurde Futterküche genannt und war das zu Hause von jungen oder verletzten Kleintieren. „Hey, Phillip,“ begrüßte David, kaum war er durch die Tür getreten, einen jungen Mann, der am Waschbecken stand und Tonschalen auswusch, „Wie war die Nacht?“ Der Angesprochene drehte sich zu ihnen um und grinste. Er war sehr schlank, hatte dunkelblondes Haar und einen Bart, der ihm überhaupt nicht stand. Er arbeitete seine allerletzte Woche hier, dann würde sein Zivildienst beendet sein. „Hallo...,“ erwiderte er, trocknete sich die Hände an einem Stück Küchenpapier ab und reichte Dings eine, „Ich bin Phillip.“ Mr. Obercool ergriff und schüttelte seine Hand. „Ich bin Sascha, der Neue.“ „Mein Nachfolger?“ „Ja, genau.“ „Macht ihr zusammen draußen?“ „Ja...,“ antwortete David und verkniff sich das „leider“, das ihm schon auf der Zunge gelegen hatte, „Also...,“ fuhr er dann fort und drehte sich nach rechts um, zu einem weißen Wandschrank, an dessen Tür ein Klemmbrett mit einem einzelnen Zettel gepinnt war, „Das hier ist das Tagesprotokoll. Da tragen wir uns jeden Morgen ein, damit die Chefs wissen, wer wann und wie lange gearbeitet hat.“ Er hob einen Kuli vom verschmierten Tisch auf und kritzelte seinen Namen in die Liste: David – 8.30. In die Zeile darunter schrieb er, während Dings zu einem kleinen Hasen in die Box linste: Sascha – und nach einer kleinen Bedenkpause – 8.45. Es sollte ruhig festgehalten werden, dass der Möchte-Gern-Meister zu spät gekommen war... „Okay, komm. Bis später, Phillip,“ und ohne Sascha mit einem einzigen Blick zu würdigen, verließ David die Futterküche wieder und wandte sich nach links. Sie gingen an der schmalen, sehr alten Holztreppe rechts, die zum Dachboden und dem Mäuseraum hinaufführte, und der Tür zur Greifvogelquarantäne links vorbei, durch eine geöffnete Tür in den Gang der hinteren Scheune. Hier waren zu beiden Seiten weitere Türen an den Wänden, die in die unterschiedlichsten Räume führten: Zu den kleinen Landschildkröten, den riesigen Spornschildkröten, den Papageien, der Papageienfutterküche, in der einige Wasserschildkröten in Kisten auf ihr Bad warteten, und der Papageienquarantäne. Ganz am Ende des Ganges war eine große gläserne Tür, die auf das Außengelände führte. Auf diese Tür hielt David zu. Links von ihr stand ein großer Eisenkäfig, der mit Schläuchen, Pumpen und sonstigem sperrigen Kram gefüllt war, rechts stapelten sich Eimer, Gieskannen, Kehrbleche, Besen, Abzieher und Harken. „Hier,“ sagte er zu Dings und reichte ihm einen der schwarzen Eimer, „Damit gehst du jetzt in den begehbaren Kühlschrank,“ er deutete durch die hintere Scheune zu dem weißen Monstrum am Ende des Ganges, „Und füllst ihn mit Küken.“ „Mit...Küken?“, fragte Sascha und David freute sich diebisch über den Hauch von Abscheu in seiner Stimme und seinem Gesicht. „Ja, mit Küken,“ erwiderte David kühl, „Falls du’s eklig findest, da müssten irgendwo Handschuhe rumliegen.“ „Ah... Okay...,“ David sah Mr. Nenn-Mich-Meister nach und grinste schadenfroh. Das geschah ihm Recht. Meister! Pah! Er wartete, bis Dings im Kühlschrank verschwunden war und lief dann eilig zu einer der Türen auf der rechten Seite. Sie hatte einen Drehknauf und ein Fenster zum Durchschauen. In dem kleinen, gekachelten Raum dahinter war es wärmer als auf dem Gang und darin befanden sich sechs Terrarien, in vier von ihnen eine Landschildkröte. Davor – zwecks Größenausgleich auf einem Stuhl – stand Linda und stellte eine runde Tonschale mit Wasser in das obere, linke Terrarium. Als sie hörte wie sich die Tür hinter sich öffnete, wandte sie den Kopf. „Hey,“ sagte sie lächelnd und schob die Glastür des Terrariums zu, „Na, wie läuft’s mit Sascha?“ „Er ist völlig durchgedreht!“, sagte David hastig und stellte sich vor ein Metallregal, rechts neben der Tür, um nicht durch das Fensterchen zum Gang gesehen zu werden „Du wirst mir nicht glauben, was er vorhin zu mir gesagt hat!“ „Was denn?“, wollte Linda neugierig wissen und stieg von ihrem Stuhl. Mit raschen, aufgeregten Sätzen schilderte er ihr von Dings’ Verhalten im Keller und seiner Meister-Anfrage. Lindas Augen wurden groß. „Never!“, stieß sie hervor, nachdem David zum Ende gekommen war und begann zu kichern, „Das hat er nicht wirklich gesagt! Nicht ernsthaft!“ „Doch, ich schwör’s dir!“, erwiderte er und musste selbst lachen, „Er hat gesagt, ich darf ihn Meister nennen!“ „Meister!“, schnaubte Linda und vergrub lachend ihr Gesicht in den Händen, „Der spinnt echt total! Oder...,“ sie verstummte und fuhr nachdenklich mit dem rechten Mittelfinger über ihre Lippen, „Oder... Meinst du nicht, dass er vielleicht schwul ist?“ David zuckte zusammen und starrte Linda an. Alles in ihm verkrampfte sich. „Sch...Schwul? Nein! Auf keinen Fall!", sein Magen drehte sich um, "Oder...meinst du wirklich...?“ „Klar! Was der auch bei der Arbeitsverteilung gesagt hat, von wegen er würde am liebsten mit dir gehen. Und wie er dich die ganze Zeit angeschaut hat. Ey, der steht echt voll auf dich!“ „Das glaube ich nicht!“, beharrte David nervös, „Ich meine, ich hab nix gegen Schwule. Soll der schwul sein, soviel er will, aber er soll mich nicht so scheiße anbaggern! Überhaupt, was sollte der an mir finden?“ Linda, die sich ans Waschbecken gestellt hatte, um den Feldsalat für die Schildkröten zu waschen, warf ihm über die Schulter einen spöttischen Blick zu. „Na, komm, wieso sollte er nicht?“, sie häufte eine kleine Hand voll Salat auf eine umgedrehte Fußbodenfliese, „Du hast schöne Haare, bist nett und siehst gut aus und du hast eine tolle Ausstrahlung. Ich kann gut verstehen, warum du ihm gefällst.“ David wurde rot. Das wurde er selten aus einem anderen Grund als Zorn. „Meinst du wirklich?“, fragte er unsicher und begann an seinen Fingernägeln zu knabbern. „Also wissen kann ich es natürlich nicht...,“ entgegnete sie und stellte sich wieder auf den Stuhl, um der ungeduldigen Schildkröte ihren Salat ins Terrarium zu reichen, „Aber ich könnte es mir gut vorstellen.“ „Mhm...,“ machte er mit pochendem Herzen und sah der Schildkröte zu, wie sie sich hungrig auf ihr Frühstück stürzte, „Vielleicht...hast du Recht...,“ „Mach dir keinen Kopf und beobachte ihn einfach weiter. Wenn es stimmt, wird er sich dir gegenüber bestimmt früher oder später outen,“ sie hüpfte vom Stuhl und wandte sich dem Terrarium darunter zu, „Und wenn es soweit kommen sollte, kannst du ihm immer noch sagen, dass du kein Interesse hast. Ganz einfach.“ „Ja, ganz einfach...,“ murmelte David tonlos und starrte die Schildkröte an, dann riss er sich los, „Ja, du hast Recht, danke. Ich muss jetzt wieder zurück, bevor er wiederkommt.“ Er griff nach dem Türknauf. „Alles klar und mach dich nicht verrückt,“ sagte Linda und lächelte ihn an, „Wenn du’s nicht mehr aushältst, sagst du Bescheid und dann zwinge ich ihn, mit mir die Gammelkröten zu baden.“ David lachte. „Das ist nett, danke. Bis später!“ Er verließ Linda und die Landschildkröten und zog hinter sich die Tür ins Schloss. Dings war zum Glück noch nicht wieder da. Nachdenklich und bestürzt ging David zu der Glastür und den Werkzeugen zurück und stellte Eimer, Harke, Gieskanne und Bürste zurecht. Ob Linda Recht haben könnte? War es möglich, dass Sascha schwul war und deshalb soviel Mist zu ihm sagte? Auch als sie sich das erste Mal begegnet waren... Hatte er da nicht als erstes „nicht übel“ zu ihm gesagt, als würde er sein Äußeres beurteilen? War er nur nackt an seine Zimmertür gekommen, weil er wusste, dass David draußen stand? Und dieses ständige Gezwinker... Es schien tatsächlich alles darauf hinzudeuten, dass Sascha auf Männer stand. Nur, was würde das für David bedeuten, nun da er ausgerechnet ihn ausgewählt hatte? Würde er auf Dauer damit umgehen können? Nach all der Zeit? War er bereit für so etwas? Oder...würde es ihn den Kopf kosten? Einmal mehr... Na ja, er könnte es tun, wie Linda gesagt hatte. Wenn er sich outen sollte, würde er ihm einfach sagen, dass er kein Interesse hatte. Ganz einfach. Oder? Kapitel 4: Bi ------------- Guten Morgen^^! So, das wird vorerst das letzte Mal sein, dass ich ein Kapitel hochlade, da ich jetzt erstmal für ein paar Tage zu Freunden nach Bayern fahre. Wenn ich zurück bin, hoffe ich, dass ich bald wieder zum Schreiben komme. Ich hoffe, dass Kapitel gefällt Euch und Ihr leidet ordentlich mit dem armen David :-)! Wünsche Euch alles Gute! Liebe Grüße, BlueMoon ______________________________________________________________________ Es war halb sechs und David stand unter der Dusche. Heiß und duftend umhüllte ihn weiches Wasser und weißer Schaum, wusch den Vogeldreck von seinen Händen, den Schweiß von seinem Rücken und das angestrengte Runzeln von seiner Stirn. Was für ein Tag! Er glaubte nicht, dass je ein Arbeitstag härter und länger gewesen war. Siebeneinhalb Stunden lang war Mr. Nervtöter hinter ihm her gelaufen und hatte dumm gegrinst. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so lange grinsen ohne einen Gesichtskrampf zu kriegen? Und ständig diese Scheißsprüche, der er alle Nase lang abgelassen hatte: „Oh David, ich könnte den ganzen Tag hinter dir hergehen und deinen süßen Arsch anstarren!“ und „David, du siehst hinreißend aus, wenn du kurz vorm Ausrasten bist!“ Natürlich war er bei solchen Aussagen fast ausgerastet! Wie hätte er auch nicht?! Dieser Mistkerl hatte ihn die ganze Zeit versucht zu provozieren und David hatte Kopfweh bekommen vom endlosen Zähnezusammenbeißen. Und außerdem...hatte er immer wieder daran denken müssen, was Linda gesagt hatte. David hatte trotz allem versucht Dings alles zu erklären, hatte wirklich versucht, nett und höflich zu bleiben, doch das war alles Andere als leicht gewesen. „Das Außengelände besteht aus mehreren Gebieten,“ hatte er erläutert und sich alle Mühe gegeben, sich nicht von Saschas dämlichem Schmunzeln beirren zu lassen, das er – kaum hatte er den Kükenschock überwunden – wieder aufgesetzt hatte, „Und zwar aus den beiden Rundflugvolieren auf der Wiese, den vier Storchengehegen, den Freilandterrarien, der Ost, der West und der Nord. Warum grinst du schon wieder so scheiße?“ „Ach nichts, ich find’s nur niedlich, wie du dich um mich bemühst!“, hatte Dings geträllert. Wer bitte würde da nicht beinahe die Geduld verlieren? Nur mit übermenschlicher Anstrengung hatte es David geschafft, nicht seine Beherrschung einzubüßen und Mr. Ich-Mag-Deinen-Arsch mit Besen und Harke zu attackieren. Doch zum Glück war der Tag jetzt vorbei, die heiße Dusche vertrieb die Erinnerungen an diese nervenaufreibenden Stunden und für den Fall der Fälle hatte David die Badezimmertür viermal abgeschlossen. Er hatte auf Nummer Sicher gehen wollen, falls Dings wieder auf schräge Gedanken kam. Nach zehn erholsamen Minuten stieg er schließlich aus der Dusche, schnappte sich sein Handtuch, das griffbereit auf dem Klodeckel gelegen hatte und trocknete sich ab. Anschließend schlang er sich das Handtuch um die Hüften und öffnete das Fenster einen Spalt, um die frische, kühle Abendluft herein zu lassen – allerdings nicht, ohne vorher sorgsam die blauen Vorhänge zu zuziehen. Man konnte ja nie wissen... Dann blickte er in den noch leicht beschlagenen Spiegel. Aus seinen Tiefen schaute ein junger Mann zurück, leicht vernebelt vom Wasserdampf, den seine kleine, sanft gebogene Nase jünger erscheinen ließ, als er tatsächlich war. Seine Haut war leicht gebräunt von der Herbstsonne, seine Augen blaugrün unter den dunklen Brauen. Um sein schmales, aber weich geformtes Gesicht ringelte sich ein Kranz wilder, blonder Locken, die still auf seine nackten Schultern tropften. David wandte sich vom Spiegel ab und stieg in frische Klamotten. Anschließend verließ er das Badezimmer. Jedoch kam er nicht weit. Kaum hatte er den Schlüssel viermal gedreht und sich aus dem schützenden Raum heraus gewagt, da stand er schon vor ihm. „Hey...,“ sagte Dings und grinste mal wieder breit wie ein Honigkuchenpferd. Augenblicklich kehrte Davids Stirnrunzeln zurück. Er stöhnte laut und schob Mr. Ich-Steh-Blöd-Vorm-Badezimmer-Rum zur Seite. „Was willst du?!“, pampte er unfreundlich und machte sich auf den Weg zu seinem Zimmer. Sascha folgte ihm. „Ach, ich wollte nur nachsehen, ob es dir auch gut geht. Du warst so lange da drin.“ David schleppte sich die Treppe hoch. Seine Stirn glich einem frisch gepflügten Acker. „Ich habe versucht, mich zu ertränken. Zufrieden?“ Sie waren am Treppenabsatz angekommen. „Ertränken? Warum das denn?“ Oh, er hielt es nicht mehr aus. David wirbelte herum. „WEIL DU MICH NERVST!“, brüllte er. Schweigen trat ein. Einen Moment sah Sascha überrumpelt aus. Dann begann er wieder zu strahlen. „Tatsächlich? Das tut mir sehr Leid.“ David starrte ihn an. Heißer Zorn pulsierte durch seine Adern. Er konnte es nicht glauben! Leid tun? Leid tun? Sehr witzig! Dieses Lächeln sagte doch ganz klar, dass er das nicht erst meinte! Dieser verdammte Scheißkerl! Noch ein Wort und er würde ihn kopfüber von der Treppe stoßen! David wollte gerade Luft holen, um eine gigantische Schimpfkanonade auf Mr. Das-Tut-Mir-Sehr-Leid abzufeuern, da sagte dieser: „Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob ich für dich kochen darf.“ David stockte und dann verschwand der Wind aus seinen Segeln. Hatte er richtig gehört? „Wie bitte?“, fragte er verwundert. Dings lächelte breit. „Ja, ich wollte fragen, ob ich für dich kochen darf. Ich weiß, dass ich heute... etwas anstrengend war und damit wollte ich es wieder gut machen. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust auf ein richtiges warmes Essen. Magst du Steak mit Ofenkartoffeln, Salat und selbstgemachter Sour Cream?“ David blinzelte „Äh... Ja, mag ich...,“ antworte er noch immer völlig verdutzt. „Und wie magst du dein Steak? Blutig, medium oder durch?“ „Medium.“ „Gut!“, strahlte Sascha und machte sich daran, die Treppe wieder hinab zu steigen, „Dann ruf ich dich, sobald das Essen fertig ist.“ „O...Okay...,“ Langsam drehte David sich nach rechts und fand nach einigem Kopfschütteln auch sein Zimmer. Hatte er sich das gerade nur eingebildet? Oder hatte Dings ihm gerade wirklich gesagt, er würde für ihn kochen? Nein, das hatte er nicht geträumt. Er meinte, weil er den Tag über so anstrengend gewesen war, wolle er zur Wiedergutmachung für ihn kochen. Was war denn plötzlich in den gefahren? Ob es da einen Trick gab? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht meinte er es ja ehrlich. Aber wie auch immer, Steak mit Kartoffeln, Salat und Sour Cream hörte sich viel besser an als Instandnudeln. Er betrat sein neues Zimmer, öffnete das Fenster und blickte sich um. Es sah noch genauso aus, wie er es am Morgen verlassen hatte: Die Möbel standen kreuz und quer im Raum herum und berührten vorsichtshalber die Wände nicht. Doch inzwischen war die Farbe getrocknet und die Abendsonne, die durch das Fenster herein fiel, brachte das Zimmer zum Leuchten. David seufzte, griff sich sein Cello und den Bogen aus dem Koffer und setzte sich auf seinen Stuhl. Er schloss die Augen und begann eine Melodie zu spielen, die durch jahrelanges Üben in sein Herz übergegangen war. Die Finger seiner linken Hand huschten über die Saiten am Hals des Instruments, seine rechte Hand schwang den Bogen als hätte sie in ihrem Leben niemals etwas anderes getan, sein Körper bewegte sich automatisch im Takt der Melodie. Seine Gedanken ließ er treiben, bemühte sich nur, sie nicht zu sehr in die Nähe von Mr. Ich-Koche-Für-Dich oder seiner Sexualität kommen zu lassen. Er ließ sich voll und ganz von der Musik einfangen, hörte und fühlte nichts anderes mehr als die Musik, die durch das offene Fenster auf das Gelände wehte und Ben auf dem Waschplatz den Kopf heben ließ. Fünfundvierzig Minuten später öffnete er das erste Mal die Augen und fuhr sofort zusammen. Dings stand im offenen Türrahmen und schaute ihn an. Ausnahmsweise grinste er nicht. „Du spielst wunderschön,“ sagte er schlicht. „Äh, danke...,“ erwiderte David verlegen und sah zurück, „Was gibt’s denn?“ „Essen ist fertig,“ antwortete Sascha, „Möchtest du mit in die Küche kommen?“ „Ja, ich komme.“ Er stand auf, verfrachtete sein Cello und den Bogen in den Koffer zurück und folgte Dings die Treppe runter und in die Zivi-Küche. Der Tisch war bereits gedeckt und es duftete wunderbar nach gebratenem Fleisch und gewürzten Kartoffeln. „Das riecht aber gut...,“ sagte er und setzte sich an den Tisch. „Ich hoffe, es schmeckt dir auch“, entgegnete Mr. Du-Spielst-Wunderschön und stellte die Steakpfanne – da ihm die Untersetzer fehlten – auf ein Frühstücksbrettchen. Dabei grinste er schon wieder auf diese bestimmte Art und Weise, die David Gefahr hätte wittern lassen. Doch der sah es nicht, er war viel zu sehr damit beschäftigt, die Steaks zu bewundern. „So, bitte, bedien dich!“, forderte Sascha ihn auf, sobald auch der Salat auf dem Tisch stand, „Nimm dir von allem, soviel du willst.“ „Danke schön!“, lächelte David und tat wie geheißen. Erst jetzt merkte er, wie hungrig der Stress des Tages ihn gemacht hatte. Er füllte seinen Teller mit Steak, Salat und Kartoffeln mit Sour Cream und begann zu essen. Tatsächlich schmeckte es köstlich. „Mhm...,“ machte er und kaute den Bissen, „Das ist ja echt klasse. Ich hätte nie gedacht, dass du so gut kochen kannst.“ „Danke,“ Dings’ Lächeln wuchs immer mehr in die Breite, „Freut mich, dass du es magst.“ Und dann kam es. David hatte sich gerade die fünfte Gabel in den Mund schieben wollen. „Ach ja...,“ begann Sascha und lehnte sich in seinem Stuhl (Heikos Privatstuhl) zurück, „Hatte ich dir eigentlich die Bedingungen erklärt?“ David erfror sofort in seiner Bewegung und sah langsam zu seinem Koch hinüber. „Was...für Bedingungen?“ Jetzt sah auch er das Grinsen, das sich breit und bedrohlich über Dings’ Mund spannte. Ihm wurde mulmig. Sehr, sehr mulmig. „Na ja...,“ fuhr Sascha fort, beugte sich vor und blickte David tief in die Augen, „Du darfst essen soviel du willst und danach bläst du mir einen.“ Eisige Stille erfüllte die Zivi-Küche. Fassungslos starrte David sein Gegenüber an. Ganz langsam tröpfelten die Worte in sein Bewusstsein. Blasen? Hatte er das wirklich gesagt? Er, David, sollte ihm nach dem Essen einen blasen? „W...Wie bitte?“, flüsterte er tonlos. „Ich koche für dich, du bläst mir einen. Ich hätte natürlich auch nichts dagegen, dich zu ficken, aber ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.“ Blasen? Ficken? Mit der Tür ins Haus fallen? David schluckte. Er war so geschockt, dass er ganz vergaß, vor Wut den Tisch umzuwerfen. Dann schaltete sich sein Hirn allmählich wieder ein und ihm wurde schlecht. Kotzübel geradezu. Sein Herz sprang ihm in die Kehle. „Ich denke, ich...habe keinen Hunger mehr,“ sagte er kalt und heiser, legte sein Besteck auf seinen noch vollen Teller und stand auf. Das Blut kochte in seinen Venen. „Hey, wo willst du denn hin?“, wollte Sascha wissen und stand ebenfalls auf. Er schmunzelte noch immer. „In mein Zimmer!“, antwortete David laut. Langsam, aber sicher kroch der Zorn in seinen Körper, löste seinen Schock und das Entsetzen und füllte ihn mit Kraft. „Was ist denn dein Problem? Das ist doch ein fairer Handel!“ „Ich gehe!“, fauchte David und stapfte auf den Flur zu, Richtung Treppe. In seinen Ohren rauschte es. Blas mir einen! Der war doch komplett...! GOTT! „Na gut, na gut!“, beeilte Mr. Blas-Mir-Einen zu sagen und hastete ihm nach, „Wir machen es anders. Du isst soviel du willst und danach darf ich dir einen blasen!“ Davids Lunge verkrampfte sich. „Du bist absolut wahnsinnig!“, stieß er hervor, drehte sich um und funkelte Sascha an, „Ich will dir weder einen blasen, noch von dir einen geblasen bekommen!“ Sein Herz klopfte heftig und seine Wangen waren gerötet. Jetzt war es eindeutig: Linda hatte Recht gehabt! Scheiße! „Wieso? Das ist doch ein einzigartiges Angebot! Und ich bin echt gut darin!“, erwiderte Sascha und lächelte strahlend dabei. „DU BIST DOCH ECHT TOTAL SCHWUL!“, brüllte David. Dings fing laut an zu lachen. David starrte ihn an. „Oh, nein... Ich bin doch nicht schwul!“, feixte Sascha, „Ich bin bi!“ David versteinerte. Oh, na ja, das war natürlich etwas vollkommen anderes... „Ich verstehe...,“ meinte er kühl, „Du vögelst nicht nur Männer, du vögelst auch Frauen, halt alles, was du kriegen kannst...,“ „Nun, doppelte Sexualität heißt eben doppelter Spaß!“, gab Dings unumwunden zu und grinste fröhlich weiter. David schüttelte den Kopf. Seine Hände zitterten. „Mach, was du willst...,“ grollte er leise, „Aber lass mich damit in Frieden.“ Er wirbelte herum, hastete die Treppe hoch und in sein Zimmer. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Erleichtert atmete David aus, schloss das Fenster und ließ sich auf seine Matratzen fallen. Seine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an. Boah, was für ein Schock... Dieser Typ hatte sie wirklich nicht mehr alle beisammen. Ihn aufzufordern, ihm einen zu blasen! Einfach so! Als wäre es um...keine Ahnung, ums Einkaufen gegangen. Er hatte doch nicht ehrlich erwartet, dass er ja sagen würde? Gott... Was sollte er jetzt nur tun? Gab es eine Möglichkeit, diesem Scheißkerl irgendwie aus dem Weg zu gehen? Er wollte damit absolut nichts zu tun haben. Nichts. Niemals wieder. Aber was sollte er nur machen? Sein Magen knurrte und er verdrehte die Augen. Das war doch alles Absicht gewesen. Erst hatte er ihn mit diesem Essen geködert und seinen Hunger angestachelt und dann seinen Hammer ausgepackt. Doch egal wie hungrig er jetzt war, er konnte nicht in die Küche zurück. Da würde er sowieso niemals wieder hingehen. Jedenfalls nicht, solange Mr. Ich-Bin-Bi da noch irgendwo rumhing und von einem Blow-Job träumte. David schaute sich in seinem Zimmer um und seufzte schwer. Langsam beruhigte sich sein Puls wieder. Trotzdem... Immer wieder zuckten Bilder vor sein inneres Auge. Bilder von einem Gesicht, an das er nie wieder hatte denken wollen. Hastig stand David auf und stürzte sich auf die erste Arbeit, die ihm in den Sinn kam. Mit einiger Anstrengung schob er seine Matratzen senkrecht in eine Ecke und stellte den Celloständer direkt daneben. Der Kleiderschrank vielleicht neben das Fenster? Und wo sollte der Tisch hin? Da klopfte es. David fuhr zusammen. Wie schreckhaft er geworden war... „Was?“, schnauzte er. Die Tür öffnete sich und Sascha steckte den Kopf herein. Davids Herz begann auf der Stelle zu flattern und sein Magen zog sich angstvoll zusammen. „Was willst du?“, blaffte er. „Mich entschuldigen...,“ kam die Antwort. David hob die Augenbrauen. „Tatsächlich?“, erkundigte er sich kühl. „Ja...,“ Dings wirkte wirklich etwas zerknirscht. Oder? Zögerlich betrat er das Zimmer. „Es tut mir Leid, dass ich dich so blöd angemacht habe. Das war falsch. Möchtest du nicht wieder runter kommen und mit mir weiter essen?“ „Woher weiß ich, dass du nicht wieder damit anfängst?“ „Ich verspreche es dir.“ Sascha knabberte an seinen Fingernägeln und sah ihn an. Zu seinem Widerwillen spürte David, wie sich sein Ärger und sein Misstrauen langsam verflüchtigten. Vielleicht war Dings ja schizophren? Dennoch... „Danke, aber ich habe keinen Hunger mehr,“ log David kalt und wandte den Blick ab, „Außerdem muss ich heute Abend noch meine Möbel verrücken.“ „Ich helfe dir dabei!“, sagte Sascha sofort und legte seine Hände bereitwillig auf Davids Kleiderschrank, „Dieser Schrank ist doch für Einen viel zu schwer.“ David fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das stimmte zwar, aber trotzdem...konnte er ihm trauen? Woher nahm er die Gewissheit, dass Mr. Ich-Helfe-Dir sich nicht sofort auf ihn stürzte, sobald er ihm den Rücken zu kehrte? Andererseits sah er wirklich so aus, als täte es ihm Leid und als wolle er helfen. Und was sollte schon passieren? Im Notfall würde er ihn schon in die Flucht schlagen können. „Also gut...,“ murmelte David und fasste nun ebenfalls nach dem Holz des Schrankes, „Der soll da neben das Fenster. Auf drei!“ Es dauerte etwas über eine Viertelstunde und ein wenig Schweiß, dann standen alle Möbel da, wo sie hingehörten. Die zwei Ärzteposter hingen über dem Bett. David war sehr zufrieden mit dem Endergebnis. Jetzt sah sein Zimmer richtig gemütlich aus. „Cool...,“ sagte er und sah sich lächelnd in dem Raum um, „Das haben wir gut hingekriegt, danke für deine Hilfe... Dings.“ Verdutzt schaute Sascha ihn einen Moment angesichts des Spitznamen an, dann lächelte er ebenfalls. „War mir ein Vergnügen...,“ Schmunzelnd wandte David sich ab und streichelte die freundlichen, gelben Wände. „Was hörst du überhaupt für Musik?“, fragte er Sascha, im Bestreben ein normales Gespräch mit ihm auszuprobieren. Möglicherweise schafften sie es ja, Frieden zu schließen. „House und...Cello...,” David wirbelte herum, die Stimme hatte sich plötzlich so nah angehört. Dings stand direkt vor ihm, auf seinem Gesicht das übliche Grinsen. „Wenn du mich Dings nennst...,“ flüsterte er heiser, noch bevor David ihn anschreien konnte, „...darf ich dich dann Bums nennen?“ Davids Herz setzte aus. Und dann, gerade als er zu einer lauten und wutentbrannten Erwiderung ansetzen wollte, küsste Sascha ihn heftig auf den Mund und verschluckte so jeden Fluch, der ihm auf der Zunge gelegen hatte. Er presste David mit seinem eigenen Körper an die Wand hinter ihm, pinnte dessen Hände, die wahllos nach einer Angriffsfläche zum Schlagen gesucht hatten, mit einer einzigen außerordentlich starken Hand über seinen Kopf, sodass David sich kaum mehr bewegen konnte. Seine Lippen ließen die Davids nicht los, nahmen ihm jede Luft zum Atmen und saugten ihm jegliche Kraft aus den Beinen. Ein Schaudern lief durch Davids Körper, sein Herz hämmerte und dann...begann sein Widerstand zu erlahmen. Betäubt erlaubte er, dass Sascha ihm mit den Knien die Oberschenkel auseinander drückte. Dann griff Sascha ihm fest und fordernd in den Schritt. David stöhnte in den wilden Kuss hinein, sein Verstand schien sich für einen Augenblick zu verabschieden, doch gleichzeitig erfüllte ihn das Geräusch aus seiner eigenen Kehle mit neuer Kraft. Plötzlich konnte er wieder denken und er riss seine Hände aus der fremden Umklammerung und stieß Sascha fauchend von sich fort. Sein Atem ging schwer, sein Herz raste, als ob er einige Kilometer gerannt war. Sein ganzer Körper zitterte und seine Augen sprühten Funken. „WAS SOLLTE DAS DENN?!“, brüllte er so laut, dass es sich anfühlte, als würden ihm gleich die Stimmbänder reißen, „BIST DU JETZT VÖLLIG VERRÜCKT GEWORDEN?!“ Er ließ Sascha gar nicht zu Wort kommen, stemmte die Hände in seinen Rücken und katapultierte ihn regelrecht aus seinem Zimmer. Er knallte die Tür zu, fingerte bebend nach dem Schlüssel und drehte ihn im Schloss um. Einmal, zweimal, dreimal. Dann verharrte er. In seinem Kopf drehte sich noch alles. Seine Beine fühlten sich so weich an, dass er sich an seinem Tisch festhalten musste. Er hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht damit. Wie konnte dieses Arschloch es wagen?! Ihn so dermaßen anzugraben? Er musste wirklich vollkommen irre sein. Das war das letzte Mal gewesen, dass er auf Dings reingefallen war. Garantiert! Noch einmal würde er sich das nicht zulassen. Wie hatte er ihm nur trauen können, auch nur für diese Viertelstunde? Frieden schließen? Gott, wie naiv er war! Er hatte doch inzwischen wirklich genug Erfahrungen mit Dings gesammelt. Wieso war er immer noch so vertrauensselig?! Er wollte sich gar nicht vorstellen, was hätte passieren können, hätte er schließlich nicht zu sich gefunden. Allein der Gedanke... Er schluckte krampfhaft und vergrub sein Gesicht einen Moment in den Händen. Allmählich beruhigte sich sein Körper wieder. Sein Puls verlangsamte und seine Beine fühlten sich wieder halbwegs normal an. Allerdings...spürte er da noch etwas anderes. David sah an sich herunter und wäre fast wieder zusammen gesackt. Er hatte eine Latte. Und zwar nicht zu knapp. Das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut. Kapitel 5: Absurd ----------------- Hey Leute :-)! Vielen Dank für Eure Geduld, hier kommt das 5. Kapitel und es ist - wie auch der Titel sagt - ganz schön absurd^^. Ich hoffe, Ihr mögt es und habt was zu lachen. Danke für all die lieben Kommentare :-)! Viele Grüße, BlueMoon ____________________________________________________________________ Zum zweiten Mal in dieser Woche hatte David eine kurze und anstrengende Nacht. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er seinen verwirrten Körper und seinen jammernden Magen unter Kontrolle gebracht hatte und als er endlich einschlief, waren seine Träume chaotisch und verstörend. Um zwanzig Minuten nach drei erwachte er schließlich davon, dass ihm eine dunkle Traumgestalt „BUMS“ ins Ohr brüllte. David fuhr aus dem Schlaf und saß aufrecht in seinem Bett. Sein Atem ging schwer und auf seiner Stirn perlte Schweiß. Durch die zugezogenen blauen Vorhänge leuchtete matt das Mondlicht ins Zimmer. Er seufzte erleichtert, als er erkannte, dass er sich allein in seinem Zimmer befand und weit und breit keine finstere Schattengestalt namens Sascha zu sehen war. Und dennoch... David fühlte wieder Dings’ Lippen auf den Seinen, seine Hand zwischen seinen Beinen... Hastig schüttelte er den Kopf, um diese Empfindungen loszuwerden. Er wischte sich mit dem nackten Arm die Schweißtropfen vom Gesicht, legte sich wieder hin und dachte mit aller Kraft an seine letzte Cellokomposition. Doch jetzt zu versuchen, wieder einzuschlafen war vergebliche Liebesmüh. Sein Magen knurrte so laut, dass er sich am Liebsten die Ohren zu gehalten hätte und das nagende Hungergefühl war inzwischen so stark geworden, dass er es nicht mehr ignorieren konnte. Es half alles nichts. Er musste aufstehen und etwas essen. Also hievte er sich ächzend aus seiner Bettdecke und erhob sich wacklig. Vorsichtig tapste er zu seiner Zimmertür, legte sein Ohr an das kühle Holz und horchte angestrengt. Es würde ihn nicht wundern, wenn Mr. Ich-Will-Dich-Bums-Nennen draußen am Treppenabsatz patrouillierte, um ihn abzufangen, sobald er sein Zimmer verlassen wollte. Doch auf der anderen Seite schien alles still zu sein. Himmel, er wurde wirklich langsam paranoid. Das war doch bescheuert. Wieso sollte Dings um diese Uhrzeit vor seiner Tür hocken? Trotzdem schlich David zu seinem Regal hinüber und sah sich seine Bücher an. Er entschied sich für Harry Potter und der Orden des Phönix. Es war das dickste Buch, das er in seiner Sammlung hatte und es sollte schwer genug sein, um Mr. Ich-Knutsch-Dich-An-Die-Wand im Notfall k.o. zu schlagen. Mit seiner Waffe unter dem Arm, schloss David so leise wie möglich die Tür auf und tappte auf den Flur hinaus. Noch immer trug er nur eine Boxershorts und ein T-Shirt. Er blieb stehen und lauschte mit angehaltenem Atem in die Finsternis. Nichts. Absolut nichts war aus seinem Ex-Zimmer zu hören. Genauso wenig wie aus dem zweiten Raum rechts, der neben Davids eigenem. In diesem Zimmer schliefen die Zivis, die Nachtschicht hatten und nicht im Zentrum wohnten. Ab diesem Abend also Ben. Lautlos atmete David aus und huschte auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und den dunklen Flur entlang. Aus dem Heizungsraum erklang gedämpft das Rauschen der Waschmaschine. In der Zivi-Küche angekommen, seufzte David erleichtert. Der Raum war dunkel, aber vertraut. Der Esstisch war abgeräumt worden und trug kein Zeichen des vergangenen Höllenessens mehr. Die Tür zum Seminarraum stand offen. David verfluchte den Umstand, dass es keine Tür gab, die die Küche vom Flur trennte. So konnte er kein Licht machen. Doch zum Glück fiel genug Mondlicht durch das Fenster hinein, es würde schon gehen. David legte Harry Potter auf das kleine Sofa und öffnete den Kühlschrank. Drei Minuten später ließ er sich neben das Buch auf das Sofa fallen und rührte hungrig in einem dampfenden Plastikbecher mit Instandnudeln in Tomatensoße. Er war wütend auf den Wasserkocher, da dieser sein Wasser so übertrieben laut gekocht hatte. Fast hatte David damit gerechnet, dass Sascha jeden Moment johlend aus seinem Zimmer gestürmt kam. Doch von oberhalb der Treppe war glücklicherweise noch immer kein Laut zu hören. David unterdrückte ein Gähnen und überlegte, ob Wahnsinn eventuell ansteckend war. Da trampelte dieser geisteskranke Kerl in sein Leben und machte ihn innerhalb von zwei Tagen so verrückt, dass er es jetzt für lebenswichtig hielt, um halb vier Uhr morgens in der unbeleuchteten Zivi-Küche zu sitzen, mit einem Harry Potter-Band bewaffnet. Er benahm sich wirklich lächerlich. Zugegeben, Dings hatte ihn gegen seinen Willen geküsst und befummelt, doch schließlich hatte er ihn doch abschütteln können. Wieso hatte er es dann bitte nötig, sich wie ein Irrer aufzuführen? Er rührte ein letztes Mal den Inhalt des Topfes um und begann dann endlich zu essen. Es schmeckte wunderbar. Wie hatte er nur jemals ein Steak diesen Nudeln vorziehen können? Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Scheiß auf Steak, Scheiß auf Mr. Ich-Grapsch-Dir-Unerlaubt-Zwischen-Die-Beine. David hatte sich gerade den letzten Rest seiner Nudeln in den Mund geschoben, als er ein Geräusch vernahm. Augenblicklich erstarrte er und lauschte mit aller Kraft. Tatsächlich. Im zweiten Stockwerk knarrte eine Tür und dann – hörte er leise Schritte auf der Treppe. Blankes Entsetzen packte David. Das war er! Das war Sascha und er war auf dem Weg in die Zivi-Küche! Zu ihm! David schluckte hastig ohne vorher zu kauen und sprang lautlos auf die Füße. Dabei vergaß er ganz seinen fast leerer Becher Nudeln und seinen Löffel. Beides fiel klappernd zu Boden. „Verfluchte Scheiße!“, zischte er verzweifelt. Die Schritte auf der Treppe waren verklungen. „Hallo? Ist da jemand?“, hörte er eine Stimme unsicher fragen. Saschas Stimme! Ganz sicher! Er hatte ihn gehört, jetzt wusste er, dass er hier war. Er konnte sich nicht mehr verstecken. Da half nur noch eins! David ließ die Beweise auf dem Boden liegen, packte Harry Potter und presste sich rücklings zwischen Sofa und Durchgang zum Flur still an die Wand. Präventivschlag! Sein Herz hämmerte einen ohrenbetäubenden Trommelwirbel, seine Hände waren feucht. Er vernahm, wie Mr. Ich-Treibe-David-In-Den-Wahnsinn sich wieder in Bewegung setzte und den Flur entlang, unabwendbar auf die Zivi-Küche zu ging. Langsam hob David das Buch. Seine Hände waren ganz ruhig. Dann durchschritt eine Gestalt den Durchgang. Ohne zu zögern, hob David das Buch und schlug mit voller Wucht zu. Jemand schrie erschrocken auf und der schwere Band traf krachend auf zwei Arme, die schützend vor einen Kopf geschnellt waren. „HEY! WAS SOLL DAS?!“, brüllte die Gestalt. David zuckte zurück und riss die Augen auf. Der Jemand vor ihm war dick und untersetzt und ganz offensichtlich nicht Sascha. Nein, ganz und gar nicht. Es war Ben. „Oh, Scheiße...!“, fluchte David und warf das Buch hinter sich auf das Sofa, „Ben, bist du okay? Tut’s dolle weh?“ „David?“, stieß Ben hervor und schlang seine vermutlich schmerzenden Arme umeinander, dann legte er los, „BIST DU BESCHEUERT?! WAS SOLLTE DAS DENN?!“ „Entschuldigung! Es tut mir Leid!“, beeilte sich David zu sagen und tastete nach Bens breiter Schulter, um ihn zu beruhigen, „Das war keine Absicht! Ich dachte, du wärst jemand anderes!“ „JEMAND ANDERES? UND WER BITTE SCHÖN?!“ „Hör bitte auf zu schreien! Ich dachte, du wärst...,“ er stockte, plötzlich wurde ihm die Absurdität der Situation bewusst, „Ich dachte, du wärst...ein Einbrecher...,“ „EIN EINBRECHER?!“ „BEN! JETZT HÖR AUF ZU BRÜLLEN, DU WECKST NOCH DAS GANZE HAUS!“ In der nächsten Sekunde vernahm David hektische Schritte und noch bevor er eine Bewegung machen konnte, kam eine weitere Gestalt in den Raum geschlittert. Sie war groß und schlank und trug nur eine lange Schlafanzughose. „Was ist passiert?“, keuchte sie, „Ist alles okay?“ Es war Sascha. Er war blass im Gesicht und seine Haare standen in alle Richtungen ab. David versteinerte von Kopf bis Fuß. Er und Ben starrten den Neuankömmling an. „Sascha!“, keuchte der dicke Zivi und atmete flach, „Was... Was machst du denn hier?“ „Wa... Ihr... Ich habe es krachen und schreien gehört und da...,“ antwortete Dings kopflos, David hätte es nicht für möglich gehalten, dass er so aufgeregt sein könnte, „Ich dachte, es wäre was passiert...! Was... Was macht ihr hier? Mitten in der Nacht? Warum... Warum schreit ihr so rum?“ „Frag ihn!“, fauchte Ben und deutete anklagend auf David, „Ich kam in die Küche und er hat mir eins übergezogen!“ Saschas Augen richteten sich auf David. In der Dunkelheit der Zivi-Küche waren sie nur schwarze Abgründe in weißlichem Nebel. David wollte gerade zu einer Verteidigung ansetzen, deren Inhalt er noch nicht genau kannte, als ein neues Geräusch erklang. Ein donnerndes Krachen. Ganz in der Nähe. Synchron fuhren die drei Zivis japsend zusammen. „Was war das?“, piepste Ben und grub seine Fingernägel in Davids Arm. „Keine Ahnung...,“ hauchte David. Sie lauschten angespannt. Ihr Atem klang keuchend in der Stille der Nacht. Davids Herz schlug so laut, dass er sich kaum auf andere Laute konzentrieren konnte. Es krachte wieder und erneut zuckten alle drei heftig zusammen. Sascha ging in die Hocke und kauerte sich am Boden zusammen. David und Ben taten es ihm automatisch nach. Es polterte ein drittes Mal und nun vernahmen sie außerdem noch ein Brüllen, leicht gedämpft, als ob es durch Stein zu ihnen hindurch dringen würde: „MATHILDA! MACH AUF, MÄUSCHEN! ICH BIN WIEDER DA!“ „Da... Da ist jemand...,“ flüsterte Ben vollkommen unnötig, seine Stimme zitterte. Panisch blickten sie sich um. David wirbelte zum Fenster herum und erwartete fast eine riesige Kreatur draußen stehen zu sehen, schwarz, mit leuchtenden Augen und blutenden Fäusten. Doch es war niemand da. Es donnerte wieder und erneut begann jemand rau zu brüllen. „MATHILDA! LASS MICH REIN!“ Die drei Zivis drückten sich eng aneinander. „Der Seminarraum...,“ wisperte David plötzlich. Schweratmend starrten sie sich an. „Du meinst...?“, hauchte Ben. Es krachte wieder. „Ich seh nach!“, zischte Sascha, wandte sich zu der offenen Tür zum Seminarraum um und begann leise und auf allen Vieren auf sie zu zukriechen. „Warte!“, hauchte David, in seinen Ohren rauschte es, alle seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, „Ich komme mit!“ Er machte sich von Bens Klammergriff los und kroch Sascha hinterher. „Wartet auf mich!“, fiepte Ben und beeilte sich, ihnen nach zu krabbeln. Stück für Stück, noch immer am Boden kniend, streckten sie die Köpfe um den Türrahmen und blickten in den ausgestorbenen Seminarraum hinein. Durch Ben, der sich angstvoll fest an ihn drückte, wurde David eng an Sascha gepresst. Seine nackte Haut fühlte sich auf seiner eigenen unglaublich heiß an. Fast spürte er den fremden, wilden Herzschlag durch ihren Körperkontakt in sich selbst übergehen. David schluckte trocken. Dort, hinter der gläsernen Seminarraumtür zum Hof hinaus, halb verdeckt von den Tischen und Stühlen, die in der Mitte des Raumes standen, hockte jemand. Eine massige Gestalt, mit dem Rücken zur Tür. „Da... Das ist bestimmt ein Betrunkener...,“ quiekte Ben und David spürte, wie er bebte. „Vielleicht will er ein Tier bringen?“, flüsterte David, „Aber...um diese Uhrzeit...?“ „Und dann würde er nicht nach Mathilda rufen...,“ wisperte Sascha zurück und sah ihn von der Seite her an. Plötzlich wurde David bewusst, wie unheimlich nah sie sich waren und er rückte unvermittelt einige Millimeter von Dings fort. Sein Hirn schaltete sich langsam wieder ein und verdrängte einen Teil seiner Panik. Das war doch total absurd! Hier hockten sie zu dritt am Boden und hatten Angst vor einem Betrunkenen, der nachts an eine Tür hämmerte. „Einer von uns...,“ flüsterte er und bemühte sich, seine Stimme fest und ruhig klingen zu lassen – gar nicht so einfach, wenn einem der Schreck noch so dermaßen in den Knochen steckte, „...muss da raus gehen und ihm sagen, dass er hier an der falschen Adresse ist. Hier wohnt keine Mathilda.“ „Du hast Recht...,“ stimmte Sascha zu und sie beide blickten zu Ben hinüber. Der schaute zurück. „Ich geh da nicht raus!“, fauchte er sofort. „Aber du hast Nachtschicht!“, zischte David durch die Schwärze. Draußen begann der Betrunkene leise und lallend vor sich hin zu singen. „Na, und?!“, fiepte Ben, „Ich müsste schon längst in der Futterküche sein und den letzten Hasen füttern. Ich–,“ „Ich geh schon!“, flüsterte Dings plötzlich und erhob sich langsam. David sah vom Boden zu ihm auf. Sein Puls pumpte verzweifelt Blut durch seine Venen, seine Haut prickelte. Er verspürte wie Ben nicht die geringste Lust, nach dort draußen zu gehen und einen besoffenen Riesen vom Gelände zu schicken. Dennoch...er fühlte sich für diese ganze bekloppte Situation verantwortlich. Sein Verfolgungswahn war Schuld. „Ich komme mit...,“ wisperte er entschlossen und stand ebenfalls auf. Sascha betrachtete ihn kurz, dann huschte ein unmerkliches Lächeln über sein Gesicht. Jedoch nicht gefährlich und anzüglich wie sonst, sondern eher...dankbar. „Okay...,“ hauchte er. David wandte sich an Ben: „Hast du deinen Schlüssel?“ Der dicke Zivi kramte in der rechten Hosentasche seiner Jeans und reichte ihm einen Schlüsselbund. David nickte Dings zu und gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Ben blieb hockend im Türrahmen zur Zivi-Küche zurück. Ihre bloßen Schritte klangen hell und klatschend auf dem Parkettboden, als sie sich der Seminarraumtür näherten. David zitterte ein wenig und widerstand der Versuchung, sich wieder näher an Sascha zu drücken. Dann erreichten sie die Tür. Mr. Todesmutig hob die Hand und klopfte mit den Fingerknöcheln sanft an die Glasscheibe der Tür. Diesmal war es der Mann draußen, der zusammen zuckte. Er wandte sich um. Der Mond beschien sein Profil. Tiefe, dunkle Furchen zogen sich durch seine Miene, seine Augen wirkten alt und traurig. Wankend erhob er sich und tappte einige Schritte von der Tür zurück, sodass David die Tür aufschließen konnte. Er war fast zwei Meter groß und hatte Muskeln wie ein Bodybuilder. „Guten...Abend...,“ begrüßte Sascha ihr Gegenüber behutsam. „N’Abend...,“ antwortete der Bodybuilder unsicher und deutlich lallend, „Ich bin der Leopold. Ist...ist Mathilda nicht da?“ „Nee, ich fürchte nicht...,“ erwiderte Sascha vorsichtig, „Ich denke, Sie haben sich im Haus geirrt... Hier wohnt keine Mathilda. Dies hier ist das Tierschutzzentrum.“ „Oh...,“ machte Leopold bekümmert und kratzte sich den Bauch, „Ich...hatte mich schon gewundert...wo die Hecke geblieben ist...,“ er ließ seinen trüben Blick über die Backsteinmauern des Zentrums wandern, „...da habe ich wohl...was übersehen...,“ „Vermutlich...,“ sagte Sascha freundlich, „Wenn Sie mir die Adresse sagen, kann ich Sie...nach Hause bringen, wenn Sie möchten...,“ David traute seinen Ohren nicht. Hatte er ihm das gerade wirklich angeboten? Er wollte Mr. Lebensmüde gerade auf den Fuß treten, als Leopold wieder das Wort ergriff: „Nee, nee...lass man, Junge... Ich schaff das schon... Jetzt fällt es mir wieder ein... Sie sagte, die zweite Straße rechts...,“ er räusperte sich und winkte, „Gute Nacht. Sorry, dass ich solchen Krach gemacht hab...,“ Wankend und leise singend machte sich Leopold auf den Weg zu Mathilda. David und Sascha blickten ihm nach, bis er hinter der Häuserecke verschwunden war. Dann machten sie die Tür wieder zu und David schloss ab. Einmal. Dings seufzte laut. „Boah, so ein Stress mitten in der Nacht... Ben, du kannst aufstehen, er ist weg...!“ Sie hörten ein eiliges Kleiderrascheln, dann tauchte Bens Kopf auf. „Na, endlich...,“ murrte er, „Gib mir meinen Schlüssel wieder, ich muss jetzt zu den Hasen...,“ David gab ihm sein Schlüsselbund zurück und ohne ein weiteres Wort hastete der dicke Ben durch die Zivi-Küche hindurch und über den Flur. Hinter ihm fiel die Tür zum Hof leise klickend ins Schloss. David schnaubte. „So ein Vollidiot!“ Sascha blickte ihn an und David blickte zurück. Auf Dings Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Aber auch dieses Grinsen war anders, als sein übliches Sexgrinsen. Es war freundlich und erleichtert und sympathisch. Dann begann er zu kichern und schüttelte den Kopf. David starrte ihn an und – begann ebenfalls leise zu lachen. Und mit jeder lachenden Sekunde spürte er, wie der Schreck und die Panik aus seinem Körper wich und er sich entspannte. Was für eine absurde Nacht. „Komm...,“ forderte Sascha ihn lächelnd auf, „Trinken wir was.“ David folgte Dings schmunzelnd in die Zivi-Küche. Während der Andere den Kühlschrank öffnete und eine weiße Glasflasche herausholte, sammelte er seinen leeren Nudelbecher und den Löffel vom Boden auf und warf beides in die Spüle. Darum würde er sich am Morgen kümmern. Sascha lehnte sich an den Kühlschrank, schraubte den Deckel der Flasche auf und nahm ein paar große Schlucke. Er ächzte zufrieden und reichte sie anschließend David. Ohne auf das Etikett oder den beißenden Geruch zu achten, setzte er an und trank. Es war Wodka, er verbrannte ihm Mund und Rachen und füllte ihn mit Wärme. Er hustete etwas, wischte sich über die Lippen und sah Mr. Trinken-Wir-Was nachdenklich an. „Das war...klasse...wie du das mit...Leopold...,“ er gluckste leise, „...geregelt hast. Ich...hätte nie erwartet, dass du...,“ er zögerte. Er wollte nicht gemein klingen, doch es war ja die Wahrheit, „...dass du so mit Menschen umgehen kannst...,“ Dings erwiderte seinen Blick. Das Mondlicht, das durch das Fenster fiel, malte Muster auf seinen nackten, durchtrainierten Oberkörper, sein Haar fiel ihm inzwischen weich in die Stirn, sein markantes Gesicht war entspannt und ohne jeglichen Hauch einer bösen Absicht. Er sah richtig...gut aus. Verflucht! „Ich...mag Menschen, besonders Kinder...,“ meinte Sascha schließlich, „Eigentlich auch lieber als Tiere...,“ David stutzte und nahm noch einen Schluck Wodka. „Wieso machst du deinen Zivi dann hier und nicht...zum Beispiel in einem Kindergarten oder so?“ „Weil...Bettina meine Tante ist,“ lautete die knappe Antwort und Dings zuckte die Schultern. Als er wieder sprach, klang ein wenig unterdrückte Bitterkeit in seinen Worten mit. „Meine Mutter...hat das geregelt. Sie meinte, es würde mir gut tun...,“ „Und hat sie Recht?“, wollte David wissen und reichte ihm die Wodkaflasche zurück. „Vielleicht...,“ antwortete Mr. Immer-Für-Überraschungen-Gut und seine Stimme verlor sich in der immer noch finsteren Zivi-Küche. Er nippte an der Flasche, seine dunklen Augen auf David gerichtet. Der witterte augenblicklich Gefahr und runzelte die Stirn (wo war das Buch...?). Aber in Dings Miene war noch immer kein Anzeichen eines möglichen Hinterhalts zu entdecken. Er schien lediglich in Gedanken zu sein. „Ja... Ja, doch... Ich glaube, dass es mir gut tun wird...,“ sagte er schließlich, senkte den Blick und streichelte geistesabwesend mit seinem Zeigefinger den Flaschenmund, „Es...ist eine Ehrlichkeit in allem hier, die... Na ja, es...es ist schön hier...,“ Sein Gesicht hob sich wieder und seine Augen suchten erneut die Davids. Sie sahen sich an und schwiegen. David öffnete den Mund. Er wollte fragen, was los war, wieso er plötzlich so anders war. Hatte er ihm nicht am vergangenen Abend noch ein Blow-Job Angebot gemacht und ihm danach ungestüm zwischen die Beine gefasst, um ihn zu verführen? Wieso stand er dann jetzt reglos vor ihm, befingerte eine Flasche und sagte sowas eigentümlich Sanftes. Danach hatte er wirklich eine Bewusstseinsspaltung? Mit einem Mal kam sich David bescheuert und fies vor. Er hatte dem dicken Ben tatsächlich eins über die Rübe gebraten, weil er gedacht hatte, es wäre Sascha. Dieser Verfolgungswahn hatte ihn kontrolliert, sodass er sich benommen hatte wie ein Riesenesel. Er wusste selbst nicht genau weshalb, doch plötzlich verspürte er den Drang, sich bei Dings zu entschuldigen. Aber für was? Mr. Schizophren hatte schließlich keine Ahnung von den näheren (und ferneren) Umständen der nächtlichen Ruhestörung und der Bedeutung des Harry Potter-Bandes, der irgendwo hinter ihm auf dem Sofa lag und jetzt sicher eine Delle hatte. Er wusste, wenn Sascha jetzt versuchen würde, ihn zu küssen, dann würde er sich nicht dagegen wehren. Und dieses Wissen...machte ihm Angst. Sobald David das erkannt hatte, zuckte sein ganzes Ich zusammen. Er musste schleunigst ins Bett kommen, bevor er einen Fehler beging, den er später garantiert bereuen würde. „Ich... Ich denke, ich sollte jetzt ins Bett...,“ murmelte er unsicher und griff nach dem Buch, das seelenruhig und zum Glück beulenlos auf dem Sofa lag. „Ja, du hast Recht...,“ schreckte auch Dings aus seinen Gedanken und stellte die Wodkaflasche zurück in den Kühlschrank. Gemeinsam gingen die beiden Zivis schweigend den Flur entlang und die Treppe hoch. Am Treppenabsatz verabschiedeten sie sich und Sascha ging kommentarlos in sein Zimmer. Auch David schloss seine Zimmertür hinter sich. Er blieb stehen und wartete, lauschte, auf erneute Schritte, ein Klopfen an der Tür, aber alles blieb still. Dings kam nicht noch einmal zurück. Leise ließ David die Luft aus seiner Lunge entweichen und berührte den Schlüssel, der im Schloss steckte. Doch er schloss nicht ab. Stattdessen räumte er Harry Potter in das Regal und kuschelte sich anschließend ins Bett. Er horchte, doch alles, was er hörte, war Franziska, die Uhudame, die leise in der Ferne huhute. David schloss die Augen. Das war doch absurd. Kapitel 6: Pervers ------------------ Hey Leute :-)! So, hier ist endlich das nächste Kapitel. Sorry, dass es wieder so lange gedauert hat, aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich 1. alles noch mal umgeschrieben und 2. gestern mit meiner herzallerliebsten Paperflower in Münster war und mir WGs angeschaut habe. So, ich hoffe, Ihr habt Spaß und amüsiert Euch über Sascha, den Volltrottel^^. Liebe Grüße, BlueMoon ____________________________________________________________________ Der nächste Morgen kam für Davids Geschmack viel zu schnell. Kaum war er eingeschlafen, war es auch schon wieder halb acht und sein Wecker meldete sich mit einem nervenzerfetzenden Klingelton zu Wort. David, der sich wie eine Katze zu einer Kugel zusammen gerollt hatte, erwachte sofort, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Er ächzte verzweifelt und zog sich seine Bettdecke über den Kopf, im Bestreben das grässliche Geräusch auszublenden. Doch es klappte nicht. Mit nach wie vor geschlossenen Augen streckte er einen Arm aus seiner weichen Bettfestung und tastete am Boden hektisch nach dem Ursprung allen Unheils. Als er ihn fand, begann er planlos auf ihn einzuschlagen, bis er endlich verstummte. David seufzte erlöst, atmete dreimal ein und aus und schlug dann die Bettdecke zurück. Gedämpftes Sonnenlicht fiel hellblau durch die Vorhänge ins Zimmer. „Verdammte Scheiße...,“ fluchte er leise und richtete sich mühsam auf. Er fühlte sich wie gerädert. Seine Lockenpracht stand ihm wie eine Afromähne vom Kopf ab und unter seinen Augen wirkte die Haut leicht gräulich. David gähnte wie ein Scheunentor, rieb sich die Augen und sah sich matt blinzelnd im Zimmer um. Als erstes fiel sein Blick auf Harry Potter und der Orden des Phönix, das in der Bücherreihe weiter vorne als alle anderen stand. Er musste schlucken. Das Buch stand unbeteiligt zwischen seinen Kollegen, als wolle es sagen: Ich bin völlig unschuldig! Doch David wusste es besser. Mit diesem Schinken hatte er Ben beinahe den Kopf eingeschlagen. Er dachte an Leopold und fragte sich, ob er seine Mathilda wohl noch gefunden hatte. Dann dachte er an Sascha. Sein Magen machte einen spontanen Salto, als er sich an die eigentümliche Stimmung in der Zivi-Küche erinnerte. Himmel, was genau war gestern Nacht eigentlich mit ihm los gewesen? Mit ihnen beiden? Am Abend hatte Dings sich noch wie ein perverser Irrer gebärdet und ein paar Stunden später hatte er in der Küche gestanden und sich benommen, wie... Ja, wie was eigentlich? Wie ein normaler Mensch? Oder gar ein Kumpel? Aber dazu hatten seine eigenen Gefühlsanwandlungen nicht gepasst. David stöhnte und raufte sich die Haare. Das musste am Wodka gelegen haben! Niemals, unter gar keinen Umständen hätte er sich nüchtern gewünscht, dass Sascha ihn küsste und ihn auf seinem Zimmer besuchte. Niemals! Nicht der! Er strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn und fühlte in sich hinein. Er konnte es drehen und wenden wie er wollte, doch die Wut und die Empörung, die der letzte, haarsträubende Abend in ihm geschürt hatte, waren verschwunden. Stattdessen fühlte er jetzt so etwas wie Neugier und Sympathie. Konnte eine einzige Stunde in gemeinschaftlicher Aufregung und anschließender Entspannung das bewirken? Was war denn bitte passiert, dass sich seine Abneigung so rasch gelegen haben könnte? Nichts. War es vielleicht das? Die Tatsache, dass nichts passiert war, außer einem kleinen, netten Gespräch und einem Schluck Wodka? Kein einziges Mal hatte Dings auf diese grässliche Weise gegrinst, die David schon zu fürchten gelernt hatte. Alles sehr merkwürdig. Wie auch immer. David hatte keine Lust sich wegen so einer Nichtigkeit verrückt zu machen. Es war Dienstagmorgen und umso länger er hier saß, desto weniger Zeit würde ihm zum Frühstücken bleiben. Außerdem...wo war das Problem? Richtig, es gab keins. Nach ihrem unglückseligen Start würde es jetzt bestimmt besser werden. Mr. Plemplem hatte sich ihm von einer anderen Seite gezeigt, einer Seite, die David sympathisch fand. Wenn er jetzt nicht wieder in seine Rolle als Drecksack zurückfiel, dann würden sie sogar Freunde – und die Betonung lag auf Freunde – werden können. Ganz sicher. David zwang sich aufzustehen, zum Fenster zu trotten und die Vorhänge beiseite zu ziehen. Draußen strahlte bereits die Sonne und blendete ihn fröhlich. Der Himmel war blau und wolkenlos. In den Bäumen begrüßten einige Vögel zwitschernd den neuen Morgen. Es schien ein schöner Tag zu werden. David wandte sich vom Fenster ab und begann seine Arbeitsklamotten zusammen zu suchen. Fünf Minuten später steckte er in einer alten und löchrigen Jeans, seinen grünen Gummistiefeln und einem ausgeblichenen grauen Poloshirt, das einmal seinem älteren Bruder Julian gehört hatte. Zum Schluss schnappte er sich noch seinen alten, dunkelblauen Kapuzenpulli und seine gestreifte Strickmütze, unter der er mit einiger Anstrengung seine wilde Haarmähne versteckte, sodass nur noch ein paar vorwitzige Blondsträhnen zu sehen waren. Dann verließ er sein Zimmer. Auf dem Treppenabsatz blieb er kurz stehen, um zu lauschen. Noch drang nicht der geringste Laut aus dem Raum. Vermutlich verschlief der Idiot wieder und er, David, durfte dann wieder loseiern, um ihn zu holen. Wenn er ihm erneut nackt die Tür öffnete, würde er ihm zur Begrüßung wortlos in die Säcke treten. So machte man das unter Freunden. Grinsend trabte er die Treppe runter und in die Zivi-Küche. Sie war verlassen und außer einem kleinen Tomatenfleck auf den Fliesen wies nichts auf die merkwürdigen Geschehnisse der letzten Nacht hin. Die Tür zum Seminarraum war noch immer offen und aus den Büroräumen drang leises Klappern zu ihm hinunter. Luise, die halbtags im Büro half, war wohl schon da. David warf seinen Pulli auf die Sitzbank, wischte die Soße vom Boden auf und schlurfte ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen. Anschließend kochte er Kaffee und begann sich aus pappigem Müsli und labbrigem Toast ein Frühstück zu zubereiten. Um kurz vor Acht – David schenkte sich gerade Kaffee nach – hörte er die typischen Schlüsselgeräusche an der Tür zum Hof und einen Moment später stand Heiko in der Zivi-Küche. „Morgen, Lockenkopf!“, begrüßte er David barsch und warf die Bildzeitung so kunstvoll auf den Tisch, dass sie in Davids Müsli klatschte. „Morgen...,“ gähnte David zurück und angelte die Zeitung aus ihrem milchigen Landeplatz. Heiko war in seiner ewigen Hast schon wieder in Richtung Büros verschwunden. Eine halbe Stunde später saß David neben Linda auf der Eckbank am Esstisch und schlürfte seinen zweiten Kaffee. Inzwischen waren alle da. Na ja, fast alle. „Wo is’n Sascha?“, fragte die kleine Praktikantin mit gedämpfter Stimme an ihn gewandt. In ihrem knallroten Schulpullover passte der Spitzname Zwerg noch besser zu ihr. „Keine Ahnung, hat vermutlich wieder verpennt,“ zischte David zurück. Linda verdrehte die Augen. „So ein Trottel...,“ flüsterte sie und kicherte. „Allerdings...,“ David grinste zurück und trank einen Schluck Kaffee. Ja, er war wirklich ein Trottel. Die Chefin würde jede Minute auftauchen. Cindy, ihre wuschelige Mischlingshündin, hatte ihre Nase verbotenerweise schon in die Zivi-Küche gesteckt. Dementsprechend war Bettina schon da und Neffe oder nicht, sie bestand auf die Pünktlichkeit ihrer Mitarbeiter und würde über die neuerliche Verspätung garantiert nicht sonderlich begeistert sein. Aber bitte. Wenn er zu blöd war, um sich einen Wecker zu stellen, dann war das sein eigenes Problem. „Ich habe einen Witz für dich, Zwerg,“ sagte Heiko zu Linda und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, „Rotkäppchen geht im Wald spazieren und geht in ein Gebüsch, um zu pinkeln. Da sieht sie den Wolf. `Oh, Wolf, warum hast du denn so große Augen?´, fragt sie ihn. Der Wolf dreht sich um und sagt: `Was’n los? Kann man hier nicht mal in Ruhe kacken?´“ Gemeinsam mit Miriam und David brüllte Linda vor Lachen. Freddy stand wie immer am geöffneten Fenster und verstummte in seinem Gespräch mit Sebastian, der auf dem Sofa saß, um ihnen einen kritisch amüsierten Blick zu zuwerfen. Beide rauchten und der Qualm ihrer Zigaretten waberte elegant über ihren Köpfen umher. Eric saß neben Sebastian und lachte ebenfalls. Halb neun. Die Chefin kam die Treppe von den Büroräumen hinab getrappelt und erschien einen Augenblick später in die Zivi-Küche. Tja, Dings. Das war’s dann wohl. „Guten Morgen!“, begrüßte sie ihre Mitarbeiter freundlich, „Also, wie jeden Morgen: Wer will was machen?“ Drei Minuten später hatte jeder der Anwesenden seine Aufgabe und David war mit seiner nicht besonders zufrieden. Er hatte Pech gehabt. Bevor er noch eine Entscheidung getroffen hatte, nach welcher Arbeit ihm heute der Sinn stand, waren auch schon alle guten Sachen verteilt gewesen und er hatte folgenden Genickschlag gehört: „Und du, David, kannst schon mal damit anfangen, die Äpfel auf dem Gelände einzusammeln. Für die Papageien.“ Na, großartig. Aber immerhin war das Wetter gut. Gemeinsam mit den Anderen ging David aus der Zivi-Küche, über den Hof und in die Futterküche. Ben stand an einer der Arbeitsflächen und zerschnitt ein totes Küken. „Morgen...,“ murrte er, als die Mitarbeitertraube eintrat. Er sah müde und grimmig aus. „Bäh!“, machte Linda, als ihr Blick auf das blutige Küken fiel. Allen voran kritzelte sie ihren Namen in das Tagesprotokoll, verabschiedete sich trällernd und verschwand zu ihren geliebten Papageien. Nachdem David sich ebenfalls eingetragen hatte, verließ er die Futterküche wieder und überquerte den Hof in Richtung Müllhütte. In diese Holzbude wurden alle Restmüllsäcke geworfen, wodurch es in ihrem Umkreis immerzu durchdringend stank. An ihrer einen Seite lehnten fünf Schubkarren. Die ersten drei von ihnen hatten einen Platten, die Vierte war über und über mit getrocknetem Schlamm überkrustet. David wählte die Fünfte. Während er die Karre über den Hof und auf den gekiesten Rundweg für die Besucher schob, pfiff er fröhlich vor sich hin. Die Oktobersonne stand hell am Morgenhimmel und schien ihm warm auf die nackten Arme. Die Luft war erfüllt vom Zwitschern der Vögel und dem Gesumme von Insekten, die noch an den Sommer glaubten. Es war ein herrlicher Herbsttag und vermutlich auch einer der letzten. Gegenüber den drei Ostvolieren, in denen zur Zeit fünf Schleiereulen, zwei Waldkäuze und ein Mäusebussard wohnten, stand der erste Apfelbaum. David stellte die Schubkarre ab und begann die am Boden liegenden Äpfel aufzulesen. Die frischen, guten warf er mittelmäßig behutsam in die Karre, die faulen schmiss er rücksichtslos ins Gesträuch. Gleich hinter den Ostvolieren begannen die Außengehege der Papageien. Linda hüpfte in ihnen umher, öffnete die Klappen in den Türen, sodass die exotischen Vögel nach draußen gelangen konnten, um die Sonne zu genießen, schrubbte Dreck weg und sang dabei, wie sie es immer bei der Arbeit zu tun pflegte. David lauschte ihrem Gesang, der hell und klar zu ihm hinüber wehte, während er pflichtbewusst Äpfel sammelte. „I have a dream, a song to sing, To help me cope with anything. If you see the wonder of a fairytail, You can take the future, Even if you fail. I believe in angels, Something good in anything I see, I believe in angels, When I know the time is right for me, I’ll cross the stream, I have a dream.” Langsam aber sicher arbeitete David sich voran und nach einer Stunde schob er die bereits zu zwei Dritteln gefüllte Schubkarre über den Kiesweg an den Westvolieren vorbei und parkte sie vor einem der großen Freilandterrarien. Der Boden des Terrariums war dick mit Sand bestreut und mehrere Steine und Äste bildeten die Inneneinrichtung. Hier wohnte Caspar, der allzeit schlecht gelaunte Nilwaran. Er war knapp über einen Meter lang, seine Schuppen waren gelb und grün gefleckt und wenn er ärgerlich war – was er, wie gesagt, immer war –, dann schlug er vorzugsweise mit seinem Schwanz gegen die Glasscheibe. So auch an diesem Dienstag, als David mit den Fingerknöcheln leicht gegen das Glas pochte. Es knallte, als Caspar sich zornig aufrichtete und seinen Schwanz peitschen ließ. David lachte. „Guten Morgen, Caspar. Freut mich, dass du gute Laune hast. Dein Frühstück kommt bestimmt bald. Sebastian und Miri machen heute draußen,“ informierte er den fauchenden Waran. Dann wandte er sich dem nächsten Apfelbaum zu. Hier konnte er Linda leider nicht mehr singen hören. Er würde sich also selbst etwas vorsingen müssen. Mhm... Nee, eher nicht. Eine halbe Stunde später streckte David sich laut ächzend. Sein Rücken und sein Nacken schmerzten vom ewigen Beugen. Die Schubkarre war bis oben hin voll mit rotgelben, glänzenden Äpfeln. Er setzte sich auf den Rand der Karre, die inzwischen schwer genug war, um ihn zu tragen, suchte sich den schönsten Apfel aus und biss genüsslich hinein. Eine leichte Brise sang mit den restlichen, gefärbten Blättern im Wind und zauberten ihr Schattenspiel auf den Kiesboden und auf Davids Haut. Gemeinsam mit ein paar Wolken segelte ein Schwarm Vögel über den türkisen Himmel. David nuckelte an dem saftigen, süßsauren Fruchtfleisch, starrte in die Luft und hatte sich gerade entschlossen, dass es sich bei dem weit entfernten Vogelschwarm um Tauben handelte, als ein Ruf seine Ohren erreichte: „HUHU, DAVID!“ David fuhr zusammen und fahndete mit den Augen nach dem Urheber des Rufes. Sein Blick fiel auf den Waschplatz, den man von seinem Platz aus zwischen ein paar Bäumen hindurch gut sehen konnte. Und da stand er. Mit einem Wasserschlauch in der Hand, zwischen dreckigen Eimern und verschmierten Tierboxen: Dings. Grinsend und winkend. Unvermittelt breitete sich auf Davids Gesicht ebenfalls ein Lächeln aus. Er winkte zurück. Sascha warf einen Blick über seine Schulter, zurück zur Tür, die in die Futterküche führte. Dann ließ er den Schlauch zu Boden fallen und setzte sich in Bewegung. Richtung David. Der Kies knirschte unter den gelben Gummistiefeln, die er trug, als er näher kam. „Hey...,“ begrüßte er David fröhlich. Sein weinrotes, übertrieben enges T-Shirt und seine Jeans waren an mehreren Stellen nass und seine muskulösen Unterarme waren übersät von Wassertropfen, die in der Sonne glitzerten. „Guten Morgen,“ erwiderte David schmunzelnd, „Wer hat dir erlaubt, meine Gummistiefel zu tragen?“ Sascha grinste schuldbewusst und setzte sich auf einen kniehohen Stein, der neben dem Apfelbaum im Blumenbeet stand. „Entschuldige bitte. Ich hätte dich fragen sollen, aber durch meine Verspätung, hatte ich dazu keine Zeit mehr. Wenn es dich stört, dann zieh ich meine eigenen Schuhe an.“ „Red keinen Unsinn,“ winkte David ab und griff in die Schubkarre hinter ihm, „Magst du auch einen? Wie du siehst, habe ich genug davon.“ Dings lachte. Es klang angenehm und unbeschwert. So hatte David ihn noch nie lachen gehört. „Ja, sehr gern. Du warst anscheinend schon sehr fleißig.“ „Das kannst du laut sagen, mir tut alles weh,“ klagte David und reichte Mr. Ich-Klaue-Gummistiefel den zweitschönsten Apfel seiner Sammlung. „Danke...,“ machte Sascha, nahm den Apfel entgegen und biss hinein. Es knackte, als seine weißen Zähne sich durch die Schale, in das feste Fruchtfleisch bohrten. An seinem Kinn lief ein Tropfen Saft entlang. Geistesabwesend wischte er ihn fort. „Sag mal...,“ schmatzte er und schluckte den ersten Bissen hinunter, „Kann es sein, dass Freddy manchmal ziemlich...grimmig ist?“ David musste lachen. „Ja, das kann man schon so sagen... Wenn Freddy schlechte Laune hat, kann er ganz schön...böse werden. Dann sollte man sich von ihm fern halten. Wieso?“ „Er hat mich ganz schön angefahren, nach meiner erneuten Verspätung,“ erzählte Mr. Ich-Habe-Ärger-Mit-Freddy zerknirscht, „Und dann meinte er, ich müsse zur Strafe die Wannen auf dem Waschplatz schrubben.“ David gluckste. „Nimm’s nicht persönlich. So ist er manchmal. Am besten du bist ab jetzt einfach pünktlich.“ „Danke für den Tipp.“ „Gern geschehen.“ Sie lächelten sich an und bissen in ihre Äpfel. In der Ferne verlangte Krähenboss Corvus krächzend nach seinem Frühstück. David fühlte sich entspannt. Die Pause tat ihm gut und gemeinsam mit einem Freund konnte er sie noch mehr genießen. Er fühlte sich sicher. Vielleicht stellte er deshalb diese Frage, die zum wiederholten Mal etwas ändern sollte. „Wieso bist du eigentlich schon wieder zu spät gekommen? Hast du verschlafen?“ „Nö, eigentlich nicht...,“ antwortete Dings unbekümmert und saugte kurz an der saftigen Wunde, die er seinem Apfel beigebracht hatte, „Ich hatte nur einen feuchten Traum und war nach dem Aufwachen so geladen, dass ich erst mal onanieren musste.“ David verschluckte sich an seinem Apfel. Er hustete und prustete und seine Augen tränten. Sascha stand mit besorgtem Gesicht auf, um ihm auf den Rücken zu klopfen. „Geht’s wieder?“ „Ja...,“ krächzte David und wischte sich über die Augen, „Was erschreckst du mich auch so...?“ „Du hast mich doch gefragt,“ erwiderte Mr. Ich-Onaniere-Vor-Der-Arbeit unschuldig, grinste dazu aber breit. „Hätte ich mal nicht...,“ murmelte David. Er verspürte plötzlich keine Lust mehr auf seinen Apfel und er warf ihn ins unkrautverseuchte Beet. Dann sah er das Schmunzeln auf Dings Gesicht. Ihm wurde ganz anders. Oh nee, nicht jetzt. Nicht schon wieder so was. Bitte nicht! Doch jetzt gab es kein Zurück mehr... „Soll ich dir verraten, von wem ich geträumt habe?“, erkundigte Sascha sich heiter lächelnd und biss in seinen Apfel. David sah ihn voller Misstrauen an. „Nee, lass mal...,” antwortete er und erhob sich vom Schubkarrenrand, „Ich muss jetzt auch weiter sammeln. Hier liegen noch eine Menge–,“ „Ich habe von dir geträumt!“, unterbrach Mr. Ich-Hatte-Einen-Feuchten-Traum ihn strahlend und gab sich gar keine Mühe, seine Freude darüber zu verbergen. David fühlte einen fetten Knoten in seiner Kehle und den Wunsch, Äpfel Schubkarre sein zu lassen und schnell das Weite zu suchen. „Hör mal, Sascha...,“ begann er kühl und mit zusammen gezogenen Augenbrauen, „Du kannst träumen, was du willst und dir einen runterholen, wann immer du den Drang dazu verspürst. Aber bitte, lass mich damit in Ruhe. Ich will nämlich wirklich nicht wissen, was–,“ „Schade!“, schnitt Dings ihm erneut das Wort ab und schmiss seinen Apfel lässig ebenfalls ins Blumenbeet, „Dabei war es so geil... Wir waren wieder in deinem Zimmer... Wie gestern Abend, weißt du?“, seine Stimme klang so unbekümmert und munter, als würde er David von der schicken Designerjacke erzählen, die er sich neu gekauft hatte, und nicht von einem sexuellen Traum, den er ausgerechnet mit ihm genossen hatte. „Sascha!“, knurrte David eindringlich und packte die Griffe der Schubkarre – er hatte sich spontan entschlossen, die Schubkarre erst auszuladen, bevor er weiter sammelte, „Ich will es nicht hören!“ Er versuchte die Schubkarre anzuheben, aber sie war schon viel zu schwer. Er fluchte unterdrückt. Seine Hände wurden feucht und sein Herz begann schneller zu klopfen. „Ich habe dich langsam, Stück für Stück ausgezogen und deinen ganzen Körper mit Küssen übersät...,“ schnurrte Mr. Ich-habe-Von-Dir-Geträumt weiter, als hätte er David nicht gehört. Dem war inzwischen entschieden schlecht. Er überlegte, sich die Ohren zu zuhalten und laut schreiend davon zu rennen, „...und du hast leise gewimmert und immer wieder meinen Namen gekeucht, das war so scharf...,“ „Halt endlich deine Klappe!“, sagte David laut. Hinter seiner Stirn klingelte es. Wenn er noch ein Wort hören musste, dann würde er die Beherrschung verlieren. „Ich denke, es wäre jetzt besser, wenn du verschwindest!“ Er legte so viel Drohung in seine Stimme wie er konnte. Mit zusammen gebissenen Zähnen blickte er Dings ins Gesicht. Der grinste so breit, dass David sich am liebsten hier und jetzt übergeben hätte. „Oh, menno...,“ jammerte Mr. Es-War-So-Geil in gespieltem Kummer, „Willst du nicht wissen, wie ich dich von hinten genommen habe und du die ganze Zeit Fick mich, Sascha, fick mich! gerufen hast?“ „NEIN, WILL ICH NICHT!“, brüllte David. Ihm war speiübel und er war zornig. Zornig auf Sascha, der ihn schon wieder hereingelegt hatte, der ihn nicht ernst nahm und mit ihm spielte. Und auf sich selbst. Weil er seine Lektion einfach nicht lernen wollte. Mit bebenden Fingern langte er in die Schubkarre, die noch immer hinter ihm stand, packte das Erste, was er fand – selbstverständlich einen Apfel – und holte aus. Seine Augen sprühten Funken. „Ein Wort mehr und ich schmeiße dir das Ding an die Birne. Ich schwör’s dir. Verpiss dich jetzt oder du wirst es bereuen...,“ Sascha sah ihn übertrieben überrascht an. In falschem Entsetzen schüttelte er den Kopf. „Ich weiß nicht, was du plötzlich hast. Gestern Nacht warst du doch noch so zutraulich–,“ David erstarrte. Das war’s. Das hätte er nicht sagen sollen. Irgendetwas in Davids Kopf klinkte sich aus und er verlor den Kopf. „HALT DEINE SCHNAUZE!“, brüllte er und schleuderte den Apfel mit aller Kraft in Dings Richtung. „Wau...,“ machte der erschrocken und wich dem harten Geschoss aus, „Hey, hey... Nicht übertreiben...,“ Doch nun war es zu spät für einen Rückzug. David griff wahllos immer und immer wieder in die Schubkarre und feuerte die Äpfel wie von Sinnen nach Sascha. „Verpiss dich! Lass mich in Ruhe, du perverser Mistkerl! Hau ab! Verschwinde! Hau ab!“ „Autsch, aua... Hey, hör auf! Au...,“ rief Sascha halb lachend, halb flehentlich. Er hatte sein Gesicht abgewandt und bemühte sich mit den Armen vergeblich, die nicht abreißende Apfelflut von sich fern zu halten, die schmerzhaft auf ihn ein trommelte, „Es tut mir Leid, es tut mir Leid! Au, bitte David! Es tut mir Leid!“ Aber das war David egal, er wollte nur, dass er endlich verschwand. Seine Empörung verlieh ihm Kraft und die Munition in der Schubkarre war zahlreich. „Hau ab! Verschwinde! Verpiss dich, du Perversling!“ „Okay, okay, okay! Ich geh ja schon!“, rief Sascha endlich und setzte sich hastig in Bewegung, „Mach’s gut, David. Bis Später!“ „HAU ENDLICH AB!“, brüllte David noch und warf ihm einen letzten Apfel nach, der ihn verfehlte und raschelnd ins Unterholz flog. Dann war Mr. Perversling in der Futterküche verschwunden und David atmete beruhigend ein und aus. „So ein Arschloch...,“ zischte er, ließ sich erschöpft auf den Stein sinken, auf dem eben noch Sascha gesessen hatte, und besah sich das Malheur. Er saß mitten in einem Schlachtfeld. Überall um ihn herum lagen die Äpfel, die er in den letzten Stunden mühselig gesammelt hatte und die vermutlich jetzt alle eine Macke hatten. Er würde ganz von vorne anfangen müssen. So ein Mistkerl! Trotzdem... Er stutzte. So wütend war er eigentlich gar nicht. Er war verärgert, ja, empört auch, aber vor allem enttäuscht. Und ein bisschen verletzt. Aber wieso? Was hatte ihn so getroffen? `Gestern Nacht warst du doch noch so zutraulich...´ Das war es gewesen. Er hatte gedacht, dass es überstanden sei, dass sie jetzt Kollegen, vielleicht sogar Kumpel waren. Er hatte Dings die Hand gereicht. Und was hatte er zurück bekommen? Einen Tritt in die Magenkuhle. Oder...na ja...ans Schienbein vielleicht. Vermutlich hatte Sascha das gar nicht so empfunden. Vermutlich fand er es einfach nur witzig, mit David seinen Schabernack zu treiben. Aber David fand das überhaupt nicht witzig. Was hatte er sich an diesem Morgen noch gedacht? Ach ja, wenn Sascha nicht wieder in seine Rolle als Drecksack zurückfallen würde, dann würden sie ganz sicher Freunde werden können. Nun ja, leider war eben dies passiert. Es würde wohl noch etwas länger dauern, bis sie tatsächlich Freunde würden. Etwas viel länger. Kapitel 7: Niedlich ------------------- Hallo Leute :-)! Sorry, dass es wieder so lange gedauert hat mit dem neuen Kapitel. Aber ich arme Sau habe im Moment viel Stress wegen Wohnungssuche und so. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir die Pause ;-)! Vielen lieben Dank an alle Leser und besonders die Kommischreiber! Dann mal los und habt viel Spaß :-)! Liebe Grüße, BlueMoon _________________________________________________________________ Die Stimmung des Wetters am Mittwoch passte perfekt zu Davids eigener Stimmung. Er hatte ausgesprochen miese Laune und das hatte mehrere Gründe: Erstens war es kalt und es schüttete wie aus Eimern, zweitens war er gemeinsam mit Jessika für die Futterküche eingeteilt worden und drittens hatte sein Apfelausraster in Sachen Dings nicht das Geringste gebracht. Traurig, aber wahr: Sascha hatte sich nicht als böser Traum entpuppt. Das hatte David am gestrigen Dienstag noch alle halbe Stunde zu spüren bekommen. Ständig war Mr. Haarsträubend neben oder bevorzugt hinter ihm aufgetaucht und hatte ihn mit seiner unnachahmlichen Art und Weise von der Arbeit abgehalten und ihn an Dinge erinnert, an die er nicht erinnert werden wollte. Am Dienstagabend war David ein einziges Nervenbündel gewesen. Nur Miriam, die ihn zum Abendessen in ihre Wohnung unterm Dach eingeladen hatte, war es zu verdanken, dass er diesen Mittwochmorgen überhaupt noch erlebte. Und jetzt hatte er es gründlich satt. Wer war dieser Bekloppte denn, dass er Davids Leben so durcheinander brachte? So konnte das nicht weiter gehen! Er hatte beschlossen, dass er ihm von nun an konsequent aus dem Weg gehen würde. Nicht nur das; er würde ihn ab jetzt einfach komplett ignorieren. Das war ihm schon mit sechs Jahren immer empfohlen worden, wenn ihn die anderen Grundschüler wegen seiner blonden Lockenmähne gehänselt hatten: „Ignorier sie einfach, dann wird es ihnen irgendwann zu langweilig.“ Natürlich hatte das schon damals nicht funktioniert. Und zwar nicht aus dem Grund, dass die anderen Kinder zu beharrlich gewesen wären, oh nein. Es hatte schlicht und einfach daran gelegen, dass David viel zu aufbrausend war, um jemanden zu ignorieren, der ihm auf die Nerven ging. So war das auch dreizehn Jahre später noch. Doch das hatte David inzwischen verdrängt. Er war fest entschlossen, diese Sascha-Paranoia endlich in den Griff zu kriegen. Er war doch kein Schulkind mehr. Er war erwachsen und reif genug, diesem Riesentrottel die Stirn zu bieten. Wenn auch nur im übertragenden Sinne. An diesem Morgen hatte er Sascha noch nicht gesehen und daher auch nicht die Möglichkeit gehabt, seinen neuen Schlachtplan auszuprobieren. Der Blödmann hatte offenbar schon wieder verschlafen. Oder vielleicht war er auch über Nacht gestorben. Aber man soll den Tag ja nicht vor dem Abend loben... David ließ sich gerade von Ben einweisen, als er sich persönlich von seinem Pech überzeugen konnte. Jessika, die einzige Auszubildende im Tierschutzzentrum, lehnte gelangweilt am Waschbecken und betrachtete ihre neuen, knallrosa Nägel. „Dieser Igel ist gestern Abend noch gekommen. Lungenwürmer. Bettina wollte ihn sich gleich noch mal ansehen,“ erklärte der dicke Ben und führte den missmutigen David von Box zu Box, „Ach ja und diese Taube kam heute Morgen noch. Flügel ist gebrochen, frisst aber alleine. Und drüben in der Quarantäne haben wir noch einen neuen Turmfalken. Kollision vermutlich.“ Die Tür flog auf. „Guten Morgen!“, tönte die Stimme, die David inzwischen jedes Mal zusammen fahren ließ, wenn er sie hörte. Seine Augen huschten gegen seinen Willen zur Tür. Da stand er und grinste fröhlich: Mr. Ich-Komme-Immer-Zu-Spät-Und-Stehe-Dazu. „Morgen...,“ erwiderte Ben träge. David sparte sich eine Antwort und zwang seinen Blick wieder auf die schwarze Tierwanne des neuen Igels, der sich hustend in einem Haufen Stroh vergraben hatte. Jessika blickte auf. „Hey...,“ sagte sie plötzlich, „Ich bin Jessika. Ich bin Azubi hier.“ Ihr ganzer Ausdruck hatte sich mit einem Mal verändert, ihre Stimme klang eigentümlich freundlich. „Freut mich, ich bin Sascha, der neue Zivi,“ antwortete Dings. Aus den Augenwinkeln sah David, wie sie sich die Hand gaben. Sie grinsten beide. David musste fast würgen. Wer von den beiden hatte eigentlich den schlechteren Geschmack? „Was machst du heute?“, fragte Jessika kokett. „Papageien,“ entgegnete Mr. Unerträglich-Gut-Gelaunt und schrieb seinen Namen ins Tagesprotokoll. „Oh, wie schade. Ich dachte, du würdest vorne mitmachen.“ „Ich kann ja mal vorbei kommen...,“ David riss die Augen auf. Bloß nicht! „Das wäre schön...,“ trällerte Jessika. „Dann bis später. Ciao, David.“ Davids Kopf fuhr herum. Er sah noch, wie Sascha ihm zu zwinkerte, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. David schnaubte und ballte die Fäuste. Ben blickte ihn verwirrt an und runzelte die Stirn. Er setzte gerade zu einer Frage an, als Jessika heftig nach Davids Schulter griff. „Wow!“, kicherte sie, „Der ist ja der Hammer!“ David und Ben starrten sie an. „Wieso hat mir keiner gesagt, dass wir so einen heißen, neuen Zivi haben?“ „Äh...,“ machte Ben. „Weiß einer von euch, ob er vergeben ist?“ „Ist er garantiert nicht...,“ grummelte David. „Echt? Cool, der Typ ist wirklich unheimlich sexy!“ Ben und David tauschten Blicke. „Ich glaube, ich gehe gleich mal zu den Papageien rüber und frage Linda, ob–,“ „Halt Linda nicht von der Arbeit ab!“, fauchte David und wunderte sich selbst über seinen scharfen Tonfall, „Fang lieber mit der Quarantäne an.“ „Von dir lass ich mir gar nichts befehlen!“, zeterte Jessika zurück und sah ihn böse an. „Ist ja wieder typisch!“, grollte David, „Statt zu flirten, solltest du mal deine Arbeit machen!“ „Was soll das denn heißen?!“ „Leute...,“ sagte Ben beschwichtigend und mit völlig verdutzter Miene, „Was is’n los...?“ David starrte ihn an. Sein Atem ging schneller, als es eigentlich nötig wäre. Sein Blut brodelte. Und er hatte keine Ahnung warum. „Nichts...,“ meinte er bissig und wandte sich ab, „Also...waren...waren das alle neuen Tiere?“ „Wa... Oh ja, das war alles...,“ „Gut, dann...fange ich jetzt mit Saubermachen an.“ Scheiße, scheiße, scheiße! Was zur Hölle war denn plötzlich los? Wieso hatte er sich denn so aufgeregt? Ganz ohne Grund. Vermutlich hatte er doch schon vollkommen den Verstand verloren. Nur wegen... Die nächste Zeit versuchte David sich soweit abzulenken, dass er sich nicht ständig fragen musste, wann genau er angefangen hatte, verrückt beziehungsweise lebensmüde zu werden. Er schrubbte die Käfige der Vögel und die Boxen der Igel, machte ihnen frisches Futter und wusch ihre Näpfe ab. Ben wuselte um ihn herum und half ihm halbherzig. Jessika assistierte Eric beim Bestrahlen der Reptilien. Eine Arbeit, die sehr anstrengend war. Man durfte vor Langeweile nämlich nicht Einschlafen. Um Elf verabschiedete Ben sich, um nach Hause zu fahren und sich vor der nächsten Nachtschicht auszuschlafen. Die Quarantäne war zum größten Teil fertig und Jessika war noch nicht wieder aufgetaucht. David stand gerade an einer der Arbeitsflächen in der leeren Futterküche und zerschnitt ein totes Küken für die Schleiereule in der Quarantäne, die noch gestopft werden musste. Da hörte er die Tür gehen. Er sah auf und erstarrte. „Hallo...,“ singsangte Mr. Unvergleichbar-Nervig. Davids Magen übte sich im Stepptanz und mit übermenschlicher Anstrengung richtete er seine Augen wieder auf den unappetitlichen Anblick vor sich. „Was willst du hier?“, pampte er mürrisch, „Falls du Jessika suchst, die ist nicht hier, sondern im Rep.-Raum.“ „Ich suche sie aber nicht!“, kam prompt die Antwort. „Ach nein...?“, knurrte David. „Nö, wieso sollte ich? Ich wollte nur dich sehen.“ Davids Miene verfinsterte sich und er schnaubte. „Lass mich bloß in–,“ Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken. Sascha hatte sich hinter ihn gestellt und seine Arme um seine Taille geschlungen. Er drückte seinen Körper eng an den Davids und seufzte ihm ins Ohr: „Du bist so süß, ich kann einfach die Finger nicht von dir lassen!“ „SAG MAL, BIST DU–,“ fing David an zu toben und sich in der fremden Umarmung zu winden. Da fiel ihm ein, dass er sich ja eigentlich vorgenommen hatte, Dings zu ignorieren. Aber wie sollte man jemanden ignorieren, der einen ungebeten von hinten umarmte? Es sei denn... David kam eine Idee. Unvermittelt musste er grinsen. Sein Herz pochte abermals schneller. Seelenruhig wandte er sich wieder dem Küken zu. Dem toten, zerschnittenen, schleimigen Küken... „Was bin ich...?“, fragte Mr. Ich-Kann-Die-Finger-Nicht-Von-Dir-Lassen schnurrend gegen seinen Hals. David bekam eine Gänsehaut und eine verzehrende Hitze stieg in ihm auf. Doch er zwang sich, nicht darauf zu achten, still stehen zu bleiben und sich mit dem Küken zu beschäftigen. Er ließ seine Finger gründlich der Länge nach durch das Tierblut und die bloßgelegten Innereien streichen. „Du bist völlig wahnsinnig...,“ beendete er seinen Satz von vorhin tonlos. „Schon möglich...,“ hauchte Dings schwärmend und schmiegte sein Gesicht an Davids Schulter, „Mhm...wie gut du riechst...,“ „Dings...?“ „Ja, Bums?“ „Darf ich mich umdrehen?“ „Wenn du möchtest...,“ David drehte sich in Saschas Armen um, strahlte ihn an und legte ihm beide Hände fest um das markante Gesicht. Eine Sekunde lang lächelte Mr. Du-Riechst-Gut noch. Dann breitete sich erschrockener Ekel auf seiner Miene aus. „Verschwinde. Aus. Der. Futterküche,“ sagte David sehr deutlich und zog seine Finger dabei langsam über Saschas Wangen zum Hals hinunter. Zurück blieben auf jeder Seite fünf rotgelb verschmierte Striemen. „Ah...,“ machte Mr. Geschieht-Mir-Recht schwach, „Was genau...?“ „Kükeninnereien,“ beantwortete David munter seine Frage, „Steht dir wirklich gut.“ „Findest du...?“ Kraftlos ließ Sascha ihn los und führte seine Hände zu seinem Gesicht, als wolle er die Kükenspuren abwischen. Dann zögerte er und würgte. „Igitt...,“ krächzte er. David grinste ihn breit an. „Vielleicht solltest du ins nächste Badezimmer gehen...,“ schlug er ihm freundlich vor. „Ja, gute Idee...,“ erwiderte Dings matt, „Mach’s gut.“ „Du auch, tschüss...,“ Feixend sah David ihm nach, wie er mit leidendem Gesicht die Futterküche verließ. Dann begann er sich pfeifend die Hände zu waschen. Hach, wie gute Laune er mit einem Mal hatte. Die Tür öffnete sich erneut. Es war Linda. „Häh?“, machte sie. „Was denn?“, lächelte David unschuldig und trocknete sich die Hände mit einem Blatt Küchenpapier ab. „Mir kam gerade Sascha entgegen. Was hatte er denn da im Gesicht?“ „Küken!“, flötete David. Linda starrte ihn an. „Küken?“, wiederholte sie voller Abscheu. „Ja!“ Ihr Blick wanderte von dem Brettchen mit dem zerschnittenen Tier, in dem David vor kurzem noch seine Hände gehabt hatte, zu dem Stück nassen Haushaltspapier hinüber, das er soeben in den Papiermüll geworfen hatte. Ihre Augen weiteten sich, als sie verstand. „Iiihhh...,“ hauchte sie langgezogen. David grinste sie breit an. Zwei Sekunden später schüttelten sie sich vor Lachen. „Mann...,“ japste Linda schließlich und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, „So ne arme Sau...,“ „Pah!“, erwiderte David kühl, aber schmunzelnd, „Das hat er verdient, glaub mir.“ „Ja? Was hat er denn schon wieder gemacht? Hat er dich aufgefordert, ihn Kaiser zu nennen?“ Sie kicherten. „Nee, das nicht...,“ antwortete David und stockte kurz. Sollte er Linda auch den Rest von der Komödie erzählen, die er nun seit einigen Tagen mit Sascha spielte? Nein, irgendwie nicht. Noch nicht. Irgendwie...war diese Angelegenheit zu prekär, zu...na ja, privat... Trotz allem. „Wie lief’s denn heute mit ihm? Ihr habt doch zusammen Papageien gemacht, oder? Seid ihr schon fertig?“, fragte er daher eilig. „Ja, mit den Papageien schon. Jetzt kommen halt noch die Schildkröten dran. Es lief ziemlich gut. Er war nett und hilfsbereit und lustig. Er hat auch keinen einzigen dummen Spruch abgelassen. Anscheinend beschränkt er sich dabei auf dich.“ Sie grinste. „Wie schön...,“ David zog eine Grimasse und nahm wieder das Messer zur Hand, um dem missbrauchten Küken weiter zu Leibe zu rücken, „Darauf könnte ich ganz gut verzichten...,“ „Ach, ich finde ihn ganz niedlich.“ Beinahe verfehlte Davids Messer sein Ziel. Fassungslos starrte er Linda an. „Bitte was? Niedlich?!“ „Na ja...,“ sie lächelte schief und lehnte ihren Kopf an einen der Wandschränke, „Weißt du, Jessika kam laufend unter irgendeinem beknackten Vorwand in die Papageienküche und hat versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln und–,“ Der Kopf des Kükens kullerte unter einem auffällig harten Messerschlag über den halben Tisch. „So?“, machte David plötzlich wieder knurrig, „Und was ist daran bitte niedlich?“ „Lass mich doch ausreden, du Blödhammel!“, schimpfte Linda und versuchte, ärgerlich drein zu schauen, was allerdings nur wenig überzeugend wirkte, „Jedenfalls hab ich ihn gefragt – als Jessika wieder verschwunden war – ob sie was von ihm wollen würde und er meinte nur: `Wenn ja, ist es mir egal. Ich habe eh nur Augen für David.´“ Davids Hände fühlten sich plötzlich merkwürdig taub an. „Da...Das hat er gesagt?“, fragte er matt. „Ja, hat er. Ich fand’s toll, dass er so dazu stand. Wenn du mich fragst, der mag dich wirklich.“ „M... Meinst du?“ „Nja, ein Witz war das bestimmt nicht. Dazu war er zu ernst. Nun, ich muss jetzt auch weiter machen. Die Kröten wollen ihr Futterbad. Gestern haben sie Mehlwürmer gekriegt. Dann gibt’s heute Flusskrebse. Ich hasse es, Fisch zu schneiden...,“ sie schnappte sich die Dose mit den winzigen, getrockneten Krebsen von der Arbeitsfläche und winkte, „Bis später, David.“ „Ja... Bis dann...,“ Hinter ihr und ihrem leuchtend roten Pulli schloss sich die Tür der Futterküche. David stand noch immer an der Arbeitsfläche, in der rechten Hand das große, blutverschmierte Messer. Er fühlte sich merkwürdig merkwürdig. Und hasste es wie die Pest. Kapitel 8: Merkwürdig --------------------- Guten Morgen :-)! Hier kommt das nächste Kapitel. Vielleicht werdet Ihr eine Veränderung in Davids Gefühlswelt feststellen^^. Ich weiß selbst nicht genau, ab wann sie sich dazu gesellt hat...^^. Na ja, ich hoffe, es gefällt Euch :-). Vielen lieben Dank an alle Kommi-Schreiber. Bleibt mir treu ;-). Liebe Grüße, BlueMoon P.S. Wenn Ihr irgendwelche Fragen haben solltet, schreibt mir ne Ens. Die beantworte ich auch pflichtbewusst :-). _______________________________________________________________________ An diesem Mittwoch hatte David überhaupt keine Lust, die Mittagspause wie sonst immer mit den Anderen in der Zivi-Küche zu verbringen. Der Grund dafür hatte einen langweiligen und ziemlich hässlichen Namen: Jessika. David wollte nachdenken und hatte keinen Nerv dazu, dieser blöden Ziege von Auszubildenden dabei zu zusehen, wie sie ununterbrochen um Sascha herum schlawenzelte. Aus dem Grund bat er Linda und Miriam darum, dass er mit ihnen oben in Miriams Wohnung essen durfte. Dorthin zogen sich die beiden Mädchen jede Mittagspause zurück, um in Ruhe die Dinge zu tun, die Freundinnen unter sich so taten: Unsinn reden, lästern, kichern und so weiter. Diese Eigenschaft war ihm immer etwas suspekt gewesen. Doch an diesem Tag kam es ihm gerade recht und zu dritt zogen sie über Jessika her, was David ungemein befriedigte. Er wollte wirklich nicht wissen, wie diese dumme Kuh in dieser Sekunde Dings auf den Pelz rückte. Allein die Vorstellung... Tja, sie passte ihm nicht. Das war die traurige, unleugbare, merkwürdige und ätzende Wahrheit. Es wurde Zeit, dass bald das Wochenende anfing. Einmal stand noch Arbeit auf dem Programm. Dann würde er frei haben, drei herrliche Tage lang, und nach Hause fahren, nachdenken... Als sie kurz vor eins wieder zur die Zivi-Küche hinab stiegen, um Bettina einen kurzen Bericht zu erstatten und sich gegebenenfalls für eine neue Arbeit einteilen zu lassen, erfüllten sich Davids Befürchtungen auf einen Blick. Mr. Ich-Habe-Nur-Augen-Für-David (inzwischen wieder ohne Kükenschmiere) saß auf dem Sofa. Jessika neben ihm. Sehr nah neben ihm. Zu nah. Augenblicklich verengten sich Davids Augen zu Schlitzen. Mit einiger Anstrengung wandte er den Blick ab. So eine blöde– „So, wie sieht’s aus?“, unterbrach die Chefin seine Gedanken. „Ich dachte, dass Sascha mir bei der Quarantäne helfen könnte,“ meldete sich Jessika zu Wort, bevor irgendein Anderer dazu die Chance hatte, „Linda, du kannst die Schildkröten doch sicher auch alleine fertig machen, oder?“ Sie zog vielsagend die Augenbrauen hoch, als ob sie Linda eine unterschwellige Nachricht zu kommen lassen wollte. Linda schaute sie an. Dann warf sie David einen raschen Blick zu, der neben ihr stand und die Zähne zusammen biss. Sascha sah leicht gequält aus. Abgesehen von dem offensichtlichen Part dieser Aussage, war die Quarantäne fertig. Er, David, hatte sie längst fertig gemacht, während SIE gemütlich im Rep.-Raum gehockt und sich mit den Echsen gesonnt hatte! „Nee, ich glaub nicht...,“ sagte Linda dann ernst, „Sascha und ich wollten noch bei den Spornschildkröten ausmisten und außerdem die Papageienvolieren neu begrünen. Da brauche ich dringend seine Hilfe. Oder, Sascha?“ Alle Blicke richtete sich auf Dings. Seine dunklen Augen huschten innerhalb einer Sekunde zwischen Linda, Jessika und David umher. „Ja!“, stieß er dann hastig hervor, „Jaja, sicher! Linda ist doch so...winzig, sie brauch einen großen...Helfer...,“ Angesichts des Wortes winzig hob Linda eine Augenbraue, was ihr den Gesichtsausdruck einer Oberlehrerin bescherte, doch sie schmunzelte dabei. David verliebte sich spontan in sie. Jessika sah sehr enttäuscht aus. Bettina beäugte sie der Reihe nach misstrauisch. Dann entschied sie sich, dass es sich hier wohl um ein mitarbeiterinternes Problem handelte und nickte. „Okay. David, was ist mit dir?“ Der Angesprochene schreckte zusammen. „Was? Oh, ja...ich...bin fertig mit der Futterküche und mit der Quarantäne auch,“ erklärte er und legte besondere Betonung auf den letzten Teil seiner Worte. „Gut, dann könntest du den Seminarraum machen. Hol dir eine der Bestrahlungslampen aus dem Rep.-Raum.“ „Alles klar.“ „Miriam?“, fuhr die Chefin fort. Saschas Blick begegnete Davids. Einen Moment blickten sie sich schweigend an. Dann grinste Dings. Typisch. David schnaubte unterdrückt und wandte die Augen ab. So ein Idiot! Eine Minute später hatten alle eine Aufgabe zu erledigen. Während Bettina zurück in ihr Büro ging, um irgendwelchen Rentnern dämliche Fragen am Telefon zu beantworten, erhoben sich die Mitarbeiter und verließen nach und nach die Zivi-Küche. David verließ als Erster fast fluchtartig den Raum und durchschritt kurz darauf den Scheuneneingang. Sein Kopf schwirrte etwas. Merkwürdig. Sehr merkwürdig. Und zum Kotzen! An der Tür des Rep.-Raumes blieb er stehen, kramte seinen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervor und steckte ihn ins Schlüsselloch. Hinter sich hörte er erneut die Scheunentür gehen. „...gar nicht, dass ihr die Volieren der Papageien auch noch begrünen wolltet,“ sagte Miriams Stimme. „Wollten wir auch nicht. Das war eine spontane Entscheidung,“ antwortete Linda. David grinste gegen die Tür, drehte sich um und hatte noch Zeit Lindas verschwörerisches Lächeln zu erwidern, bevor sie und Miriam in Richtung Schildkröten verschwanden. Das Scheunentor öffnete sich erneut. David öffnete klickend den Rep.-Raum. Einen Herzschlag später japste er auf und in seinem Magen starteten einige Düsenflieger. Irgendwer war hinter ihn getreten und hatte ihm fest an den Hintern gefasst. „Entschuldige, aber ich konnte nicht widerstehen...,“ schnurrte ihm jemand ins Ohr. David schoss die Röte ins Gesicht. „VERPISS–,“ schnappte er sofort, doch ehe er Mr. Verdammter-Grapscher erreichte, um ihm sein Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen, war der auch schon lachend von ihm fort gesprungen. Die Scheunentür wurde ein drittes Mal aufgeschoben. „...will doch selber was von ihm!“, diesmal war es Jessika. Sie klang wütend. Bevor sie und Eric die vordere Scheune betreten hatten, machte sich Dings aus dem Staub. Allerdings nicht, ohne David noch zu zuzwinkern. Der knurrte, riss die Tür auf und stapfte vor Eric und Jessika in den Reptilienraum hinein. Hier war es sehr warm. Links und rechts von der Tür standen viele gläserne Terrarien, große und kleine, hohe und breite. Manche waren mit Erde oder Sand, Pflanzen und Steinen eingerichtet, einige nur mit Zeitungspapier ausgelegt. In den Terrarien lebten unterschiedliche Reptilien: Mehrere Schlangen und verschiedene Echsenarten. Linda hatte der Hälfte von ihnen Namen gegeben. „Darf ich mir eine Lampe für den Seminarraum mitnehmen?“, fragte David an Eric gewandt, der ihm mit Jessika im Schlepptau gefolgt war. „Ja, sicher. Wir sind hier auch schon fast fertig. Die beiden Boas müssen nur noch bestrahlt werden.“ „Okay, danke. Ich–,“ „David!“, unterbrach Jessika ihn plötzlich forsch, ihre Arme hatte sie verschränkt, „Steht Linda auf Sascha?“ David starrte sie an. „Was? Äh...nein?! Nicht, dass ich...wüsste.“ „Ich denke schon. Sonst hätte sie das vorhin doch nicht gesagt. Volieren begrünen! Ha!“ David und Eric musterten die Auszubildende skeptisch. „Also... Ich glaub nicht, dass–,“ begann Eric, doch er kam nicht weit. „Ach komm, Eric, du hast doch keine Ahnung! Linda, diese kleine–,“ „Hey!“, schnitt ihr diesmal David das Wort ab, voller Zorn funkelte er sie an, „Halt deine Klappe, klar?!“ Jessika schnaubte verächtlich. „Ist klar, David, jeder weiß doch, dass du voll in Linda verknallt bist!“ Stille. Äh, wie bitte? Das wussten alle? Merkwürdig, ihm war das neu. David öffnete den Mund. Eric wusste offenbar nicht genau, wohin er blicken sollte. „Du bist doch völlig bescheuert, Jessika,“ sagte er kühl, schnappte sich eine der Bestrahlungslampen und verließ mit ihr den Rep.-Raum. Hinter ihm fiel die Tür krachend ins Schloss. Diese dumme Gans! Wie viel Mist konnte eine einzelne Person an einem Tag eigentlich von sich geben? Er erstarrte. Aus der hinteren Scheune hörte er ausgelassenen Gesang. Ganz eindeutig Lindas und Saschas Stimmen: „Honey, honey, How he thrills me, aha, Honey, honey. Honey, honey, Nearly kills me, aha, Honey, honey. I’ve heard about him before, I wanted to know some more. And now I know, What they mean, He’s a lovemachine. Oh, he makes me dizzy!” Schallendes Gelächter folgte. David schmunzelte und schüttelte den Kopf. Nun, dass die beiden sich verstanden, konnte wohl niemand leugnen. Aber Linda verstand sich mit jedem, das war also absolut kein Maßstab. Überhaupt, das war schwachsinnig. Dieser Ziege sollte man gar nicht zu hören! Entschlossen packte er die Lampe und trug sie in den Seminarraum. Abgesehen von den Tischen und Stühlen, die in der Mitte des Raumes standen, befanden sich an den Wänden noch ein paar Bücherregale und Stände, auf denen sich unbrauchbarer Kleinkram stapelte, den das Tierschutzzentrum zu ziemlich hohen Preisen zu verscherbeln versuchte. Außerdem lebten hier eine Königsnatter, eine Regenbogenboa und sieben Europäische Sumpfschildkröten. Eine Stunde später saß David mit baumelnden Beinen auf einem der Tische und gähnte. Auf dem Boden vor sich stand eine der schwarzen Wannen aus der Futterküche. In ihr tummelten sich die sieben handtellergroßen Schildkröten und bemühten sich vergeblich, an den hohen, glatten Rändern hinauf zu krabbeln. Im Gegensatz zu der Regenbogenboa, dachten diese Tiere nicht daran, sich still hinzulegen und die Sonne zu genießen, die von rechts warm auf sie hinab schien. Nein, sie machten es wie die Königsnatter und versuchten in einer Tour zu flüchten. Draußen war der Himmel schon wieder schiefergrau und dunkel. Zwischenzeitlich hatte es aufgehört zu regnen, doch nun prasselte es erneut gegen Häuserwände und Glasscheiben. Was für ein Scheißwetter... Gedankenverloren starrte David auf die stummen Schildkröten in ihrer wasserlosen Wanne. Da hörte er Schlossgeklapper von der Hoftür her. Er blickte auf und erkannte durch die Fensterscheiben draußen im Regen eine dunkle Gestalt. Hastig trat sie durch die Tür in den Gang und kam halb seufzend, halb fluchend den kleinen Flur entlang. „Verdammtes Mistwetter...,“ hörte David sie schimpfen. Es war Sascha. Unvermittelt stieg die Anspannung in Davids Körper an. Einen Moment später steckte Dings seinen Kopf durch die Tür in den Seminarraum. Nass und fröhlich strahlte er ihn an. „Hi...!“, sagte er grinsend. „Hi...,“ machte David tonlos zurück, „Nass geworden?“ „Kaum...,“ erwiderte Mr. Honey-Honey, betrat vollständig den Raum und zog sich vor Davids Augen Pullover und T-Shirt aus. David verdrehte die Augen, konnte ein paar Blicke jedoch nicht verhindern. Man konnte über ihn sagen, was man wollte. Doch Dings hatte eindeutig einen ansprechenden Oberkörper. „Na...?“, trällerte der auch auf Kommando, „Gefällt dir, was du siehst?“ „Mittelmäßig...,“ brummte David ärgerlich und wandte sich wieder den Schildkröten zu, sein Herz klopfte, „Zieh dir lieber was an, sonst wirst du noch krank.“ „Du bist SO süß, David, Schatz!“ „Halt deine Klappe!“ Dings lachte und David schenkte ihm den bösesten Blick, den er zu bieten hatte. „Okay, ich geh nur kurz hoch in mein Zimmer und zieh mir was Trockenes an. Aber danach widme ich mich ganz dir, versprochen!“ „Super...,“ knurrte David, während Mr. Gefällt-Dir-Was-Du-Siehst? den Seminarraum winkend verließ und kurz darauf die Treppe zu den Zivi-Zimmern hinauf polterte. Er warf einen raschen Blick auf die Uhr der Bestrahlungslampe. Na klasse, zehn Minuten noch. Solange würde er noch hier sitzen bleiben müssen. Vielleicht sollte er sich solange auf dem Klo verstecken? Die Kröten würden schon nicht abhauen. Es trommelte die Treppe wieder runter. Also gut... Augen zu und durch. „Da bin ich wieder!“, flötete Dings. Er steckte nun in einer neuen, dunklen Jeans und einem türkisen Wollpullover. Selbstverständlich grinste er. Ohne lange zu fackeln, schlenderte er auf Davids Tisch zu und schwang sich elegant neben ihn auf die Platte. Sehr eng neben ihn. Zu eng. „Rück mir nicht so auf die Pelle!“, grummelte David und rutschte so weit er konnte von Mr. Du-Bist-So-Süß-SCHATZ weg. Also ungefähr drei Zentimeter. Dann war der Tisch zu Ende. „Stört es dich?“, zwitscherte Sascha unschuldig. „Allerdings!“, giftete David zurück. „Ach, lüg doch nicht, Liebling!“ „Hör auf mich so zu nennen, du Irrer!“ „Wie denn?“ „LIEBLING!“, schnauzte David. Sie starrten sich an. Sascha strahlte. David war heiß. Er betete zum Himmel, dass Bettinas Bürotür geschlossen war. Dieser Wahnsinnige machte ihn wahnsinnig! Doch dann geschah etwas, was die ganze Situation von Grund auf änderte: Es donnerte. Laut. Und Sascha fuhr zusammen. „Wa...Was war das?“, wisperte Mr. Obercool erschrocken. Er hatte seinen Kopf leicht zwischen seine Schultern gezogen und blickte mit großen Augen durch die Fenster zum stürmischen Himmel hinauf. „Es...hat gedonnert?“, entgegnete David verwundert. „Oh, nein...,“ zischte Dings und rückte tatsächlich wieder näher an David heran. Vollkommen verdutzt betrachtete der ihn von der Seite. „Was’n los...?“, fragte er argwöhnisch. Sascha sah ihn an. Nicht anzüglich lächelnd oder großspurig, sondern unsicher und verlegen. „Ich...erzähle dir ein Geheimnis...,“ sagte er dann leise und David hob die Augenbrauen. Was würde jetzt kommen? Fast rechnete er mit einem neuen Trick und einem damit verbundenen Angriff. Doch... „Ich...habe Angst vor Gewitter...,“ „Oh...,“ machte David. Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Er hatte alles mögliche erwartet, aber das nicht. Das war...merkwürdig. „Du...hast...Angst vor Gewitter?“, wiederholte David perplex. „Ja...,“ antwortete Dings kleinlaut, „Lachst du mich jetzt aus?“ David starrte ihn an. Oh, ja, wollte er sagen und dann wie ein Psychopath anfangen zu wiehern. Aber er schwieg, öffnete den Mund und sagte bloß: „Nö... Wieso sollte ich...?“ Diesmal war es an Sascha zu starren. „Du...du lachst nicht?“, fragte er ganz überrascht. „Nö,“ antwortete David erneut. Er wunderte sich über sich selbst, aber es war die Wahrheit. Er würde Sascha nicht auslachen. Merkwürdig. Kapitel 9: Unmöglich -------------------- Hey Ihr :-)! Dies wird wohl vorerst das letzte Kapitel sein, dass ich hochlade, da ich dann erstmal einige Tage...unterwegs sein werde *wimmer*. Ich hoffe, Ihr habt Spaß mit den beiden Schwachköpfen und was zu lachen und zu schmachten^^. Vielen lieben Dank an die netten Kommi-Schreiber und meine geschätzte Beta-Leserin, die ich am Telefon lachen hören durfte^^. Beste Grüße, BlueMoon :-) ____________________________________________________________________ Am Donnerstag trug sich David Punkt fünf Uhr aus dem Tagesprotokoll aus und rannte schnurstracks ins Badezimmer, um zu duschen. Wochenende. Endlich. In dreiunddreißig Minuten würde sein Bus zum Bahnhof fahren und zehn Minuten später sein Zug nach Hause. Er konnte es kaum erwarten. So sehr hatte er sich noch nie auf die heimelige Atmosphäre in Braunschweig gefreut. Keine Arbeit, kein Stress, kein...DINGS... Mal wieder lag ein harter Tag hinter David. Er hatte Pech gehabt und war für die Säuberung der Mäuse eingeteilt worden, eine Arbeit, die zweimal die Woche anfiel und niemand leiden konnte (außer vielleicht Jessika und das die nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, war ihm ja schon längst sonnenklar). Man stand da oben in diesem winzigen, warmen Raum, die Luft war stickig und kaum atembar von dem pappigen Streustaub, mit dem man die annähernd fünfzig Mäuse-, Ratten- und Hamsterboxen und -käfige neu füllen musste. Die Viecher stanken und – wenn man nicht sehr vorsichtig war – bissen sie auch gerne einmal zu. Es war eine ätzende Arbeit, die jeder verabscheute und David ganz besonders, denn er hatte ein weiteres Problem, das die Anderen nicht hatten. Dieses Problem war ungefähr eins fünfundachtzig groß, trug mit Vorliebe Davids Gummistiefel zur Arbeit und hörte auf den Namen Sascha. Dieses Problem hatte sich auch heute mehrmals während Davids Arbeitszeit blicken lassen und zu Davids Verzweiflung fehlte im Mäuseraum jegliche Fluchtmöglichkeit. Wie oft hatte er Mr. Ich-Gehe-David-So-Gern-Auf-Die-Nerven heute wutschnaubend aus dem Zimmer geschmissen? Hundert oder doch tausend Mal? Doch der hatte sich selbstverständlich nicht abschrecken lassen und alle zehn Minuten einen neuen Angriff gestartet. Wenn man mal ein Gewitter brauchte, dann kam keins. Konnte man jemanden eigentlich wegen nervlicher Folter anzeigen? Während er unter der heißen Dusche stand und sich den Staub und den Schweiß des Tages abwusch, beschloss David, seinen Vater an diesem Abend noch danach zu fragen. Sieben Minuten später verließ David frisch angezogen und mit halbtrockenen Haaren das Badezimmer. Dings war glücklicherweise nirgendwo zu sehen. Noch nicht, wie David in Gedanken düster hinzufügte. Er beeilte sich in sein Zimmer zu kommen und begann dann seinen Rucksack fürs Wochenende zu packen. Wahllos warf er Klamotten hinein, gefolgt von seinem MP3-Player, einem Buch für die Zugfahrt und seiner Zahnbürste. Dann befestigte er sein Cello und den Bogen liebevoll im Koffer und klappte den Deckel zu. Er würde auf der Reise zwar hinderlich sein, aber seine kleine Schwester Marisa würde ihm niemals verzeihen, wenn er ihr vor dem Einschlafen nicht ein Ständchen spielen würde. Die Vorstellung zauberte ein zärtliches Lächeln auf sein Gesicht. Da klopfte es an der Tür. „Herein...,“ sagte er leichthin, seine Gedanken bei Marisa. Doch dann kam ihm mit plötzlicher Gewalt die Eingebung, wer genau dort vor der Tür stehen könnte. Er zuckte zusammen, wirbelte herum und schaute zur Tür hinüber. Im Rahmen stand Linda und lächelte freundlich. Sofort entspannte er sich wieder. „Ach, du bist es...,“ murmelte er erleichtert, „Was gibt’s?“ „Ich wollte mich nur verabschieden und dir ein schönes Wochenende wünschen.“ David grinste sie dankbar an. „Danke, wünsche ich dir auch.“ „Danke...,“ sie zögerte. „Noch was?“, fragte David und ließ die Verschlüsse des Koffers einschnappen. „Ja, ich...,“ begann Linda stockend. Er sah sie neugierig an. „Was?“ „Ich...wollte nur, dass du weißt, dass ich nicht auf Sascha stehe,“ sagte sie entschlossen. David runzelte die Stirn. „Aber das weiß ich doch...,“ antwortete er verwundert. Linda grinste zaghaft. „Ja, aber... Eric hat mir erzählt, was Jessika meinte und ich wollte dir gegenüber nur sicher stellen, dass...dem nicht so ist. Nicht, dass du denkst, dass ich...,“ Sie verstummte verlegen. David betrachtete sie schweigend. Dann schmunzelte er. Das war wieder typisch Linda. Immer, wenn sie irgendwo ein ungewisses Problem witterte – und meistens war es noch nicht mal eins – wollte sie es klären, damit nichts zwischen ihr und ihren Freunden stand. Vielleicht war dies mit ein Grund dafür, dass sie so umgänglich war. „Mach dir keine Sorgen,“ sagte er daher und lächelte sie an, „Ich gebe doch auf Jessikas Gequatsche nichts und wenn sie es noch mal wagt, Lügen über dich zu verbreiten, dann breche ich ihr sämtliche Knochen!“ Linda strahlte ihn an. „Das wäre großartig! Danke, David...,“ „Kein Problem.“ „Dann bis Montag.“ „Bis dann...,“ Hinter ihr schloss sich seine Zimmertür leise. David grinste und schüttelte den Kopf. Es klopfte noch mal. „Komm rein!“, grinste David. War ihr noch etwas eingefallen? „Hallo, Schatz!“ Es war wirklich beeindruckend, wie schnell so ein Lächeln gefrieren konnte. „Was willst du denn?“, raunzte David. Mr. Hallo-SCHATZ lachte, schloss die Zimmertür hinter sich und ließ sich wie selbstverständlich auf Davids Bett fallen. „Ach, ich wollte dich überreden, nicht nach Hause zu fahren...,“ erklärte er heiter und lehnte den Kopf an die Wand hinter sich, „Die Vorstellung so ewig von dir getrennt zu sein, macht mich ganz krank...,“ „Dein Problem!“, giftete David ungnädig und stopfte ein weiteres Paar Socken in die Untiefen seines Rucksackes, „Ich werde garantiert nicht hier bleiben.“ „Wieso denn nicht?“, maulte Dings, „Ich würde dich auch jeden Abend bekochen.“ David lachte freudlos. „Ja, klar und dann würdest du als Gegenleistung einen Blow-Job haben wollen...,“ Sascha kicherte dreckig. „Ich könnte versuchen, mich zusammenzureißen.“ David schnaubte. „Sehr witzig!“ „Was kann ich denn dafür, dass du mich so unheimlich scharf machst?“ Vor Schreck fiel David beinahe sein Handy aus der Hand. Wie war das? „Ich mache dich nicht scharf!“, fauchte er erzürnt. Seine Wangen glühten wieder. „Aber ja!“, beharrte Sascha ernst, „Die ganze Zeit. Du machst praktisch nix Anderes.“ „Hör auf so ne Scheiße zu quatschen!“ „Ich mein das völlig ernst. Schau dich doch mal an. Wie du da schon sitzt. Das ist so sexy!“ „Du bist doch absolut irre...,“ presste er hervor. Sein Herz polterte in seiner Brust. Gegen seinen Willen und mit knirschenden Zähnen warf er einen Blick auf seine Haltung. Er saß so auf Knien vor seinem Rucksack, dass er seinen Hintern leicht in Richtung Bett, also Dings, streckte. So schnell war David noch nie in seinem Leben aufgestanden. „Wenn ich nicht so eine übermenschliche Selbstdisziplin hätte, würde ich mich jetzt auf dich stürzen und in Grund und Boden knutschen...,“ verkündete Mr. Du-Machst-Mich-So-Scharf mit verschleiertem Blick. „Ich warne dich...,“ knurrte David, „Ich brech dir das Genick...,“ Inzwischen war er sich sicher, dass sein Kopf so rot wie eine Tomate war. Sein Herz pochte schnell. Wie viel Stress konnte ein normaler Mensch am Tag eigentlich ertragen, bevor er einen Herzinfarkt bekam? David war sich sicher, dass er das Limit bald erreicht hatte. „Ja, ich weiß...,“ seufzte Sascha mit tieftrauriger Miene, „Darum halte ich mich ja auch so zurück...,“ „Besser für dich!“, schnappte David und verstaute sein Handy in die Vordertasche seines Rucksackes, „Und jetzt hau ab. Wenn du mich weiter vom Packen abhältst, verpasse ich meinen Bus.“ „Welchen Bus denn?“, wollte Sascha verdutzt wissen. „Meinen Bus zum Bahnhof vielleicht?!“, schnaubte David und suchte mit den Augen nach seinem Portemonnaie. Wenn er seiner Armbanduhr Glauben schenken durfte, dann hatte er nur noch knapp zehn Minuten um zur Bushaltestelle zu kommen. Er musste sich beeilen. „Wieso Bus?“, fragte Dings erneut, „Ich fahr dich doch.“ David versteinerte in seiner hastigen Suche und starrte Mr. Welcher-Bus verblüfft an. „Du... Du tust was?“ „Hatte ich das nicht gesagt?“ „Nee...,“ „Na ja, dann eben jetzt,“ trällerte Sascha unbeschwert, „Ich fahr dich zum Bahnhof.“ „Und womit?“ „Na, mit meinem Auto, Dummerchen,“ lachte er. Durch Davids Stirn zogen sich Furchen. „Danke, aber...lass mal...,“ Er durchwühlte eilig die Taschen seiner Jacke. „Wieso?“, erkundigte Sascha sich, „Du wärst viel schneller da und außerdem regnet es schon wieder.“ Das stimmte. David konnte den Regen sacht gegen sein Zimmerfenster klopfen hören „Das Risiko ist mir einfach zu hoch. Wo, zum Teufel, ist mein Portemonnaie?!“ „Keine Ahnung. Komm schon, Liebling, denk an dein armes Cello.“ „Hör auf, mich so zu nennen, du Idiot!“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. Sieben Minuten noch. Verdammt! „Ich trag mein Cello lieber durch den Regen, als dass ich mit dir freiwillig in einem Auto sitze!“ „Warum? Glaubst du etwa, dass ich dich begrabbeln würde?“ „Ach, Unsinn!“, rief David laut und triefend vor Sarkasmus, „Niemals käme ich auf so eine Idee! Verdammte Axt, wo ist das Scheißding?!“ Panisch durchpflügte er sein ganzes Zimmer. „Also gut, wenn ich dir verspreche, dass ich dich nicht anrühre im Auto, darf ich dich dann fahren?“ David hielt in der Verwüstung seines Zimmers inne und musterte Mr. Ich-Will-Dich-Auf-Teufel-Komm-Raus-Zum-Bahnhof-Fahren voller Misstrauen. Er saß noch immer auf Davids Bett, wippte mit dem linken Bein, das er über das rechte geschlagen hatte, und lächelte auffällig unschuldig. „Wo ist der Haken...?“, knirschte David. „Es gibt keinen!“, beteuerte Sascha und hob schwörend die Hände, „Ich fahr dich zum Bahnhof, damit du deinen Zug nicht verpasst und werde dich während der Fahrt noch nicht mal begrapschen. Ein einzigartiges Angebot!“ „Ts...,“ machte David nur, stumm vor Entrüstung. Er musste an jenen Montagabend denken, als es um ein anderes einzigartiges Angebot ging. Außerdem versetze ihn der Gedanke, allein mit einem geouteten und eindeutig gefährlichen Bisexuellen allein in einem Auto zu sitzen, in Angst und Schrecken. Und trotzdem... Er hatte keine Zeit mehr pünktlich zur Bushaltestelle zu kommen, auch wenn er sein Portemonnaie jetzt sofort finden würde, und ein Auto war schneller als ein Bus. „Also gut!“, stieß er hervor, „Fahr mich! Aber wehe, du brichst dein Versprechen!“ „Sowas würde ich nie tun!“, empörte sich Dings strahlend und sprang vom Bett auf, „Oh, schau mal. Ich habe auf deinem Portemonnaie gesessen.“ Kurz darauf rannten sie durch den abgeflauten Nieselregen über den Hof zum Parkplatz des Zentrums, auf dem die Autos der Mitarbeiter standen. David trug den Koffer mit dem Cello darin, Sascha seinen Rucksack. Ihre Laufschritte klatschten durch Pfützen und Schlamm. „Das da ist meins!“, rief Dings durch den säuselnden Herbstwind und deutete auf einen silbernen, tiefergelegten Opel Corsa. David schnaubte. Nur ein Manta wäre noch passender gewesen. An dem Wagen angekommen, stöberte Mr. Mein-Auto-Passt-Zu-Mir in seiner Jackentasche nach seinem Autoschlüssel. Eilig schloss er den Kofferraum auf und sie luden Davids Gepäck hinein. Anschließend warfen sie sich erleichtert auf Fahrer- und Beifahrersitz. „Puh...,“ machte David und schüttelte sich die Regentropfen aus seinen Locken, „Dreckswetter...,“ „Recht hast du, Schatz...,“ „Hör gefälligst auf–,“ „Ja ja...,“ Dings startete den Wagen und mit gleißenden Scheinwerfern fuhren sie vom Parkplatz hinunter. Sascha hielt sein Versprechen. Er machte nicht einen Versuch, David im Auto zu nahe zu kommen, was David – ehrlich gesagt – ziemlich überraschte. Er hatte gerade angefangen sich zu entspannen, da lenkte Mr. Manta-Manta sein Auto auch schon auf den Parkplatz des kleinen Bahnhofes. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. „Da wären wir!“, tönte Dings zufrieden und schaltete den Motor aus, „Ich bring dich noch zum Gleis.“ „Du musst wirklich nicht–,“ „Ach, macht mir doch gar nix aus!“, singsangte Sascha. Darauf wettete David. Er ächzte, zuckte aber ergeben die Schultern und stieg aus dem Auto. Sie holten Davids Rucksack und das verpackte Cello aus dem Kofferraum und machten sich auf den Weg zum einzigen Gleis des Bahnhofes. Der Regen hatte zwar aufgehört, doch der Himmel war inzwischen so dunkel geworden, dass die Lampen am Gleis angezündet worden waren. Außer ihnen standen noch zwei weitere Reisende in ihrem Schein. Eine alte Oma und ein rauchender Punk. Sie musterte ihn böse. „Willst du es dir nicht noch mal überlegen...?“, fragte Mr. Ich-Bring-Dich-Noch-Zum-Gleis, nachdem sie die Zeit auf der Abfahrtstafel überprüft hatten. „Nee, ganz bestimmt nicht,“ antwortete David grimmig und schulterte seinen Rucksack, „Du kannst jetzt auch fahren, den Rest schaff ich allein.“ „Will ich aber nicht. Nachher schnappt dich noch einer weg. Das könnte ich mir nie verzeihen.“ „Red keinen Blödsinn!“ „Das ist kein Blödsinn! Sowas passiert heutzutage ständig.“ „Ja, kleinen Mädchen wie Linda. Aber doch nicht Typen wie mir!“ „Sei dir da bloß nicht so sicher!“ Sie kabbelten sich solange, bis der Zug kam. Kreischend hielt er vor ihnen und Oma und Punk beeilten sich, in den warmen Waggon einzusteigen. Dings half David dabei, Koffer und Rucksack ins Innere zu bringen, was David erneut überraschte. Schließlich standen sie sich in der offenen Zugtür gegenüber. David im Zug, Sascha vorm Zug. So waren sie gleich groß. David blickte Dings ins Gesicht. Das orangefarbene Licht der Gleislaternen brachte seine Haut zum Leuchten. Sein Haar, das am Morgen noch gegelt und geschniegelt wie immer gewesen war, hing ihm jetzt feucht und glänzend vom Regen in die dunklen Augen. Davids Herz pochte sonderbar unregelmäßig angesichts seiner Miene. Wieso fiel es ihm Trottel mit einem Mal so schwer, die Zugtür zu schließen und fortzufahren? „Bleib hier...,“ sagte Mr. Merkwürdig ernst. „Kann ich nicht...,“ antwortete David, „Meine Schwester bringt mich um.“ Sie schwiegen. Der Zug pfiff einmal. „Wann kommst du zurück?“ „Sonntag.“ Dings nickte langsam, dann schmunzelte er wieder. „Ich werde dich auch vermissen, mein Liebling.“ Auf Anhieb wurde David wütend. Seine eigenartigen Gefühlsanwandlungen verpufften. „Hör endlich auf–,“ „Ja, ich weiß!“ Dann machte Sascha einen Schritt vorwärts, packte David am Kragen seiner Jacke und bevor der um Hilfe schreien konnte, hatte Mr. Wahnsinn-In-Person seine Lippen auf die Davids gedrückt. Ihm blieb die Luft weg. Seine Knie wurden weich und sein Gehirn schmolz an Ort und Stelle. Zwei Sekunden später ließ Dings ihn so abrupt los, dass David ins Zuginnere hinein stolperte. Sein Gesicht glühte und in seinen Ohren rauschte es. Der Zorn überspülte das wilde Klopfen seines Herzens und das Brennen seiner Lippen. „WAS ZUR HÖLLE–,“ „Hör auf zu brüllen und setz dich lieber auf deinen Platz!“, rief Mr. Zu-Dreist-Um-Es-In-Worte-Zu-Fassen strahlend und winkte, „Der Zug fährt gleich ab.“ David fauchte vor Wut wie ein Dampfkessel. Er stapfte zur Zugtür und schlug sie Sascha vor der Nase zu. Dann marschierte er mit hochrotem Kopf ins linke Abteil, wo er sich leise köchelnd auf seinen Fensterplatz fallen ließ, über dem sein Rucksack und sein Cellokoffer in den Gepäckhaltern untergebracht waren. Das war doch die Höhe! Dieser Kerl war doch absolut...absolut... So ein dreister Drecksack! Und, verdammte Scheiße, er war tatsächlich zum hundertsten Mal auf ihn herein gefallen! Wie blöd konnte man sein?! `Ich verspreche dir, dass ich dich nicht anrühre im Auto...´ Verflucht, da hätte er den Braten doch schon riechen müssen! `nicht im Auto´, da steckte das `aber auf dem Gleis´ doch überdeutlich drin! David raufte sich die Haare. Mit geballten Fäusten sah er aus dem Fenster. Dings stand draußen auf dem Bahngleis, ins Leuchten der Gleislaterne getaucht und grinste wie ein Honigkuchenpferd. David musste sich arg beherrschen, um nicht das Fenster aufzureißen und ihm seinen Rucksack an den selbstzufriedenen Schädel zu werfen. Sobald Mr. Hör-Auf-Zu-Brüllen Davids Augen auf sich sah, begann er wie ein Verrückter zu winken und ihm Kusshände zu zuwerfen. Davids Magen stülpte sich vor Verlegenheit um und erneut rauschte eine Flut Zorn durch seine Adern. Dieser Scheißkerl! David warf der Oma, die schräg gegenüber von ihm Platz genommen hatte, einen raschen Blick zu. Auch sie hatte Dings Theater draußen gesehen und nun betrachtete sie ihn und David abwechselnd mit zutiefst angewiderter Miene. David wollte sein Gesicht in seinen Händen verstecken. Wie sollte er diese Zugfahrt nur überstehen? Offenbar hatte auch Dings die Blicke der konservativen Oma gesehen, denn er zwinkerte plötzlich und warf auch ihr einige Kusshände zu. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen und diesmal vergrub David wirklich sein Gesicht in den Armen. Allerdings um sein Lachen zu verbergen. Mit einem Ruck fuhr der Zug an. David riss seinen Kopf hoch und blickte eilig aus dem Fenster zu Sascha hinaus. Er ging neben dem Zug her und lächelte David an. Nur David. Der Zug wurde schneller und Dings begann zu laufen. Er winkte und bevor David sich versehen hatte, winkte er zurück. Dann war Sascha verschwunden. David warf sich in das Polster hinter ihm und presste die Finger auf seine Lippen. Sie prickelten noch immer wie in einem Sandsturm. Dieser Kerl war nicht merkwürdig. Er war schlicht und einfach...unmöglich. Kapitel 10: Überhaupt --------------------- Hallo Freunde^^! Als ich sagte, dass es wohl einige Tage dauern würde, bis das neue Kapitel kommt, hatte ich nicht gedacht, dass ich über eine Woche brauchen würde... Sorry dafür. Aber das wird jetzt wohl häufiger passieren, da ich im Moment im Umzugsstress stecke und nicht so oft zum Schreiben komme. Dieses Kapitel ist eine Art Filler, weil David ja zu Hause ist. Ich hoffe, das stört Euch nicht und Ihr habt trotzdem Spaß :-)! Meinen liebsten Dank an alle Kommi-Schreiber! Viele Grüße, BlueMoon ___________________________________________________________________ Die Reise im Zug von Rötgesbüttel nach Braunschweig dauerte ungefähr dreißig Minuten. Verzweifelt versuchte David sich während der Fahrt mit seinem Buch abzulenken (immerhin Die Säulen der Erde, was ihn normalerweise wunderbar beschäftigen konnte), aber vergebens. Seine Gedanken landeten immer wieder bei Sascha – und noch nicht einmal ein Schaffner schaute vorbei, um ihn davor zu retten. Tief in Gedanken versunken, mit gerunzelter Stirn kaute David auf seinem Daumen herum und blickte aus dem Fenster, das mit winzigen Regentropfen gespickt war. Der Zug quietschte und rumpelte beim Bremsen. Es war doch kaum zu glauben. Da hatte er die stressigste Arbeitswoche seines gesamten Zivildienstes mit Müh und Not überstanden, war endlich außer Gefahr vor Dings’ Übergriffen und jetzt...musste er ständig an ihn denken. Wieso war das so? Brachten ihn seine aufdringlichen Annäherungsversuche nicht jedes Mal auf die Palme? Beschimpfte er ihn nicht die ganze Zeit, bei allem, was er sagte oder tat? Schwankte er nicht immerzu zwischen Stress, Empörung und nervlicher Zerrüttung, wann immer er irgendwo auftauchte oder zur Sprache kam? Ja, aber warum fühlte er sich dann jetzt so sonderbar? Wieso machte es ihn wütend, wenn sich die blöde Jessika an ihn heranschmiss? Wieso klopfte sein Herz so und wieso schien sein Magen jedes Mal Fahrstuhl zu fahren, wenn er an ihn dachte? Weshalb brannten seine Lippen noch immer? Die Oma und der Punk standen bereits wartend vor der noch geschlossenen Zugtür – möglichst weit von einander entfernt. Davids Augen hüpften ziellos zwischen mehreren blauen Schildern herum, die in Abständen draußen auf dem vorbeiziehenden Bahnsteig hingen. Auf ihnen allen stand der Name der Stadt, an deren Bahnhof der Zug im Begriff war zu halten: Braunschweig Hauptbahnhof. David las das Wort automatisch, verstand es jedoch nicht. Es war zum Verrücktwerden... Doch David war nie jemand gewesen, der sich so lang es ging selbst belog. Er musste es sich selbst eingestehen. Wie sehr Mr. Oma-Schreck ihn auch aufregte, irgendwie...hatte er etwas. Etwas, das ihn anzog, etwas, das ihm gefiel. Die Reaktionen seines Körpers bewiesen das. Hand aufs Herz, er hatte bei Dings’ Verführungsversuch am Montagabend einen Ständer bekommen und bei seinen Küssen wurden ihm die Knie weich. Das passte ihm vielleicht nicht, aber es war leider Gottes die Wahrheit. Sascha machte ihn an. Und das...war schlecht. Scheiße... Wieso musste das passieren? Wieso musste das sein? Warum, zum Teufel, schaffte er es nicht, sich zusammenzureißen? Wieso lernte er nicht dazu? Er wusste doch ganz genau, wie das wieder enden würde. Und dieses ewige Auf und Ab und Hin und Her, das er ständig mit Sascha erlebte, tat ihm überhaupt nicht gut. Allerdings... War es nicht auch genau diese Sache, die ihm gefiel? Dass er Dings irgendwie nicht einschätzen konnte? Dass er jeden Tag etwas Neues an ihm entdeckte, eine neue Eigenschaft, ein neues Rätsel? Er war wie ein Puzzle, das aus ganz vielen verschiedenen Teilen zusammen gesetzt werden musste, damit man die ganze Einheit vor sich sah. Ein stressiges, großspuriges, dreistes, merkwürdiges, unmögliches Puzzle vielleicht, aber auch irgendwie interessant, teilweise liebenswürdig und...schön. Das musste man ihm lassen. Gut aussehen, das tat er wirklich. Eine Katastrophe war das! Die Zugwaggons protestierten kreischend und kamen zum Stehen. Sobald die Tür sich mit einem Zischen geöffnet hatte, begann die Oma mit ihrer Handtasche den Abstieg, was wegen ihres Alters allerdings etwas dauerte. Der Punk wartete geduldig und wippte im Takt der Musik, die aus seinen Kopfhörern summte, sodass seine blau-grünen Haare fröhlich hin und her hüpften. Und trotzdem... Gutes Aussehen war absolut keine Ausrede für das Verhalten eines Riesentrottels. Anstatt, dass er David unerlaubt abknutschte, könnte er ihn einfach mal fragen, ob er ihn küssen durfte. Nicht, dass er dann unbedingt ja gesagt hätte, aber es wäre ein Anfang. Und anstatt, dass er ihn absichtlich und ununterbrochen provozierte, könnte er einfach mal...nett sein. Dauerhaft. Und nicht immer so...pervers und unverschämt und...überhaupt... „Meine Damen und Herren auf Gleis drei. Willkommen in Braunschweig. Ihre weiteren Reisemöglichkeiten...,“ schallte eine mechanische Frauenstimme über den Bahnsteig und erreichte Davids Ohren. Braunschweig. David blinzelte. Braunschweig. Irgendetwas klingelte dabei schrill in seinem Kopf. Er ließ sich das Wort noch einmal über die Zunge gehen: Braunschweig. Dann rastete etwas ein und innerhalb einer Sekunde war er auf den Beinen. „Oh, Scheiße, Scheiße, Scheiße...!“, fluchte er laut und kletterte auf seinen Sitz, um den Rucksack und das Cello aus dem Gepäckhalter zu zerren. Allerdings stellte sich das für einen allein als schweres Unterfangen heraus. „Verfluchte Kacke!“, schimpfte er und hebelte verzweifelt an dem Cellokoffer, nachdem er den Rucksack achtlos zu Boden geworfen hatte, „Komm schon, du Mistding!“ Er musste sich beeilen, er musste schnell aus dem Zug kommen, bevor er weiter fuhr. Marisa würde überhaupt nicht erbaut über eine Sms sein, in der es hieß, dass er leider den Bahnhof verpasst hatte, weil er mit seinen Gedanken bei dem größten Idioten der Weltgeschichte gewesen war. Das war alles Saschas Schuld! Dieser Penner! „Kann ich helfen?“ Die Stimme ließ David zusammen fahren. Er wirbelte herum. Hinter ihm stand der Punk. Er hatte allein im Gesicht sieben Piercings: Zwei an der linken Augenbraue, eins an der Unterlippe rechts und vier an den Ohren. Um den Hals trug er mehrere Nietenhalsbänder und seine Klamotten waren bunt und abgerissen. Aber er grinste, hilfsbereit und freundlich. „Äh, ja... Das...wäre sehr nett...,“ „Kein Problem!“ Er kletterte auf den anderen Sitz, Davids gegenüber, und gemeinsam hievten sie den Cellokoffer von der Gepäckablage und stellten ihn vorsichtig auf den Boden. „Uff...,“ machte David, „Vielen Dank.“ „Gern geschehen und jetzt schnell raus hier, bevor der Zug anfährt.“ „Okay...,“ Der namenlose Punk packte den Koffer und David schnappte sich seinen Rucksack. Gemeinsam eilten sie zur Tür, die die alte Oma inzwischen zum Glück frei gemacht hatte. An der Tür angekommen, stellte David fest, dass er sich keine Sorgen hätte machen müssen, was das Abfahren des Zuges anging. Denn jemand stand draußen auf dem Bahnsteig und hielt die Tür für sie offen. Der Jemand war groß und kräftig, trug rote Chucks und kam David überhaupt sehr bekannt vor. „Na endlich, du Bastard!“, sagte er mit grimmiger Miene, „Das hat ja mal wieder ewig gedauert!“ „Hallo Julian,“ erwiderte David lächelnd. „Kannst du mal mit anfassen?“, fragte der Punk und reichte Davids großem Bruder den Koffer aus dem Zug. Sobald sein Cello sicher auf dem Bahnhof von Braunschweig stand, sprang David die kurze Treppe hinunter und landete auf dem nassen Stein des Bahnsteiges. Julian schlug die Tür zu, der Zug zischte ärgerlich und setzte sich allmählich in Bewegung. „Vielen Dank für deine Hilfe!“, bedankte David sich grinsend beim Punk. „Gar kein Problem. Dann macht’s mal gut.“ „Du auch,“ antwortete David. „Tschüss,“ sagte Julian. Der Punk winkte und ging. David sah seinen Bruder an. „Was machst du eigentlich hier?“ „Ich bin gekommen, um dich abzuholen, du undankbarer Arsch.“ „Wie lieb von dir!“ „Ja, ja. Nimm deine Geige und komm jetzt.“ „Das ist keine Geige, sondern ein Cello. Das predige ich dir schon seit Jahren.“ „Was soll denn da der Unterschied sein?“ „Du bist so ein Idiot!" „Wieso hast du das dumme Ding überhaupt mitgenommen?“ „Für Marisa. Damit ich ihr heute Abend etwas vorspielen kann.“ „Oh nee, bitte nicht. Ich kann das Gedudel nicht ertragen.“ „Musst ja nicht hinhören!“ „Werde ich auch nicht, wenn’s sich vermeiden lässt.“ Ja, es war wunderbar einen zweiundzwanzig-jährigen Bruder zu haben, der in Rostock Biologie studierte und offiziell nicht richtig im Kopf war. Über fünf Stunden später warf David sich bäuchlings auf sein Bett. Es war dunkel in seinem Zimmer, bis auf das Licht einer der Lampen, die draußen auf der Straße standen und still in die wachsende Nacht hinein schienen. Ihr Licht brachte die Regentropfen, die immer noch leise gegen die Fensterscheibe pochten, zum Leuchten. Das Gewitter, das kurzzeitig über Braunschweig getobt hatte, war inzwischen weitergezogen. David gähnte. Sein Cello stand an seinem angestammten Platz neben der Zimmertür. Damit hatte er Marisa gerade noch ihr Lieblingslied zum Einschlafen vorgespielt. Er musste lächeln. Er hatte sie vermisst und sie hatte ihn auch vermisst. Das hatte ihm schon die Art gezeigt, wie sie ihn begrüßt hatte, nachdem er und Julian die Haustür durchschritten hatten. Seinen Namen laut kreischend war sie durch das halbe Haus gerannt und hatte sich ihm jubelnd in die Arme geworfen. Die Kleine... David gähnte ein weiteres Mal. Müde zog er sich Jeans und Pullover aus und ließ beides achtlos neben seinem Bett zu Boden fallen. Anschließend rollte er sich unter der Decke zusammen und schloss die Augen. Er seufzte zufrieden. Ein schöner Abend war das gewesen... Er hatte fast vergessen, wie gut seine Mutter kochen konnte und wie sein Vater lachte, wenn er das vierte Glas Wein geleert hatte. David schmunzelte in sein Kissen. Marisa hatte beim gemeinsamen Monopoly spielen die ganze Zeit auf seinem Schoß sitzen wollen und Felix, sein kleiner Bruder, und Julian hatten sich ununterbrochen über Felix’ neue Turnschuhe gestritten. Familie halt... Sie hatten ihm alle gefehlt... Seine Gedanken zerfaserten sich allmählich, sein Atem wurde tief und langsam. Dann piepte sein Handy. David fuhr vor Schreck so heftig zusammen, dass er beinahe aus seinem Bett plumpste. Er riss die Augen auf und setzte sich mit einem Ruck aufrecht hin. „Alter...,“ knurrte er wütend und spähte durch die Dunkelheit nach seinem Rucksack, in dessen Vordertasche noch immer sein Handy wartete. Wer schrieb ihm denn um diese Zeit noch Sms? Wer auch immer es war, er konnte ihn mal. Er wollte jetzt schlafen! Also legte er sich zurück in seine Kissen und schloss entschieden seine Augen. Natürlich vergeblich. Er war zu neugierig. So was bescheuertes. Schließlich war es vermutlich sowieso nur ein neues Blödangebot von T-Mobile oder sonst irgendein Kram, den es sich nicht lohnte zu lesen, geschweige denn dafür aufzustehen. Dennoch zwang David sich aus seinem Bett, schlurfte zu seinem Rucksack, den er vor ein paar Stunden noch neben seinen Kleiderschrank gepfeffert hatte und ging in die Hocke, während er in der schmalen Vordertasche wühlte. Die Sms war von einer unbekannten Nummer und David verdrehte die Augen. Also wirklich T-Mobile. Aber irgendwie...passte der Text nicht ganz zu der Verkaufsmasche eines Kommunikationsgiganten: Hey schatz! Es gewittert bei uns und ich hasse es. Wünschte du wärst hier, dann wäre es nicht so schrecklich. Vermisse dich wirklich furchtbar. Sascha David starrte auf die kleinen Buchstaben auf dem leuchtenden Display. Sascha. Diese Sms war von Sascha. Innerhalb von einer Sekunde verschwanden die Müdigkeit aus Davids Gliedern und die familiären Erinnerungen aus seinem Kopf, sein Herz fiel spontan in einen verkrüppelten Galopp. Gewittert. Schrecklich. Vermisse. Sascha. In einem Moment begriff er, dass er tatsächlich vier Stunden lang nicht an ihn gedacht hatte. Im nächsten Augenblick verfinsterte sich seine Miene, als er es wieder tat. Schatz. Vermisse. Sascha. So ein Mistkerl! Und woher hatte er bitte seine Handynummer? Das Licht des Displays erlosch. David fluchte, erhob sich und folgte dem Licht der Straßenlaterne zu seinem Bett. Er setzte sich im Schneidersitz auf die Matratze, knipste die kleine Lampe auf seinem Nachttisch an und las die Sms ein weiteres Mal. Konnte dieser Blödmann ihn nicht mal am Wochenende in Ruhe lassen? Er hatte frei und wollte diese Zeit nutzen, um sich von ihm zu erholen. Und jetzt besaß er die Dreistigkeit, ihn auch noch hier, im unverseuchten Braunschweig zu belästigen. Arschloch! Es gewittert bei uns und ich hasse es. Das hörte sich an, als ob er wirklich Angst hatte... Wünschte du wärst hier, dann wäre es nicht so schrecklich. Wieso ging er denn nicht zu Ben oder zu Miriam nach oben? Vermisse dich wirklich furchtbar. ... Zornig auf sich selbst schüttelte David heftig seinen Kopf, sodass ihm seine Locken um die Ohren peitschten. Wieso machte er sich überhaupt Gedanken darüber? Es war spät und er wollte schlafen und überhaupt. Er begann eine minder freundliche Antwort zu tippen. Nach zwei Sätzen hielt er inne. Scheiße! Er löschte die Nachricht wieder und begann von Neuem: Hey! Du musst keine angst haben, gewitter sind doch harmlos. Es geht bestimmt bald vorbei. Wieso gehst du nicht zu ben und lässt dich von ihm unterhalten? David David starrte auf die Zeilen, die er eben geschrieben hatte. Kein Fluch, keine Beleidigung, kein Spott. Eine nette Sms. Wie für einen guten Freund. Was sollte das? Wieso wollte er ihm so etwas sagen? Wieso war er so nett? „Scheiße...,“ zischte er in die Finsternis seines Zimmers, die ihn beharrlich anschwieg. Er drehte tatsächlich langsam durch. Denn das, was da in ihm pochte, war ganz eindeutig ein schlechtes Gewissen. Ein schlechtes Gewissen? Weshalb denn, verflucht? Weil er nicht da war. Es gewitterte und Dings hatte Angst und er war nicht da. Er war nicht da, um WAS zu tun? Ihn abzulenken, ihn zu beschützen oder gar zu trösten? Bitte! Das war nun wirklich nicht sein Job. Wie konnte man überhaupt vor einem Gewitter Angst haben, das war doch lächerlich. Aber irgendwie... Diese Sms und sein Verhalten am Mittwoch, als sie im Seminarraum saßen und es donnerte... David raufte sich die Haare. Er starrte auf die Sms, die er eben gerade verfasst hatte. Seine Finger zitterten etwas. Er schluckte und schickte sie ab. Einen Augenblick später bereute er es. Jetzt würde sich dieser Idiot wieder irgendetwas Beknacktes einbilden und ihn nicht in Ruhe lassen! Verdammt! Grundgütiger, wieso tat er das?! Unwillkürlich musste er sich vorstellen, wie Sascha die Sms las und dabei lächelte. Was würde er dann tun? Würde er wirklich zu Ben gehen, um Gesellschaft zu haben? Oder würde er David eine Sms zurück schicken, in der es hieß, dass niemand – am allerwenigsten Ben – ihn ersetzen könnte? David fluchte und schüttelte erneut den Kopf. Das war doch Schwachsinn! Schwachsinn! Dass er sich überhaupt so was ausdachte. Das fing schon damit an, dass Mr. Angst-Vor-Gewitter nicht lächelte, sondern grinste, geil und ekelhaft und überhaupt. Entschlossen klatschte David das Handy auf seinen Nachttisch und beschloss, es ab jetzt beharrlich zu ignorieren. Auch dann, beziehungsweise besonders dann, wenn Sascha antworten würde. Er schaltete das Licht aus und grub sich wieder in sein Bett hinein. Er würde jetzt schlafen und keinen Gedanken mehr an Dings verschwenden. Jawohl. Doch wie es so oft mit solchen Vorhaben war, gestaltete sich dieser Plan längst nicht so einfach wie erhofft. Knurrend drehte David sich von einer Seite auf die andere, presste die Augen zu und seine Gedankengänge in alle möglichen Richtungen, nur nicht zu Ihm-dessen-Name-nicht-gedacht-werden-durfte. Alles in ihm wartete auf das Piepsen, das eine weitere Nachricht ankündigen würde. Doch es blieb aus. Als David schließlich einschlief, war es kurz vor zwei. Er träumte, er und Sascha würden im Rep.-Raum sitzen und Obst essen. Alle Terrarien waren geöffnet und aus jedem hatte eine Schlange seinen Kopf gestreckt. Jede von ihnen hatte einen Schlüssel im Maul und schwenkte ihn hin und her. „Finde den Schlüssel...,“ sagte Sascha immer wieder zu ihm, „Finde den richtigen Schlüssel.“ Dann packte er David am Kragen, presste ihn gegen eine Wand und küsste ihn. Über ihnen verschwand die Decke. Es donnerte und krachte und Blitze zuckten am Himmel entlang... Tap, tap, tap. David erwachte. Er hörte Schritte in seinem Zimmer und öffnete flatternd die Augen. In der Finsternis erkannte er eine dunkle Gestalt, die auf ihn zu kam. Sein Magen drehte sich um. „Sascha?“, zischte er und richtete sich verschlafen auf. „Was?“, piepste eine Stimme, die mit Saschas genauso viel zu tun hatte, wie Triathlon mit Gänseblümchen. „Marisa?“, fragte David verblüfft, rieb sich die Augen und blinzelte durch die Nacht, „Wa...Was machst du denn hier?“ „Ich bin aufgewacht...,“ antwortete seine kleine Schwester und trat an sein Bett. Ihre Haare waren verstrubbelt und sie trug ihren Lieblingsschlafanzug, mit den Hasen drauf. „Kann ich bei dir schlafen?“, flüsterte sie und zupfte an Davids Bettdecke. „Aber du hast doch morgen Schule.“ „Na, und? In meinem Zimmer ist ein Monster.“ David seufzte. Er hatte keine Lust, um diese Zeit auf Monsterjagd zu gehen. Also hob er wortlos seine Decke hoch und Marisa kroch zu ihm ins Bett. Zufrieden schmiegte sie sich an ihn und drückte in ihrem kindlichen Egoismus ihre eiskalten Füße an seine warmen Oberschenkel. „Argh, kalt... Eh... Ist es jetzt gut, kannst du jetzt schlafen...?“, fragte er, nachdem der erste Schock vergangen war. „Ja...,“ fiepte Marisa glücklich zurück und rieb ihren Kopf an seiner Brust. „Dann schlaf gut und träum was Schönes...,“ gähnte er. „Du auch...,“ flüsterte Marisa. Der Schlaf wiegte David in seinen Armen. Er war so müde... „Du, David...!“, hauchte Marisa durch die Schwärze. „Mhm...,“ machte David. „Wer ist denn Sascha?“ Beim Klang dieses Namens aus ihrem Mund zuckte David unwillkürlich zusammen und riss die Augen auf. „Wieso... Woher...?“ „Du hast mich so genannt, als ich rein gekommen bin...,“ Oh, großartig. Wunderbar. Klasse. Einfach toll. Was sollte er denn jetzt machen...?! „Das...ist nur ein Zivi bei uns im Zentrum...,“ Bitte, Kind, schlaf einfach ein. Bitte, ganz schnell. „Und warum sagst du seinen Namen?“ Jaha, warum tat er das? Weil er ein Volltrottel war...! Am Liebsten hätte David sich hier und jetzt in Luft aufgelöst. Er kannte seine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie so schnell nicht von diesem Thema genug haben würde. Er könnte sie aus seinem Zimmer werfen... Aber...nein, das würde er niemals über sich bringen. Scheiße! „Ich...habe von ihm geträumt...,“ erwiderte er matt. „Wieso?“ „Das wüsste ich auch gern...,“ Seine Schwester schwieg nachdenklich. Ein Auto fuhr draußen die Straße entlang, seine Scheinwerfer zerschnitten sekundenlang die Nacht. „Ist er denn nett?“, fragte Marisa weiter und richtete ihre großen Kinderaugen auf ihn. „Nee!“, pampte David automatisch. „Aber warum sagst du dann seinen Namen?“ Kinder waren schrecklich! „Marisa... Keine Ahnung. Komm, es ist mitten in der Nacht und du musst morgen in die Schule. Wir sollten jetzt schlafen. Okay?“ „Na gut...,“ „Dann schlaf schön.“ „Du auch...,“ David schloss seine Augen wieder. In seinem Kopf drehte es sich schwach. Sascha, dieser elende, verfluchte Scheißkerl. Nicht nur, dass er seine Arbeitsstelle und seine Gedanken verpestet hatte, jetzt tat er das auch mit seinen Träumen und seiner Familie. Und dabei war er noch nicht mal körperlich anwesend. Ob das Gewitter in Rötgesbüttel inzwischen aufgehört hatte? „David...?“ „Marisa...,“ „Du, lerne ich Sascha bald mal kennen?“ „Was? Nein!“ „Warum nicht?“ „Weil...weil ich ihn ganz sicher nicht mit nach Hause bringen werde!“ „Warum nicht?“ „Marisa, schlaf jetzt oder du musst zurück in dein Bett!“ „Nein, da ist ein Monster!“ „Dann hör jetzt auf, diese blöden Fragen zu stellen und schlaf!“ „Na gut...,“ „Danke...,“ Er drückte die Augen zu und bemühte sich nach Kräften, sein pochendes Herz zu beruhigen. „Wieso fragst du das überhaupt...?“, flüsterte er plötzlich, „Willst du ihn etwa kennen lernen?“ „Klar!“, piepste Marisa. „Warum denn?“ „Na, ich dachte, wenn du von ihm träumst und seinen Namen sagst, dann musst du ihn dolle mögen.“ Manchmal hasste er sie. Und sich selbst. Und Sascha. SASCHA! Ja, den hasste er am meisten. Kapitel 11: Fröhlich -------------------- Hey Ho :-)! So, hier kommt Kapitel Nr. 11 :-). Diesmal ist Mr. Nicht-Ganz-Richtig-Im-Kopf auch wieder mit vor der Partie^^. Falls Ihr Euch wieder etwas gedulden müsst, bis das nächste Kapitel kommt, nehmts mir nicht übel^^. Ich hoffe, Ihr habt Spaß mit den beiden Kindsköpfen^^! Liebe Grüße, BlueMoon ______________________________________________________________________ David genoss das Wochenende zu Hause. Er genoss es auszuschlafen, zu faulenzen und mit seiner Familie zusammen zu sein. Er genoss es, mit seinen Eltern zu reden, mit Julian zu streiten, mit Felix Playstation zu zocken und mit Marisa Grundschulhausaufgaben zu machen. Außerdem traf er einige seiner engsten Freunde aus Braunschweig. Alles war gut und chillig und fröhlich und so. Es gab da nur eine kleine Schwierigkeit... Sein Unterbewusstsein pendelte ununterbrochen zwischen zwei Zuständen. Entweder es beschäftigte sich mit Sascha oder es versuchte krampfhaft eben das nicht zu tun, was ja im Endeffekt auf dasselbe hinaus kam. Es war zum Verzweifeln. Wieso, bei allen Teufeln der Hölle, tat er sich das an? Wieso konnte er diesen Idioten einfach nicht vergessen?! Er war beinahe allgegenwärtig, nahezu alles was David tat oder hörte oder miterlebte, erinnerte ihn in irgendeiner Weise an diesen...diesen... Kerl. Außer Marisa, die zu Davids absoluter Erleichterung gegenüber ihren beiden anderen Brüdern noch keine Andeutung gemacht hatte, wusste der Rest seiner Familie noch nichts von Saschas Existenz. Aus gutem Grund. Er wollte keine unangenehmen Fragen über ihn hören oder Mutmaßungen darüber, was er für ihn fühlen mochte. Denn so genau wusste er das ja selbst noch nicht. Kurz überlegte er zwar, seinem besten Kumpel Kenji, einem Japaner, den er schon aus dem Kindergarten kannte, von ihm zu erzählen, doch er verwarf diese Idee praktisch sofort wieder. Und das aus einem guten Grund: Kenji hatte keine Ahnung. Und deshalb konnte er es ihm nicht sagen. Er konnte es einfach nicht. Da sprach er lieber mit Linda oder Miriam. Die kannten Sascha schließlich auch. Dennoch, so wie er ihn kannte, kannte ihn wohl niemand aus dem Zentrum. Er war der Einzige, der seine perversen Attacken über sich ergehen lassen musste, er allein wurde gegen seinen Willen von ihm geküsst. So ein verdammtes Arschloch! Aber so einfach war das leider nicht. Wenn es das wäre, dann würde David nicht hundertmal am Tag auf sein Handy sehen, um zu prüfen, ob er eine weitere Sms bekommen hatte. Von der fremden Nummer, die er – wie er sich zu seiner eigenen Schande eingestehen musste – inzwischen auswendig kannte. Mr. Bringt-David-Um-Den-Verstand war an der Reihe, er musste schreiben. Aber er tat es nicht und das regte David auf, ob er wollte oder nicht. Und noch etwas regte ihn gehörig auf. Ein Gefühl, dass sich im Laufe des Freitages in seinen Bauch geschlichen hatte. David wusste genau, was es war, und es trieb ihn zur Weißglut: Er vermisste Sascha und er freute sich auf Sonntagabend, wenn er ihn wiedersehen würde. Verfluchte Scheiße! Schließlich kam der Sonntag, viel zu schnell und viel zu langsam. Kurz nach halb drei hatte sich die ganze Familie vor der Haustür versammelt, um David, seinen Rucksack und sein Cello zu verabschieden. Julian hatte sich großzügigerweise dazu bereit erklärt, ihn mit seinem Auto zum Bahnhof zu bringen. „Gute Reise, mein Sohn,“ sagte sein Vater und drückte ihn an sich. „Schreib uns eine Sms, wenn du gut angekommen bist, ja?“, fügte seine Mutter hinzu und umarmte ihn liebevoll. „Ja, mach ich. Mach’s gut, Brüderchen.“ Er und Felix tauschten einen freundschaftlichen Handschlag. Dann drehte er sich zu seiner Schwester um. Sie sah ihn mit großen Augen an, schluckte einmal und begann zu weinen. Sieben Minuten später, in denen sie Marisa mit vereinten Kräften getröstet hatten, befanden David und Julian sich endlich auf dem Weg zum Bahnhof. Der Himmel war grau und bedeckt und der Wind, der um die Häuserecken pfiff, war kühl und bissig, aber regnen tat es an diesem Sonntag ausnahmsweise mal nicht. Offenbar war der Himmel endlich einmal leer. „Fährst du bald zurück nach Rostock?“, fragte David an seinen Bruder gewandt und zählte nebenbei sein Fahrkartengeld. „Ja, morgen...,“ erwiderte Julian und hielt an einer Ampel, „Das Semester geht bald weiter und außerdem hat Anja nächste Woche Geburtstag.“ „Und hast du schon ein Geschenk?“ „Ich habe an Reizwäsche gedacht.“ David schnaubte. Manchmal fragte er sich, was genau Anja an seinem Bruder fand. Seiner Freundin Reizwäsche zum Geburtstag zu schenken, war genauso stillos, wie seiner Mutter einen Kochtopf aus Holland mitzubringen. Apropos Holland... „Ich habe auch noch ein Geschenk für dich...,“ sagte Julian plötzlich, nachdem er seine grüne Schrottkiste am Bahnhof geparkt hatte, mit dem breitesten Grinsen unter der Sonne. „Was denn für ein Geschenk?“, entgegnete David verdutzt, seine Hand schon am Autotürgriff. „Habe ich dir aus Holland mitgebracht,“ erklärte sein großer Bruder fröhlich, griff in seine Jackentasche und holte ein Sonnenbrillenetui heraus. David blinzelte. Er wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als Julian das Etui öffnete und etwas heraus nahm. Es war klein und schmal, länglich und weiß und wurde zum zugedrehten Ende hin breiter. David starrte es an. „Was...?“, sagte er und begriff noch im selben Moment. „Das ist ein Joint, du Bastard,“ blaffte Julian ihn an, „Bestes White Widow aus dem berühmtesten Coffeeshop von ganz Amsterdam. Köstlich. Eine Verschwendung, dass ich dir überhaupt 0,3 Gramm überlasse.“ David runzelte die Stirn, musste aber grinsen. „Du spinnst doch total! Wenn ich damit erwischt werde,“ er nahm das Tütchen entgegen, das Filterpapier raschelte leise „Danke...,“ Vorsichtig verstaute er den Joint in der Innentasche seiner Jacke. „Wie hast du das Zeug rübergekriegt?“, wollte er von seinem Bruder wissen. Julian lachte verwegen. „War ganz einfach. Ich habe es mir mit einem Gummiband an den Sack geknotet!“ Während der Zugfahrt fühlte David sich die ganze Zeit von den anderen Fahrgästen beobachtet. Kein Wunder, er kam sich vor wie ein Schmuggler, mit dem Joint in der Jackentasche. Halb erwartete er, dass jeden Moment eine Armee vermummter Polizisten mit Spürhunden durch die Abteiltür toben würde. Doch nichts dergleichen geschah und David erreichte unbehelligt den kleinen Bahnhof von Rötgesbüttel. Gemeinsam mit seinem Cello bugsierte er sich durch die Zugtür auf den Bahnsteig und zu seinem Rucksack, den er schon vor geworfen hatte. Er blickte sich um. Zu seinem Ärger fühlte er eine kleine Prise Enttäuschung durch seinen Körper rieseln. Halb hatte er erwartet, dass Sascha da wäre, um ihn abzuholen. David biss sich auf die Lippe. So ein Scheiß! Er wusste doch, dass Mr. Bringt-Nur-Scherereien arbeiten musste. Außerdem würde so ein Abholungskomitee ihn nur in Verlegenheit und Rage bringen. Trotzdem. Ein bisschen gefreut hätte es ihn schon... Mit dem Bus fuhr David zu der Haltestelle, die dem Tierschutzzentrum am nächsten war und schleppte sein Gepäck von da aus zu Fuß durch den Ort. Hin und wieder warf die Sonne einen Blick durch ihre Wolkenfestung und bewies sekundenlang, dass sie durchaus noch Kraft hatte, sodass David sich genötigt sah, seine Jacke zu öffnen. Er dachte an den Joint und dankte dem Himmel, dass die Innentasche mit einem Reißverschluss gesegnet war. Nach zehn Minuten Fußmarsch erreichte er endlich das heimische Zentrum. Schon von weitem hörte er die Papageien in ihren Draußenvolieren kreischen und Corvus, den fiesen Krähenboss, in seinem Gehege krächzen. Der Wind strich singend durch die Blätter der Bäume ringsum, die sich langsam rot und gelb und braun färbten. David wollte gerade die Betreten verboten-Tür aufschließen, um in den Zivi-Bereich zu gelangen, als er hinter sich die Scheunentür gehen hörte. Er fuhr zusammen und wirbelte eilig herum. Einen Moment später entspannt sich sein Körper so plötzlich wieder, dass ihm ganz mulmig wurde. Es war Miriam. „Hey, David!“, sagte die FÖJlerin lächelnd, „Wieder zurück? Hattest du ein schönes Wochenende?” „Hallo, Miri. Ja, danke, hatte ich.“ Er bemühte sich, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Wie lief’s hier?“ „Gut, keine Probleme. Wir warn ja zu dritt heute, Sascha, Jessika und ich. Soll ich dir beim Schleppen helfen?“ „Nett von dir, aber das kriege ich schon allein hin, danke.“ Er grinste sie betont fröhlich an. Bei der Erwähnung von Jessika war ihm ein Stein in die Magengegend gefallen. Wo ist Sascha?, wollte er fragen, aber besann sich doch anders. Es war ihm egal, wo der steckte, jedenfalls größtenteils. Er würde ihn schon früh genug zu Gesicht bekommen. In seinem Zimmer angekommen, öffnete er zuerst das Fenster, verstaute dann sein Cello und packte halbherzig seinen Rucksack aus. Den Joint versteckte er in seinem Kleiderschrank, zwischen seinen Socken. Nicht, dass Ben auf der Suche nach Schokolade aus Versehen darauf stieß. Allerdings...käme er auf die Idee, bei den Socken zu suchen? David nahm den Joint vorsichtshalber wieder heraus und schob ihn unter sein Cello in den Koffer. Niemand würde es wagen ohne seine Erlaubnis sein Cello zu berühren, weil jeder wusste, dass er dann einen Tobsuchtsanfall kriegen würde. Da war sein kleines, rauchiges Geheimnis sicher. Anschließend warf er sich bäuchlings auf seine Matratzen und angelte nach seinem Handy. Nichts. Gar nichts. Er knirschte mit den Zähnen. Nachdem David seiner Mutter die versprochene Sms geschrieben hatte, überlegte er, ob er auch Dings schreiben sollte. Sowas, wie: Na du holzkopf! Ich bin wieder da. Schön geschuftet? David Aber da könnte er sich auch gleich erschießen. David ließ sein Handy über den Boden Richtung Tisch schlittern und vergrub seinen Kopf in seinen Armen. Scheiße... Es war zehn vor vier, Feierabend war erst um fünf Uhr. Dementsprechend hatte er noch über eine Stunde Galgenfrist, bevor er wieder um sein Leben kämpfen musste. Er könnte diese Zeit einfach genießen und etwas tun, was er schon lange tun wollte. Zum Beispiel Wäsche waschen oder sein Zimmer fegen oder so was Nützliches. Er könnte aber auch einfach in seinem Bett liegen bleiben und lesen. Heute funktionierte das Ablenkungsmanöver Die Säulen der Erde besser und David schaffte es, fast zwei Kapitel zu lesen, bis er plötzlich laute Geräusche hörte, die ihn aus der fremden Welt zogen. Waren das Schritte auf der Treppe? Wilde, hastige Schritte? David wandte seinen Oberkörper halb zu seiner Zimmertür um. Eine Sekunde schaute sie schweigend zurück. Dann flog sie mit einem Krachen auf und David blieb fast das Herz stehen. „DAVID!“, brüllte es und im nächsten Augenblick fand er sich unter einem ihm bereits bekannten Körper begraben. „Du bist wieder da! Endlich! Du hast mir so gefehlt!“ „Geh von mir runter, du Irrer! Hau ab!“, rief David halb tobend, halb lachend und versuchte Mr. Übertrieben-Stürmisch von sich fern zu halten, der ihn so begeistert herzte, dass seine Rippen knackten. Er packte Dings’ Schultern und drückte ihn entschieden von sich weg. Als er ihm ins Gesicht blickte, begann sein Inneres zu schäumen. Sascha strahlte über das ganze Gesicht. Sein braunes Haar hing ihm ungegelt in die Stirn, seine Kastanienaugen leuchteten. Gegen seinen Willen spürte David, wie ihm warm ums Herz wurde. „Hey...,“ sagte Dings liebevoll. „Hallo...,“ antwortete David und versuchte böse zu gucken, „Jetzt geh von mir runter.“ „Aber nur, wenn du versprichst, nicht wegzulaufen,“ singsangte Mr. Honigkuchenpferd. „Ja, ja...,“ knurrte David. „Na gut...,“ Sascha lachte fröhlich und rollte sich von ihm runter. Einen Moment sah David ihn ruhig an, dann sprang er auf und flüchtete eilig durch die geöffnete Zimmertür die Treppe hinunter. „Hey, du kleiner Verräter!“, brüllte Sascha hinter ihm her und nahm sogleich die Verfolgung auf, „Warte nur, wenn ich dich kriege!“ Sie polterten die Treppenstufen hinunter, den Flur entlang und durch die Zivi-Küche hindurch, in den Seminarraum. Sascha jagte David einige Runden um die Tische herum. Wenn sie es nicht schon gewesen wären, hätte ihr Gelächter die Seminarraum-Bewohner sicher taub werden lassen. Schließlich stoppten sie jeweils an einem der beiden Tischenden. Kichernd und keuchend fixierten sie sich über die Tischplatte hinweg. David stemmte seine Hände auf den Tisch. Sein Atem ging schwer, seine Augen waren auf sein grinsendes Gegenüber gerichtet. Er selbst grinste nicht minder breit. „Wie sieht’s aus?“, wollte Dings dann wissen, „Darf ich heute Abend für dich kochen? Zur Feier des Tages?“ „Was für ne Feier denn?“, fragte David argwöhnisch. „Na, unsere Wiedervereinigungsfeier!“, erklärte Sascha überschwänglich und wedelte mit der Hand. „Ah ja...,“ „Also?“ David verzog das Gesicht, als müsse er sehr angestrengt nachdenken. „Ich weiß nicht, ob ich das verantworten kann,“ sagte er dann gedehnt und mit verstellter Stimme, „Was hätten sie mir kulinarisch denn zu bieten, Mr. Locon?“ „Nun, Mr. Spandau...,“ erwiderte Sascha mit tieferer Stimme, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und ruckte an einem imaginären Frack, „Da heute Sonntag ist, konnte ich zu meinem größten Bedauern nicht einkaufen gehen. Sie können also wählen zwischen Tiefkühlpizza und Fischstäbchen ohne alles.“ „Tatsächlich?“, David unterdrückte ein fröhliches Glucksen und warf einen übertrieben arroganten Blick auf seine Billigarmbanduhr, „Ich fürchte, das genügt mir nicht, Mr. Locon. So kommen wir nicht ins Geschäft.“ „Wenn Sie es wünschen, könnte ich auch noch geklaute Himbeermarmelade zu den Fischstäbchen servieren.“ David würgte. „Ich denke, da wäre mir eine Tiefkühlpizza doch lieber.“ „Es wäre mir eine Ehre–,“ „Allerdings hätte ich da noch einige Bedingungen...,“ ließ David Mr. Spandau kalt sagen. „Und die wären?“, erkundigte sich Mr. Locon mit hochgezogenen Brauen.. „Erstens untersage ich Ihnen, sich mir auf unangemessene Weise zu nähern.“ „Ohhh...,“ „Zweitens, verbitte ich mir jegliche schmutzigen Witze oder Andeutungen.“ „Das wird nicht leicht werden...,“ „Und drittens, dürfen Sie mich nicht küssen!“ Mr. Locon löste sich kurzzeitig in Luft auf und Sascha setzte eine zutiefst entsetzte Miene auf. „Wie, nicht küssen? Gar nicht? Nicht mal ein bisschen?“ „Ja, genau! Gar nicht, nixi, null, niente!“, behaarte Mr. Spandau böse. „Wie kannst du so eine Unmenschlichkeit von mir verlangen?“ „Willst du jetzt für mich kochen oder nicht?“, knurrte David. Sascha seufzte so tief, als stände er kurz vorm Galgen. „Also gut... Auch wenn es mir das Herz bricht. Ich verspreche es.“ „Gut!“, strahlte Mr. Spandau, „Dann sind wir im Geschäft, Mr. Locon.“ „Wunderbar!“, strahlte Mr. Locon zurück. In diesem Augenblick, da die beiden Geschäftsmänner zu einer Einigung gekommen waren, hörten sie Schlüsselgeklapper an der Glastür zum Hof, der Tür, an der sie auch mit Leopold Bekanntschaft gemacht hatten. Einen Moment später betrat Jessika den Seminarraum. Bei ihrem Anblick würde Davids Herz schwer wie Blei. „Sascha, kann ich dich mal kurz sprechen?“, fragte sie mit belegter Stimme. David sah, wie sich über Saschas Gesicht ein Schatten legte. Jedes bisschen humorvolle Fröhlichkeit war daraus verschwunden. „Sicher...,“ antwortete er knapp. Er drehte sich hastig zu David um und schenkte ihm ein leicht erzwungen wirkendes Lächeln. „Lauf nicht weg, ja?“ David nickte matt. Jessika warf ihm einen letzten Blick zu, bevor sie nach Sascha zurück auf den Hof ging. Der Blick war so zornig und eisig, dass David erschauderte. Hinter ihr schloss sich die Tür. Himmel, hatte er etwas verpasst? Hatte er sie verärgert, ohne es zu merken? Was hatte er denn getan? Und wie? Er war doch erst knapp vor einer Stunde wiedergekommen und hatte sie in dieser Zeit noch nicht einmal von weitem gesehen. Oder lag es etwa daran, dass sie – nun ja, auch – was von Sascha wollte? Aber woher sollte sie wissen, dass es ihm - verfluchte Scheiße nochmal! - genauso ging? Sie wäre sicherlich die Letzte, mit der er über seine Gefühle zu Dings reden würde. Oder benahm er sich so auffällig? Wie denn? Sie hatten nichts aufschlussreiches getan, außer sich um die Tische zu jagen und anschließend ein sinnloses Gespräch zu führen. Sie hatten nur Mist geredet und normale Stimmen konnte man draußen noch nicht mal hören. Aber was war es dann? David seufzte und schüttelte den Kopf. Dann breitete sich unvermittelt ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und er begann ein Lied zu pfeifen, dass ihm merkwürdigerweise gerade in den Sinn gekommen war: Warum bin ich so fröhlich, so fröhlich, so fröhlich, bin ausgesprochen fröhlich, so fröhlich war ich nie! Ja, Mr. Locon würde für ihn Tiefkühlpizza aufbacken und währenddessen könnte er vielleicht etwas mit Sascha reden. Ohne ständig Angst um sein Leben zu haben, dank der gestellten Bedingungen und Dings’ Versprechen. Trotzdem, vielleicht hätte er ihn doch zwingen sollen, einen Vertrag zu unterschreiben. Nur so zur Sicherheit. Kapitel 12: Schaukelig ---------------------- Hey Leute :-)! So, ich präsentiere Euch stolz Kapitel 12. Es hat wieder etwas gedauert und ich fürchte, es ist auch nicht besonders gut geworden. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir das und amüsiert Euch trotzdem etwas. Bis zum nächsten Kapitel wird es voraussichtlich wieder etwas dauern, da ich weder weiß, wann ich wieder zum Schreiben kommen, noch, ob und wann ich in meiner neuen Wohnung Internetanschluss kriege. Ich bitte Euch daher um Nachsicht^^. Sage Euch auf jeden Fall Bescheid, sobald Kapitel 13 da ist :-). Und jetzt viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, BlueMoon ______________________________________________________________________ Doch zu Davids Verdruss kam der Abend alles andere als geplant. Es gab keine Tiefkühlpizza und keine Fischstäbchen mit Himbeermarmelade. Es gab kein normales, nettes Gespräch mit Sascha. Um genau zu sein, gab es an diesem Abend überhaupt keinen Sascha mehr. Zehn Minuten lang wartete David vergeblich im Seminarraum auf ihn, bis er schließlich in sein Zimmer zurück ging. Wenn Sascha wieder kam, würde er schon auf die Idee kommen, ihn hier zu suchen. Doch...er kam nicht zurück. Er tauchte einfach nicht mehr auf. Mit jeder Minute, die er wartete, sank Davids Laune, die vor kurzem noch so gut gewesen war, weiter in den Keller. Alle fünf Sekunden blickte er völlig sinnloserweise auf sein Handy, wo er vorhin eine Antwort von seiner Mutter gefunden hatte. Nach einer Stunde war er fuchsteufelswild. Was bildete sich dieser Scheißkerl eigentlich ein? Vermutlich schob er eben in dieser Sekunde eine Nummer mit der blöden Jessika. Und er, David, war schon wieder auf ihn reingefallen. Langsam konnte er aufhören zu zählen. Machte es diesem Wichser Spaß, ihn die ganze Zeit zu verarschen? Vermutlich...! Doch das schlimmste an der Sache war, dass diesmal nicht nur Davids Stolz angeknackst war. Dieses Mal ging es viel tiefer. Er hatte sich auf den Abend gefreut, hatte sich darauf gefreut, mit Mr. Ich-Halte-Mein-Wort-Nicht zusammen zu sein. Und jetzt saß er appetitlos allein in seinem Zimmer, lauschte dem Regen, der draußen wieder eingesetzt hatte, und Sascha vögelte Jessica. Gott! Was war er nur für ein Riesenidiot... Er hatte doch gewusst, dass es wieder so ausgehen würde. Wieso nur war es wieder passiert? Wieso nur hatte er wieder angefangen zu hoffen? Wieso, zum Henker, war er so scharf darauf, wieder verletzt zu werden?! Verdammte Scheiße! Der nächste Morgen brach an, grau in grau und kühl. Um halb Acht stimmte Davids Wecker seinen üblichen, schrillen Gesang an und riss ihn unbarmherzig aus den tröstenden Träumen. Mit finsterer Miene lugte er über seine Bettdecke, gab dem Wecker einen scharfen Hieb auf den Kopf und vergrub sich wieder zwischen seinen Kissen. Er hasste diese Tage, an denen man schon beschissene Laune hatte, bevor der Tag überhaupt richtig angefangen hatte. Er verspürte absolut gar keine Lust, aufzustehen, sich anzuziehen und zu arbeiten. Und er wollte Jessika nicht sehen. Und Sascha. Er wusste nicht genau, wie er bei einer Begegnung reagieren würde oder besser konnte. Konnte er tun, als wäre nichts gewesen? Konnte er ihn mit Gleichgültigkeit strafen? Nein, eher nicht. Ein falsches Wort und er würde wieder auf Hundertachtzig sein. Gerade jetzt. Und zu Recht! Missmutig schlurfte David um zwanzig vor Acht aus seinem Zimmer. Einen Moment blieb er vor Dings’ Zimmertür stehen und überlegte, ob er eine Granate hinein werfen sollte. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Also gab er sich damit zufrieden, möglichst laut die Treppe hinab zu trampeln, um in der morgendlichen Zivi-Küche alten Toast zu frühstücken. Außerdem musste er noch den neuen Wochenplan durchlesen, da er die Dienstbesprechung am Freitag ja verpasst hatte. Er hoffte, dass Linda und Heiko heute früh auftauchen würden. Vielleicht schafften sie es, seine Laune zu heben. Er betrat die Zivi-Küche, blickte auf und erstarrte. Der Tisch war gedeckt worden. Nicht mit benutzten Kaffeetassen und einem alten Keksteller wie sonst immer, sondern richtig gedeckt, wie für ein Sonntagsfrühstück. Da stand ein Korb mit frischen Brötchen, eine dampfende Pfanne mit Rührei und gebratenem Schinken, eine Schale Obst und sogar ein Schokoladenkuchen. Eine Flasche Orangensaft stand gleich neben der Kaffeekanne und einer Milchtüte. Ein Teller rundete das Bild ab, eine Tasse, ein Glas, einmal Besteck. Fassungslos trat David näher an den Tisch. Sein Blick huschte über das wunderbare Frühstück und sein Magen zog sich sehnsüchtig zusammen. Gerade als sein Gehirn die Frage nach dem wer formulierte, hörte er Schritte hinter sich. Er wirbelte herum und fand sich Auge in Auge mit Mr. Schuld-An-Davids-Schlechter-Laune wieder. Bei seinem Anblick wurde ihm erst kalt vor Überraschung, dann warm, aus einem Grund, den David ganz und gar nicht gutheißen konnte, und dann wieder kalt, diesmal vor Zorn. „Was machst du denn hier?“, schnauzte er, bevor Sascha die Chance hatte, einen Ton von sich zu geben. „Ich...wohne hier...,“ antworte der zögerlich. „Das weiß ich!“, pampte David, ohne auf Dings’ unsicheren Tonfall zu achten, „Aber was soll das da sein?!“ Anklagend wies er auf den herrlichen, vollbeladenen Tisch. „Das soll ein Frühstück sein...,“ erwiderte Sascha vorsichtig, „Dein Frühstück, um genau zu sein...,“ David versteinerte und starrte ihn an. „Mein...Frühstück?“, echote er fassungslos. „Ja, sicher... Ich...habe dir doch versprochen, für dich zu kochen und...da es gestern Abend ja nicht mehr...geklappt hat, dachte ich, ich...mach’s wieder gut, indem ich dir Frühstück mache... Ich meine, ich weiß, dass da nicht von kochen die Rede sein kann, aber ich dachte, dass... Na ja...,“ Seine Stimme verebbte und zu Davids grenzenlosem Erstaunen, errötete er etwas. Das macht er doch mit Absicht!, rief David sich selbst zu, Glaub ihm kein Wort, er will dich nur wieder überlisten! Doch Absicht hin, List her, es war zu spät. Schon spürte David, wie sich seine Wut verflüchtigte. „Du bist so ein Arsch...,“ sagte er matt. „Ich weiß...,“ schmunzelte Dings, „Verzeihst du mir trotzdem?“ „Was bleibt mir denn Anderes übrig...?“, murrte David. Das Strahlen, das sich auf Saschas Gesicht ausbreitete, hätte einen finsteren Keller beleuchten können. „Du bist ein Engel, mein Liebling!“ Und bevor David sich retten konnte, hatte Mr. Ich-Weiß-Dass-Ich-Ein-Arsch-Bin ihn in eine innige Umarmung gezogen. „Lass mich los...,“ murmelte David drei Sekunden später dumpf gegen Saschas Schulter. „Ungern...,“ trällerte der in seine Locken. „Ich warne dich...,“ „Also gut!“, Dings löste sich von ihm, nahm seine Hand und strahlte ihn an, dass es Linda Konkurrenz gemacht hätte, „Komm, setz dich hin und iss etwas!“, er zog ihn zum Frühstückstisch und drückte ihn auf den mittleren Stuhl, vor dem gedeckt war, „Ich wusste nicht, was du zum Frühstück magst – außer Toast und Müsli – und darum habe ich einfach alles mögliche gekauft. Also... Was möchtest du trinken? Kaffee, O-Saft, Milch? Wenn du willst, mach dir auch Tee oder nen Kakao. Irgendwo habe ich hier auf jeden Fall Kakaopulver gesehen...,“ Mit offenem Mund sah David ihm dabei zu, wie er in die Küchenzeile eilte und die Wandschränke nach Kakaopulver zu durchsuchen begann. Irgendwo in seiner Magengegend ziepte es, seine Mundwinkel zuckten. „Danke, aber Kaffee ist schon okay...,“ sagte er und drehte sich auf seinem Stuhl zu ihm um. „...und hier sind auch ne Menge Teesorten! Pfefferminz, Früchte, schwarz, Kam–,“ „Sascha!“, rief er und musste die Zähne zusammen beißen, um nicht zu schmunzeln, „Ich sagte, Kaffee ist okay!“ Mr. Ich-Mache-David-Frühstück sah ihn milde verdutzt an. „Kaffee?“ „Kaffee.“ „Bist du dir auch ganz sicher? Ich kann dir auch nen Kognak besorgen.“ David biss sich auf die Lippe, um sein Grinsen abzuwürgen. Der machte das doch mit Absicht! Der Blödmann! „Nein, ich will keinen Kognak, sondern einen Kaffee!“ „Vielleicht nen Wodka? Oder einen–,“ „Kaffee, danke!“ „...Rum? Likör? Whis–,“ „KAFFEE!“ Und schon war es passiert. Hastig schlug David sich die Hände vor den Mund, doch sein Grinsen war so breit, dass keine Hand der Welt es hätte verbergen können. Sascha strahlte. „Na, endlich! Natürlich kriegst du deinen Kaffee, mein Schatz.“ Er ließ die Schränke einfach offen stehen und kam zum Tisch zurück, um David Kaffee einzuschenken. „Und hier ist Milch und Zucker, wenn du magst,“ fügte er hinzu, schob ihm besagte Zutaten hin und ließ sich auf den Stuhl neben ihn fallen – Heikos Stuhl. „Danke...,“ antwortete David gedämpft. Langsam ließ er seine Hände von seinem Gesicht gleiten. Nachdenklich betrachtete er Mr. Kaffee-Tee-Kakao. „Du bist ein Arsch...,“ wiederholte er tonlos. „Und ich liebe es, wenn du mich so nennst!“, flötete Dings und klimperte mit den Wimpern. David schnaubte und versuchte sein Gesicht zu einer ärgerlichen Miene zu zwingen. Doch nun, da er gelächelt hatte, war das alles andere als einfach. Um sein Inkognito zu wahren, begann er sich eilends den Teller mit Brötchen, Rührei und Kuchen zu füllen. „Isst...du nichts?“, fragte er Sascha unsicher zwischen zwei Gabeln Ei mit Schinken. „Nein, ich frühstücke nie,“ antwortete Dings, der ihn amüsiert beobachtet und hin und wieder an seinem Kaffee genippt hatte, „Ich schlafe lieber etwas...länger.“ „Fefhehe...,“ mampfte David und zeigte ihm den Vogel. Mr. Nicht-Frühstücker lachte vergnügt und Davids Herz machte einen Hüpfer. David biss in sein Brötchen. Ihm war angenehm warm zumute. Er kam sich vor wie auf einem Schaukelpferd. Vor und zurück, vor und zurück; schlecht drauf, gut drauf, schlecht drauf, gut drauf... Und alles nur wegen diesem Trottel. Es war nicht zum Aushalten, es war anstrengend, es war nervtötend und es war...schön. Irgendwie. Verdammte Scheiße! „Es tut mir Leid wegen gestern!“ David hörte auf zu kauen und blickte verdutzt auf. Dings schaute ihn an. Das Lachen war aus seinen Augen verschwunden. Er sah bedrückt aus. „Wirklich. Ich kam mir die ganze Zeit so scheiße vor, aber ich kam einfach nicht weg. Es ist zwar nix gelaufen, aber wir–,“ „Es ist nix gelaufen?“, unterbrach David ihn atemlos, nachdem er endlich geschluckt hatte. Sascha starrte ihn an. „Nein!“, stieß er dann hastig hervor, „Ehrlich, nichts. Es ist...überhaupt nichts gelaufen gestern. Nicht mal ansatzweise. Wir haben nur geredet und...,“ David blendete seine nächsten Worte aus und seufzte. Die Erleichterung machte ihn so leicht wie einen Luftballon. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, dass er sich an der Tischplatte festhalten musste, um nicht davon zu schweben. Es war nichts gelaufen. Zwischen Sascha und Jessika war nichts gelaufen. Nichts gelaufen. Keine Nummer. Kein Gevögel. Nichts. „...Sms schreiben, aber mein Akku war alle – wie in so nem schlechten Film – und ich hatte so ein mieses Gewissen...,“ redete Dings fieberhaft weiter, „Aber als ich endlich nach Hause kam, war es schon so spät und ich wollte dich nicht mehr stören und da dachte ich, dass ich es am nächsten Morgen dann wieder gut mache... Tut mir wirklich, wirklich Leid. Ich wollte das nicht. Ich–,“ „Schon gut!“, schnitt David ihm erneut das Wort ab und lächelte seinem Brötchen zu, „Ist schon gut. Nicht so schlimm...,“ „Aber... Ich habe mein Wort gebrochen. Und dabei hatte ich mich so darauf gefreut, den Abend mit dir zu verbringen...,“ jammerte Dings und Davids Magen schlug einige Purzelbäume, „Und heute Abend fahre ich nach Hause bis Donnerstag und–,“ „Du fährst nach Hause?“, wiederholte David starr vor Schreck, „Bis Donnerstag?“ Bemerkenswert, wie schnell so ein Höhenflug vorbei sein konnte... „Ja, ich...hab frei...,“ antwortete Mr. Schaukelpferd irritiert und dann, mit völlig veränderter Stimme, „Stört es dich etwa?“ David starrte ihn an. Das plötzliche Strahlen auf Saschas Gesicht verunsicherte ihn leicht. „Ich...,“ sagte er matt, sein Gehirn drehte sich einmal auf der Stelle und kam dann zu einem Ergebnis, „Nein! Du kannst machen, was du willst, ich habe nur...,“ Gütiger Gott, wie schrecklich... Dings’ Grinsen wuchs noch weiter an. „Du bist so wunderbar, David. Ich bin wirklich vollkommen verrückt nach dir!“ „Hör bloß auf damit!“ „Wieso denn? Wenn’s doch die Wahrheit ist!“ „Ich will’s nicht hören!“ Nach und nach trafen die Anderen ein. Zuerst Heiko, der seine Bildzeitung in die Obstschale schleuderte und Sascha anschnauzte, er solle seinen Arsch von seinem Stuhl nehmen. Danach Linda, die sich mit David ein Stück Schokoladenkuchen teilte. Sebastian tauchte auf, als David und Linda begannen den Tisch abzuräumen und Dings sich ans Abspülen machte. Miriam half ihnen, als sie zwanzig nach Acht zu ihnen stieß. Auch Ben gesellte sich zu ihnen. Er hatte seine Woche Nachtschicht hinter sich und würde die nächsten Tage erst mal frei haben. Diese Woche war Freddy dran, David dann die nächste. Jessika kam als Letzte. Sie sah blass und unglücklich aus und schaute vom Sofa alle zwei Sekunden zu Sascha hinüber, der zwischen David und Linda auf der Bank saß und offensichtlich sehr gute Laune hatte. Die Auswahl ging mal wieder halb an David vorbei. Während sich die Mitarbeiter von Bettina für die verschiedenen Arbeiten einteilen ließen, kabbelte er sich unter der Tischplatte mit Sascha, um ihn davon abzuhalten, seine Oberschenkel zu streicheln. Sein Inneres schwankte zwischen Wut und Vergnügen und dem Flehen, niemand möge etwas bemerken. Als die Chefin ihn ansprach, dauerte es einen Moment, bis seine Konzentration stand. „Ja?“, machte er geistesabwesend und bemühte sich, den Eindruck zu machen, er würde unter dem Tisch nicht Saschas Arme festhalten. „Da Eric heute nicht da ist, könntest du den Rep.-Raum machen.“ „Okay.“ „Und du, Sascha, räumst erst mal den Waschplatz leer,“ wies Bettina anschließend ihren Neffen an, „Der quillt bald über.“ „Einverstanden,“ grinste Mr. Ich-Begrabbel-David-Auch-In-Der-Öffentlichkeit völlig gelassen. Bettina öffnete gerade den Mund, um ihre Mitarbeiter zu entlassen, als sich die Tür zum Seminarraum öffnete. Ein Mann Anfang dreißig trat ein, groß und muskulös, mit sattbraunen Haaren und einem Stoppelbart, der sein halbes Gesicht bedeckte. Bevor er irgendein Wort sagen konnte, brach in der Zivi-Küche ein kleiner Tumult los. „Mark!“, rief Linda freudig aus und aus sämtlichen Ecken erschallte Applaus. Der Neuankömmling grinste und begann zu posen, als hätte er soeben die Olympiade gewonnen. „Morgen!“, tönte er munter und strahlte in die Runde. Bettina lächelte belustigt. „Gut, ihr könnt dann loslegen,“ sagte sie zu ihren Leuten. Die Mitarbeiter erhoben sich nacheinander. „Wer ist das?“, zischte Mr. Lässig-Im-Angesicht-Des-Feuers David zu, der noch immer seine Arme umklammert hielt, während sich Linda und Miriam aus der Bank schoben. „Mark, der Vize-Chef,“ antwortete David, ließ Dings’ Handgelenke los und rutschte eilig Miriam hinterher. „Hallo, ich glaube wir kennen uns noch nicht, oder?“, wandte sich Mark in dieser Sekunde mit fröhlicher Stimme und leicht lispelnd an Dings und reichte ihm die Hand, „Ich bin Markus Flohr.“ „Sascha, freut mich!“, grinste Mr. Waschplatz zurück. David floh, solange er noch die Möglichkeit dazu hatte. Er überholte Linda und Miriam, die sich noch schnell ihre Gummistiefel überzogen und betrat nach Jessika die vordere Scheune. Bevor er sich in der Futterküche ins Tagesprotokoll eintrug, stattete er schnell dem angenehm warmen Rep.-Raum einen Besuch ab. Die Reptilien saßen in ihren Terrarien und Dschingis Khan, das Wasseragamenmännchen, kratzte hungrig an seine Scheibe. „Kriegst gleich was...,“ sagte David vergnügt zu ihm und schmunzelte, „Hast du Appetit auf Grashüpfer?“ Dschingis Khan kratzte weiter. „Alles klar, bin gleich zurück...,“ trällerte er heiter. Er verließ den Rep.-Raum, betrat die Futterküche und blieb stocksteif stehen. Seine Laune, die sich gerade schaukelpferdmäßig auf einem neuen Hochpunkt befunden hatte, rauschte johlend wieder in die Tiefe. Jessika saß zusammen gesunken auf dem einzigen Stuhl und weinte herzzerreißend in ihre Hände. Kapitel 13: Untreu ------------------ Hallo Ihr :-)! Hier kommt endlich das neue Kapitel. Ich fürchte, diesmal ist es nicht besonders zum Lachen, eher zum Leiden. Ich hoffe, das stört Euch nicht und Ihr mögt es trotzdem. Ich verspreche jedenfalls, dass es ab jetzt wieder bergauf geht^^. Und bis zum nächsten Kapitel wird es wohl wieder etwas dauern... Sorry dafür :-)... Vielen lieben Dank an alle Kommi-Schreiber! Ich freue mich jedesmal wieder wie verrückt :-). Und jetzt viel Spaß - oder so ähnlich - beim Lesen^^. Liebe Grüße, BlueMoon _____________________________________________________________________ „J...Jessika...,“ machte David hilflos und starrte sie an, „Was...ist denn los?“ „Verschwinde!“, schluchzte sie schwach und wischte sich mit dem Handrücken über die nassen Augen, „Lass mich einfach in Ruhe, okay?!“ Nichts auf der Welt hätte David lieber getan. Doch er konnte es nicht. Vielleicht lag es daran, dass er eine kleine Schwester hatte, aber ein weinendes Mädchen – auch wenn es sich dabei um Jessika handelte – allein zu lassen, schien ihm mehr als nur unpassend zu sein. Daher blieb er, wo er war. Allerdings völlig ratlos, was er tröstendes sagen oder tun könnte. Also nahm er sich lediglich eine Rolle Küchenpapier von der Anrichte, riss ein Blatt ab und reichte es ihr. „Bitte...,“ sagte er matt. „Danke...,“ murmelte Jessika, nahm es und trocknete sich ansatzweise die geröteten Augen. „Was ist los?“, fragte David noch mal und riss ein weiteres Blatt ab, „Ist was passiert?“ Jessika schnaubte. „Ja, so kann man das sagen...,“ „Was denn?“ Jessika hob den Kopf und sah ihn an. Tränen liefen ihr das Gesicht hinunter. „Ich habe mit Sascha geschlafen, das ist passiert!“ Stille trat ein und ein Stein fiel David in den Magen, so schwer und hart, dass er das Gleichgewicht verlor und er sich an der Arbeitsplatte festhalten musste. Sein Gehirn war wie gelähmt, seine Beine zitterten. Jessikas Worte fraßen sich schmerzhaft durch sein Bewusstsein: Jessika hatte mit Sascha geschlafen. Sascha hatte mit Jessika geschlafen. Geschlafen. Das war gleichbedeutend mit Sex. Sascha hatte Sex mit Jessika gehabt. Sex. Mit Jessika. Verfluchtes, Scheißschaukelpferd... „Er ha...hat mit dir...ge...,“ echote David fassungslos, „Ich meine, du hast mit...Sascha...,“ „Geschlafen, ja!“, fauchte Jessika und heulte in ihre Hände, „Verdammte Scheiße! Ich bin so dumm, ich hätte das niemals–,“ „Wann?“, stieß David hervor, „Gestern?!“ In seinen Ohren rauschte es. Dieses Arschloch! Er hatte ihn angelogen! Dieser elende Scheißkerl! Verdammte Scheiße... Scheiße! „Was?“, schnappte Jessika mit belegter Stimme und funkelte ihn an, „Nein! Nicht gestern! Oh Gott, nein...,“ sie schluchzte auf, „...letzten Donnerstag...,“ Von einem neuen Weinkrampf geschüttelt vergrub sie ihr Gesicht wieder in ihren Händen. Mechanisch reichte David ihr das nächste Blatt Küchenpapier. Seine Augen starrten in die Ferne. Sein Herz krampfte sich zusammen. Letzten Donnerstag. Sein erster Abend zu Hause. Das Gewitter. Die Sms. Verdammt... Ganz offensichtlich war er nicht zu Ben gegangen. Nein. Er war zu Jessika gegangen. Und dann... `Es ist...überhaupt nichts gelaufen gestern´ Gestern nicht, aber Donnerstag. Die Tür öffnete sich und natürlich trat der Mensch ein, den David in diesem Moment von allen auf der Welt am Wenigsten sehen wollte. Der jedoch schien das ganz anders zu sehen. Er lächelte strahlend. Zwei Sekunden lang. „Ah, da ist ja mein kl...,“ Er verstummte mitten in seinem geträllerten Satz, als er Jessika bemerkte. „Was ist de–,“ begann er, wurde jedoch von ihr unterbrochen. „Verpiss dich einfach, okay?! Hau einfach ab!“ Sie schluchzte verzweifelt in ihre Hände. Dings’ verstörter Blick wanderte von ihr zu David. David erwiderte ihn einen Moment lang. Eisig und unbewegt. Und Sascha begriff. „Oh...,“ machte er, „David, ich–,“ „Lass. Mich. In. Ruhe!“, presste David zwischen seinen Zähnen hindurch, entriss der Rolle brutal ein weiteres Blatt und gab es Jessika. Aus den Augenwinkeln sah David, wie Mr. Ich-Bumse-Jessika versuchsweise den Mund öffnete und ihn dann wieder schloss. Er ließ den Kopf hängen, wandte sich ab und verließ die Futterküche durch die Tür, die auf den Waschplatz führte. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, fing Jessika wieder laut zu wehklagen an. „W... Wie ko... konnte ich n... nur? Verdammte Sch... Scheiße, ich dachte w... wirklich, dass er m... mich a... auch mag, aber s... seit gestern A... Abend...,“ sie weinte und David reichte ihr das vierte Blatt Küchenpapier, „...w...weiß ich, dass da... das nicht stimmt... Dabei war alles so sch... schön am Do...Donners...tag...,“ David gab ihr zwei Blätter. Sie schnäuzte sich geräuschvoll in beide gleichzeitig. Die Tür zum Waschplatz ging auf und mit fünf Eimern beladen, bugsierte Sascha sich hindurch. „Jessika, wir haben doch gestern da lang und breit drüber geredet!“, sagte er laut, an seinem Gepäck vorbei und durchquerte den Raum, um die Eimer auf den Dachboden zu bringen. „Ja, sicher!“, jammerte Jessika und nahm die nächsten Blätter von David entgegen, „Und w...was bringt mir da...das, bitte?“ „Du hast gesagt, es wäre okay für dich!“, antwortete Dings ernst, schaute rasch zu David hinüber und lavierte sich gleichzeitig durch die Tür in die vordere Scheune. „Was hätte ich denn sonst sagen sollen?“, schrie Jessika ihm hysterisch nach und heulte in die drei Lagen Papier, die David ihr gereicht hatte. David sagte nichts. Er fühlte sich nur noch taub und kalt. Fassungslos, erschüttert, starr vor Entsetzen. Und unendlich dumm. Er kannte dieses Gefühl. Er erinnerte sich genau daran. Dabei hatte er so gehofft und sich so bemüht, es nie, nie wieder fühlen zu müssen. Er wollte allein sein. Er wollte sich im Rep.-Raum verkriechen und seinen Bewohnern beim Frühstücken zu sehen. Er wollte nicht mehr denken müssen. Nicht an Jessika, nicht an Mr. Ich-Behaupte-Es-Sei-Nix-Gelaufen-Obwohl-Es-Nicht-Stimmt, nicht an dieses grässliche Gefühl in seiner Magengegend. „I...Ich wette, da g...gibt es ei...eine Andere...,“ wimmerte Jessika, ließ ein dickes Knäuel nasses Küchenpapier auf den Boden fallen und nahm die fünf, die David ihr wortlos gab. „Gibt es nicht!“, erwiderte Dings, der soeben die Futterküche wieder betreten hatte. „Lüg doch nicht...!“, jaulte Jessika. „Ich lüge nicht, es gibt keine!“, beharrte Sascha und sah erneut zu David hinüber. „Verpiss dich doch...,“ schluchzte Jessika und streckte die Hand nach David aus, damit er ihr neues Küchenpapier gab. Dings seufzte tief und verschwand wieder Richtung Waschplatz. „I... Ich verstehe d... das nicht...,“ jammerte Jessika, neue Tränen rollten ihr über die Wangen und David reichte ihr die ganze Küchenpapierrolle, „A... Alles war s... so toll... Er ha... hat gesagt, da...dass er mich liebt...,“ „Das habe ich nie gesagt!“, entgegnete Dings ärgerlich, mit zwei Wannen im Arm. „D... Doch, hast du!“ „Habe ich nicht!“ „Hast du wohl!“ Die Tür zur Futterküche öffnete sich. „Was ist denn hier los?“, fragte Linda mit großen Augen. „Hier...,“ murmelte David heiser und drückte ihr die nächste Papierrolle in die Hände, „Ich muss jetzt zu den Reptilien...,“ Er drehte sich um und verließ die Futterküche. Er sah noch, wie Linda auf Jessika zu ging und sie in den Arm nahm. Sascha blickte ihm starr hinterher. David fühlte sich wie ein Roboter, als er den begehbaren Kühlschrank betrat und Feldsalat, Paprika und Grashüpfer holte. Anschließend schloss er den Rep.-Raum auf, legte das Futter seiner Schützlinge auf eine der steinernen Anrichten und sank zu Boden. Er schlang die Arme um seine Knie und betrachtete Lolita, das Wasseragamenweibchen, dass gegenüber in ihrem Terrarium auf einem Ast döste und mit den Beinen baumelte. Die warme Ruhe hier tat ihm gut. Er schloss die Augen und lauschte in sich hinein. In das chaotische Grauen, das erneut in seinem Inneren tobte und ihn zu diesem Aprilmittwoch vor zwei Jahren zurück katapultierte. Zurück zu Sven und diesem Scheißgefühl, das einen aussaugte und leblos zurück ließ. Das Gefühl, betrogen worden zu sein. Hintergangen. Benutzt. Gott, David! Du bist so ein unheimlich dämlicher Vollidiot! Er hatte doch genau gewusst, dass es wieder so enden würde! Wieso, zum Teufel, hatte er nicht auf seine eigenen Warnungen gehört?! Zwei Jahre lang hatte er es geschafft, diese Erinnerungen zu verdrängen. Zwei verfluchte Jahre lang. Und dann...war Sascha in sein Leben getreten und hatte sie zurück geholt. Stück für Stück. Und nun...fühlte er sich ganz genauso wie damals. Nur noch schlimmer. Denn diesmal war er selbst schuld. Er hätte es verhindert können... Verdammt... Aber warum...fühlte er sich so? Er hatte eigentlich kein Recht dazu und auch keinen Grund. Damals war das etwas anderes gewesen, damals hatte er alles Recht der Welt gehabt. Aber nun? Sascha war nicht Sven. Sascha war nicht sein Freund. Sascha hatte nicht versucht, ihn zum Sex zu überreden. Sascha hatte es sich nicht woanders geholt, weil David noch nicht bereit dazu gewesen war. Sascha...hatte nur Angst vor Gewitter. Trotzdem, scheiße, trotzdem... Es fühlte sich an, als hätte Sascha ihn betrogen. Als wäre er ihm untreu gewesen. Untreu. Das war nicht richtig. Er durfte es nicht. Doch so einfach ließ sich dieses Gefühl leider nicht abstellen. Am Türschloss des Rep.-Raumes klapperte es. David fuhr zusammen und war mit einem Satz auf den Beinen. Hastig griff er nach der Feldsalatpackung und eilte zum Waschbecken. Er hatte wenig Lust auf Bettina, aber viel weniger Lust hatte er auf... „Hey, David...,“ Davids Herz wurde schwer. Er musste nicht zur Tür schauen. Mit pochendem Herzen ließ er Wasser über den Salat laufen. Er hörte, wie sich die Tür wieder schloss. „Es tut mir Leid...,“ sagte Dings hinter ihm. „Lass mich in Ruhe...,“ erwiderte David tonlos und wusch die Salatblätter. „Es war ein Unfall...,“ antwortete Mr. Nicht-Und-Doch-Irgendwie-Sven, ohne auf seine Worte zu achten, „Ich hatte das nicht vor, das verspreche ich dir.“ „Lass mich in Ruhe...,“ wiederholte David, „Ich muss arbeiten...,“ Er begann die Terrarientüren aufzuschieben um Wasser- und Futternäpfe heraus zu holen. Seine Hände zitterten leicht und er biss die Zähne zusammen. „Du musst mir glauben, David, ich hatte das nie vor, es lag nur am diesem blöden Gewitter...,“ jetzt klang seine Stimme gequält, „Das hat mich wahnsinnig gemacht und als du nicht auf meine Sms geantwortet–,“ David wirbelte herum. „Was? Natürlich habe ich auf deine Sms geantwortet!“ Sascha starrte ihn an. „D...Du hast geantwortet?“ „Ja, habe ich!“, sagte David hitzig und sah Dings mit aufgerissenen Augen an, „Ich habe dir eine Sms zurück geschickt. Hast...du sie nicht bekommen?“ „Nein...,“ flüsterte Mr. Habe-Die-Sms-Nicht-Bekommen matt, „Was...hast du geschrieben?“ David drehte sich wieder zu dem Terrarium der Ringelnatter um, schob die Türen auseinander und griff hinein, um ihren Wassernapf herauszuholen. Die kleine, dunkle Schlange schmiegte sich an einen Stein und zischelte. „Keine Ahnung...,“ antwortete er schroff, „...irgendwie dass du keine Angst haben musst und zu Ben gehen sollst oder so, damit du nicht allein bist...,“ „Echt?“, wisperte Sascha und David konnte das Lächeln in seinen Worten hören, „Du bist so süß...,“ David schnaubte und schob die Glastür so heftig zu, dass die Ringelnatter zusammen schreckte. „Schatz...,“ „Hör auf mich so zu nennen!“ „David...,“ „WAS willst du?!“ „Jedenfalls nichts von Jessika,“ sagte Sascha leise, „Wirklich nicht...,“ David schob mit bebenden Fingern die Terrarientür von Charly auf, dem schmalen, hübschen Jemenchamäleon, das vor der Glasscheibe saß und neugierig hinaus schaute. „Warum schläfst du dann mit ihr?“, wisperte er und wusste genau, wie seine Frage klang. „Weil...,“ murmelte Sascha, „Weil...,“ David streckte die Hand in das Terrarium und ohne zu zögern kletterte Charly auf seine Finger und von da aus auf seinen Arm. Behutsam strich David mit den Fingerspitzen über seine warme Schuppenhaut. Augenblicklich wurden sie hellgrün und strahlend, ein Zeichen von Zufriedenheit. „Weil...es einfach so gekommen ist... Das Gewitter und du warst nicht da und irgendwie...,“ Charly kraxelte von Davids Schulter, an seinem Ohr entlang auf seinen Kopf und klammerte sich glücklich an seine Locken. „...ist es dann so gekommen. Ich wollte nicht allein sein und sie war noch da und hat mich angebaggert und dann...,“ David schnaubte erneut und schüttelte in einem Anflug von Galgenhumor den Kopf. Charly rollte vergnügt mit den Augen. „Du musst mir das glauben... Ich hatte das echt nicht vor, es war ein–,“ „Unfall. Ja ich weiß.“ Er spürte Saschas bohrenden Blick im Rücken. „Glaubst du mir das?“, fragte er leise und trat näher an David heran, „Bitte...,“ Mit seinem langen Echsenschwanz streichelte Charly Davids Wange. „Du kannst machen, was du willst...,“ erwiderte der und zupfte einige verdorrte Blätter von den Ästen in Charlys Terrarium, „Du kannst die ganze Welt vögeln, wenn du möchtest. Nur tu dann nicht immer so, als würdest du irgendwas von mir wollen...!“ „Aber das tue ich!“, entgegnete Mr. Es-War-Nur-Ein-Unfall, griff nach Davids Schultern und drehte ihn energisch um, sodass David ihm ins Gesicht blicken musste, „Du bist wirklich der Einzige, der...,“ Er verstummte und sein Blick wanderte von Davids Augen seine Stirn hoch, zu Davids origineller Kopfbedeckung. Seine Mundwinkel zuckten. „Du hast ein Chamäleon auf dem Kopf...,“ erklärte er matt. „Das weiß ich...,“ fauchte David und schubste Dings’ Hände von seinen Schultern, „Was, zum Teufel, willst du? Wenn du nur dumm rumlabern willst, dann verschwinde!“ Saschas Blick huschte zurück zu Davids zornfunkelnder Miene. „David...,“ sagte er erneut und der ballte die Fäuste, „Wenn ich dir sage, dass ich dich toll finde, dann meine ich das vollkommen ernst. Das musst du mir glauben...,“ „Wie könnte ich?“, zischte David kalt, „Wie könnte ich das, wenn du mit dieser dummen Kuh in die Kiste steigst, nur weil es mal ein bisschen donnert?!“ Sascha schlug die Augen nieder und David wusste, dass er ihn verletzt hatte. Doch im Augenblick kümmerte ihn das wenig. Er fühlte sich selbst viel zu schlecht, um ein schlechtes Gewissen zu haben. „Es tut mir Leid...,“ flüsterte Dings erneut und trat einige Schritte von David zurück. „Ich weiß...,“ wisperte David zurück, während Charly Anstalten machte, seine Nase hinab zu steigen, „Aber das nützt mir jetzt wenig... Wie auch immer... Ich würde jetzt gerne arbeiten. Also sei so nett und...lass mich allein...,“ „Okay...,“ sagte Sascha nur, „Wie du willst...,“ Ohne noch etwas zu sagen oder zu tun, drehte er sich um, öffnete die Tür und ging hinaus. Hinter sich schloss er die Tür wieder und David war allein. David schluckte einmal, um das leichte Brennen in seiner Kehle loszuwerden, tastete nach Charly der auf dem Weg sein Gesicht hinab war und setzte ihn zurück in sein Terrarium. Leise er schob die Glastür zu und beobachtete Charly, wie er die wankenden Zweige erklomm. Dann schlug er mit der Faust krachend auf die Anrichte. „Verdammte Scheiße...,“ knurrte er und biss sich schmerzhaft auf die Lippe, „Verfluchte, beschissene Scheiße...!“ Er hatte keine Lust mehr. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Wieso war das alles immer so unheimlich schwierig? Wieso musste immer soviel schief gehen? Und wieso tat es immer so verdammt weh? Kapitel 14: Krank ----------------- Hallo Ihr :-)! Also hier kommt das neue Kapitel. Hat wieder etwas gedauert und beim nächsten wirds vorraussichtlich genauso...^^. Ich hoffe, Ihr habt ein bisschen Spaß und nix dran auszusetzen. Falls doch, immer her mit der Kritik :-)! Wünsche Euch allen ein schönes Wochendende! Liebe Grüße, BlueMoon ______________________________________________________________________ An diesem Montag versuchte Sascha kein weiteres Mal mehr, mit David zu sprechen. Er besuchte ihn nicht im Rep.-Raum – wo David sich verbarrikadiert hatte und die Reptilien bestrahlte – und wenn sie sich zufällig in der vorderen Scheune über den Weg liefen, eilten sie nur mit gesenkten Köpfen aneinander vorbei. In der Mittagspause verkroch David sich wieder oben bei Miriam und Linda und nach Feierabend flüchtete er sich sofort unter die Dusche. So kam es, dass er sich nicht von Mr. Probleme-Über-Probleme verabschiedete, bevor der in seinem silbernen Corsa Richtung Bahnhof davon brauste. Auf der einen Seite erleichterte das David sehr, da er keine Ahnung gehabt hätte, wie er sich bei so einem Abschied hätte verhalten sollen. Gleichzeitig betrübte es ihn aber auch ungemein. Er war zwar immer noch verletzt und wütend, doch dass sie beide ohne einen Witz, ohne ein Wort, ohne einen Blick auseinander gegangen waren, fühlte sich alles andere als richtig an. Sein Zorn hatte sich am Montagabend schon größtenteils verflüchtigt. Außerdem gesellte sich nun sein eigenes schlechtes Gewissen zu ihm, das ihn an seine bösen Worte erinnerte. Doch die schmerzhaften Erinnerungen an Sven, die die Neuigkeit von Saschas Techtelmechtel mit Jessika in ihm ausgelöst hatten, ließen sich nicht so einfach zum Verschwinden bringen. Dieser gefühlte Betrug hatte durch sein Vertrauen und seine Gefühle geschnitten wie ein blitzendes Messer und so leicht und schnell konnte er diese Wunde nicht heilen und Sascha verzeihen. Er wusste zwar, dass Saschas Entschuldigungen – im Gegensatz zu denen von Sven damals – aufrichtig gewesen waren, trotzdem konnte er nicht aufhören, diesen Montag mit jenem Mittwoch zu vergleichen, Sven und Sascha zu vergleichen, die etwa genauso viel gemeinsam hatten, wie eine Bratpfanne und eine... B...Bulldogge. Den Anfangsbuchstaben halt und nicht mehr. Ich muss endlich darüber hinweg kommen, sagte sich David, als er Montagnacht in seinem Bett lag und mit weit geöffneten Augen den Lichtern der Autoscheinwerfer nachsah, die an seiner Decke entlang zogen, Ich muss Sven endlich hinter mir lassen, sonst werde ich niemals wieder unbeschwert leben und... lieben können... Doch das war leichter gesagt, als getan und David wusste das genau. Und trotzdem. Er wollte noch immer mit Dings zusammen sein. Er wollte mit ihm herum albern und sein Lachen hören. Er wollte sich mit ihm kabbeln und sehen, wie sich seine Lippen zu einem Schmunzeln verzogen. Und er wollte mit ihm sprechen. Ihm alles erklären, was in ihm vorging und hören, dass er ihn verstand. Aber er würde sich wohl noch mehr Zeit geben müssen, um Sven endlich ganz vergessen und Sascha verzeihen zu können. Er brauchte noch Zeit zum Nachdenken. Noch ein kleines bisschen mehr Zeit, damit er sich sicher sein konnte, dass Sascha nicht Sven war. In den folgenden Tagen, bemühte David sich mit aller Kraft, die saschafreie Zeit zu genießen und zum Nachdenken zu nutzen. Allerdings stellte sich das als problematisch heraus, denn David steckte sich bereits am Dienstagmorgen mit der eigentümlichen Krankheit Sehnsucht an, was seine verkorksten Gefühle noch weiter irritierte. Obwohl er ja erst die zweite Woche im Zentrum arbeitete, wirkte es nun merkwürdig leer ohne Mr. Ich-Stürze-David-In-Eine-Kleine-Lebenskrise. Niemand schlenderte in Davids zweitem Paar Gummistiefel über das Gelände. Niemand lachte fröhlich über Heikos schmutzigste Witze. Niemand sang gemeinsam mit Linda die Songs aus Mamma Mia! nach. Niemand besuchte David während der Arbeitszeit und nervte ihn bis zur Explosion. „Ich vermisse Sascha...,“ jammerte Linda am Dienstagnachmittag durch ihren Mundschutz als sie zusammen die Quarantäne saubermachten, in der es seit dem Vormittag von misshandelten Brieftauben nur so wimmelte, „Es ist so still ohne ihn. Zum Glück kommt er bald wieder.“ David hatte nur gebrummt und es Linda überlassen, daraus eine Antwort zu lesen. Er war noch nicht soweit Ich vermisse ihn auch zu sagen, obwohl es stimmte. Ja, er vermisste Sascha und es wurde mit jeder Stunde schlimmer. Das war zwar krank und ungesund, aber unwiderlegbar. Auch die gelegentlichen Begegnungen mit Jessika, bei denen jedes Mal ein leichter Stromstoß durch Davids Körper fuhr und er sich unwillkürlich vorstellen musste, wie er sie vom nächsten Hochhaus schubste, konnten daran nichts ändern. Er wusste, das man diese Anwandlungen Eifersucht nannte, was ihn ein bisschen gruselte, doch es war leider Gottes die Wahrheit. Er vermisste Sascha und er war eifersüchtig auf Jessika. Betrug hin, Sven her. Der Mittwoch verging in einem einzigen Warten auf Donnerstag, der Donnerstag zog sich in die Länge, wie ein endloses, eklig klebriges Kaugummi ohne Geschmack. Wenn David irgendwo eine Tür gehen hörte, drehte er sich um, in der Hoffnung Mr. Alle-Welt-Vermisst-Mich hinter sich lächeln zu sehen. Unter irgendwelchen fadenscheinigen Vorwänden suchte er ständig den Parkplatz nach Saschas Corsa ab. Er zählte die Minuten bis zum Feierabend. Um fünf Uhr war er ein bisschen verzweifelt. Er hatte fest damit gerechnet, dass Sascha bis jetzt wieder da sein würde, aber Pustekuchen. Der Parkplatz war leer, die Zivi-Küche war leer und auch sein Zimmer war leer, in das David einfach kurz hinein lugen musste. Wie konnte das sein? Wo blieb er nur? Wieso war er noch nicht zurück? Gerade jetzt, wo David doch so dringend mit ihm sprechen wollte... Steckte er vielleicht im Stau? Oder vielleicht hatte er auch einen Unfall gehabt und die Sanitäter kratzten ihn in diesem Moment von der Autobahn. Vielleicht hatte er sich auch entschieden, den Zug zu nehmen und ausgerechnet heute hatte sich jemand auf die Gleise geworfen und daher stand die Bahn jetzt irgendwo zwischen Hamburg und Rötgesbüttel in der Pampa und wartete. Vielleicht hatte der Zug einen Technikfehler und die Fahrgäste mussten in einen anderen Zug evakuiert werden, was bestimmt mindestens fünf Stunden dauern konnte. Oder der Zug war verunglückt. Wie auch immer, spätestens morgen früh würde Sascha wieder hier im Zentrum sein müssen. Bei der Auswahl am Freitagmorgen war noch immer keine Spur von Mr. Ich-Glänze-Durch-Meine-Abwesenheit zu entdecken. Langsam wurde David wirklich unruhig. Was sollte das denn? Wo blieb er nur? War alles in Ordnung oder war doch etwas passiert? „Bettina, wo ist Sascha?“, fragte Linda, sobald die Arbeitsverteilung abgeschlossen war und die anderen sich erhoben. Beim Klang von Dings’ Namen zuckte David unvermittelt zusammen. „Ach ja, meine Schwester hat mir heute Morgen ein Attest gefaxt,“ erklärte die Chefin ihren mehr oder weniger interessierten Mitarbeitern, „Er ist krank und kommt wohl erst Sonntagabend wieder.“ David und Linda tauschten entsetzte Blicke. Krank. Krank? Was sollte das heißen, krank? „Was...hat er denn?“, erkundigte David sich bemüht gleichgültig. „Wohl eine ziemlich starke Erkältung. Aber am Montag sollte er wieder fit sein.“ Sie nickte ihnen zu und verließ die Zivi-Küche mit ihrer Hündin Cindy auf den Fersen. Nachdem David drei Tage lang Trübsal geblasen hatte, regte sich nun langsam wieder sein störrisches, hitziges Temperament in ihm. Er kam sich verarscht vor und seine Gedanken verdüsterten sich mit jedem Schritt, den er schweigend neben Linda in Richtung vordere Scheune tat. Was fiel diesem Mistkerl eigentlich ein, krank zu werden, zu so einem unpassenden Zeitpunkt? So mir nix, dir nix, nach allem, was am Montag zwischen ihnen passiert war. Verflucht, vermutlich war er gar nicht krank, sondern hatte nur keine Lust zu arbeiten. Oder vielleicht...wollte er David nur nicht sehen... Dieser Gedanke jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Konnte das sein? Kam er vielleicht nur nicht, weil er ihn, David, nicht sehen wollte? Aber wieso? Etwa wegen seiner letzten Bemerkung? Hatte ihn das so sehr verletzt, dass er ihm jetzt nicht mehr ins Gesicht blicken wollte? Nein, das konnte doch nicht sein. Das würde Dings nicht tun, das passte nicht zu ihm. War er also wirklich krank? Krank? Erkältet? So ne Kacke, das durfte doch nicht wahr sein. Jetzt war David schon bereit, mit ihm zu reden und dann so was. Verdammte Scheiße. Am Freitagabend war David mal wieder äußerst schlecht gelaunt. Er hatte sich den Tag über in Rage gegrübelt und war davon überzeugt, dass die Welt sich ganz offenbar gegen ihn verschworen hatte. Erst trampelte dieser Trottel in sein Leben und stellte es auf den Kopf, dann „betrog“ er ihn, in dem Moment, da David sich für ihn zu erwärmen begann, und dann wurde er auch noch unerlaubt krank. Wie viel Pech konnte ein einzelner Mensch eigentlich haben? Irgendwer da oben schien ihn nicht besonders zu mögen. Davids Sehnsucht nach Mr. Angeblich-Erkältet war inzwischen nahezu untragbar geworden, genauso wie das Bedürfnis, mit ihm zu reden. David fühlte sich so rastlos wie ein Panther hinter Gitterstäben. Alles in ihm verlangte lautstark nach Saschas Lachen und seiner Stimme, seinem Grinsen und dem Blick seiner dunklen Augen, wenn er ihn ansah. Es machte David absolut krank, aber er konnte diese Empfindungen nicht unterdrücken. Sie waren tatsächlich stärker als seine Angst, wieder verletzt zu werden. Er verstand sich selbst nicht mehr. So kam es, dass David sich nach dem Duschen zwischen der Treppe zu den Zivi-Zimmern und dem Flur in die kleine Nische drückte, in der das Mitarbeitertelefon des Zentrums auf einem Tischchen stand. Darüber, an der Wand, klebte ein Blatt Recyclingpapier mit allen Telefonnummern der Mitarbeiter und der Chefriege. Und da stand auch er, gleich unter Davids eigenem Namen: Sascha Locon, mit Handy- und Festnetznummer. Nun, Handy schied aus Kostengründen aus. Blieb also nur das Festnetz. Aber was, wenn seine Eltern drangehen würden? Was sollte er dann sagen? Hallo, hier ist David, ein Freund von Sascha. Kann ich ihn mal sprechen? oder Hallo, hier ist David, ein Kollege von Sascha. Kann ich ihn mal sprechen? oder nur Hallo, hier ist David, kann ich mal Sascha sprechen? Himmel, so ein Scheiß. Das war doch völlig schnuppe. Wieso machte er sich über so was überhaupt Gedanken? Mit pochendem Herzen nahm er den Hörer ab und begann zu wählen. Was tat er hier eigentlich? Wieso rief er an? DER sollte eigentlich anrufen. Und überhaupt, was wollte er ihm sagen? Huhu, wollte nur mal fragen, wies dir so geht! Jaha, super Idee. Nix da, er würde ihm nur sagen, wie scheiße er es fand, dass Dings jetzt einfach den Schwanz einzog und krank wurde und dann würde er auflegen. Genau. Wenn er überhaupt zu Hause war... In der Leitung tutete es, Davids Magen drehte sich nervös um seine eigene Achse. Es knackte. „Sascha Locon?“ David erstarrte. Damit hatte er irgendwie gar nicht gerechnet. „Hallo?“, fragte Saschas Stimme. David gab sich einen Ruck und öffnete den Mund. „Äh, hi...,“ stieß er in die Sprechmuschel und kam sich äußerst dämlich vor, „I...Ich bin’s, David...,“ „D...David?“, Sascha klang rau vor Überraschung, „Wow, ich bin... Ich meine, hi...,“ Er verstummte einen einzigen Moment, den er offensichtlich brauchte, um seinen Schrecken zu überwinden. Einen einzigen Moment, bevor... „WOW, David! Du rufst mich wirklich an, ich kann es nicht fassen! Scheiße, das ist der schönste Tag in meinem Leben, Baby! Wie–,“ David legte auf. Sein Gesicht fühlte sich an wie eine Glühbirne. Baby. Baby. Da hörte ja wohl alles auf. Was hatte ihn da eigentlich geritten, diesen kranken Vollidioten anzurufen? Er musste verrückt geworden sein. Es war eine Sache, jemanden zu vermissen, aber eine völlig andere, deswegen den Verstand zu verlieren. Wenn er so weiter machte, würde bald ein Gesandter der Klapsmühle vor der Tür stehen, um ihn abzuholen. Und er würde mitgehen. Freiwillig. Das Telefon klingelte. David nahm ab. „Tierschutzzentrum Estorf, guten Abend?“ „Wieso hast du denn aufgelegt? Ich war noch gar nicht fertig!“, drang Saschas beleidigte Stimme aus dem Hörer. „Wenn du mich noch einmal Baby nennst, dann rede ich nie wieder ein Wort mit dir!“, bellte David. „Oh, du magst Baby nicht?“ „Nein!“ „Na gut, dann eben nicht. Ich fand nur, dass es so gut zu dir passt. Dann werde–,“ David knallte den Telefonhörer wieder auf den Apparat. Das war ja wohl die Höhe! Von wegen, das passte gut zu ihm. Dieser kranke Mistkerl! Es klingelte erneut. „Was?!“, raunzte David ins Telefon ohne sich mit zeitverschwenderischen Begrüßungen aufzuhalten. „Nicht wieder auflegen! Bitte, es tut mir Leid...,“ „Mhm...,“ „Ich freue mich nur so sehr, dass du angerufen hast. Das musst du verstehen. Ich dachte nicht, dass... Ich meine...,“ mit einem Mal klang Mr. BABYs Stimme wieder unsicher, „Bist du...noch sehr böse auf mich...?“ Davids Wut verschwand so schnell, wie sie gekommen war. „Nein...,“ murmelte er und kratzte mit seinem Fingernagel an einem Schmutzfleck auf dem Telefontisch, „Nein, ich bin nicht mehr böse auf dich...,“ Er konnte Dings’ Erleichterung praktisch durch die Leitung wehen spüren. „Es tut mir so Leid...,“ wisperte Mr. Upside-Down trotzdem und David drückte unbewusst den Telefonhörer näher an sein Gesicht, „Ich habe mich die ganze Zeit so scheiße gefühlt, wegen Montag. Ich wollte eigentlich noch mit dir reden, aber ich...habe mich irgendwie nicht getraut...,“ „Ist schon gut...,“ flüsterte David zurück und schmiegte sich an die staubige Wand, „Ich bin nicht mehr böse.“ „Kannst du mir auch verzeihen?“ David strich sich eine Locke aus den Augen. „Bald...hoffe ich...,“ „Okay...,“ murmelte Mr. Kannst-Du-Mir-Verzeihen, „Okay...,“ Einen Moment herrschte Schweigen. „Hach...,“ machte Sascha dann und klang wieder relativ munter, „Ich freu mich so, deine Stimme zu hören, das versüßt mir den ganzen Tag.“ „Ich lege wieder auf...!“, drohte David. Mr. Wieder-Fröhlich lachte vergnügt. „Wieso denn? Ich habe dich halt so vermisst, mein Schätzchen!“ David legte auf. Allerdings schmunzelte er dabei. Aufgeregt wartete er auf das Klingeln des Telefons. Das kam auch prompt. Er nahm sofort ab. „Was willst du?“, fragte er streng ins Telefon. „H...Hallo?“, erklang eine ihm vollkommen fremde Stimme aus dem Hörer, knarzig und knirschend, „Ist da das Tierschutzzentrum?“ Davids Herz sank ihm in die Hose. Oh Gott, das war nicht Sascha. „Ja, hier ist das Tierschutzzentrum,“ beeilte er sich zu sagen und vor Scham wurde ihm ganz schlecht, „Guten Abend. Was...kann ich für Sie tun?“ „Ich habe einen Igel gefunden.“ „Oh, einen Igel...,“ Nachdem er seine Gedanken zu der korrekten Igelpflege gezwungen hatte, erklärte David der Rentnerin, wie genau sie mit ihrem Tierchen umgehen musste. Anschließend legte er auf. Am Liebsten hätte er seine Stirn gegen die Wand geschlagen. Wieso, zum Teufel, musste immer ihm so etwas passieren?! Das Telefon klingelte zum vierten Mal. „Tierschutzzentrum Estorf, guten Abend?“ „Wieso war es denn gerade besetzt?“ „So eine Oma hat nen Igel gefunden...,“ erwiderte David mit noch immer glühendem Gesicht. „Ah. Wie hast du dich gemeldet?“, erkundigte sich Dings unschuldig. „Ich hasse dich...,“ knurrte David. Sascha lachte nur und Davids Herz sirrte vor Entzücken. „Oh nein, bitte nicht. Wollen wir nicht einfach ein bisschen telefonieren? Wo ich doch so arm und erkältet bin.“ „Ehrlich gesagt, hörst du dich gar nicht krank an...,“ erwiderte David misstrauisch, aber belustigt. „Na ja, das mag daran liegen, dass ich nicht krank bin...,“ David verschluckte sich beinahe an seiner eigenen Spucke. „Wieso...bist dann nicht hier?“ Sascha schnaubte. „Ich habe den Fehler gemacht, vor den Augen meiner Mutter zu niesen. Da hat sie ein riesiges Theater gemacht und behauptet, ich sei krank und müsse mich schonen. Ich war noch nicht mal beim Arzt.“ „Wie ist sie dann an das Attest gekommen?“ „Keine Ahnung,“ entgegnete Mr. Doch-Nicht-Krank verächtlich, „Hat vermutlich mit dem Arzt geschlafen. Oder ihn bestochen. Je nachdem...,“ „Wa...? Oh...ähm...,“ machte David erschrocken angesichts dieser scharfen Anschuldigung, „Sie...äh...muss sich ziemlich um dich sorgen...,“ Dings schnaubte erneut. „Ich glaube eher, dass sie mal wieder ein schlechtes Gewissen hat...,“ „Ein schlechtes Gewissen?“ „Ja, sie hatte schon immer eins mir gegenüber. Ich könnte ein Buch schreiben Wie erkenne ich das schlechte Gewissen meiner Eltern?. Scheiße, ich würde wirklich alles geben, um bei dir im Zentrum zu sein.“ „Wieso haben sie so ein schlechtes Gewissen?“, fragte David laut und überhörte den letzten Teil. „Lange Geschichte...,“ wich Dings seiner Frage aus, „Wollen wir vielleicht über etwas anderes reden? Dieses Thema deprimiert mich nur.“ „O...Okay, wie du willst...,“ antwortete David unsicher. „Erzähl mir vom Zentrum. Haben wir neue Tiere bekommen?“ „Oh ja...,“ griff David das Thema auf und schmunzelte, „Wir bekommen ständig Igel und am Dienstag kam ein Haufen Brieftauben. Rate wie viele es sind.“ „Mhm...,“ machte Saschas Stimme nachdenklich durch die Leitung, „Zwölf?“ „Nein.“ „Neunzehn?“ „Nee...,“ „Oh Scheiße... Vierundzwanzig?“ „Falsch!“, grinste David. „Jetzt habe ich Angst. Wie viele sind es denn...?“ „Achtunddreißig...,“ Sascha schwieg voller Entsetzen. „Ach du Scheiße...,“ zischte er, „Ich glaube, ich werde doch krank...,“ David lachte. Er war glücklich und das würde er sich von Sven nicht nehmen lassen. Nicht noch einmal. Kapitel 15: Schwul ------------------ Hallo Ihr :-)! Hier ist endlich das neue Kapitel und ich hoffe, Ihr mögt es. Tut mir Leid, dass es solange gedauert hat. In Zukunft wird es wohl immer etwas länger dauern, da ich jetzt ja studiere und mich deshalb auch um andere Sachen kümmern muss...^^ Ach ja, ich mag den Titel von "Mosaik" nicht. Ich finde ihn absolut unpassend. Hat einer von Euch eine gute Idee für einen passenderen Titel? Wenn ja, dann lasst mir Eure Idee bitte zukommen :-). Vielen, vielen Dank an alle Kommi-Schreiber und über fünfzig Favoriteneinträge :-)! Wünsche Euch jetzt viel Spaß beim Lesen ;-). Liebe Grüße, BlueMoon _____________________________________________________________________ Das Wochenende hatte David frei, da er ab Montag Nachtschicht haben würde. Zwei Minuten überlegte er, ob er nach Hause fahren sollte. Dann entschied er sich dagegen. Die Gefahr war zu groß, dass er Saschas Rückkehr verpassen könnte – wann immer die auch sein würde. Zwar hatte ihm Mr. Meine-Mutter-Zwingt-Mich-Dazu-Blau-Zu-Machen am Telefon hoch und heilig versprochen, sich mit seiner „Genesung“ zu beeilen, aber David wusste inzwischen ja, wie es um Dings’ Timing stand. „Was soll das heißen, du kommst nicht?“, wimmerte Marisa durchs Telefon, als David am Samstagvormittag zu Hause anrief, um seiner Familie Bescheid zu sagen. „Ich habe ab Montag Nachtschicht,“ erklärte er seiner kleinen Schwester geduldig, „Ich brauche...Ruhe...,“ „Wieso kannst du die nicht hier haben?“, zeterte Marisa mit ihrer bestechenden Kinderlogik. „Weil...,“ wand David sich hin und her, „Ach, das lohnt sich einfach nicht.“ „Stimmt doch gar nicht!“, jammerte Marisa, „Das hat bestimmt mit Sascha zu tun!“ David erstarrte zu einer Salzsäule. Ab wann hatte seine Schwester eigentlich begonnen, hellseherische Fähigkeiten zu entwickeln? „Unsinn!“, schwindelte David brüsk, „Der hat damit überhaupt nix zu tun!“ „Lüg doch nicht!“, antwortete Marisa böse, „Ich habe dich längst durchschaut!“ David konnte es nicht fassen. Was, zur Hölle, war mit diesem Kind los? Sie war neun Jahre alt und sollte sich über so was weiß Gott keine Gedanken machen. Er atmete tief durch und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. „Hör mal...,“ sagte David bemüht ruhig, „Das kann gar nix mit Sascha zu tun haben, weil der nämlich gar nicht hier ist. Er ist krank und darum zu Hause in Hamburg.“ „Warum bleibst du dann wegen ihm da?“ Als David nach zehn Minuten endlich auflegen konnte, war er ein Nervenbündel. Mit Müh und Not hatte er Marisa davon abhalten können, sich in den nächsten Zug zu setzen, um nach Rötgesbüttel zu kommen. Natürlich nur unter der Bedingung, dass sie Sascha, der ja schließlich der Grund für alles war, bald kennen lernen würde. Langsam fing seine kleine Schwester an, ihn ernsthaft zu gruseln. Der Samstag schlich unerträglich zäh dahin, denn nun hatte David noch nicht einmal die Arbeit, die ihn von der elenden Warterei ablenken konnte, und der Sonntag verging – wenn möglich – noch langsamer. Um sich nicht zu Tode zu langweilen, machte David sich halbherzig in den Zivi-Bereichen nützlich. Er entrümpelte den Kühlschrank, spülte Geschirr ab, wusch seine dreckige Wäsche, ging einkaufen. Anschließend folgte er Marks ausgelassenem Rat und setzte sich mit seinem Cello nach draußen in die noch ziemlich warme Herbstsonne, die sich zwischenzeitlich mal wieder blicken ließ. Er spielte den halben Nachmittag, um seine arbeitenden Kollegen bei Laune zu halten und lockte nebenbei auch noch eine handvoll Besucher an. Der Feierabend kam und David saß gemeinsam mit Freddy, Miriam und Ben in der Zivi-Küche. Freddy rauchte schweigend und Miriam und Ben zankten sich über irgendeine Angelegenheit, die David nicht so recht begriffen hatte. Wie sollte er auch? Schließlich drehten sich seine Gedanken um die Tatsache, dass Sascha immer noch nicht aufgetaucht war. Dieser Umstand nervte ihn gewaltig. Er sah verdrießlich aus dem Fenster und sein Ärger war gerade richtig schön in Fahrt, als ein Auto auf den Parkplatz gerauscht kam. Ein silberner Corsa. Augenblicklich pustete Davids Gehirn Adrenalin durch seine Venen und sein Herz verhedderte sich beinahe in seinem plötzlich hastigen Takt. Er war zurück! Atemlos beobachtete er, wie Mr. Ich-Komme-Sogar-Einigermaßen-Pünktlich ausstieg und eine prallgefüllte Reisetasche aus dem Kofferraum hob. Davids Lippen verzogen sich unwillkürlich zu einem versonnenen Lächeln. Fast hatte er vergessen, wie gut Dings aussah. Und bevor er sich selbst stoppen konnte, hatte er auch schon die Hand gehoben und gegen das Fensterglas geklopft. Sascha zuckte sachte zusammen und sah sich um. Doch als er David hinter dem Fenster erkannte, da breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus, das die Oktobersonne in den Schatten stellte. Unwillkürlich machte Davids Herz einen Hüpfer, als würde er mit einem Fahrstuhl sehr schnell abwärts fahren. Sascha wechselte die Richtung und stakste kurzerhand durch das Beet, das den Parkplatz von dem Zivi-Küchenfenster trennte. David beeilte sich, es zu öffnen. „Hi...!“, stieß er hervor und grinste breit, sobald die Glasscheibe zwischen ihnen hochgeklappt war. „Hi...,“ sagte Dings und grinste zurück. Seine braunen Augen funkelten. „Hallo, Sascha!“, rief Miriam von drinnen, während Mr. Ich-Nehme-Lieber-die-Abkürzung David seine auffällig schwere Tasche anreichte, „Da bist du ja. Und, wieder gesund?“ „Ja, danke...,“ antwortete Sascha und kletterte durchs Fenster ins Innere, „Guten Abend allerseits.“ Er lächelte in die Runde. Freddy brummte etwas und hob seine Zigarette zum Gruß. Ben grummelte: „’lo...,“ Anscheinend hatte er die Diskussion mit Miriam verloren. Freddy drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Bis später...,“ knurrte er dann und stapfte in seinem üblichen Raubtiergang davon, die neuen Igelkinder füttern. „Ich geh dann auch...,“ erklärte Ben griesgrämig und nahm seinen Rucksack vom Sofa, „Bis morgen...,“ „Ciao,“ sagten sie im Chor und Miriam verdrehte die Augen, sobald die Hoftür hinter dem dicken Zivi zugefallen war. „Er war den ganzen Tag so nervig...,“ flüsterte Miriam, als fürchtete sie, Ben könnte hinter der Tür lauern und lauschen, „Hat den ganzen Tag nur gejammert und Freddy und mich wahnsinnig gemacht...,“ „Warum denn das?“, fragte Sascha und ließ sich auf die Sitzbank fallen. David hörte Miriams Ausführungen nur mit halbem Ohr zu. Er fühlte sich gemein, aber er wollte, dass sie nach oben ging und ihn und Dings allein ließ. Es kam ihm vor, als wären sie Monate voneinander getrennt gewesen, obwohl es sich dabei noch nicht einmal um eine Woche gehandelt hatte. Er sehnte sich danach, mit ihm zu sprechen, zu lachen, zu streiten. Gott, wann hatte er sich das letzte Mal so gefühlt? Ja, ungefähr vor zweieinhalb Jahren. Vier Wochen, nachdem Sven damals neu in ihre Klasse gekommen war, da hatte es angefangen. Verdammte Scheiße. David wusste, was das bedeutete. Er wusste, was daraus werden konnte. Aber er wusste noch nicht, ob er es auch gut fand. Im Gegenteil. Vor zwei Wochen hatte ihn allein der Gedanke in Angst und Schrecken versetzt. Und nun – trotz Dings' Betrug, der ihn eigentlich endgültig hätte „kurieren“ müssen – saß er hier mit klopfendem Herzen und musste sich zwingen, den Blick von Mr. Herzensbrecher abzuwenden. „...noch duschen und dann will ich mit meiner Schwester telefonieren. Die hat heute Geburtstag,“ sagte Miriam in diesem Moment und David erwachte, „Also macht’s gut, ihr zwei. Bis morgen!“ „Tschüss, schönen Abend noch,“ erwiderte Sascha und grinste. „Äh, tschüss!“, beeilte David sich beizusteuern. Überrumpelt beschleunigte sein Herz sein Schlagtempo noch ein bisschen mehr. Er sah Mr. Schönen-Abend-Noch von der Seite her an. Der erwiderte seinen Blick. Hinter Miriam fiel die Hoftür ins Schloss. „Darf ich dich jetzt richtig begrüßen?“, fragte Sascha behutsam. David runzelte misstrauisch die Stirn. „Was soll das heißen...?“, erkundigte er sich lauernd. Sascha schmunzelte und stand auf. „Nix Schlimmes...,“ versicherte er ihm und ging auf ihn zu. David ballte vorsichtshalber die Fäuste. Doch er machte keine Anstalten, sein Gegenüber niederzustrecken. Er ließ es einfach zu, dass Sascha zu ihm trat und ihn umarmte. Es war eine schöne Umarmung. Sanft und fest zugleich, haltend, freundschaftlich und mit einem Hauch Sehnsucht darin. David fühlte, wie ihm die Knie weich wurden. Er hatte sich nicht bewusst dazu entschieden, doch bevor er sich versah, hatte er seine Arme gehoben und sie vorsichtig auf Saschas muskulösen Rücken gelegt. Seine Fingerspitzen prickelten. Er spürte, wie Mr. Ich-Bin-Ein-Weltmeister-Im-Umarmen in seine Locken seufzte und sich weiter an ihn schmiegte. „Du bist so süß...,“ schnurrte er. David kam prompt wieder zur Besinnung. „Es reicht jetzt auch!“, pampte er und machte sich von Dings los. Der lachte. „Wie schade, aber immerhin. Die drei Sekunden waren es auf jeden Fall wert!“ David schnaubte und blickte ihn böse an. „Idiot!“, zischte er, aber Sascha ließ sich in seiner Heiterkeit nicht stören. Er hievte seine Reisetasche auf den Tisch, wo sie mit einem beeindruckenden RUMS landete. „Himmel!“, sagte David erschrocken und fing die Tasse, die mit einem todesmutigen Satz vom Tisch gehüpft war, gerade noch auf, „Was hast du denn da drin? Steine?“ Sascha lachte erneut und Davids Ärger verflüchtigte sich in den Äther. „Nein, nein. Im Gegenteil!“, er zog den Reißverschluss auf, „Schau rein!“ David beugte sich über die Tasche. Sie war bis oben hin voll mit... „Essen?“, fragte er verdutzt. „Ja, mein kluger Schatz!“, trällerte Mr. Freilaufende-Speisekammer und Davids Augenbraue zuckte, „Ich war gestern noch einkaufen und habe alles Mögliche besorgt, was dir vielleicht schmecken könnte. Heute Abend werde ich für dich kochen, komme was wolle, und zwar, was immer du willst. Ich habe genug für bestimmt zweiundfünfzig verschiedene Gerichte!“, er begann die Tasche zu leeren und ihren Inhalt auf den Tisch zu stapeln, „Schnitzel, Zwiebeln, Hackfleisch, Pommes, Schokoladenpudding, Kartoffeln, Butter, Champignons, Eier, Käse, Mais, Lachsfilets, Mehl...,“ als der Tisch nicht mehr reichte, nahm er auch noch die Sitzbank dazu, „Nudeln, Hefe, Paprika, Reis, Pfirsiche, Milch, Gemüse, Ketchup, Knoblauch, Erdbeeren, Schokolade, Bananen, Würstchen, Brot, Schafskäse, Thunfisch, Schinken und Salami, Quark...,“ jetzt waren die Stühle dran, „Kirschen, Schokostreusel, Sahne, Hähnchenkeulen, Mohrrüben, Senf, Joghurt, Salat, Tomaten, Vanilleeis, Salatdressing uuund...,“ er griff ein letztes Mal in die Tasche, „Ein Marzipanherz. Nur für dich.“ David starrte ihn mit offenem Mund an. „Ich...hasse Marzipan...,” war das Einzige, was er über die Lippen bekam. Sascha zuckte mit den Schultern. „Macht nix. Dann esse ich es,“ flötete er und begann es aus seinem Papier auszuwickeln. David ließ seinen Blick perplex über die Unmengen von Nahrungsmitteln gleiten. „D...Das...muss doch ein V...Vermögen gekostet...haben...,“ stammelte er und kriegte seinen Mund nicht zu. „Nicht der Rede wert,“ antwortete Sascha leichthin und biss in das Marzipanherz, „Esch wa schowiescho dasch Gelt meina Mutta...,“ „Ah...,“ machte David und wollte sich auf einen Stuhl sinken lassen. Doch da saßen bereits die Tomaten, das Eis und der Salatkopf. „Also...,“ begann Mr. Ich-Könnte-Das-Ganze-Zentrum-Durchfüttern fröhlich, nachdem er den Bissen Marzipan geschluckt hatte, und strahlte David an, „Was willst du heute Abend essen?“ „Ich...weiß nicht...,“ murmelte der matt und ließ seine Augen immer und immer wieder fassungslos über den vollbeladenen Tisch, die Sitzbank und die Stühle gleiten. Dings lachte munter. „Du bist zum Knutschen, wenn du so verwirrt guckst!“ David warf ihm einen grantigen Blick zu. „Ich warne dich...,“ „Keine Sorge...,“ sagte Mr. Du-Bist-Zum-Knutschen und hob beschwörend die Hände, „Ich werde mich beherrschen. Auch wenn das an Folter grenzt...,“ fügte er schmerzlich hinzu, dann strahlte er wieder, „Wie wär’s mit Gemüselasagne? Ich mache die beste unter der Sonne!“ Sie begannen zu kochen...oder besser: Sascha begann zu kochen und David versuchte, ihm irgendwie zu assistieren, beziehungsweise, ihm möglichst wenig im Weg zu stehen. „Wolltest du nicht eigentlich schon viel früher kommen?“, fragte David, während er Dings’ Einkäufe mühsam in die Küchenschränke und den Kühlschrank zwängte. „Ja, eigentlich schon,“ erwiderte Mr. Starkoch, öffnete die Packung Tiefkühlgemüse und warf ihren Inhalt in einen Topf, „Aber meine Mutter war da anderer Meinung...!“ Seine Stimme klang unnatürlich mürrisch. David sah ihn an und presste die Schranktür zu. „Wieso das denn?“, fragte er verdutzt. Dings schnaubte laut, gab Milch und heißes Wasser in den Topf und drehte die Herdplatte hoch. Anschließend wandte er sich zu David um und sah ihm ins Gesicht. In seiner Miene spiegelten sich Ärger und etwas Kummer. So hatte David ihn noch nie gesehen. „Wir...haben uns eine Weile gestritten...,“ erzählte er missmutig, „Das heißt, ich habe mich mit ihr gestritten und sie hat noch nicht mal von ihrer Arbeit aufgesehen und immer nur NEIN gesagt...,“ er schnaubte erneut und schüttelte schwach den Kopf, „Ich hasse das! Dass sie mich immer wie ein kleines Kind behandelt und immer so...kalt ist. Ich raste dann immer beinahe aus und will sie anschreien, aber...,“ er biss sich auf die Unterlippe, „Früher habe ich alle mögliche Scheiße gemacht, nur um sie zu einer Gefühlsregung zu kriegen, aber...sie hat immer nur ihre Augenbrauen gehoben und dann etwas so Vernichtendes gesagt, dass ich...eingeknickt bin...,“ Er senkte für einen Moment niedergeschlagen den Blick. Dann hob er ihn wieder und lächelte matt. „Entschuldige bitte, mein Liebling, ich wollte dich nicht lang–,“ „Hast du nicht!“, beeilte David sich zu versichern und machte einen Schritt auf Sascha zu, „Überhaupt nicht. Wenn du reden willst – egal über was – dann... Ich meine, dann kannst du...zu mir kommen... Wenn du–,“ Weiter kam er nicht, denn Mr. Meine-Mutter-Ist-Ein-Eisklotz hatte sich wiederholt auf ihn gestürzt, um ihn zu herzen. „Du bist so süß!“, jauchzte er ihm ins Ohr und drückte ihn so fest an sich, dass Davids Rippen knirschten, „Ich bin so froh, dass ich wieder da und bei dir bin. Das war das letzte Mal, dass ich nach Hause gefahren bin. Ab jetzt bleibe ich hier, bei dir.“ „Und was, wenn ich mal nach Hause fahre?“, fragte David und stemmte seine Hände gegen Dings’ Brust, um Luft zu kriegen. „Dann fahre ich dir hinterher!“ „Eher nicht! Und jetzt lass mich los! Ich glaube, das Essen kocht!“ Saschas Gemüselasagne war tatsächlich absolut köstlich. „Dasch isch dasch beschte vegetarische Eschen, wasch isch je gegeschen habe!“, mampfte David zwischen zwei Gabeln und Sascha strahlte ihn an. „Das freut mich!“, sagte er und man konnte sehen, dass er es genauso meinte. „Wo hast du das nur gelernt?“, fragte David, sobald er geschluckt hatte. „Kochkurs,“ antwortete Mr. Von-Mir-Kann-Herr-Lafer-Noch-Was-Lernen grinsend und nahm einen Schluck Pfirsicheistee, „Vier Jahre lang. Ich musste mir in der Schule ganz schön viele Frotzeleien anhören, als das rauskam.“ „Glaube ich dir...,“ antwortete David und schob sich genüsslich einen neuen Bissen Lasagne in den Mund, „Und wasch hascht du dann gedan?“ „Ich habe meine Freunde und alle Spöttler zu einem großen Essen eingeladen und für sie gekocht.“ David schluckte und grinste breit. „Und?“ „Nun...,“ schmunzelte Sascha, „Danach war es Mode, mich bei Partys als Koch einzustellen.“ David lachte und tat sich noch einen Nachschlag auf. Als er an diesem Abend allein im Bett lag, fühlte David sich so zufrieden wie schon lange nicht mehr. Der Mond, der von draußen durchs Fenster hinein schien, malte Muster an die Decke und David starrte zu den Malereien hinauf und lächelte still in sich hinein. Es war ein schöner Abend gewesen. Genauso, wie David ihn sich am letzten Sonntag vorgestellt hatte. Sie hatten gekocht, sie hatten gelacht, sie hatten sich gekabbelt. Und sie hatten miteinander geredet. Ohne dumme Witzchen. Einfach so, ehrlich, ernsthaft. Er hatte viel über Sascha erfahren und Sascha hatte viel über ihn erfahren. Über seine Familie, über seine Freunde und über...Sven. Mr. Partykoch hatte ihm von seiner ersten Liebe erzählt, von Yvonne. Wie er sie kennen gelernt hatte, wie er sich verliebt hatte und wie er sie dann betrogen hatte. Mit einem Mann. „Natürlich hat sie mich danach verlassen...,“ hatte Dings nachdenklich erzählt und mit seinem Löffel über seinen Nachtischrest gekratzt, „Und ich war völlig am Ende, weil ich noch so verliebt gewesen war. Seitdem weiß ich, dass Betrügen scheiße ist.“ „Das habe ich auch lernen müssen...,“ hatte David gemurmelt und seine eigene, leere Nachtischschale betrachtet. Dings hatte ihn nicht gefragt, sondern nur ruhig angesehen und die Worte waren dann einfach aus ihm heraus geflossen. Er hatte Sascha berichtet, wie Sven neu in ihre Klasse und in ihre Clique gekommen war, wie gut sie sich verstanden hatten und wie David schließlich bemerkt hatte, wie sich seine freundschaftlichen Gefühle verändert hatten. Wie er erst versucht hatte, diese Empfindungen zu unterdrücken und abzutun – natürlich vergeblich. Wie er und Sven sich dann immer häufiger ohne die Anderen getroffen hatten und sich schließlich auf dem Rummel, ganz oben im Riesenrad, zum ersten Mal geküsst hatten. „Drei Monate lang schwebte ich auf Wolke sieben...,“ hatte David erzählt, die Knie zu ihm auf den Stuhl gezogen und seine Arme um sie geschlungen, „Dann traf mich die Wirklichkeit. An einem Mittwoch im April. Ich saß gerade im Bus und war auf dem Weg zu ihm. Als ich bei seiner Bushaltestelle ankam, stieg ich aus und dann sah ich ihn. Und einen anderen Typen. Knutschend. Ich bin sofort wieder eingestiegen, aber Sven hat mich noch gesehen. Ein paar Tage später telefonierten wir und er hat mir gesagt, dass er mich nur betrogen hat, weil wir keinen Sex gehabt hatten. Hätte ich ihn rangelassen, hätte er es nicht getan.“ Saschas Augen hatten sich bei diesen Worten entrüstet verengt. „So ein Wichser!“, hatte er gezischt, „Wenn du möchtest, dann hau ich ihn für dich zu Brei!“ David hatte dankend abgelehnt, aber in seinem Magen hatten die Glückshormone Samba getanzt. In seinem Bett rollte David sich auf die Seite und schloss die Augen. Es war das erste Mal gewesen, dass er Jemandem alles über seine Beziehung zu Sven erzählt hatte. Seine Familie und seine Freunde – auch Kenji – hatten nie erfahren, was zwischen ihnen gewesen war. Nie hatte er ihnen erzählt, dass er in einen Mann verliebt und mit einem zusammen gewesen war. Das Gewicht, das seit diesem Aprilmittwoch auf seinem Herzen gelegen hatte, schien heute leichter geworden zu sein. Und das Wort, das in seinem Herzen stand und das er seitdem versucht hatte, zu vergessen, schmerzte nicht mehr so sehr. Er hatte bemüht, sich zu verändern, sich einzureden, dass es ein Ausrutscher gewesen war. Er hatte nicht riskieren wollen, noch einmal von einem Mann so verletzt zu werden. Frauen, hatte er sich damals gesagt, taten so etwas nicht. Aber die Wahrheit ließ sich nicht für alle Zeiten verschließen. Und dies war die Wahrheit. Er war nun mal nicht hetero. Er war schwul. Kapitel 16: Verrückt -------------------- Hallo Leute :-)! Ich melde mich mit einem neuen Kapitel zurück und ich hoffe, es gefällt Euch. Auf das nächste werdet Ihr dann vermutlich nicht so lange warten müssen, da ich es schon fast fertig habe. Eigentlich wollte ich das Wochenende ja für die Uni nutzen, aber...meine Prioritäten liegen halt woanders^^. Vielen Dank für alle lieben Kommentare :-). Ich freue mich sehr, dass Euch die Story so gefällt! Kapitelwidmung: Für arod, die mir als Einzige einen Titelvorschlag gesendet hat! Vielen Dank dafür :-)! Und jetzt viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, BlueMoon _______________________________________________________________________ Am späten Montagnachmittag, als David zu Beginn seiner Nachtschicht die Futterküche betrat, hatte er auf seiner nagelneuen Handykarte noch genau zwei Cent. Seit ihn Dings kurz nach zehn Uhr mit einer Aufweck-Sms aus seinen absonderlichen Träumen gerissen hatte, hatte er mit Mr. Sms-Am-Morgen-Vertreibt-Kummer-Und-Sorgen, der sein Handy während der Arbeitszeit verbotenerweise mit in den Tierbetrieb geschmuggelt hatte, verrückte Sms hin und her geschrieben. Sascha hatte David angeschmachtet, David hatte Sascha beleidigt. Sie hatten giftige Bemerkungen über das Wetter ausgetauscht und Pläne fürs Abendessen geschmiedet. Nun war David zwar arm, dafür aber glänzend gelaunt. Den ganzen Tag über hatte seine Sehnsucht nach Dings’ Gesellschaft vor sich hin gebrodelt und inzwischen fühlte sie sich an wie ein melonengroßer Tumor in der Magengegend. Doch als David nun mit klopfendem Herzen die Tür zur Futterküche aufstieß, standen dort nur Ben und Jessika. Der dicke Zivi trocknete sich gerade an einem Stück Küchenpapier die Wurstfinger ab. Die Auszubildende lehnte an einer Anrichte und hatte die Arme verschränkt. Sie sah im höchsten Maße angepisst aus. Sascha war nicht zu sehen. „...auf jeden Fall was...,“ sagte Ben gerade und blickte auf, als David eintrat, „Hey, David...!“, begrüßte er ihn schmunzelnd. „Hallo...,“ antwortete David, zwang sich zurück zu lächeln und angesichts Dings’ Abwesenheit nicht zu enttäuscht auszusehen, „Haben wir neue Tiere?“ „Jessika und ich glauben, dass zwischen Linda und Sascha was läuft!“, erklärte Ben eifrig, ohne Davids Frage zu beachten. David sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Langsam ging ihm dieser dämliche Tratsch entschieden auf die Nerven. Die Vorstellung, dass Sascha und Linda... Nein, das konnte nicht sein. Unmöglich! „Red keinen Unsinn...,“ erwiderte David kühl und schrieb das morgige Datum auf das nächste Tagesprotokoll. „Garantiert! Die sind so nett zueinander...,“ „Bist du blöd?!“, giftete David entnervt, „Linda ist zu jedem nett. Sogar zu dir!“ Jessika lachte bösartig auf. „Oh, ja... Linda ist zu jedem nett. Besonders zu den Männern. Würde mich nicht wundern, wenn sie auch was mit Freddy am Laufen hat!“ Davids Augen weiteten sich. Fassungslos blickte er zwischen ihr und Ben hin und her. „Seid ihr beide völlig verrückt geworden?!“, stieß er dann hervor und lachte fast, „Linda hat doch nix mit Freddy!“ „Aber letztens hatte sie seine Hose an!“, beharrte Ben laut. „Ja, weil ihre vom Regen klatschnass geworden ist!“, fauchte David. Er griff sich an die Stirn. Wie blöde konnten zwei Menschen eigentlich sein? Freddy und Linda. Das war doch mehr als nur verrückt! „Gib dir keine Mühe, Ben...,“ frotzelte Jessika kalt und schaute David verächtlich an, „David will doch selber was von Linda...,“ „Ach ja?“, fragte der dicke Zivi interessiert. David sah Jessika ins Gesicht. Das schwarze, von pinken Strähnen durchzogene Haar, fiel ihr auf die Schultern. Überheblich knabberte sie an ihrem Unterlippenpiercing. Langsam tippte er sich gegen die Stirn. „Jessika...,“ sagte er tonlos, „Meine neunjährige Schwester hat von so was mehr Ahnung als du...,“ Von der Tierannahme drangen Gelächter und Worte in die Futterküche hinein. „...echt gefährlich!“, sagte Saschas Stimme lachend und Davids Magen machte unweigerlich einen Salto. „Total! So ein verrücktes Monster!“, ertönte Lindas heiteres Kichern. Die Tür schwang auf und die beiden betraten ausgelassen giggelnd die Futterküche. Bei Dings’ Anblick schienen Davids Beine einige Zentimeter in den Betonboden einzusacken. Sein Herz begann zu flattern und ein heißer Schauer regnete ihm über den Rücken. Gott, das war doch verrückt... Mr. Punkt-Punkt-Punkt-Echt-Gefährlich trug einen dunkelgrünen Rollkragenpullover und seine braunen Augen funkelten. Auch der schwarze Eimer, mit den paar zerdrückten, toten Küken, den er soeben auf dem Boden abstellte, konnte seinen Glanz nicht trüben. „Hey, David!“, begrüßte Linda ihn fröhlich und Dings’ Kopf, der sich noch halb auf dem Gang befunden hatte, zuckte hoch. „Hey...!“, strahlte er bei Davids Anblick und seine Stimme vibrierte vor Freude und Zärtlichkeit. Alles in David seufzte auf und er griff fahrig nach der Arbeitsplatte, um sich festzuhalten. „Hallo...,“ entgegnete David und konnte seinen Blick nur mit Mühe von Sascha wenden, um Linda kurz zu zulächeln. Er hörte, wie Jessika hinter ihm schnaubte. „Schau dir an, was Corvus mit Sascha gemacht hat!“, sagte Linda, bevor Jessika die Chance bekam, irgendetwas Bescheuertes von sich zu geben. Die kleine Praktikantin griff nach Saschas rechter Hand und hielt sie David unter die Nase. Auf seiner Handinnenfläche schimmerte eine kleine, blutige Wunde. Etwa so groß wie der Kopf einer Stecknadel. „Aua...,“ machte David erschrocken und nahm Dings’ Hand in seine Eigene. Seine Haut fühlte sich unter seinen Fingern unheimlich warm und weich an. „Wie ist das passiert?“, fragte er und achtete nicht auf den Nebel, der plötzlich vor seinem inneren Auge aufgezogen war. „Wir haben Großfütterung gemacht und – nett wie ich bin – habe ich ihm auch ein Küken angeboten und er hat es auch gern genommen,“ erzählte Mr. Ringkampf-Mit-Einer-Gemeingefährlichen-Rabenkrähe, seufzte und trat zu Ben ans Waschbecken, um sich behutsam die Hände zu waschen, „Allerdings wollte er mich vorher noch etwas hacken...,“ „Du musst die Wunde desinfizieren!“, sagte Linda streng, während sie sich aus dem Tagesprotokoll austrug, „Sonst entzündet sie sich noch.“ „Ich kümmer mich drum!“, bot David an, bevor er sich selbst auf die Zunge beißen konnte. Sein Herz klopfte noch einen Takt schneller und aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Sascha zufrieden grinste. „Sehr gut, danke,“ antwortete Linda und lächelte ihn an, „Miri und ich wollen nämlich heute Abend zusammen kochen. Sie wartet schon oben auf mich,“ sie wandte sich zum Gehen und winkte den Vieren zu, „Macht’s gut, bis morgen!“ „Tschüss...!“, erwiderten sie mehr oder weniger enthusiastisch im Chor. „So ne Heuchlerin...,“ zischte Jessika, kaum hatte sich die Tür hinter der kleinen Praktikantin geschlossen. David und Sascha hoben gleichzeitig den Blick und sahen sie an. „Wie bitte?“, machte Mr. Jemand-Muss-Mich-Verarzten leicht warnend, „Was soll das heißen?“ „Nichts...,“ log Jessika und betrachtete mit hochgezogenen Augenbrauen ihre glitzernden Fingernägel. David biss sich auf die Unterlippe. Einen Moment hatte er große Lust, die Auszubildende in die Scheiße zu reiten und Dings zu erklären, was genau das heißen sollte. Doch dann überlegte er es sich anders. Er mochte es nicht, andere zu verpetzen – selbst wenn es sich dabei um Jessika handelte – und außerdem...war er nicht sonderlich scharf auf die Antwort. Bei Dings’ verrückter Vorliebe, andere Leute mit seiner Ehrlichkeit zu schocken, war es nicht gänzlich unwahrscheinlich, dass er Jessikas und Bens Vermutung über seine Beziehung zu Linda mit einem lässigen Grinsen bestätigte. Und ob das nun wahr sein mochte oder nicht – David wollte es nicht hören. „Aha...,“ murmelte Sascha gerade und musterte Jessika misstrauisch, während er sich die Hände abtrocknete. Dann warf er das Papier in den Müll und wandte sich an David. „Klebst du mir ein Pflaster drauf?“ Der unerwartete Themenwechsel ließ den Angesprochenen zusammen zucken. „Wie...? Oh ja, sicher. Komm mit...,“ antwortete er zerstreut und ging Dings voran aus der Futterküche zu dem Verbandsschränkchen, das gleich links neben der Tür an der Wand hing. „So ne dumme Kuh...,“ wisperte Mr. Klebst-Du-Mir-Ein-Pflaster-Drauf? angewidert, während David im Schrank nach dem Desinfektionsspray kramte, „Ich wette, sie denkt, dass Linda und ich was miteinander haben...,“ David biss die Zähne zusammen und sein Magen drehte sich um. „Hand her!“, kommandierte er und schraubte den Deckel des Sprays ab. Dings tat wie ihm geheißen und lächelte sanft. „Dabei sollte eigentlich jeder merken, dass mein Herz jemand Anderem gehört...,“ flüsterte er. David schluckte und spürte, wie kochende Hitze in ihm aufstieg. Sein Pulsschlag verdreifachte sich noch. Er starrte auf Saschas lange Finger und wartete. Aber es kam nix mehr. Vorsichtig hob er den Blick. Das Spray in seiner Hand zitterte etwas. „Was ist?“, wollte Mr. Ja-Wem-Gehört-Mein-Herz-Wohl? wissen und schmunzelte unmerklich. „Ich warte auf den Nachsatz...,“ murmelte David argwöhnisch. Sascha grinste. „Ich hätte da einen, aber ich dachte, den willst du eh nicht hören...,“ „Stimmt auch!“, log David nachdrücklich und griff nach Dings’ Hand, um Desinfektionsmittel auf seine Wunde zu sprühen, „Das brennt jetzt vielleicht etwas...,“ „Macht ni...Au...!“, zischte Mr. Ein-Indiander-Kennt-Keinen-Schmerz und verzog leicht das Gesicht. David grinste schief, tupfte den Umkreis der Wunde behutsam mit einem Taschentuch trocken und klebte anschließend ein Pflaster darüber. Bei jeder Berührung mit Saschas Haut hüpfte sein Magen ein bisschen. „Sooo...,“ machte er und ließ seine Hand eilig los, um das Spray und die Pflasterpackung zurück in den Arzneischrank zu räumen. „Danke...,“ wisperte Dings und lächelte ihn an, „Aber jetzt musst du sie noch küssen. Damit sie gut heilt...,“ David erstarrte von Kopf bis Fuß und sein Herz vergaß einen Moment, seine Arbeit zu tun. Beinahe hätte er die Pflaster fallen gelassen. Dann schaltete sich zum Glück sein Kopf wieder ein. „Vergiss es!“, schnarrte er und funkelte Sascha böse an, „Küss dich doch selbst!“ „Aber dann wirkt es nicht...!“, entgegnete der empört und hielt David seine Hand hin, „Bitte, bitte... Nur ein klitzekleines bisschen...,“ Davids Atem ging flach und sein ganzer Körper kribbelte. Saschas Augen schienen ihn festzunageln. In seinen Ohren rauschte das Blut. Er wartete darauf, dass das passierte, was für David Spandau angebracht wäre, nämlich auszurasten. Er wollte, Mr. Küss-Die-Hand den Vogel zeigen und ihn stehen lassen. Ihn vielleicht noch etwas anbrüllen. Aber David konnte nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben passierte nichts. Die Wut kam einfach nicht. Verrückt. Jessikas und Bens Stimmen drangen gedämpft aus der Futterküche. Wehrlos und wutlos stand David in der vorderen Scheune und starrte entgeistert sein Gegenüber an, das ihn gespannt betrachtete, als wartete es ebenfalls auf den alltäglichen Tobsuchtsanfall. Als er nicht kam, runzelte Dings verblüfft die Stirn. David schluckte, als ihm klar wurde, dass sein Temperament ihn gerade im Stich ließ und er keine Wahl hatte. Es gab irgendwie nur eine Sache, die er tun konnte. Eine verrückte Sache zwar, aber auch die einzige. Also tat er sie. Er atmete tief ein, nahm Saschas Hand in seine Hände und hauchte einen Kuss auf das Pflaster. So zärtlich und sanft wie er nie zuvor etwas oder jemanden geküsst hatte. Er hörte, wie Sascha überrascht aufkeuchte und spürte, wie dessen Hand in seinen Eigenen erzitterte. David bebte ebenfalls. Seine Beine fühlten sich an wie Pudding und sein Herz hämmerte wie von Sinnen gegen seinen Brustkorb. Ihm war von der Berührung furchtbar heiß geworden. Viel zu heiß. Er wollte Saschas Hand loslassen, aber es ging nicht. Er konnte seine Finger nicht bewegen. Mit übernatürlicher Anstrengung schaffte er es, den Blick zu heben, ohne vorher in Ohnmacht zu fallen. Er sah Mr. Damit-Habe-Ich-Nun-Offensichtlich-Nicht-Gerechnet an und zwang seinen Mund zu einem matten Schmunzeln. Seine Lippen kribbelten. In seiner Nase hing noch immer der Geruch der fremden Haut: Desinfektionsmittel, Pflaster, Wind, Salz, bittersüße Verheißung... Grundgütiger, so was Verrücktes. „Besser?“, krächzte David und erschrak über seine eigene Stimme. „Viel...,“ antwortete Dings mindestens genauso heiser. Sascha war blass geworden und seine dunklen Augen schimmerten leicht glasig. Er schluckte. „Scheiße...,“ hauchte er dann und starrte David unverwandt an, als könne er es nicht glauben, „Hä...Hättest du was dagegen, wenn ich dich jetzt sofort küsse, David?“ Eine weitere Ladung Hitze schoss David in den Kopf, sodass sein Körper es sich mit der Ohnmacht noch mal überlegte. Er schluckte erneut und räusperte sich, um seine Stimme unter Kontrolle zu kriegen. Sein Gesicht brannte wie Feuer. „Ja, hätte ich...!“, presste er hervor. „Wieso?“, hauchte Dings verzweifelt und in seinen Augen lag ein solches Flehen, dass David hastig seine Hand losließ und einen Schritt zurück trat. Dieser Kerl war doch absolut verrückt – und nach dem, was sein Herz hier in seiner Brust veranstaltete, war er es ebenfalls. „Weil es zu gefährlich ist!“, zischte David ärgerlich und blickte Mr. Bitte-Bitte-Bitte-Küss-Mich streng an, „Wenn Ben und Jessika jetzt da raus kommen!“ „Ist doch völlig schnuppe!“, jammerte Dings. „Ist es nicht!“ „Ist es wohl!“ „Nein, Mann!“ Just in diesem Moment öffnete sich besagte Tür zur Futterküche und besagte Mitarbeiter traten hinaus in die vordere Scheune. David fuhr heftig zusammen und griff fieberhaft nach dem kleinen Buch, das im offenen Verbandsschrank lag, um das Pflaster einzutragen, dass er für Sascha heraus genommen hatte. Seine Finger krampften sich energisch um den Bleistiftstummel. Hinter sich hörte er Sascha tief ein und aus atmen. „David, ich will jetzt nach Hause fahren,“ hörte er Bens Stimme sagen und zwang sich, aufzuschauen, „Lass uns schnell die Übergabe machen.“ „Kl... Klar...,“ antwortete David kopflos und schlug die Schranktür zu. Er warf dem bleichen Sascha einen letzten, durchdringenden Blick zu und eilte dann an ihm vorbei in die Futterküche. Kapitel 17: Wahnsinnig ---------------------- Hallo Ihr Lieben :-)! Ich bin gerade erst aufgestanden und noch ziemlich zerknautscht vom der gestrigen Nacht. Aber ich dachte, ich tue Euch etwas Gutes und lade das neue Kapitel hoch^^. Es ist mal wieder etwas...abgedreht^^. Und ja, ich schwänze gerade Methoden und ich habe auch ein furchtbar schlechtes Gewissen dabei...^^ Vorsicht Spoiler: An alle, die Davids und Saschas erstem "richtigen" Kuss entgegen fiebern: Freut Euch auf das nächste Kapitel :-)! Kapitelwidmung: Für meine liebste Paperflower. Einfach so, weil wir gestern telefoniert haben und sie einfach die Größte für mich ist :-)! Und ich danke Euch so sehr, für über hundert Kommentare :-)! Ich bin ganz stolz und freue mich wie WAHNSINNIG^^! Und jetzt viel Spaß beim Lesen :-)! Liebste Grüße, BlueMoon _____________________________________________________________________ Das war schon nicht mehr verrückt, das war schon die Steigerung davon. Das war wahnsinnig! Wie kam dieser Typ nur dazu, ihn in so einer Gefahrensituation küssen zu wollen? Allein die Vorstellung, dass ausgerechnet Ben und Jessika sie beim Knutschen vorm Arzneischrank erwischten – Tod und Teufel! Das würde er nicht überleben... David kniete in der Futterküche auf dem Boden und legte eine der schwarzen Wannen mit frischem Zeitungspapier aus. Der Bewohner – ein unterernährter Igel mit akutem Durchfall – saß in einer kleinen Kiste daneben und grunzte vor sich hin. Aber was wäre passiert, wenn die beiden nicht genau jenen Moment gewählt hätten, um die Futterküche zu verlassen? Was, wenn sie noch eine halbe Stunde länger da drin geblieben wären? Hätte er irgendwann nachgegeben und sich von Mr. Nicht-Mehr-Ganz-Richtig-Im-Kopf küssen lassen? Nein! Oder? Scheiße. David drückte eine handvoll Stroh in eine Wannenecke, in der es sich der Igel gemütlich machen konnte. Wie Dings wohl küssen mochte? Zwar hatten sie sich schon geküsst, zweimal sogar, doch bei beiden Malen hatte David nicht besonders aufmerksam auf Saschas Technik geachtet. Beim ersten Mal – worübererjetztwirklichnichtweiternachdenkenwollte – war er schlichtweg zu überrumpelt gewesen und der zweite, zwischen Zugtür und Bahnsteig, hatte ja nur höchstens drei Sekunden gedauert. Bestimmt konnte Dings sehr gut küssen. Aber was war mit ihm selbst? Das letzte Mal hatte er vor zwei Jahren richtig geküsst, mit Sven natürlich, und inzwischen hatte er es bestimmt verlernt. Grundgütiger, wieso dachte er über so was überhaupt nach? Er war doch verrückt, nein, wahnsinnig! Trotzdem, verrückt hin, wahnsinnig her. Er konnte an nichts Anderes denken. Nur daran, wie es sich wohl anfühlte, Sascha richtig und freiwillig zu küssen. Jessika, diese blöde Gans, hatte ihn bestimmt geküsst. Er könnte sie anrufen und fragen, wie das gewesen war. Oder er könnte gleich Selbstmord begehen. Das käme ungefähr aufs Gleiche raus. Scheiße. Woher kamen diese geisteskranken Gedankengänge so plötzlich? Gerade war noch alles in bester Ordnung gewesen und jetzt musste er sich die ganze Zeit vorstellen wie er und Sascha... Scheiße! Er sollte die Futterküche einfach nie wieder verlassen. Zwei Stunden später jedoch hatte David keine Ausrede mehr, um sich weiter in der Futterküche zu verstecken. Alle Boxen und Käfige waren sauber, sämtliche Tiere des Zentrums hatten genug zu fressen und zu trinken. Die nachtaktiven Igel begannen sich zu regen und sich schmatzend in ihr Katzenfutter zu setzen. Die Papageien sangen sich in ihren Innenvolieren gegenseitig in den Schlaf. Im Rep.-Raum herrschte schon seit Stunden gähnende Stille. Es gab nichts mehr zu tun. Außerdem hatte David Hunger und Sascha hatte bestimmt gekocht... Bei diesem Gedanken grollte sein Magen laut und zog sich sehnsüchtig zusammen. Es half alles nichts, er musste sich in die Höhle des Löwen begeben und die Zivi-Küche betreten. Er würde mit Mr. Ich-Kann-Kochen-Und-Küssen zusammen essen, etwas plaudern und dann das Weite suchen, bevor der ihm irgendwie zu nah kommen konnte. Genau, ganz einfach. Denn jeder weiß ja, solche Pläne funktionieren immer reibungslos. Mit knurrendem Magen und pochendem Herzen trat David also auf den Hof hinaus. Eine kühle Brise raschelte durch die verfärbten Blätter der Eiche und ließ einige von ihnen auf die Natursteine wehen. Morgen würde hier Jemand bestimmt Laub harken müssen. Die Sonne war längst untergegangen und von allen Seiten zogen tintenschwarze Wolken am verhangenen, finsteren Himmel auf das Tierschutzzentrum zu. Es sah nach Regen aus. David seufzte, schloss die Scheunentür hinter sich und die Betreten verboten-Tür auf. Kaum hatte er einen Fuß über die Schwelle, in den Flur gesetzt, wehte ihm der Geruch von Essen entgegen. Sein Magen zerfledderte sich beinahe selbst vor Begeisterung und seine Lippen seufzten unwillkürlich auf. „Das riecht ja phantastisch hier...!“, rief Davids Magen laut, ohne Absprache mit seinem Kopf, der sich im selben Moment mit einem harten Schlag daran erinnerte, dass er hier unten ganz allein mit Mr. Ich-Locke-David-Mit-Einem-Abendessen-Aus-Der-Futterküche war. Linda und Miriam saßen oben, in der Wohnung der FÖJlerin, und Bettina und Mark hatten auch schon Schluss gemacht und das Zentrum verlassen. Oh, verdammte Sch... Aus der Zivi-Küche hörte er Saschas fröhliches Gelächter antworten und sein Fluch verebbte irgendwo zwischen Verstand und Zunge. Unwillkürlich verzog sich sein Mund zu einem Lächeln. Davids Beine schritten fast automatisch vorwärts und er rollte buchstäblich durch den Flur, auf die Küchenzeile zu. Mr. Mein-Lachen-Zaubert-Ein-Lächeln-Auf-Davids-Gesicht stand am Herd und grinste ihm entgegen. Mit einem hölzernen Kochlöffel rührte er in einer Pfanne herum, in der das schmackhafteste Reisgericht dampfte, an dem David je geschnuppert hatte. „Es ist nichts Besonderes...,“ sagte Dings und grinste fast verlegen, „Ne Eigenkreation...,“ „Schmeckt bestimmt köstlich,“ antworte David und Sascha strahlte ihn an. Wärme flutete durch Davids Venen und er konnte nicht anders, als das Strahlen zu erwidern. Seine Augen huschten zu Dings’ Lippen. Langsam legte er den Kopf schief. Es waren wirklich schöne Lippen. Voll und sinnlich und bestimmt unheimlich weich... Wieso hatte er bei ihren Küssen nicht mehr darauf geachtet? „Würdest du hier kurz aufpassen?“, riss Sascha ihn aus seinen küssenden Gedanken und hielt ihm die Kochlöffel hin, „Ich würd gern noch kurz unter die Dusche springen.“ „Wa...? Ach so, ja klar...,“ eilig nahm David den Kochlöffel entgegen und spürte, wie seine Wangen vor Verlegenheit heiß wurden. Er war doch wirklich absolut wahnsinnig! Jetzt stand er hier rum und starrte Sascha auf den Mund wie ein geistesgestörter Lippenfetischist. Gott, wo hatte er seinen Verstand gelassen? Er war dem Wahnsinn wohl schon rettungslos verfallen... „Das ist lieb von dir, Schatz!“, trällerte Dings, warf ihm eine Kusshand zu, die David dem Kreislaufkollaps noch ein Stück näher brachte, und verschwand pfeifend im Badezimmer. Kurz darauf schallte das typische Wasserrauschen aus dem Bad. David rührte in der Pfanne und übte sich im Atmen. Tief und beruhigend. Ein und aus und ein und aus. So fühlte es sich also an, wahnsinnig zu sein. Mhm, sehr interessant. Vielleicht sollte er ein Buch darüber schreiben. Scheiße, er war wirklich wahnsinnig und hungrig dazu. Dieses Essen roch einfach zu gut... Vorsichtig schob David sich ein bisschen Curryreis, Hühnchen und Blumenkohl auf den Holzlöffel und probierte die Speise des Wahnsinns. Sie schmeckte tatsächlich ausgezeichnet. Regentropfen prasselten inzwischen gegen das Fenster der Zivi-Küche und es donnerte laut. Ah, Gewitter..., dachte David dumpf und entschied sich, dass ein guter Assistenzkoch mehrmals von seinen kulinarischen Ergüssen kosten sollte. In dieser Sekunde flog die Badezimmertür so heftig auf, dass sie gegen die Wand krachte und David jäh einen halben Meter in die Luft sprang. „DAVID!“, schrie Sascha und stolperte in den Flur, „Ein Gewitter! Schon wieder!“ Er hatte sich ein rotes Handtuch achtlos um die Hüften geschlungen und Wasser rann an seinem nackten Oberkörper und seinen Beinen hinab, bildeten eine Pfütze zu seinen Füßen. Seine nassen, dunklen Haare waren voller Shampoo, das ihm nun in weißen, glitzernden Schlieren das Gesicht hinab lief. In seinen Augen stand die blanke Panik. „BIST DU WAHNSINNIG?!“, brüllte David über das Gepolter seines Herzens hinweg, dass vor Schreck in einen wilden Galopp gefallen war, „Mich so zu erschrecken?!“ Er schnappte nach Luft und presste sich eine Hand auf die Brust. Anscheinend hatte der Wahnsinn seinen Jähzorn zurück geholt. Sehr beruhigend. „Ich kann nix dafür!“, jammerte Mr. Ich-Tropfe-Den-Ganzen-Flur-Voll hysterisch, „Was soll ich denn jetzt tun?“ „Wie wär’s mit fertig duschen?!“, raunzte David und wischte sich über die Stirn. Sein Herz beruhigte sich allmählich wieder. „Fertig duschen?“, japste Dings und starrte David an, als hätte dieser tatsächlich den Verstand verloren, „Bist du wahnsinnig?“ „Genauso wie du!“ fauchte der und schob die Pfanne von der heißen Herdplatte weg. Irgendeiner, bereits vollständig wahnsinniger Teil seines Kopfes wies ihn darauf hin, dass Sascha fast nackt im Flur stand und sehr attraktiv war. Hektisch schüttelte David den Kopf. „Oh je...,“ flüsterte Sascha und begann vor Kälte zu zittern, „Ich will da nicht wieder rein...,“ und dann, mit unvermittelt aufkeimender Hoffnung, „Kannst du nicht mitkommen?“ Dieser Vorschlag katapultierte David beinahe rückwärts in die Reispfanne. „Mitkommen?“, ächzte er, „Wohin?“ „Unter die Dusche!“ „Unter die Dusche?! Nein, Mann!“ „Wieso denn nicht?“ „Ich geh doch nicht mit dir duschen! Ich bin doch nicht wahnsinnig!“ „Gerade meintest du noch, du bist es!“ „DU bist der Wahnsinnige von uns beiden!“ Es donnerte erneut und Mr. Noch-Wahnsinniger-Als-David fuhr zusammen, als hätte jemand neben seinem Ohr eine Bombe gezündet. „Ich hasse das...!“, wimmerte er und biss sich auf die Lippe. David sah ihn an und spürte gegen seinen Willen, wie sich seine Empörung verflüchtigte. Er seufzte tief, strich sich durch seine blonde Lockenpracht und setzte sich in Bewegung. Er ging an dem bibbernden Sascha vorbei, ins Badezimmer, schloss das Fenster und zog sorgfältig die blauen Vorhänge zu. „So...,“ machte er geduldig und drehte sich zu Dings um, ein nasses Häufchen Elend im Flur, „Du gehst jetzt wieder unter die Dusche, bevor du dir noch den Tod holst. Von mir aus kannst du die Tür auf lassen...,“ „Und wenn es wieder donnert?“, zeterte Mr. Gewitter-Trauma. „Dann hörst du nicht hin,“ antwortete David kühl. „D...Das fu...funktioniert n...nie...,“ jammerte Sascha, jetzt mit klappernden Zähnen, „I...Ich wa...wache so...g...gar nachts a...auf, wenn es n...nur ein bi...bisschen kracht...,“ „Okay, okay!“, sagte David seufzend, stapfte aus dem Bad hinaus und schob Sascha wieder hinein, „Dann singst du laut.“ „Si...Singen?“, wiederholte der erstaunt, „W...Was denn?“ „Keine Ahnung! Stille Nacht, heilige Nacht meinetwegen.“ Dings starrte ihn mit offenem Mund an. „Stille...? Aber...das ist ein Weihnachtslied…,” „Na und...?!“, brummte David und drückte ihn zurück in die Dusche, „Hauptsache es lenkt ab. Du musst dir ja auch nur noch den Schaum aus den Haaren waschen, dann kannst du wieder rauskommen. Das schaffst du schon. Ich helfe dir auch beim Singen.“ Mr. Aber-Das-Ist-Ein-Weihnachtslied blinzelte. Dann wurde seine feuchte, schaumige Miene von einem begeisterten Strahlen erhellt. „Du bist SO süß!“, schmachtete er. „Ja, ja...,“ grummelte David und verließ das Bad wieder, um nach der Reispfanne zu sehen, „Jetzt mach das Wasser an und sing!“ „O...Okay...,“ kam Dings’ zögernde Stimme durch die offene Badezimmertür geweht. David hörte, wie er sein Handtuch zur Seite warf und den Duschvorhang zu zog. Es donnerte. Sascha keuchte entsetzt auf und David beeilte sich, ihm zu Hilfe zu kommen. Er räusperte sich. „Stiiille Naaacht, heiiilige Naaacht...,“ sang er und begann erneut in der Pfanne zu rühren, „Aaaaaalles schläft, eiiinsam waaacht...,“ Das Wasser begann wieder zu rauschen. „Nuuur das trauuute hochheiiilige Paaar...,“ gesellte sich Dings’ gurgelnde Stimme dazu, „Hooolder Knaaabe im looockigen Haaar...,“ „Der meint dich, David!“, rief Sascha aus der Dusche und David lachte auf. „SCHLAAAAAF in hiiimmlischer RUUUHUUU!“, sangen sie voller Inbrunst und von unterdrücktem Gelächter unterbrochen, „Schlaaahaaaf in hiiimlischer Ruuuhhh...,“ Es war doch wirklich mehr als nur verrückt. Hier waren sie und sangen dröhnend ein christliches Weihnachtslied, um ein Gewitter zu übertönen, das ihnen einen harten Kampf lieferte. Es war mehr als nur verrückt. Es war wahnsinnig. Wahnsinnig albern. Wahnsinnig schön. Kaum hatten sie die erste Strophe erfolgreich hinter sich gebracht, hörte David, wie Mr. Ich-Singe-Unter-Der-Dusche das Wasser abdrehte und hastig begann, sich trocken zu rubbeln. Das Gewitter nutzte die kurze Stille, um einen gewaltigen Donnerschlag zu ihnen ins Zentrum zu brüllen. Dings japste auf. „Sing doch weiter, David!“, rief er verzweifelt. „Ich kenne die zweite Strophe nicht!“, entgegnete David erschrocken und wühlte in seinen kindlichen Erinnerungen, „Lacht da nicht irgendwer aus nem göttlichen Mund?“ „Ja, der Knabe im lockigen Haar...,“ erwiderte Sascha jetzt wieder glucksend und zog sich – nach dem Geklimper zu urteilen – fieberhaft eine gegürtete Jeans an, „Gottes Sohn oder so...,“ David schob die Pfanne vom Herd. „Wir können übrigens essen. Glaube ich zumindest...,“ er kratzte mit dem Holzlöffel über den Pfannenboden, „Oh, ich glaube, es ist etwas angebrannt...,“ „Macht gar nix, umso–,“ Es donnerte ein weiteres Mal und David hatte gerade noch Zeit, sich zur Badezimmertür umzudrehen, bevor Mr. Panic heraus gestürmt kam und sich ihm mit einem erstickten Schrei um den Hals warf. „Ich hasse Gewitter…,” wimmerte er und vergrub sein Gesicht an Davids Schulter. „Mhm...,“ machte David tonlos, als verzehrende Hitze ihm den Atem nahm und seine Beine nachzugeben drohten, „Ich...nicht...,“ Saschas Haare waren noch feucht und kitzelten seinen Hals und sein Gesicht. Der Duft von seinem Shampoo vernebelte ihm die Sinne. Er nahm sich vor, Sascha entschieden von sich zu schieben und ihm zu sagen, er solle sich erstens nicht so anstellen und sich zweitens nicht so auf ihn werfen. David hob die Arme, um den ersten Teil seines Plans auszuführen, und legte sie stattdessen auf Saschas Rücken. Er spürte den Stoff seines langärmeligen Shirts unter seinen Fingern und darunter die warmen, fremden Muskeln. Sein Kopf benebelte sich noch weiter. Er öffnete den Mund, um den zweiten Teil seines Plans in die Tat umzusetzen, doch noch nicht mal ein gurgelndes Grunzen kam ihm über die Lippen. Sascha seufzte hingerissen gegen seinen Hals, sodass eine prickelnde Gänsehaut über Davids gesamten Körper jagte, und schmiegte sich noch ein wenig enger an ihn. „Ich korrigiere...,“ hauchte er und David wurde schwindelig, „Ich liebe Gewitter...,“ „Ich auch...,“ krächzte David und krallte seine Finger in Saschas Shirt. Mr. Ich-Hasse-Korrigiere-Liebe-Gewitter hob langsam den Kopf und sah David an. In seinen dunklen Augen erkannte David dasselbe Feuer, das auch in ihm loderte. Davids Herz drohte zu zerreißen, so rasend klopfte es in seiner Brust. „Darf ich dich bitte jetzt küssen?“, wisperte Dings. David schluckte. Dann rastete irgendetwas in seinem Kopf ein und der Nebel in seinem Kopf verflüchtigte sich mit einem Schlag. „Nein!“, sagte er laut und drückte Sascha unsanft von sich fort. Entgeistert starrte der ihn an. „Wie, nein?“, fragte er fassungslos. „Na, NEIN halt!“, pampte David und schüttelte scharf den Kopf, um das monotone Summen, das in seinen Ohren eingesetzt hatte, zum Schweigen zu bringen. „Das kannst du nicht machen!“, sagte Dings weinerlich, „Ich halte das nicht aus!“ „Mir egal!“, fauchte David und funkelte ihn an. Dann krachte es erneut und Mr. Wie-Nein? zuckte wimmernd zusammen und packte haltsuchend Davids Arme. „Mein Gott!“, stieß David laut hervor, „Es muss doch eine Möglichkeit jenseits von Küssen geben, die dich beruhigt!“ „Die gibt es auch...,“ antwortete Dings und schaute ihn aus großen, braunen Panikaugen an. „Und die wäre?“, raunzte David. „Sex...,“ erklärte Sascha sachlich und jetzt zuckten seine Mundwinkel wieder. Davids Augen verengten sich zu Schlitzen, als ihm neuerliche Hitze ins Gesicht schoss. In seinem Magen startete ein Flugzeug. „Tatsächlich?“, murrte er kalt, „Ich fürchte, das fällt weg...,“ „Das dachte ich mir...,“ erwiderte Dings und grinste schief, „Schade eigentlich–,“ „NOCH eine Möglichkeit?“, fragte David sehr laut über Saschas Kichern hinweg. „Drogen...,“ nickte Dings und unterdrückte ganz offensichtlich ein Lachen, „Aber Freddy und Sebastian haben meinen Wodka vorletztes Wochenende ausgetrunken.“ „Ich habe auch keinen Alk mehr...,“ überlegte David nachdenklich, „Außerdem... Oh...,“ Seine Stirn glättete sich, als ihm etwas einfiel. Er hatte schon eine ganze Weile nicht mehr daran gedacht, aber jetzt... Sascha musterte ihn gespannt. „Was?“, erkundigte er sich und weckte David aus seinen Gedanken, „Hast du eine Heroinspritze unter deinem Bett versteckt?“ „Nein...,“ antwortete David und jetzt schmunzelte er verschlagen, „Aber einen Joint in meinem Cellokoffer...,“ Dings starrte ihn einen Moment sprachlos an. Dann breitete sich auch auf seinem Gesicht ein breites Grinsen aus. „Oh...,“ schnurrte er leise. Draußen krachte es. Kapitel 18: High ---------------- Hallo Ihr :-)! So, ich melde mich zurück mit Kapitel 18 :). Ab jetzt wird es vorraussichtlich wieder etwas dauern, bis ich das nächste Kapitel hochlade, da ich mich leider Gottes erstmal um mein Studium kümmern muss...^^ Ich hoffe, Ihr habt dafür (jedenfalls so weit wie möglich^^) Verständnis :). Und da ich Freude daran gefunden habe, meine Kapitel zu widmen^^: Kapitelwidmung: *Für Alle, die sehnsüchtig auf den ersten Kuss gewartet haben und besonders *Für Natsuki-chan12 und littlePseudoUsagi, weil die mich mit ihren Kommentaren immer zum Lächeln bringen, obwohl ich eigentlich mies gelaunt bin :)! Ich danke Euch für 111 Kommentare :)! Ich bin der glücklichste Mensch der Welt^^! Viel Spaß und Schmacht^^! Liebste Grüße, BlueMoon _____________________________________________________________________ An diesem Abend deckten sie nicht den Esstisch in der Zivi-Küche. Während Sascha seine improvisierte Reispfanne auf zwei große Teller halbierte und eine Packung Pfirsicheistee organisierte, rannte David ein letztes Mal in den Tierbetrieb, um das Licht überall auszuschalten. Anschließend verzogen sie sich gemeinsam mit ihrem Abendessen in Davids Zimmer und setzten sich dort aufs Bett. Die Decke drückten sie an die Wand, um sich anlehnen zu können. Das Fenster hatte David wegen des Regens, der dumpf gegen die Glasscheibe trommelte, und aus Rücksicht auf Dings’ Panikattacken geschlossen, sodass der, bei jedem Gewitterkrachen, nur beinahe vom Bett fiel. Während sie ihre Reisteller verputzten, fragte Sascha David über seine Familie aus und der erzählte. Von seinen Eltern, die man immer noch dabei erwischen konnte, wie sie Zungenküsse austauschten, von Julian, einem staatlich anerkannten Irren, von Felix, der gerade seine Karriere als Hip-Hopper startete, und von Marisa, die wusste, dass... Na ja, das sollte er ihm vielleicht nicht unbedingt auf die Nase binden... „Ich beneide dich so...,“ stöhnte Sascha sehnsuchtsvoll zwischen zwei Donnerschlägen, bei denen er sich japsend hinter Davids Rücken versteckte, „Ich wünschte, ich hätte drei Geschwister.“ David fiel auf, wie wenig er eigentlich von Mr. Geheimnisvoll wusste. Er kannte ihn eigentlich kaum und er nahm sich fest vor, das in Zukunft zu ändern. „Einzelkind?“, wollte er daher interessiert wissen, gabelte sich seinen letzten Rest Reispfanne in den Mund und sah ihn aufmerksam an. „Natürlich...,“ brummte Dings und runzelte die Stirn, „Ich war ein Unfall und meine Eltern hassen sich. Wie hätte ich da noch Geschwister haben können...?“ „Sie hassen sich? Aber...wie bist du dann entstanden?“, fragte David vorsichtig und zog leicht die Augenbrauen hoch. „Te...,“ machte Mr. Einzelkind und kratzte mit der Gabel Muster zwischen die letzten verstreuten Reiskörner, „Das war ganz einfach. Meine Mutter war die Chefin meines Vaters und er sah gut aus. Also begannen sie eine kleine Affäre. Es gibt Leute, die wissen, dass man bei so was schwanger werden kann. Meine Mutter wusste es offensichtlich nicht. Als sie es erfuhr, gab es ein großes Trara und Streit und Abtreibungsüberlegungen, bis sie auf die Idee kam, dass so eine Schwangerschaft ihrem Image bestimmt super stehen würde. Und tatsächlich: Karrierefrau und Mutter, das ist die Frau der Zukunft und wie schön sah sie mit diesem Bauch aus...,“ er schnaubte voller Verachtung, „Sie behielt mich also und feuerte meinen Vater, weil er sie ja trotz Allem unerlaubt geschwängert hatte. Und dann kam ich und machte von Anfang an nur Ärger. Ich wette, sie bereut ihre Entscheidung jeden Tag...,“ „Red keinen Unsinn!“, unterbrach David ihn erschrocken und starrte ihn böse an, „Sowas darfst du nicht sagen. Sie liebt dich, schließlich ist sie deine Mam.“ Sascha erwiderte seinen Blick und lächelte matt. „Es ist unheimlich lieb von dir, dass du das sagst, aber glaub mir... Ich weiß es besser...,“ Er verstummte und David spürte einen harten Kloß in seiner Kehle. Dings ungewohnte Traurigkeit, die durch sein Zimmer rieselte, machte ihn klamm und unbeweglich. Plötzlich fühlte er sich schuldig. Schuldig, weil er überhaupt gefragt hatte und schuldig, weil er selbst in einer Familie leben durfte, in der man sich gegenseitig liebte und für einander da war. Er hatte sich nie wirklich vor Augen geführt, was er doch für ein Glück hatte. „Tut mir Leid, dass ich–,“ setzte er kleinlaut an, doch Sascha schnitt ihm das Wort ab. „Nein!“, sagte er laut und stellte seinen leeren Teller hastig zur Seite, um einen Arm um Davids Schultern zu legen, „Dir muss doch nichts Leid tun. Das ist okay für mich, wirklich. Ich kann damit leben. Es ist nicht mehr schlimm, okay?“ David sah ihm in das lächelnde Gesicht. „Okay...,“ murmelte er, doch er wusste, dass Sascha log. Das Gewitter wählte eben diesen Augenblick, um draußen eine Blitzfontäne zu spucken und eine Donnerbombe zu zünden. Wie auf Kommando verschwand das Lächeln von Saschas Gesicht, er fuhr keuchend zusammen und warf sich ohne Rücksicht auf Verluste – in diesem Fall der leere Teller auf Davids Schoß – in Davids Arme. „Ich verstehe das nicht...,“ wimmerte er gegen Davids Schulter, nachdem das Klirren verklungen war, „Wie lange will das Gewitter denn noch über uns schweben? Es sollte längst weg sein...,“ „Vermutlich hat es Spaß daran, dich zu ärgern...,“ antwortete David matt und tätschelte Dings halbherzig den Rücken. Mit Gedankenkraft versuchte er seinen Herzschlag, der sich prompt wieder vervierfacht hatte, zu beruhigen und in ein gesünderes Tempo zurück zu zwingen. Wenn das so weiter ging, würde er eher heute als morgen an einem Herzinfarkt krepieren. „Ich glaube...,“ sagte er ernst und schob Sascha entschieden von sich fort, „Es wird Zeit für deine Dosis Drogen.“ „Oh ja, bitte!“, richtete der sich sofort auf und strahlte begeistert, „Ich habe da richtig Lust drauf. Und...,“ fügte er verschmitzt zwinkernd hinzu, „...es gibt niemanden auf der Welt, mit dem ich lieber einen Joint rauchen würde...,“ „Noch ein Wort und ich rauche ihn alleine...,“ grollte David aus Prinzip. Mr. Ich-Würde-Mit-Niemandem-Lieber-Einen-Joint-Rauchen antwortete mit einem ausgelassenem Lachen und Davids Magen drehte unwillkürlich eine Pirouette. Mühsam verkniff er sich ein Lächeln, erhob sich vom Bett und ging zu seinem selbsternannten Drogentresor hinüber, um seine 0, 3 Gramm White Widow zu bergen. „Hast du hier irgendwo’n Feuerzeug und nen Aschenbecher?“, fragte Dings und erhob sich ebenfalls. „Ein Feuerzeug müsste auf dem Tisch liegen,“ antwortete David und ließ sich gemeinsam mit dem leicht zerdrückten Joint wieder auf sein Bett fallen, „Und als Aschenbecher nehmen wir einfach einen der Teller.“ „Alles klar...,“ Sascha hob etwas vom Tisch auf und ging zur Tür, um das Deckenlicht auszuschalten, sodass jetzt nur noch die Straßenlaternen draußen das Zimmer erhellten. Anschließend warf er sich neben David aufs Bett und stellte seinen leeren Teller zwischen sie. „Der erste Zug gebührt dir...,“ flüsterte er und reichte David das Feuerzeug. „Danke...,“ erwiderte David und nahm es entgegen. Seine Finger berührten die von Dings und er atmete tief ein. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die überraschende Finsternis, die einen plötzlichen und verheißungsvollen Zauber über die ganze Situation legte. Er ließ das Feuerzeug schnipsen. Eine kleine Flamme beleuchtete Dings’ Gesicht und spiegelte sich flackernd in seinen Augen. „Was...?“, hauchte er. „Wenn du das Licht nur ausgemacht hast, um mich ungesehen befummeln zu können...,“ knurrte David drohend. Sascha blinzelte verdutzt, dann schmunzelte er verwegen. „Würde ich nie wagen...,“ wisperte er grinsend, „Ich dachte nur, ohne Licht wirkt das Ambiente authentischer...,“ „Pfff...,“ machte David spöttisch. Draußen donnerte es. Sascha keuchte auf und packte Davids Schulter. „Können wir bitte anfangen?“ wimmerte er mit unnatürlich hoher Stimme, sobald man sein eigenes Wort wieder verstehen konnte. David schnaubte leise. Doch er schob sich den Joint zwischen die Lippen und entzündete ihn. Es knisterte leise, als er das erste Mal daran zog, und der Rauch heiß und kratzend seine Lunge füllte. Er seufzte tief, unterdrückte ein Husten und atmete den Qualm aus, der als hellgrauer Schwaden der schwarzen Decke entgegen stieg. David sah ihm nach, wie er sich in ästhetischen Wirbeln um sich selbst drehte und allmählich verschwand. „Alter...,“ hauchte er heiser und reichte den glühenden Joint an Mr. Ich-Würde-Nie-Wagen-David-Unerlaubt-Zu-Befummeln weiter, „Ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlt...,“ Sascha gluckste, streckte seine Hand nach dem Tütchen aus und erneut berührten sich sekundenlang ihre Finger. Kleine elektrische Ladungen schossen durch Davids Hand, seinen Arm hoch. „Lange her?“, fragte Sascha gedämpft. „Ewigkeiten...,“ antwortete David und beobachtete Sascha, wie er genüsslich am Joint zog. „Bei mir auch...,“ erwiderte Dings heiser und blies den Rauch aus, „Woher hast du das Zeug eigentlich?“ „Von Julian...,“ sagte David leise und blickte dem Qualm lahm nach, „Hat es mir aus Holland mitgebracht...,“ „Ich liebe ihn...,“ wisperte Sascha. Sie kicherten rau. „Das wirst du nicht mehr sagen, wenn du ihn erst kennen gelernt hast...,“ flüsterte David und nahm den Joint entgegen, den Mr. Ich-Liebe-Julian ihm langsam reichte. Einen Moment schwieg der verblüfft. „Werde ich das denn?“, fragte er leise, während David am Joint zog. David drehte den Kopf, erwiderte seinen Blick und ließ den Rauch aus seinem Mundwinkel fahren. „Vielleicht...,“ hauchte er dann und sein Herz begann wieder schneller zu klopfen. Er spürte bereits, wie das Gras zu wirken begann. Sein Körper wurde schwer, seine Stimme heiser, seine Gedanken erlahmten. Mit einer trägen Bewegung reichte er Sascha den Joint. Der nahm ihn an, doch seine fast schwarz wirkenden Augen musterten David nur unverwandt. „David...?“, hauchte er dann und der runzelte misstrauisch die Stirn, „Darf ich dich vielleicht jetzt–,“ „Nein, Mann!“, unterbrach David ihn ärgerlich und nahm ihm das Tütchen wieder weg, „Darfst du nicht!“ „Du bist so grausam...,“ jammerte Dings und tröstete sich mit einem Schluck Pfirsicheistee. David überhörte ihn und zog zur Beruhigung ein zweites Mal am Joint. Der knisterte leise. Davids Finger, die das Tütchen hielten, fühlten sich leicht taub an. Sein Kopf war schwer und seine Kehle brannte etwas. Seine Muskeln schienen unter seiner Haut zu prickeln und eine sonderbare Schwere drückte auf seine Augenlider. Er bekam große Lust, zu seinem Cello hinüber zu wanken und zu spielen, bis die Sonne aufging. Doch das war unmöglich. Die Erdanziehungskraft war zu mächtig geworden. Auch Davids Sinne schärften sich. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie warm Saschas Körper neben ihm war und wie intensiv seine Nähe. Er nahm Saschas Geruch war, so stark und berauschend, als hätte er seinen Geruchssinn nie zuvor wirklich benutzt. Sein Herz trommelte in seiner Brust. „Scheiße...,“ wisperte er, gab Sascha nun doch den Joint und versank noch weiter in der Bettdecke, die ihnen als Rückenlehne diente. Seine Augenlider hingen auf Halbmast. Sein Blick waberte zu Dings hinüber. In der Finsternis glühte der Stängel des Joints orangerot auf. David atmete den würzigen Geruch ein. Sascha seufzte. „Recht hast du...,“ hauchte er und atmete dabei den Rauch aus. Ein Blitz zuckte über den rabenschwarzen Himmel und es donnerte zur Abwechslung mal. Aber Mr. Ich-Kann-Nicht-Aufhören-David-Küssen-Zu-Wollen gluckste lediglich leise, zog ein weiteres Mal an dem Tütchen und gab ihn dann zu David zurück. „Keine Angst mehr...?“, nuschelte der, nachdem er den Glimmstängel mit einigen Schwierigkeiten richtig anvisiert und zielsicher gegriffen hatte. „Nö...,“ antwortete Sascha gedämpft und richtete seine benebelten Augen träge auf David, „Jetzt wo ich high bin...,“ Sie giggelten heiser. Dings legte den Kopf schief und betrachtete David schweigend. David rauchte wortlos, aschte ab und reichte das Tütchen weiter. Inzwischen lag er mehr, als dass er saß. „Wieso...schaust du mich so an...?“, wisperte er. Dings lächelte sanft und zog am Filter. „Ich...habe grad nur wieder gedacht, wie wahnsinnig gerne ich dich jetzt küssen würde...,“ David schnaubte leise. Sein Körper war inzwischen zu schwer, zu träge, zu high, um sich zu bewegen oder gar wütend zu werden. „Fang nicht schon wieder damit an...,“ nuschelte er nur. „Bitte...,“ flüsterte Sascha durch die Dunkelheit, „Nur fünf Minuten...,“ „Nein...,“ brummte David. Draußen trommelte der Regen gegen die Fensterscheibe und es blitzte und krachte erneut. Sekundenlang wurde jedes Detail des Zimmers erhellt. „Eine Minute?“ „Nein, Mann...,“ „Drei Sekunden...!“ „Du spinnst doch...,“ zischte David und hob mit unendlicher Kraftanstrengung eine Hand, um sich über die Stirn zu fahren und einige Locken fortzustreichen. Sascha lachte leise. „Vielleicht...,“ er zog am Joint und blies den Rauch hellgrau in die Schwärze des Raumes, „Bitte... Nur ein Mal...,“ Kraftlos drehte David den Kopf, um ihn anzusehen. Er ahnte dumpf, dass er in klarem Zustand bereits auf Hundertachtzig wäre. „Gib mir den Joint...,“ Dings tat wie geheißen. Dann richtete er sich langsam wieder auf und rückte näher zu David, sodass sein Gesicht nun blass über dem Seinen schwebte. „Ich werde meine Finger auch bei mir behalten, versprochen...,“ wisperte er, „Bitte... David...,“ „Tsss...,“ machte der Angesprochene und zog am Joint. Als das Tütchen aufflammte, erglommen Dings halb geschlossene Augen dunkel in seiner bleichen, unbewegten Miene. „Darf ich...?“, raunte Sascha. David sah ihn an. Zum Starren war er nicht mehr fähig. Himmel, fühlte er sich matschig. Seine Gedanken waren wie gefesselt, sein Körper wie gelähmt. Nur sein Herz, sein Herz schlug in seiner Brust. Hektisch und lebendig. „Aber nur...,“ hauchte David. Der Rest des Satzes verlor sich zwischen Donnerkrachen und Zigarettenrauch. Sein Puls raste und sein Magen drehte sich um. Sascha lächelte im Blitzlicht des Gewitters. „Okay...,“ Er nahm David den glühenden Joint aus den steifen Fingern. Er zog daran, atmete den Rauch zur Seite aus und leckte sich kurz über den Mund. Dann beugte er sich über ihn. „David...,“ Davids Augen kippten zu. Sein Herz versuchte einen komplizierten Salto. Es würde jetzt passieren... Das, was er sich die letzten Stunden ständig vorgestellt hatte... Es würde tatsächlich... Und schon spürte er die fremden und zugleich vertrauten Lippen auf seinen. Feucht und rauchig und so weich, wie er es sich niemals hätte erträumen können. In seinem Magen explodierte etwas. Ein Zittern rieselte über seine Haut. Unwillkürlich seufzte er auf. Der Kuss dauerte exakt drei Sekunden. Dann hob Sascha seinen Kopf wieder und ihre Lippen wurden getrennt. David atmete aus und öffnete träge die Augen. Sein Blut rauschte fiebrig, trotz dem Gras, das es betäubte. „Noch mal...?“, raunte Dings. „Mh...?“ Sascha verzog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln. Er rauchte, blies den Qualm zu schweigenden Decke hinauf. Es blitzte und donnerte. Langsam führte Dings den Joint zu Davids Mund. Kühl und bitter legten sich Saschas Finger auf seine Lippen. Davids Haut brannte. Sein Inneres krampfte sich zu einem erneuten Seufzen zusammen. Er zog am Joint. Sein verschleierter Blick auf Mr. Ich-Weiß-Genau-Was-Ich-Tue gerichtet. Sein Gesicht war so nahe, so unheimlich nahe... Was tat er hier nur...? Was, wenn das ein Fehler war...? David pustete den Rauch fort, in Saschas Gesicht. Der lächelte nur, zog seinerseits am Joint und atmete die blassen Rauchschwaden aus. „David...,“ hauchte er und küsste ihn erneut. Seine Lippen schmeckten nach Qualm und nach Pfirsich. So bitter, so beißend, so süß. So furchtbar süß. David konnte sich nicht wehren. Sein Hirn kreiste nutzlos irgendwo zwischen Traum und Nirwana. Sein Körper schlief beinahe. Sein Inneres bog sich zwischen Entsetzen, Hitze und Sehnsucht. Sein Puls raste zügellos und er öffnete seine Lippen, um Dings vorsichtiges Tasten endlich zu erwidern. Sein Magen schien sich zu verdrehen, vor seinem inneren Auge tanzten Sterne, sein ganzer Körper kribbelte, als er sich darauf einließ und sich gestattete, es zu spüren. Gott, er hatte fast vergessen, wie wundervoll sich dies anfühlen konnte. Besser als alles Andere auf der Welt. Doch noch nie in seinem Leben hatte er einen Kuss als so intensiv, so vollkommen empfunden. Er hatte es ja geahnt. Sascha konnte küssen. Und wie... Der zarte Kuss dauerte an. Den linken Arm hatte Sascha in die Bettdecke neben Davids Kopf gestützt, die andere hielt den fast aufgerauchten Joint, der lautlos und unbekümmert in die Nacht des Zimmers dampfte, zur Seite weg. Und er hielt sein Versprechen. Die Minuten verstrichen und draußen begann das Gewitter dem Zentrum allmählich den Rücken zu kehren. Der Herbststurm beruhigte sich. Der Regen beruhigte sich. David und Sascha beruhigten sich nicht. Saschas Zunge strich schließlich heiß und feucht über Davids Lippen, öffnete sie weiter und bat um Einlass. Und David gewährte sie ihm. Er seufzte zittrig. „Sascha...,“ hauchte er heiser. Mr. Meine-Küsse-Rauben-David-Den-Atem seufzte auf und öffnete für einen Moment die ebenfalls geschlossenen Augen. Auf seinem Gesicht breitete sich das wärmste, glücklichste Lächeln aus, das David je an ihm gesehen hatte. So rasch, wie man sich unter dem Einfluss von Rauschmitteln bewegen konnte, richtete Sascha sich auf, drückte den kleinen Rest des Joints auf dem leeren Reisteller aus und stellte ihn auf den Boden. Dann beugte er sich sofort wieder über David. „Was...?“, nuschelte der matt, als Dings wieder über ihm auftauchte. „Schhhh...,“ machte der nur als Antwort, berührte einen Moment sanft seine Wange und verschloss Davids Lippen zum dritten Mal. Sofort fanden sich ihre Zungen und sie schmiegten sich aneinander, als hätten sie ihr ganzes Leben nur auf diese eine Nacht gewartet. Sie küssten sich zärtlich und behutsam, als hätten sie Angst, dass es jeden Augenblick vorbei sein könnte, aber gleichzeitig so leidenschaftlich, als wollten sie jede Sekunde nutzen. David stand in Flammen. Er brannte lichterloh. Sein Körper war so schwer, seine Sinne so benebelt, er konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Aber dies fühlte sich so gut an. Er wollte nicht, dass es aufhörte, er wollte es spüren. Die erloschenen Gewitterblitze zuckten nun durch seine Venen und Hitze verzehrte sein Inneres und steuerte unabwendbar auf seine Körpermitte zu. Und noch immer machte Sascha keine Anstalten, ihn zu berühren. Noch immer war die einzige Berührung die ihrer Lippen und David war ihm unendlich dankbar dafür. Denn allein Saschas Beherrschung hielt ihn davon ab, seine eigenen Arme um Saschas Körper zu schlingen und ihn näher an sich zu ziehen, um sein unbändiges Verlangen nach ihm zu stillen. Später wusste David nicht mehr, wie lange sie hier im Dunkeln auf seinem Bett gelegen und sich einfach nur geküsst hatten. Vielleicht waren es nur ein paar Minuten gewesen. Vielleicht drei Stunden. Vielleicht waren aber auch mehrere Jahre vergangen und wenn David die Augen geöffnet hätte, dann hätten sie beide lange, weiße Bärte getragen. Doch irgendwann – bevor es soweit kommen konnte – löste Sascha schließlich den Kuss und ließ sich neben David auf die Matratzen sinken. Gemeinsam atmeten sie schwer und warteten darauf, dass sich das Feuer in ihnen so weit gelegt hatte, dass sie sich an ihre Namen erinnern konnten. Davids Lippen glühten, schmerzten fast und sein Unterkiefer pochte. Er war so unheimlich müde. So erschöpft von der Wirkung des Joints und von seinem rasenden Herzschlag. Mit Mühe schaffte er es, die Augen einen Spalt weit zu öffnen und den Kopf millimeterweit zu drehen, sodass er Mr. Ich-Küsse-Wie-Ein-Gott ansehen konnte. Der hatte ihm sein Gesicht ebenfalls zugewandt und seine Augen halb geöffnet. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, das braune Haar fiel ihm in die Stirn und sein rötlich schimmernder Mund war leicht geöffnet. Als David seinen Blick erwiderte, verzogen sich seine himmlischen Lippen zu einem sanften Lächeln. „Ich möchte niemals wieder einen Anderen küssen...,“ wisperte er rau. Davids Augen klappten zu. „Ich...auch nicht...,“ hauchte er zurück. Dann schliefen sie beide ein. Kapitel 19: Göttlich -------------------- Hallo Ihr Lieben :-)! Es hat lange gedauert, aber hier ist es jetzt: Kapitel 19 :-). Es ist nicht besonders spektakulär, aber ich hoffe, Ihr mögt es trotzdem ein bisschen^^. Wann das nächste Kapitel kommt, kann ich Euch leider nicht sagen, weil ich im Moment wirklich ne Menge zu tun habe *schluchz*. Aber ich werde mein Bestes geben :-). Heute fällt mir keine Kapitelwidmung ein, also lass ich es^^. Fühlt Euch alle gegrüßt :-). Einen schönen Mittwoch und viel Spaß beim Lesen! BlueMoon :-) _____________________________________________________________________ Piep Piep, Piep Piep Der Wecker begann sein grässliches Geschrei an diesem Dienstag schon um halb sieben. Unerbittlich und grausam zerrte der nervenzerfetzende Lärm David aus den Untiefen des warmen – wirklich wunderbar warmen! – Schlafs und holte ihn in die kalte, finstere Realität. Piep Piep, Piep Piep „Scheiße...,“ krächzte Davids Zunge in sein Kopfkissen, während sein müdes Hirn sich langsam und gähnend hochfuhr. Er streckte einen Arm aus und tastete nach dem Wecker auf dem Fußboden, um ihn zum Schweigen zu bringen. Piep Piep, Piep Piep Er fasste mitten in ein Häufchen Dreck auf einer harten, kalten und klebrigen Scheibe. Piep Piep, Piep Piep „Urgh...!“, machte er angeekelt, riss seine Hand aus ihrer widerwärtigen Lage und wischte sie am Laken ab. Er zwang sich den Kopf zu heben und die erschöpften Augen zu öffnen. Piep Piep, Piep Piep Er blinzelte durch die matte, neblige Dunkelheit im Zimmer. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. „Igitt!“, stieß David beim Anblick des Aschenbechertellers heiser hervor. Piep Piep, Piep Piep Er ächzte und rutschte nach vorn, um nach dem Höllengerät greifen zu können. Doch bevor er ihn erreicht hatte, hielt er mitten in der Bewegung inne. Die Bettdecke bedeckte ihn kaum. Seine Beine lagen frei auf der Matratze. David starrte auf seine Füße. Piep Piep, Piep Piep Er hatte in Jeans geschlafen? Und wieso, ZUM TEUFEL, trug er denn noch seine Schuhe? Piep Piep, Piep Piep Da vernahm er eine Stimme neben sich. Leicht hysterisch und rau vor Müdigkeit: „Kannst du bitte, bitte endlich den Wecker ausmachen?!“ Piep Piep, Piep Piep David fuhr herum und erstarrte zu Stein. Sascha lag hinter ihm. Auf der Seite. Seine Haare waren verstrubbelt und seine Hände hatte er mit gequälter Miene auf seine Ohren gepresst. Piep Piep, Piep Piep „Was machst du denn hier?!“, keuchte David voller Entsetzen, bevor sein Hirn die Chance hatte richtig nachzudenken. Piep Piep, Piep Piep „Der Wecker, David, bitte!“, ächzte Dings zurück. Piep Piep, Piep Piep David sperrte den Mund auf. Piep Piep, Piep Piep Dann überlegte er es sich anders und warf sich herum, dem Wecker entgegen. Er zielte und schlug zu. Piep Pie– Stille trat ein. Sascha stöhnte auf vor Erleichterung. „Endl–,“ „Was machst du hier?“, fauchte David erneut und entfernte sich hastig eine Zentimeter von dem anderen Körper in SEINEM Bett. Mit einem Schlag wurde ihm klar, warum genau er trotz der mangelnden Bettdecke in der Nacht nicht gefroren hatte. „Ich würde hier noch schlafen, wenn dein dummer Wecker nicht geklingelt hätte...,“ antwortete Mr. Schlafmütze-Langschläfer-Morgenmuffel matt und schloss seine Augen wieder. Er schmiegte seinen Kopf ungerührt in das Kissen, das er in der letzten Nacht offensichtlich mit David geteilt hatte. „Du würdest...?“, stotterte David mit offenem Mund, „Wie? Hier? Schlafen? Was...?“ Es war, als würde sein Gehirn sehr schnell zurück spulen: Küssen. Kiffen. Reispfanne. Stille Nacht, heilige Nacht. Gewitter. Oh, Gott. Einen Moment, bitte. Wie war das gerade gewesen? Küssen? Oh, Gott. Küssen. Küssen. Küssen. Küssen. Küssen. Küssen. Küssen. Küssen. Küssen. Küssen. Oh, Gott. „Oh, Gott...,” sprach David dumpf seine Gedanken aus und sein Herz sprang in drei Sekunden von Null auf Hundert. Er hatte Sascha geküsst. Nein, er hatte mit Sascha geknutscht. Die halbe Nacht lang. Ohne Unterbrechung. Und er hatte mit ihm in einem Bett geschlafen. Unter einer Decke. Auf einem Kissen. Er war neben ihm aufgewacht. Okay, komplett bekleidet – wortwörtlich von Kopf bis Fuß –, aber trotzdem... Oh, Gott. Er hatte Sascha geküsst. Richtig und freiwillig. Mit Zunge und Herzklopfen und allem drum und dran. Und – jetzt kam das Schärfste – er bereute es nicht! Nicht mal ein bisschen. Gar nicht. Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Es war schön gewesen und David erinnerte sich so klar an alles, als hätte sein Hirn jedes Detail, jede Sekunde, jeden Herzschlag genau protokolliert. Das war der Vorteil und zugleich der Nachtteil an Gras gegenüber Alkohol. Wenn man gekifft hatte, konnte man sich nicht selbst erzählen, man könne sich an nichts mehr erinnern. Doch David wollte sich ja erinnern. Und er erinnerte sich. An Saschas Duft, an seine Zärtlichkeit, seine fehlenden Berührungen, die David mehr berührt hatten als jede stürmische Umarmung. Er erinnerte sich an seine eigenen Empfindungen. An die Wärme, die ihn durchflutet hatte, an sein Verlangen, an sein...Glücksgefühl. Oh, Gott. Während David noch mit offenem Mund in die Untiefen der Erinnerungen blickte und sich dann langsam selbst die Stirn fühlte, um zu überprüfen, ob er vielleicht Fieber hatte, robbte Mr. Ich-Bin-Selbstverständlich-Kein-Stück-Irritiert zufrieden lächelnd wieder näher an ihn ran und schlang ihm einen Arm und die Taille „Na, mein Liebling...?“, säuselte er, „Ist es dir wieder eingefallen?“ „So kann man das sagen...,“ murmelte David und sah dumpf auf Saschas verschlafene, aber strahlende Miene hinab. „Oh, Gott...,“ wiederholte er bei diesem Anblick tonlos. „Das sagtest du schon...,“ schnurrte Dings schläfrig und schmiegte seinen Kopf an Davids Bauch, „Und jetzt leg dich wieder zu mir und lass uns ein bisschen kuscheln...,“ Ähm, was? Kuscheln? David starrte ihn an. Plötzlich wurde ihm sehr heiß. Es war Dienstag. Halb sieben Uhr morgens. Er hatte Nachtschicht. Sascha lag in seinem Bett und wenn einer der Anderen ihn hier entdecken würde... Davids Augenbraue zuckte. „Bist du bescheuert?“, zischte er schneidend und schüttelte Saschas Arm unwirsch ab, „Ich habe Nachtschicht, falls es dir entfallen ist!“ „Na, und...?“, schmollte Dings und sah ihm dabei zu, wie er hastig aufstand und auf dem Weg zum Fenster in den zweiten Teller trat. „Nix, na und!“, raunzte David, riss das Fenster auf und hielt sein erhitztes Gesicht in die kalte, klare Luft, die sogleich herein wehte, „Ich muss arbeiten und du,“ fauchte er und drehte sich wieder zu Sascha um, „Raus aus meinem Bett! Sofort! Wenn dich hier einer findet!“ Mr. Komm-Kuscheln starrte ihn mit großen Augen an. „Wie, raus? Wer soll mich hier finden? Es ist mitten in der Nacht...,“ David schnaubte laut. „Es ist halb sieben Uhr morgens!“ „Sagte ich doch...!“, zeterte Sascha und betrachtete ihn vorwurfsvoll, „Ich geh nicht raus. Erst wenn du gekommen bist und mir einen Guten-Morgen-Kuss gegeben hast.“ David funkelte ihn böse an. „Also gut...,“ sagte er dann betont liebenswürdig, schritt zum Lichtschalter hinüber und knipste die Deckenlampe an (Mr. Ich-Will-Einen-Guten-Morgen-Kuss wimmerte und versteckte sein Gesicht unter der Bettdecke), „Dann eben so!“ David marschierte auf das Bett zu, packte Saschas linkes Bein und zog. „Waaaaahhhhh!“, heulte Dings, während David ihn unbarmherzig und unter einigen Anstrengungen zum Bettrand schleifte, „Daviiid! Was soll denn da– Au!“ Mit einem Plumps landete Mr. Waaahhh mitsamt Bettdecke auf dem Fußboden. David rieb sich die Hände und baute sich mit grimmigem Blick über ihm auf. „Raus aus meinem Bett!“, knurrte er bedrohlich, „Raus aus meinem Zimmer!“ Sascha zog einen Moment lang eine beleidigte Schnute. Dann breitete sich wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Du siehst wundervoll aus von unten!“, trällerte er, „Das ist mir noch nie aufgefa–,“ „Ich warne dich!“, presste David zwischen seinen Zähnen hindurch hervor. „Wovor?“, fragte Dings scheinheilig. „Ich schleife dich bis in dein Zimmer!“ „Ich finde es bewundernswert, wie aktiv du schon so früh am Morgen bist.“ David starrte ihn an. Ganz ruhig..., sagte er zu seinem kochenden Blut, während Dings ihn munter anstrahlte, Ganz ruhig... Lass dich nicht provozieren. Alles ist okay... „Okay...,“ sagte David langsam und deutlich und mit seiner angeborenen, kompetenten Autorität, „Ich werde jetzt duschen gehen und wenn ich zurück komme, will ich, dass du in deinem eigenen Bett liegst.“ „Aber da ist es kalt...,“ empörte sich Dings. Da war sie hin, seine Autorität. „Mir egal!“, brauste David auf und ballte die Fäuste. „Du bist grausam!“, jammerte Mr. In-Meinem-Bett-Ist-Es-Kalt. „Ist mir auch egal!“, schnappte David, „Du hast zehn Minuten!“ Dann drehte er sich auf dem Absatz um, rauschte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Haha, ein sauberer Abgang, in der Tat. Im Badezimmer angekommen, schloss David die Tür hinter sich und knipste das Licht an. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust zu duschen. Wieso auch? Er würde eh gleich arbeiten müssen, da machte das gar keinen Sinn. Außerdem...könnte er die Zeit auch anders nutzen... Er könnte zum Beispiel wieder in sein Zimmer gehen und überprüfen, ob Sascha seiner Aufforderung schon gefolgt war. Er sah in den Spiegel und David Spandau erwiderte seinen Blick. Seine blonden Locken waren wirr und verknotet, seine Augen funkelten sonderbar. Seine Lippen schimmerten auffällig rot, schienen von innen heraus zu leuchten und hatten sich zu einem strahlenden Lächeln verzogen. Verdutzt starrte David sein Spiegelbild an. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er gelächelt hatte. Langsam hob er eine Hand und betastete behutsam seinen Mund. Er war heiß und schwelgte noch immer in Erinnerungen. An Erinnerungen an den vergangenen Abend. „Verräter!“, zischte David seinem Mund zu. Der grinste nur fröhlich. Kurz nach sieben betrat David den Tierbetrieb und machte sich an die Arbeit. Er schloss die beiden Eisentore auf dem Gelände auf, sah überall nach dem Rechten und schaltete dort das Licht an, wo es durch Marks Zeitschaltuhr noch nicht von selbst angegangen war. Anschließend begab er sich in die Futterküche, trug sich als Erster ins Tagesprotokoll ein und begann mit dem Säuberungsmarathon. Während seine Hände schwarze Wannen ausschrubbten, Igel wogen und neues Futter anmischten, war sein Mund ununterbrochen zu einem Lächeln verzogen und seine Gedanken drehten sich nur um eine Sache. Natürlich hatte er sich gefragt, ob die Nacht auch ohne Joint so verlaufen wäre. Hätte er sich von Sascha küssen lassen, wenn er klar im Kopf gewesen wäre? Und wenn ja, auch auf die Art? Hätte er Sascha hinterher aus dem Zimmer geschmissen und es bereut? Und... War das alles überhaupt wichtig? Es war zu spät. Was passiert war, war passiert. Joint hin, klar im Kopf her. Sie hatten sich geküsst und...der Gedanke gefiel David immer besser. Wieder und wieder schwammen die Einzelheiten der vergangenen Nacht an seinem inneren Auge vorbei. Die Luft in der Futterküche schien Saschas Duft anzunehmen und den Igelmuff zu verdrängen. Tief inhalierte David die Illusion, hörte wieder Saschas leise, sanfte Worte, spürte seine Lippen... „Hallo? David? Träumst du?“ David zuckte zusammen und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Seine Chefin stand vor ihm und musterte ihn, halb missbilligend, halb belustigt. Oh, Gott. Hastig stand David auf, wischte sich die Locken aus den Augen und spürte, wie er rot anlief. Er hatte gar nicht bemerkt, dass es schon kurz vor halb neun war. „Entschuldige, Bettina...,“ sagte er eilig und ziemlich verlegen, „Ich war in Gedanken.“ „Das habe ich bemerkt,“ schmunzelte Bettina nachsichtig und sah sich in der Futterküche um, „Wie weit bist du?“ „Ich bin...äh...,“ er blickte sich ebenfalls um und bemerkte milde verdutzt, dass er schon an der letzten Box arbeitete, „...fast fertig... Nur noch dieser Igel und dann wollte ich noch kurz durchfegen.“ „Sehr schön!“, erwiderte Bettina und lächelte ihm anerkennend zu, „Sind gestern Abend noch irgendwelche Tiere gekommen?“ „Nee, war alles ruhig.“ „Gut, dann geh ich rüber und schicke dir Hilfe.“ „Okay.“ Sie schenkte ihm ein letztes Lächeln, dann verließ sie die Futterküche wieder. Wenige Minuten später – David fegte gerade die Strohreste in einer Ecke zusammen – öffnete sich die Tür der Futterküche erneut, Stimmengewirr schwappte herein. Zu seiner Verlegenheit beschleunigte sich schlagartig sein Herzschlag und voller Aufregung starrte er zur Tür. Nacheinander betraten seine Kollegen die Futterküche und begrüßten ihn mehr oder weniger enthusiastisch. Erst Freddy, Sebastian und Eric, dann Miriam und Ben. Beruhige dich!, befahl David sich selbst und kämpfte gegen die aufkommende Enttäuschung an, Der kommt doch eh nicht. Der ist in sein Zimmer gegangen und wieder eingeschlafen. Der kommt frühestens in zwanzig Minuten. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, öffnete sich die Tür ein letztes Mal und Linda drängte sich in die Futterküche, dicht gefolgt von...Mr. Scheiße-Seh-Ich-Gut-Aus. Davids Herz verschluckte sich unwillkürlich an seinem eigenen Herzschlag und er griff den Besenstiel etwas fester, um nicht vor Überraschung und Freude das Gleichgewicht zu verlieren. Er war wirklich hier und er strahlte ihn an, mit der ganzen Kraft eines Atomkraftwerks. Oh, Gott. „Guten Morgen, David!“, begrüßte Linda ihn lächelnd und stellte sich an der Tagesprotokoll-Eintrags-Schlange an. „Morgen...!“, sagte David zum dritten Mal und klang mit einem Mal etwas heiser. „Du siehst so erstaunt aus...,“ grinste Dings und stellte sich hinter sie, „Hättest wohl nicht erwartet mich zu sehen, was?“ David grinste zurück und fuhr fort, den Boden zu fegen. „Ich bin’s halt nicht gewohnt, dass du auch pünktlich kommen kannst...,“ Sascha schnaubte pikiert. Die Anderen lachten. „Ich glaube, das hat uns heute alle überrascht...,“ meldete sich Freddy rau zu Wort und schmunzelte schief. „Jaah, sorry...,“ antwortete Dings und errötete tatsächlich etwas, „Ich schwöre Besserung. Vielleicht sollte ich meinen Wecker ab jetzt immer um halb sieben klingeln lassen...,“ „Halb sieben? Wieso hat er heute so früh geklingelt?“, fragte Miriam und setzte ihren Namen unter den von Eric. David erstarrte in seiner Arbeit und warf Mr. Wessen-Wecker-War-Das-Doch-Gleich? einen scharfen Blick zu. Oh, Gott. Bitte nicht. „Muss ihn falsch gestellt haben...,“ erwiderte Dings munter und lachte, „Irgendwie war ich gestern Abend etwas...benebelt...,“ Erleichterung strömte durch Davids Adern und als Sascha ihm grinsend zu zwinkerte, zwinkerte er tatsächlich zurück. Eine Stunde später befand David sich allein im Futtermittellagerraum – in dem sämtliche Trockenfuttersäcke auf Regalen aufbewahrt worden – und suchte nach den dreißig Katzenfutterdosen, die letzten Freitag geliefert worden waren. Die Tür zum Gang hatte er offen gelassen, da man in diesem engen Kämmerchen sonst Gefahr lief Platzangst zu kriegen. Fluchend wühlte er zwischen den unterschiedlichen Futterrealien und fand das Katzenfutter endlich hinter den riesigen und schweren Taubenfuttersäcken. Er fragte sich gerade säuerlich, welcher hirnrissige Vollpfosten die Dosen ausgerechnet dahinter verstaut hatte, als eine Gestalt um die offene Tür herum geschlichen kam, zu David in den Raum huschte und die Tür anschließend hinter sich zuschlug. „Was zum–,“ begann David erschrocken, als sich jähe Finsternis in dem winzigen Zimmer ausbreitete und er hörte, wie jemand von innen abschloss. „Ich komme dich zu holen...,“ knurrte eine verstellte Stimme, die David auf der Stelle erkannte und seinen Magen zum Wirbeln brachte. „Sehr witzig, du Trottel!“, fauchte er über sein erwachtes Herzrasen hinweg, „Mach gefälligst das Licht an!“ Er hörte den bekannten Unbekannten kichern und einen Augenblick später flackerte die uralte Funzel an der Decke auf und erhellte den Futtermittellagerraum mit ihrem spärlichen Licht. Grimmig musterte David seinen Besucher, der ihn ganz gegen seine Gewohnheit breit anstrahlte. „Hi...!“, sagte Sascha schlicht. „Hi...,“ echote David brummig, „Was, zur Hölle, willst du hier?“ „Na, was wohl?“, fragte Dings zurück und warf seine Arme ungefragt um Davids Hals, „Ich hole mir meinen Guten-Morgen-Kuss ab. Was dachtest du denn?“ David blinzelte, während sein Blut schlagartig zu schäumen begann und glühende Hitze in seine Wangen schoss. „Du... Wie...? Was...? Nein!“, stieß er hervor und stemmte seine Hände abwehrend gegen Saschas Brust, „Doch nicht hier im Tierbetrieb, du Idiot! Wenn hier jemand rein kommt!“ „Hier kann keiner reinkommen...,“ schnurrte Mr. Ich-Komm-Mir-Meinen-Kuss-Abholen sanft und kam näher, „Ich habe doch die Tür abgeschlossen...,“ David schluckte. Er nahm Saschas berauschenden Duft war und aus den Tiefen seines Gedächtnisses stiegen die Erinnerungen der letzten Nacht hervor. Oh, Gott. „A...Aber Freddy...,“ stammelte er planlos, „E... Er wartet in der Futterküche auf mich...,“ „Keine Sorge...,“ wisperte Dings, schmunzelte sanft und kam noch ein bisschen näher, „Er ist grad mit Eric und Sebastian eine rauchen gegangen... Das kann dauern...,“ Sascha war ihm jetzt so nah, dass David auch in dem schwachen Licht jede einzelne seiner Wimpern und die goldenen Funken in seinen braunen Augen erkennen konnte. Ihm stockte der Atem und seine Knie wurden weich wie Gelatine. Seine Gedanken erlahmten, seine Lider senkten sich. Alles in ihm sehnte sich danach, sich einfach hinzugeben und es wieder zu fühlen, diese Hitze, dieses Schweben... Oh, Gott. „Aber was...wenn jemand...hier was brauch...?“, hauchte David gegen Dings’ Mund, der inzwischen nur noch wenige Millimeter von ihm entfernt war. Ihm war schwindelig. „Keiner brauch hier was...,“ flüsterte Mr. Ich-Habe-An-Alles-Gedacht und sein warmer Atem streifte kribbelnd über Davids Lippen , „Und jetzt...halt einfach den Mund...,“ Und dann küsste er ihn. Eine einzige Sekunde lang verlangte Davids Temperament, dass Sascha auf der Stelle mit einem Tritt zum Mond befördert werden musste. Eine einzige Sekunde lang. Dann überschwemmten wilde Gefühle jede andere Empfindung und bevor er wusste, was er tat, schlang David seine Arme um Saschas Taille und erwiderte den Kuss ungestüm. Oh, Gott. Die Welt erstarrte in ihrer namenlosen Nichtigkeit. David spürte, wie Sascha in seinen Armen erzitterte und überrascht von seiner Leidenschaft in den Kuss hinein keuchte. Dann zog er David mit einem Ruck nah an sich und teilte seine Lippen gierig mit der Zunge. Oh, Gott. Das wilde Beben zuckte nun durch Davids Köper. Sein Denken setzte aus, sein Atem setzte aus, sein Herz setzte aus. Haltsuchend krallten sich seine Finger in Saschas Pullover, als seine Beine nachzugeben drohten. Oh, Gott. David spürte Saschas Körper so intensiv wie nie zuvor, während er sich selbst in einen Feuerball verwandelte. Er spürte den fremden, hämmernden Herzschlag an seiner Brust, die brennende Hitze der fremden Haut unter den Händen, die Atemlosigkeit des fremden Atems im Gesicht. Fast verlor er die Besinnung. Hatte das Gras vielleicht die Intensität gedämpft? Oder die Müdigkeit? Oder doch die fehlende Berührung? Egal. Doch dies fühlte sich definitiv noch viel besser an als in der letzten Nacht. Und es war besser, soviel besser, als alles Andere, was er jemals getan hatte. Viel zu gut, um jemals wieder etwas Anderes zu tun. Oh, Gott. Nein, doch nicht. Dies war nicht gut, nicht besser. Es war einfach nur... Göttlich. Kapitel 20: Kompliziert ----------------------- Guten Morgen :-)! Ja, tatsächlich, hier ist das neue Kapitel^^. Diesmal hat es wirklich sehr lange gedauert und ich danke Euch für Eure Geduld. Aber es hat mich diesmal wirklich Nerven gekostet... Es ist leider nicht so witzig und romantisch geworden, eher nachdenklich und...kompliziert^^, aber das muss ja auch mal sein^^. Ich hoffe, Ihr mögt es trotzdem :-). Kapitelwidmung: Mal wieder an meine liebste Paperflower und meinen wundervollen Bruder, ohne deren Unterstützung ich mir vermutlich immer noch über diesem einen Absatz die Haare raufen würde :-). Ich danke Euch so sehr für 131 Kommentare und 69 Favoriteneinträge :-D! Und da es noch nicht ganz zu spät ist: FROHE WEIHNACHTEN EUCH ALLEN :-)! Liebe Grüße, BlueMoon ____________________________________________________________________ David konnte nicht schlafen. Nachdem seine Schicht um zwölf Uhr beendet gewesen war und die Anderen ihre Mittagspause begonnen hatten, hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen und sich ins Bett gelegt, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Aber es ging nicht. Er konnte einfach nicht einschlafen. Dabei gab er sich solche Mühe. Er atmete ruhig und tief, er trank heiße Milch mit Honig – wovon ihm ganz schlecht wurde –, er erniedrigte sich sogar so weit, dass er es mit Schäfchenzählen probierte. Doch es nützte alles nichts. Er war viel zu geladen, viel zu aufgekratzt, um zu schlafen. Sein Körper konnte sich nicht beruhigen und einfach still liegen bleiben. Er wollte viel lieber auf und ab hüpfen und kreischen und Räder quer durchs Zimmer schlagen. Die Erinnerungen ließen ihn einfach nicht los. Er und Sascha im Futtermittellagerraum. Er und Sascha eng umschlungen. Er und Sascha knutschend. Er und Sascha. Jedes Mal, wenn er soweit in seinen Gedanken kam – und das kam er ungefähr alle zehn Sekunden – fuhr ein Stromstoß durch seine Venen und er warf sich fluchend im Bett herum. Nach einer halben Stunde, in der David sich ununterbrochen von einer Seite auf die andere gedreht, mit den Zähnen geknirscht und so intensiv an die Wand gestarrt hatte, dass er in einem Comic sicher Löcher hinein gebrannt hätte, hatte er endlich genug. Schimpfend schlug er die Bettdecke zurück, stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen und mal hier, mal da gegen seine unschuldigen Möbel zu boxen. Was sollte er jetzt nur tun? Jetzt, da er und Dings sich zweimal in Folge richtig und freiwillig geküsst hatten. Jetzt, da er erkannt hatte, dass ihm das gefiel und er eigentlich nicht einsah, je wieder damit aufzuhören. Jetzt, da er einen Pfad eingeschlagen hatte, der unabwendbar und zwingend auf ein bestimmtes Ziel zu hielt. Was sollte er tun? Jetzt, da er auf dem besten Weg war, sich in Sascha zu verlieben. Sollte er diesen Weg bis zum Ende gehen oder umkehren, solange er noch konnte? David wusste es nicht. Es war, als ob sich sein Ich in zwei Hälften geteilt hätte. Die eine Hälfte, die noch immer mit den schmerzvollen Erinnerungen an Sven beschäftigt war, rang die Hände und redete flehend auf ihn ein: Tu es nicht, David! Es wird wieder genauso enden, wie beim letzten Mal. Es wird dir wieder genauso wehtun. Erinnere dich! Er wird dir das Herz brechen. Genauso wie Sven. Du willst das nicht noch mal, oder? Du willst nicht noch mal so verletzt werden. Also... Tu es nicht! Doch da war auch noch der andere Teil seines Ichs. Der Teil, der sich Sascha ausgesucht hatte, der voller Optimismus in die Zukunft schaute und nicht aufhören wollte zu hoffen. Tu es, David!, beschwor ihn dieser Teil, Es ist alles völlig anders als beim letzten Mal. Er ist völlig anders. Du wirst glücklich sein. Ich weiß es. Versteck dich nicht länger. Es wird Zeit, endlich die Augen zu öffnen und glücklich zu sein. Es wird Zeit, das Leben wieder zu spüren. Also... Tu es! Was, zur Hölle, sollte er nur machen? David biss die Zähne zusammen und tat dann das, was er immer tat, wenn seine Gedanken Kopf standen und er nicht weiter wusste: Er griff nach seinem Cello. Vorsichtig hob er das Instrument aus dem Koffer und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Er atmete ein, schloss die Augen und begann zu spielen. Zarte Töne erfüllten sein Zimmer. Sein Zimmer, in dem er die letzte Nacht mit Mr. Ich-Bringe-David-Noch-Ins-Grab verbracht hatte. Sein Zimmer, das er in einer Nacht- und Nebelaktion mit Miriam gestrichen hatte. Sein Zimmer, das er nur bezogen hatte, weil ein gewisser Mistkerl ihn aus seinem ersten ausquartiert hatte. Dies schien ihm nun schon so lange her zu sein. Mindestens fünf Jahre. Dabei war es noch nicht mal drei Wochen her. Und nun...? Er und Sascha im Futtermittellagerraum. Er und Sascha eng umschlungen. Er und Sascha knutschend. Er und Sascha. Ein neuerlicher Energiestoß ließ sein Gesicht zucken und unwillkürlich beschleunigten sich die Bewegungen des Cellobogens in seiner Hand. Seine Finger huschten wie in Ekstase über die Saiten am Hals des Instruments und sein Körper wiegte sich zitternd in der Musik, die direkt aus seiner Seele zu kommen schien. Was sollte er tun? Sollte er es wagen oder nicht? Sollte er es riskieren oder lieber auf Nummer sicher gehen? Was, wenn Sascha ihn ebenfalls benutzen und dann wegwerfen würde? Was, wenn er ihm erneut das Herz brechen würde? Was würde dann geschehen? Würde er es ein zweites Mal verkraften können? Vielleicht ja, aber was, wenn nicht? Er hatte Angst. Angst vor dem Schmerz. Sascha hatte ihm schon einmal weh getan. Woher konnte er wissen, dass es nicht wieder passierte? Er hatte seine Freundin Yvonne betrogen. Woher konnte er wissen, dass er es nicht wieder tat? Aber... Wollte er wirklich den Rest seines Lebens weglaufen? War er nicht viel zu jung, um aufzugeben, nur weil er einmal Pech gehabt hatte? Erwartete er nicht viel mehr vom Leben als das? Er war nicht der einzige Mensch auf der Welt, der schon mal mit Liebeskummer zu kämpfen gehabt hatte. Im Gegenteil. Herrje, wie sollte er diesen nur Abend überleben? Auf der einen Seite konnte er sich nichts Schöneres vorstellen, als gemeinsam mit Sascha zu essen, zu reden, zu lachen und ihn eventuell...wieder ein bisschen zu küssen. Auf der anderen Seite jedoch...jagten ihm diese Vorstellungen Schreckensschauer über den Rücken. Ununterbrochen wies ihn der pessimistische Teil seiner Seele darauf hin, was zwangsläufig passieren würde, wenn er sich erneut auf Saschas Gesellschaft einließ, während der andere Teil sich vor Vorfreude eben darauf beinahe zerfledderte. David bemerkte kaum, was er tat und wie rasch er seine Finger und den Bogen bewegte. Sein Herz sprudelte über vor Empfindungen und sein Cello setzte sie frei. Längst spielte er nichts mehr nach Maßstäben oder ihm bekannten Noten. Dies war kein Stück von Bach oder Vivaldi. Dies war sein Stück. Sein eigenes und es formte sich aus ihm selbst. Aus ihm und seinen Gefühlen, die seit je her in ihm wüteten und sich nicht wegsperren ließen. Auch jetzt nicht. Gerade jetzt nicht. Denn er fühlte voller Intensität und er wollte fühlen. Und zwar alles, was er gleichzeitig fürchtete. Er wollte fühlen, wie sein Herz wild zu pochen begann, sobald Sascha ihm nah kam. Er wollte fühlen, wie sein Magen sich umdrehte, wenn er ihn sah. Er wollte sogar fühlen, wie sein Blut vor Zorn zu brodeln begann, wenn Sascha ihn ärgerte. Doch er hatte Angst. Davids Ohren klingelten. Sein Spiel wurde immer wilder und unkontrollierter, schneller und schriller. Es steigerte sich immer weiter, verzweifelt um Erlösung flehend. Doch sie kam nicht. Denn David hatte keine Lösung. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sein Spiel brach ab. So jäh, als hätte jemand unvermittelt eine Stereoanlage abgestellt. Die unerwartete Stille dröhnte ohrenbetäubend im Zimmer wieder. Ohne die Augen zu öffnen, atmete David schwer ein und aus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Finger seiner linken Hand und sein rechter Arm vor Anstrengung schmerzten. Dann hörte er plötzlich ein Räuspern. Er fuhr zusammen und riss die Augen auf. Sebastian, Ben, Eric und – wie könnte es anders sein? – Sascha standen in der Tür und musterten ihn mit großen Augen. David starrte sie an. Er schluckte. „Was...ist denn...?“, fragte er zögernd und die Verlegenheit kroch ihm heiß die Beine hoch. Mit aller Macht versuchte er Mr. Bei-Meinem-Anblick-Kriegt-David-Sonst-Einen-Herzkoller nicht anzusehen. „Ist...alles in Ordnung?“, erkundigte Eric sich vorsichtig, „Das klang so...verstört...,“ „Ver...? Oh, nein, nein!“, antwortete David mit brennenden Eingeweiden und stand hastig auf, „Ich...war nur in Gedanken...,“ Er versuchte sich an einem ungezwungenen Lachen, was allerdings eher zu einem Hyänengegacker verkam. Er spürte, wie er von Kopf bis Fuß errötete und wandte sich eilig ab, um das Cello in seinem Koffer zu verstauen. „In Gedanken?“, krähte Ben und grinste, „Wir dachten, du hättest einen Anfall!“ „Ach, was...!“, erwiderte David laut und bemüht lässig und drehte sich wieder zu seinen drei Kollegen und seinem persönlichen Anfall um, „Es geht mir gut, Leute. Habe nur geübt. Kein Problem...,“ Er verstummte und verspürte den unbändigen Drang, sich aus dem Fenster zu stürzen. „Dann ist ja gut...,“ erwiderte Sebastian und ruckte an seinem Cap, „Aber mach das nicht noch mal. Das ist zu viel für mein schwaches Herz.“ Schnaubend und witzelnd verließen er, Eric und Ben das Zimmer und polterten die Treppe hinab. Nur Mr. Scheiße-Was-Will-Ich-Noch-Hier? blieb. Er wartete, bis seine drei Kollegen außer Hörweite waren, dann schloss er leise die Tür und schaute David an. Sein Blick war ernst und sanft und zog Davids Augen an wie ein Magnet. David schluckte und sein Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen. Ein Teil von ihm wollte zurück weichen. Der andere wollte das Gegenteil. „I...Ist noch was?“, fragte David und rieb sich die Oberarme, als würde er frieren. „Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte Dings leise. David starrte ihn an. „Ja, sicher!“, stieß er dann hervor und zwang sich zu einem Lächeln, „Ich...habe wirklich nur...nachgedacht...,“ Mr. Ich-Ahne-Mehr-Als-Ich-Sage nickte langsam. David flehte zum Himmel, er möge endlich gehen, bevor sich seine Persönlichkeit noch an Ort und Stelle spaltete. Aber diesen Gefallen tat Sascha ihm nicht. Zum Glück. Stattdessen kam er langsam auf ihn zu und David blieb stocksteif stehen. Sein Magen schwirrte. Schrecklich schön. „Du weißt, dass du mir mit über alles reden kannst, oder?“, flüsterte Dings, als er direkt vor ihm stand und ihn durchdringend musterte. David schluckte erneut und sein Herz schwoll an, auf die Größe eines Heißluftballons. „Ja...,“ wisperte er zurück, „Das weiß ich...,“ Sascha lächelte, beugte sich etwas vor und legte seine warme Stirn gegen die Davids. David schloss die Augen und seufzte leise. Jede Zelle seines Körpers begann zu kribbeln und sein Atem bebte. Gleichzeitig spürte er, wie sich alles in ihm entspannte. Seine widersprüchlichen Gefühle und Gedanken entkrampften sich und lösten sich auf. Eine wundervolle Wärme strömte durch seine Adern und befreite ihn von dem Wenn und Aber, das ihn nicht hatte zur Ruhe kommen lassen. Alles in ihm genoss den Moment. Mehrere Minuten verharrten sie schweigend in dieser Position, nur verbunden durch die Berührung ihrer Köpfe und diesem eigentümlichen Band der Wärme. Schließlich zog sich Mr.Man-Sollte-Mich-In-Flaschen-Füllen-Und-Als-Beruhigungsmittel-Verkaufen zurück und lächelte schief. „Besser?“, fragte er leise. „Viel...,“ antwortete David und lächelte verlegen. Dings schmunzelte und in seinen Augen stand eine solche Zärtlichkeit, dass Davids Knie weich wurden. Sven...hatte ihn niemals so angesehen. „Wir sehen uns später...,“ sagte Sascha sanft, „Ja...?“ David konnte nicht antworten. Also nickte er nur und betrachtete sein Gegenüber wie hypnotisiert. Sascha lächelte und schien einen Moment zu zögern, dann drehte er sich um und durchquerte das Zimmer. Mit einem letzten Blick und einem angedeuteten Luftkuss öffnete er die Tür und ging hindurch. Anschließend zog er sie wieder hinter sich zu und ließ David allein, versonnen auf die schlammigen Fußabdrücke starrend, die Saschas schmutzbeschmierte Gummistiefel auf dem Fußboden hinterlassen hatten. Sonderbar. Gerade war sein Kopf noch voll mit Gedanken gewesen. Jetzt war er so gähnend leer und still wie...wie...ach, keine Ahnung. Halt wie irgendwas, was normalerweise nicht leer und still war. Ein verlassener Kindergarten vielleicht oder ein Rummelplatz bei Nacht. Ein gedämpftes Piepen, das ihm vage bekannt vorkam, weckte David aus seiner Trance. Er zuckte zusammen, wirbelte herum und stürzte sich mit einem verwirrten Hechtsprung auf sein Bett. Hektisch durchwühlte er die Decke, auf der Suche nach dem Urheber dieses abscheulichen Getöses und mit der sonderbaren Gewissheit, ihn hier irgendwo finden zu können. Er fluchte und zog sein klingelndes Handy schließlich unter seinem Kopfkissen hervor. Er starrte es an und versuchte sich zu erinnern, wie man so etwas benutzte. Die Nummer auf dem blinkenden Display erkannte er irgendwoher. Er drückte auf einen der unzähligen Knöpfe und hielt sich das Gerät ans Ohr. „Hallo?“, fragte er hinein. „Hier ist Marisa!“, ertönte eine ihm wohlbekannte Kinderstimme, quietschend vor Freude, „Ich habe eine Eins in Mathe geschrieben!“ David blinzelte. Wer? Was? Mathe? Hä? Reiß dich zusammen, du Vollidiot!, fuhr er sich selbst an und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, Das ist deine Schwester! UND JETZT SAG WAS HALBWEGS INTELLIGENTES! „Wow!“, zwang er sich zu rufen und verbannte jeden Gedanken an Mr. Wir-Sehen-Uns-Später in die Untiefen seines Gehirns, „Das ist ja...toll!“ Er wusste genau, dass er längst nicht so euphorisch klang, wie er klingen wollte. Natürlich merkte Marisa das ebenfalls. „Du freust dich gar nicht richtig...,“ zeterte sie. „Doch!“, beharrte David laut und gab sich diesmal mehr Mühe, „Das ist wirklich toll, Schwesterherz. Ich freue mich sehr für dich!“ Er versuchte fröhlich zu lachen, aber irgendwie gelang es ihm immer noch nicht so richtig. Marisa schwieg einen Augenblick lang. „Was ist denn?“, erkundigte sie sich besorgt, „Ist was mit Sascha?“ David musste ein bisschen husten, bis er seine Stimme wieder fand, die sich eilig in seinem Kehlkopf verkrochen hatte. Grundgütiger, das war doch nicht normal! Abgesehen davon, dass es ihn jedes Mal wieder erschreckte, wenn er diesen Namen aus dem Mund seiner kleinen Schwester hörte, war dieses Mädchen noch ein Kind. Sie sollte keine Gedanken lesen können und daher ihrem zehn – zehn! – Jahre älteren Bruder gewiss nicht solche Fragen stellen. „Nein!“, log David gequält, „Der hat damit...überhaupt nichts zu tun...,“ Marisa seufzte tief, als ob sie eine sehr schwere Last zu tragen hätte. „Ich glaub dir nicht...,“ erklärte sie ihm, „Ich weiß genau, dass es was mit ihm zu tun hat.“ „Oh Gott...,“ stöhnte David. „Also, was ist passiert? Habt ihr euch gestritten?“ David raufte sich so energisch die Haare, dass ihm beinahe das Handy aus der Hand glitt. „Marisa...,“ jammerte er gedehnt. „Habt ihr?“ „Nein!“ „Wo liegt dann das Problem?“ David funkelte zum Fenster hinüber, dass ihm nun wieder als verlockende Lösung vorkam. Es war unglaublich. Hier saß er in seinem Bett, verzweifelt und mit Sturmfrisur, mitten im nervenaufreibendsten Dilemma des Jahrhunderts, und war im Begriff ausgerechnet seiner kleinen Schwester sein Herzleid zu klagen, die noch in die Grundschule ging. Absolut geisteskrank. „Marisa...,“ wiederholte er beschwörend, „Du... Du verstehst das nicht. Das ist sehr...kompliziert...,“ „Warum?“, quiekte seine Schwester, „Du magst ihn doch, oder? Und wenn ihr euch nicht gestritten habt, dann ist doch alles in Ordnung.“ Sprachlos starrte David auf eine Staubfluse, die sich langsam an der Fußleiste entlang hangelte. Wie bitte...? „Also...,“ piepste Marisa, „Wo liegt das Problem?“ David räusperte sich einmal. „Marisa? Wie alt bist du noch mal?“ „Im April werde ich zehn!“, erklärte seine kleine Schwester stolz. „Ach ja...,“ Fünf Minuten musste David sich noch quälen, dann gab es in Braunschweig zum Glück Mittagessen und Marisa musste auflegen. Nachdem er sich von ihr verabschiedet und seine restliche Familie gegrüßt hatte, schob David sein Handy zurück unter sein Kopfkissen und drehte sich auf den Rücken. Nachdenklich starrte er zur sonnengelben Decke hinauf. Seine Schwester war ein kleines Mädchen. Sie hatte (hoffentlich...!) noch keine Ahnung von den Komplikationen der Liebe, weder im Hetero- noch im Homobereich. Außerdem kannte sie – genau wie alle anderen Mitglieder seiner Familie – die Geschichte mit Sven nicht. Sie konnte sein Problem also gar nicht verstehen, selbst wenn er ihr alles haarklein erzählen würde. Daher war ihre Antwort auch so kindisch und...und... Doch was, wenn sie in ihrer kindlichen Unbedarftheit Recht hatte? Was, wenn er sich ein Problem schuf, wo keines war? Schließlich hatten er und Sascha sich tatsächlich nicht gestritten. Im Gegenteil. Vor zehn Minuten hatten sie sich dort bei den schmutzigen Fußabdrücken noch angesehen und er hatte Saschas glatte, warme Stirn an seiner gefühlt und... Ja, er mochte ihn. Das wusste inzwischen auch sein unaufmerksamstes Möbelstück. Wo also lag das Problem? Denn, wenn er die ganze Sache mal aus der unkomplizierten Sicht eines Kindes sah, dann gab es nur eine Sache, die er wirklich wollte: Er wollte mit Dings zusammen sein. Das war alles. Mehr wollte er nicht. Sven hin, Angst her. Wozu dann das ganze Drama? Wozu noch diese Quälerei, wenn sich sein Herz längst entschieden hatte? Wozu noch warten? Er musste endlich aufhören Sven und Sascha über einen Kamm zu scheren. Er musste endlich aufhören, in der Vergangenheit zu leben und an sich selbst und seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Er musste wieder vorwärts laufen. Vorsichtig vielleicht, aber dennoch... Wenn er es recht bedachte, dann hatte er Sven viel zu verdanken. Sven hatte ihm beigebracht, auf sich zu achten und nicht alles zu glauben, was er hörte. Er hatte ihn misstrauischer und stärker gemacht. Nun würde er im Stande sein, eine Enttäuschung zu verkraften, ohne im Selbstmitleid zu versinken. Nun würde er sich wehren können. Doch was nützte ihm Misstrauen, wenn es ihm nur im Wege stand? Und konnte sich seine Stärke nicht erst dann wirklich beweisen, wenn er bereit war, ein Risiko einzugehen? David schluckte, drehte langsam den Kopf und betrachtete die braunen Muster auf seinem Parkett, die inzwischen getrocknet waren und still vor sich hin bröselten. Sein Entschluss stand fest: Dieser Abend sollte ihm die Wahrheit zeigen. Dieser Abend sollte ihm den Unterschied klar machen. Er musste vorsichtig und aufmerksam sein. Er musste auf sich Acht geben. Doch er wollte nicht länger im Schatten seiner Angst stehen. Keinen Tag länger. Im Notfall würde er sich ja immer noch aus dem Fenster stürzen können. Oder Sascha umbringen. Je nach dem. Kapitel 21: Schlaflos --------------------- Hey Ihr Lieben :-)! Jaaah, hier kommt das neue Kapitel ;-). Ihr musstet diesmal wirklich sehr lange warten und das tut mir schrecklich Leid. Es ist dafür auch etwas länger geworden und sogar mir gefällt es diesmal^^. Ich hoffe, Euch geht es genauso :-). Ich stecke im Moment mitten im Klausurenstress (deshalb auch die heftige Zeitverzögerung...) und muss außerdem eine Hausarbeit und eine Referatsausarbeitung schreiben. Also... Wenn alles klappt...komme ich vielleicht Mitte März wieder zum regelmäßigen Schreiben. Sorry :-/... Kapitelwidmung: Für ALLE, die sich auch nach mehr als einem Monat über ein neues Kapitel freuen :-). Danke für alles und viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, BlueMoon _____________________________________________________________________ Um zehn nach sieben stand David unschlüssig auf dem Hof unter der gelb beblätterten Eiche und starrte die Betreten verboten-Tür an. Ein leichter Nieselregen legte sich kalt und feucht auf seine Wangen und Augenlider. Sein Atem kondensierte weiß in der bissigen Luft. Er war nervös. Zwar hielt er seinen Plan, an diesem Abend zu testen, ob Sascha wirklich ehrlich zu ihm war, noch immer für brillant, doch... Wie genau fand man so etwas heraus? Wie machten die Frauen das? Wieso hatte er nicht Linda oder Miriam danach gefragt? Sollte er einfach auf Sascha zu gehen und fragen: Hey, Sascha. Wie ernst meinst du es eigentlich mit mir? Ähhhm, nein. Eher nicht. Das waren Sätze aus veralteten Fernsehschnulzen und Seifenopern. Sowas konnte er unmöglich fragen. Aber was dann? Sollte er ihm den ganzen Abend die kalte Schulter zeigen und schauen, ob er das Interesse verlor, wenn David sich nicht küssen ließ? Kleine Zwischenfrage: Würde er selbst das überhaupt durchhalten? Mit diesen stumpfsinnigen Rätseln beschäftigte sich David schon den ganzen Abend ergebnislos. Das war auch der Grund, weshalb er heute so lange dazu gebraucht hatte, bis die Futterküche und die Quarantäne nachtfertig waren. Dabei hatte er wirklich nicht besonders viel zu tun gehabt. Nur drei der inzwischen knapp neun Igelwannen waren so arg eingesaut gewesen, dass sie eine Rundumerneuerung nötig gehabt hatten. Die Quarantäne war gähnend leer, da während des Tages alle achtunddreißig Tauben nach der erfolgreichen Milbenbehandlung in die Nord gebracht worden waren. Und eine Schüssel Katzenfutter für die Igel anzumischen war eigentlich eine Angelegenheit von zehn Minuten – und das auch nur, wenn man Linda hieß und besonders viel Liebe in das Anrühren eines stinkenden, braunen Breis steckte. Normalerweise hätte David damit keine Stunde zugebracht. Normalerweise. Doch normalerweise prüfte er auch nicht die Gefühlswelt von Kollegen. Also hatte er sich Zeit genommen, die Begegnung mit Sascha hinaus gezögert und alles gaaanz langsam gemacht, damit er möglichst viel Zeit hatte, sich hirnrissige Fragen zu stellen, die sich immerzu im Kreis drehten und auf die er sowieso keine Antwort fand. Super. Das war doch wirklich bescheuert. Er benahm sich wie ein Feigling. Er sollte einfach reingehen und...und... Ja, und was? Er wusste es ja immer noch nicht... Verdammt. Doch so konnte das nicht weitergehen. Er konnte ja nicht ewig hier in der Kälte bleiben und sich von einem ekelhaften Oktoberregen berieseln lassen. David atmete ein letztes Mal tief durch, dann setzte er sich in Bewegung und schloss die Tür zum Zivi-Bereich auf. Dies war der Augenblick, in dem David eins seiner vertrautesten Organe als gemeinen Verräter enttarnte: Noch bevor er die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, war sein Magen absolut bereit, jeden Plan fallen zu lassen, nur um diese himmlische Speise kosten zu dürfen, die den ganzen Flur mit ihrem herrlichen Duft erfüllte. Du bist erbärmlich!, herrschte Davids Großhirn seinen Magen an, Immer denkst du nur ans Essen, du Vielfraß! Was immer Mr. Ich-Versuche-David-Mit-Einem-Festessen-Von-Seinem-Plan-Abzulenken-Und-Es-Klappt da zauberte, es war eine Gefahr für Davids Seelenheil. Offenbar kannte Dings dieses eine Sprichwort auch. Dieses da mit dem Magen und dem anderen Gefühl, das David in diesem Zusammenhang jetzt nicht beim Namen nennen wollte. Er überlegte gerade, ob er sich vorsichtshalber wieder in den Regen stellen sollte, bevor ihm sein Magen einen Strich durch die Rechnung machte, als der eben dies tat. Er knurrte. So laut, dass David sich gezwungen sah, eine Verzweiflungstat zu begehen. „Ha...Hallo...!“, rief er und spürte ein verzweifeltes Verlangen nach einem gewissen Fenster. Das fing ja gut an. Schön, wenn man sich so auf seinen Körper verlassen konnte. Sascha stand am Herd und rührte in einer Pfanne, die eindeutig der Ursprung dieses diabolischen Wohlgeruchs war. Auf den beiden hinteren Herdplatten standen noch ein großer und ein kleiner Topf. Als Dings Davids Stimme hörte, blickte er auf und sah David an. Mhm. Wie war das gerade noch mit Rausgehen gewesen? Pustekuchen. Unmöglich. David spürte es, als hätte Mr. Wir-Spielen-Cowboy-Und-Indianer ein Lasso nach ihm geworfen und würde ihn jetzt Stück für Stück zu sich ziehen. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Wie konnte ein einzelner Mensch beim Kochen nur so hinreißend aussehen? Wie konnte ein einzelner Mensch nur so strahlend lächeln als wäre er der Sonnengott persönlich? Wann hatte David sich noch mal entschlossen auf ihn zu zugehen? Wie war der Plan noch gleich? „Hey...,“ begrüßte Sascha ihn sanft, sobald David irgendwie neben ihn an den Herd gelangt war, „Du kommst gerade richtig zum Essen.“ David erwiderte seinen Blick und schluckte. Krampfhaft versuchte er sich daran zu erinnern, was genau er eigentlich hatte herausfinden wollen. „Ähm...,“ sagte er geistlos und spürte Saschas Körperwärme ungeheuer intensiv neben sich. Oh nein, nein, nein! Wo ist das Fenster?!, heulte sein Großhirn, Was machst du denn, du Holzkopf?! Benimm dich gefälligst nicht so dämlich! Denk an den Plan! DEN PLAN! Aber... Welchen Plan denn...? „Ähm...,“ echote David und senkte seine Augen hastig auf die Pfanne. In einer hellen, duftenden Soße brutzelte knuspriges Fleisch. David lief das Wasser im Munde zusammen. Vor Hunger konnte er kaum denken. Nur eines: „Was... Was kochst du denn da?“ Oh, Gott! Fenster! FENSTER! „Ahhh...,“ machte Mr. Du-Kommst-Gerade-Richtig-Zum-Essen munter und legte den hölzernen Kochlöffel zur Seite, „Ich wollte dich aufheitern und war daher extra noch mal einkaufen, um Parmaschinken, Salbei und Weißwein zu besorgen,“ er rieb sich stolz die Hände, „Heute habe ich sämtliche Register meines kulinarischen Könnens gezogen und dir ein Drei-Gänge-Menü zubereitet.“ David konnte nicht verhindern, dass sein Magen und sein Herz bei diesen Worten hüpften. „Ach ja?“, erwiderte er argwöhnisch, um dies zu verbergen, und wandte sich eilig wieder Saschas Köstlichkeit zu, „Das ist doch nur einfaches Schnitzel, oder?“ Er blickte auf und in Dings’ schwer empörtes Gesicht. Davids Mundwinkel zuckten bei diesem Anblick. „`Einfaches Schnitzel?´“, wiederholte Mr. Ich-Habe-Sämtliche-Register-Meines-Kulinarischen-Könnens-Gezogen mit so falscher, entsetzter Stimme, dass David amüsiert kicherte, „Du Ungläubiger!“ Sascha formte mit dem Zeigefinger und Daumen der rechten Hand einen Kreis, drehte den Handrücken nach unten und wedelte mit dieser Figur energisch aus dem Handgelenk vor Davids Nase herum. „Dasse isse keine Schnietzl!“, sagte er vorwurfsvoll und mit den blitzenden Augen eines Starkochs, „Dasse isse Saltimbocca à la Romana!“ David lachte auf und diese herrliche Empfindung erfüllte ihn von Kopf bis Fuß mit Zuversicht. Mann, wie gut sich das anfühlte. Es schien ihm Jahre her zu sein, dass er das letzte Mal ehrlich gelacht hatte. „Du spinnst doch!“, gluckste er, erwiderte grinsend Dings’ Blick und stutzte. In Saschas Gesicht leuchtete eine solche Freude und Zuneigung auf, dass David unwillkürlich konzentrierter atmen musste. „Was...ist?“, fragte er verlegen. Mr. Ich-Kann-Ein-Perfektes-Italienisches-R-Rollen schmunzelte sanft und schlug einen Moment die Augen nieder. „Ach, nichts... Ich...bin nur so erleichtert, dass du wieder lachst. Ich...hasse es, dich traurig zu sehen...,“ David schluckte. Er blickte in Dings’ lächelndes Gesicht und öffnete den Mund, doch kein Wort kam ihm über die Lippen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Absolut nicht. Keines seiner Körperteile machte einen Vorschlag – noch nicht einmal sein pflichtbewusstes Großhirn. Auch das war erstarrt. So blieb David nur eines über: Er sagte gar nichts. Er lächelte nur und sein Inneres füllte sich mit Wärme. Und bevor er wusste, wie ihm geschah, war das Wort da. Das einzige Wort, das es wert war, in diesem Moment ausgesprochen zu werden: „Danke...,“ Mr. Sonnenschein strahlte ihn an. „Gern geschehen...,“ Drei Stunden später hatte jede Körperzelle von David den Plan vollständig vergessen. „Was soll das heißen, sie stürzte sich auf dich?“ „Na, eben das halt! Sie kam auf mich zu gesaust und wollte mich mit ihren Krallen aufspießen! Das kannst du dir gar nicht vorstellen! Es war grauenhaft!“ „Was redest du da?! Das war eine Taube, nicht der Vogel Greif!“ „Aber sie war garantiert mit dem verwandt!“ „Du hast se doch nicht mehr alle!“ „Hey, dieses Vieh wollte mich umbringen! Hab Mitleid!“ „Es war eine TAUBE!“ Es war kurz nach halb elf und sie saßen sich auf Davids Bett gegenüber und lachten so sehr, dass sich die Nachtischschälchen in ihren Händen gefährlich schüttelten. Um sie herum standen und lagen die Überbleibsel ihres Festmahls: Zwei leere Töpfe (in dem großen klebte eine vergessene Tagliatelle, in dem kleineren ein Rest Tomatensuppe), die ausgekratzte Saltimbocca-Pfanne, zwei benutzte tiefe Teller, zwei benutzte flache Teller, eine halbe Flasche Wasser und eine geöffnete Flasche Apfelsaft, zwei Gläser, zweimal Messer, Gabel, Löffel, zwei zerknüllte Servietten und eine halbgeleerte Schüssel Quarkspeise mit Kirschen und Schokostreuseln. „Aber...,“ brachte Sascha mit Mühe durch seinen Lachanfall hindurch, „Aber...hast du denn nicht Die Vögel von Hitchcock gesehen?“ „Nee...,“ lachte David, schon ganz heiser, „Kommen da auch Tauben vor?“ „Weiß ich nicht mehr...,“ schluchzte Sascha und wischte sich über die tränenfeuchten Wangen, „Aber es sind gemeingefährliche Möwen dabei...,“ Er schniefte und fächelte sich Luft zu. „Oh, Scheiße...,“ krächzte er und stellte seine fast leere Dessertschale auf dem Boden ab, „Gib mir mal bitte meine Serviette, ich muss meine Tränen trocknen...,“ Noch immer kichernd schob David sich den letzten Löffel Quarkspeise in den Mund, angelte nach Dings’ Serviette und warf sie ihm in den Schoß. „Danke...,“ näselte Mr. Ich-Weine-Beim-Lachen und rieb sich die geröteten Augen trocken, „Boah, das war zuviel...,“ „Was redest du auch für Unsinn über Killertauben!“, rief David und prustete in seine leere Nachtischschale. „Das war die Wahrheit!“, heulte Sascha, fiel lachend hinten über und beinahe vom Bett. Die nächsten Minuten konnte keiner vor ihnen mehr sprechen. Seit über zweieinhalb Stunden saßen sie nun hier oben, in Davids Zimmer, auf seinem Bett. Sie aßen und redeten und lachten und lachten und redeten und lachten und redeten und redeten. Über die Arbeit natürlich und über Musik, über Gott und das fliegende Spaghettimonster, über Sterbehilfe und die Frage, ob Bettina und Mark vielleicht eine heimliche Affäre hatten. David konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals mit einem anderen Menschen so gut und so spielend einfach unterhalten zu haben. Nicht einmal mit Kenji, seinem besten Kumpel. Dies war anders als alles, was er jemals erlebt hatte. Sascha konnte auf alles, was er sagte, etwas Interessantes erwidern. Er gab David nicht einmal das Gefühl, etwas Dummes gesagt zu haben. Manchmal sagten sie sogar das Gleiche zur gleichen Zeit, worüber sie sich dann erst mal eine Weile scheckig lachen mussten. Es war herrlich. So einfach und so wunderbar...unkompliziert. Mit einiger Kraftanstrengung schaffte David es schließlich, seinen bebenden Körper unter Kontrolle zu bringen. Sein Atem ging schwer und ihm tat alles weh: Seine Kehle, sein Bauch, sein Kiefer, sein Hinterkopf, mit dem er in der letzten halben Stunde zweimal vor Lachen gegen die Wand hinter sich gestoßen war. Er war vollkommen erschöpft. „Oh, Mann...,“ stöhnte Dings dumpf vom Fußende her, nachdem auch er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, „Ich kann nicht mehr... Wehe, du machst noch einen Witz...,“ „Ich sag doch gar nix...,“ erwiderte David und presste die Lippen aufeinander, um das Grinsen abzuwürgen, das ihn schon seit Stunden ständig begleitete. Sascha ächzte gequält und stemmte sich mühselig hoch. Mit bedröppelter Miene wandte er sich David zu. Seine Haare standen zu Berge und in seinen dunklen Wimpern hingen Tränen. Ihre Blicke trafen sich und beide mussten hastig wegsehen, um einen neuerlichen Krampf zu vermeiden. „Ich versteh das nicht...,“ wimmerte Dings und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, „Heißt es nicht immer, dass Lachen so gesund sein soll...?“ „Ist auch so. Ich habe das mal gegoogelt...,“ erzählte David matt und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand hinter sich, „Und bei Wikipedia stand ganz viel darüber. Beim Lachen sind im ganzen Körper achtzig Muskeln im Einsatz und die Luft zischt mit bis zu hundert Kilometern pro Stunde durch die Lunge. Das Immunsystem wird gestärkt, die Durchblutung und der Stoffwechsel werden angeregt und wenn du viel lachst, dann halbiert sich die Gefahr, dass du an einem Herzinfarkt stirbst.“ „Mhm...,“ machte Mr. Lachen-Ist-Gesund und klopfte sich grinsend auf die Stelle, unter der sein Herz schlug, „Wenn das so ist, dann habe ich mir heute Abend ein paar Lebensjahre hinzu verdient. Danke, Herr Doktor.“ „Gern geschehen...,“ grinste David zurück und lachte. „Apropos Doktor...,“ sagte Sascha strahlend und besah sich seine rechte Handfläche, „Die Wunde verheilt sehr gut...,“ breit grinsend hielt er sie David hin, „Nur dank deiner fachmännischen Pflege. Vielleicht solltest du Arzt werden.“ „Ich will Arzt werden,“ erwiderte David, während sein Großhirn vorsichtshalber alle Erinnerungen an einen gewissen Handkuss ausblendete, „Tierarzt, um genau zu sein.“ Mr. Ein-Lachanfall-Verlängerte-Mein-Leben schlang die Arme um seine Knie und lächelte sanft. „Das passt wirklich gut zu dir. Tierarzt Doktor David Spandau... Klingt sehr gut. Ich würde mein Meerschwein zu dir bringen.“ David starrte ihn an. „Du hast ein Meerschwein?“ „Nein!“, lachte Dings, „Aber wenn ich eins hätte, dann würde ich es zu dir bringen!“ „Ach so!“, lachte David zurück, „Danke für dein Vertrauen.“ „Gern geschehen.“ David grinste. Es war ihm ein Rätsel, wieso er vor ein paar Stunden noch so nervös und besorgt gewesen war. Wie hatte er nur ernsthaft in Erwägung ziehen können, sich aus einem Fenster zu stürzen? Das war doch bescheuert. Im Augenblick fühlte er sich so gut und entspannt wie selten in seinem Leben. Sein Großhirn hatte endlich aufgehört Panik zu schieben und sein Herz summte friedlich vor sich hin. Wozu brauchte er bitte einen Plan? Wer hatte sich diesen Mist überhaupt ausgedacht? Er brauchte überhaupt nichts. Nichts, außer einem guten Essen und...nun ja... Wie auch immer...! „Was ist mit dir?“, fragte David, um sich selbst abzulenken, und schlug die Beine übereinander, „Hast du schon eine Ahnung, was du nach dem Zivi machen willst?“ Mr. Wenn-Ich-Ein-Meerschwein-Hätte-Würde-Ich-Es-Zu-Dir-Bringen wiegte den Kopf hin und her. „Ja, schon...,“ sagte er und sah ein bisschen verlegen aus, „Ich habe an Sozialpädagogik gedacht und – ehrlich gesagt – bist du der Erste, dem ich das erzähle.“ David blinzelte verdutzt. „Echt? Aber...wieso? Das ist doch genau dein Ding, oder?“ „Ja, ist es...,“ gab Sascha zu, „Aber außer dir weiß das niemand. Meinen Freunden in Hamburg habe ich immer was von BWL und Bank erzählt und meine Mutter...,“ er verzog das Gesicht, „Wahrscheinlich wird sie mich enterben, wenn sie das erfährt.“ David runzelte die Stirn. „Warum denn das? Ich meine – okay – Sozialpädagogik bringt vielleicht nicht so viel Geld ein wie BWL, aber... Wenn es dir gefällt.“ Dings betrachtete ihn liebevoll und schmunzelte schief. „Aus dir spricht deine gesunde Familie. Aber meine Mutter hat es nie sonderlich interessiert, was ich wollte...,“ er schlug die Augen nieder, schnippte einen Fussel von seinem Knie und fuhr mit leiserer Stimme fort, „Wusstest du, dass ich auf ihr Drängen hin nach dem Abi eine Lehre zum Bankkaufmann angefangen hab? Ich wollte, dass sie stolz auf mich ist. Aber schon nach einem Monat war mir sonnenklar, dass das das Letzte ist, was ich machen will. Also habe ich abgebrochen... Sie hat über drei Wochen lang nicht mit mir geredet...,“ Fassungslos sah David ihn an. „Was?“, hauchte er bestürzt, „Sie hat nicht mehr mit dir geredet?“ Sascha nickte und lachte gequält. „Tja...,“ flüsterte er matt, „So ist sie halt... Sie wusste immer genau, wie man wen am Besten bestrafen kann...,“ Er seufzte leise und richtete seine dunklen Augen auf seine Hände. Doch er schien sie gar nicht richtig wahrzunehmen. David schluckte. Sascha so traurig zu sehen, schnitt ihm tief ins Herz. Es war falsch. Es passte nicht. Sascha sollte nicht traurig sein. In seinem Inneren spürte David seinen Zorn erwachen und er richtete sich auf eine Person, der er noch nie in seinem Leben begegnet war. Doch sie hatte Sascha weh getan. Das war Grund genug für David, wütend auf sie zu sein. Ganz egal, wer sie war. Niemand sollte Sascha den Sonnengott traurig machen. Absolut niemand! Er wäre gern ein paar unfreundliche Worte losgeworden, doch er begnügte sich damit, missmutig das Gesicht zu verziehen und mit den Zähnen zu knirschen. Das befriedigte sein Temperament zwar nicht besonders, aber alles Andere wäre zu weit gegangen. „Na?“, fragte Dings belustigt und schreckte David aus der Kolonne Schimpfwörter auf, die er in Gedanken gerade durchgegangen war, „Was denkst du gerade, mein Liebling?“ „Das willst du nicht wissen...,“ knurrte David und aus Prinzip fügte er hinzu, „Und hör gefälligst auf, mich so zu nennen!“ Er musterte Mr. Offenbar-Habe-Ich-Telepathische-Fähigkeiten böse. Der lachte amüsiert und erleichtert stellte David fest, dass der Kummer schon wieder gänzlich aus seinem Gesicht verschwunden war. Unter diesen Umständen würde er das Liebling wohl ertragen können... „Was soll’s...,“ sagte Sascha munter und grinste David an, „Jetzt bin ich ihr auf jeden Fall sehr dankbar.“ „Ach ja?“, brummte David argwöhnisch. „Sicher!“, strahlte Dings, „Schließlich hat sie mich für meinen Zivi hierher geschickt. Zwar denke ich, dass das auch als eine Art Strafe gedacht war, aber... Es war das Beste, was mir passieren konnte. Immerhin...habe ich dich hier kennen gelernt...,“ Seine Stimme erstarb und sein Grinsen verwandelte sich in ein warmes Lächeln. David öffnete den Mund, dann klappte er ihn wieder zu. In seinem Magen begann es zu kribbeln, als hätte er einen Ameisenstaat verschluckt. Schlag ihn!, forderte sein Großhirn. Küss ihn!, befahl sein Herz. David schluckte, richtete sich auf und griff nach der großen Dessertschüssel. „Willst du auch noch etwas Nachtisch?“, fragte er stumpfsinnig. Daraufhin durfte er sich fünf Minuten lang Sascha schallendes Gelächter anhören. Um zwei Uhr morgens, nachdem sie sich gerade alle ihre haarsträubendsten Träume erzählt und sich dabei – zur Abwechslung mal – halb tot gelacht hatten, schaute Sascha das erste und letzte Mal auf die Uhr. „Schon ganz schön spät...,“ gähnte er und hielt sich die Hand vor den Mund, „Vielleicht sollte ich jetzt langsam mal rüber gehen und dich schlafen lassen. Schließlich musst du schon um halb sieben wieder hoch.“ „Gute Idee...,“ erwiderte David und rieb sich die schmerzende Beule an seinem Hinterkopf, die in den letzten zehn Minuten noch gewachsen war, „Hau bloß ab!“ Sie kicherten. Um zehn nach vier lagen sie sich bäuchlings gegenüber. Dings hatte sein Kinn auf seine verschränkten Arme gelegt und seine Augen waren gespannt auf Davids Gesicht geheftet. Der hatte sich auf seine Ellbogen gestützt und zwischen seinen Armen lag Harry Potter und die Kammer des Schreckens. „... Und dann hörte er etwas –,“ las David mit dramatischer Stimme vor, „Etwas ganz anderes als das Zischen der ausgehenden Kerzen und Lockharts Gebrabbel über seine Fans. Es war...eine Stimme..., eine Stimme, die ihm das Knochenmark gefrieren ließ, eine Stimme..., erfüllt von eiskaltem Hass. „Komm...komm zu mir...lass mich dich zerreißen...lass mich dich zerfetzen...lass mich dich...TÖTEN...“!“ Er verstummte und sah Mr. Ich-Habe-Harry-Potter-Nicht-Gelesen-Und-David-War-Darüber-Vollkommen-Entsetzt an. Der hatte den Atem angehalten und erwiderte seinen Blick mit großen Augen. „Und?“, hauchte er erschrocken, „Was passiert jetzt? Lies doch weiter, um Himmels Willen!“ David lachte und klatschte das Buch zu. „Nö! Du wolltest ja nur eine Kostprobe. Ab jetzt musst du allein weiterlesen!“ „Ohhhhh...,“ machte Sascha voller Empörung und knuffte David unzufrieden gegen den Oberarm, „Gemeinheit! Wo es doch grad so spannend wurde... Was passiert denn nun? Was war das für eine Stimme?“ David grinste zufrieden. „Tjaaa... Das wirst du wohl nur rausfinden können, wenn du das ganze Buch liest.“ „Argh... Verdammt!“, erwiderte Sascha, „Wo ich Harry Potter doch immer aus Prinzip gehasst hab...,“ dann lachte er, „Dieser Lockhart ist ja zum Schießen! Bleibt der so blöd?“ „Eigentlich wird es nur immer schlimmer mit dem.“ „Ach ja? Klasse! Ich glaube, ich muss es wirklich lesen. Leihst du es mir aus?“ „Sicher!“ Um zwanzig nach sechs hatten sie sich beide auf den Rücken gedreht. Ihre Köpfe lagen nebeneinander, während sich ihre Beine in entgegengesetzte Richtungen streckten. Sie waren sich so nah, dass sich ihre Schultern und ihre Schläfen berührten. „Was, meinst du, ist deine schlechteste Eigenschaft?“, fragte David leise und blickte zum nach wie vor brennenden Deckenlicht hinauf. „Mhm...,“ antwortete Sascha nachdenklich, „Das ist schwer. Ich habe viele schlechte Eigenschaften. Aber meine schlechteste... Vielleicht, dass ich ständig im Mittelpunkt stehen muss – typisch Einzelkind – und dass ich ziemlich gut lügen kann. Was ist mit dir?“ David überlegte. „Vermutlich die Tatsache, dass ich immer so leicht aus der Haut fahre.“ Dings drehte den Kopf und sah ihn von der Seite her an. „Was?“, sagte er gedämpft und klang überrascht, „Niemals. Ehrlich gesagt...finde ich, dass das eine deiner besten Eigenschaften ist.“ David runzelte die Stirn und wandte ihm ebenfalls das Gesicht zu. Ihre Nasenspitzen waren keine Handbreit voneinander entfernt. „Eine meiner besten Eigenschaften?“, wiederholte David entrüstet, „Mein ganzes Leben lang haben mir alle möglichen Leute erklärt, dass ich lernen muss, mich unter Kontrolle–,“ „Hör bloß nicht auf die...!“, unterbrach ihn Sascha bestimmt, „Die haben absolut keine Ahnung.“ David starrte ihn an. „Wie meinst du das?“, fragte er leise. Sein Herz, das die letzten Stunden in einem wunderbar sanften Zustand der Glückseligkeit verbracht hatte, erwachte mit einem Japsen und begann nun wieder schneller zu pochen. Augenblicklich schreckte auch der Rest von Davids schläfrigem Körper hoch. Sascha wandte den Blick ab und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er lächelte verlegen. „Na ja...,“ flüsterte er, „Ich weiß nicht genau, wie ich... Ähm... Also... Weißt du...wenn du in einer Umgebung aufwächst, in der Gefühle in etwa so häufig vorkommen wie Schneestürme in der Wüste, dann...saugst du jedes bisschen Gefühl auf, das du kriegen kannst. So war das auf jeden Fall bei mir... Meine Mutter, sie... Na ja... Sie ist halt nicht so der...Gefühlsmensch, verstehst du? Als ich dann in die Schule kam, wurde es besser, aber...so einen Menschen wie dich...habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getroffen...,“ er wandte David wieder das Gesicht zu und fuhr behutsam fort, „Als wir uns das erste Mal getroffen haben, bist du sofort explodiert. Du kanntest noch nicht mal meinen Namen und hast mich schon angebrüllt, weil ich mich so scheiße benommen habe. Du warst...so voll mit überschäumenden Gefühlen und du hast sie rausgelassen, ohne zu zögern... Das...hat mich sofort für dich eingenommen. Ich war sofort...hingerissen von dir...,“ Seine Stimme erstarb für einige Sekunden und unverwandt blickte er in Davids Augen. Dessen Herzschlag hatte sich inzwischen zu einem Trommelwirbel gesteigert. Seine Haut prickelte und seine Kehle war trocken. „Das ist auch der Grund, warum ich dich am Anfang ständig so provoziert habe...,“ fuhr Sascha fort und schmunzelte entschuldigend, „Ich wollte sehen, wie du ausflippst. Ich wollte sehen, wie du mit aller Macht versuchst, dich zu beherrschen. Ich fand das – und finde es noch immer – absolut wundervoll...,“ er grinste verlegen, „Entschuldige... Ich weiß, dass ich schrecklich war und dir ne Menge Nerven gekostet hab. Es tut mir Leid...,“ David schluckte und spürte einen Kloß in seinem Hals. „Schon gut...,“ krächzte er und räusperte sich eilig, „Ist schon gut...,“ Stumm wandte er den Kopf und blickte zurück zur Decke hinauf. Nun, dass erklärte natürlich eine Menge. Zum Beispiel die Tatsache, dass Mr. König-Der-Provokation sich so gar nicht von seinen Wutausbrüchen hatte beeindrucken lassen. David hatte selbstverständlich gedacht, dass dieser Penner ihn einfach noch mehr hatte reizen wollen, weil er das witzig fand. Doch das war offensichtlich nicht der Grund gewesen. Nein, Sascha hatte sich nur über die Heftigkeit seiner Gefühle gefreut und nicht genug davon kriegen können. Sehr sonderbar... David schluckte erneut. Er erinnerte sich an einen Streit mit Sven, in dem er ihm vorgeworfen hatte, dass man mit ihm nicht sachlich diskutieren könne, weil er immer gleich ausrasten würde. Damals war David davon überzeugt gewesen, dass er Recht hatte und hatte sich für sein Temperament verflucht. Und nun...? Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht genau, was er fühlen sollte. Wut über dieses Geständnis? Freude über dieses Kompliment? Und warum, zur Hölle, schwirrten seine Gedanken so? Wieso klopfte sein Herz plötzlich so schnell, als wolle es seine Brust verlassen und davon fliegen? Hatte er etwas übersehen? David seufzte stoßartig und setzte sich auf. Mit beiden Händen fuhr er sich durch seine blonden Locken und vergrub sein Gesicht in seinen Armen. In seinem Kopf und seinem Inneren herrschte ein solches Chaos, dass ihm schwindlig wurde. „David?“ Er hörte, wie Sascha sich ebenfalls aufsetzte und sich zu ihm umdrehte. Einen Moment später fühlte er seine Hand auf der Schulter. „Alles okay? Tut...mir Leid... Ich wollte nicht... Ich meine, wenn ich–,“ „Nein...!“, unterbrach David ihn und drehte sein Gesicht, um Dings anzusehen, „Es ist nicht deine Schuld... Eigentlich...war das so ziemlich das Schönste, was...ein Mensch je zu mir gesagt hat... Aber...irgendwie habe ich jetzt das Gefühl, dass ich...,“ er grinste verlegen, „...dass ich mein Leben ganz neu überdenken muss...,“ Er blickte Sascha in die Augen und sah, dass er lächelte. „Oder vielleicht...,“ flüsterte er, „...bleibst du einfach wie du bist... Oder? Meinst du, das ginge?“ Davids Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Ja...,“ antwortete er leise, „Ich denke...das müsste gehen...,“ Und dann klingelte der Wecker. Kapitel 22: Klar ---------------- Hallo Allerseits :-)! Wahnsinn, hier ist es, das neue Kapitel OO! Ihr kennt meine Entschuldigungen ja schon zu diesem Thema, trotzdem werde ich es nochmal wiederholen^^: Es tut mir Leid, dass es mal wieder so lange gedauert hat. Ich denke, ich habe einen neuen Rekord aufgestellt. Sorry...^^ Tatsächlich hat mir dieses Kapitel viel abverlangt, ich habe L A N G E gekämpft und ich hoffe, das Ergebnis sagt Euch einigermaßen zu^^. Ich finde, dass das Kapitelende fast das Storyende sein könnte. Aber keine Sorge...^^...jetzt geht's erst richtig los ;-). So, lange Rede, kurzer Sinn: Viel Spaß beim Lesen :-)! Liebe Grüße, BlueMoon _________________________________________________________________ David und Sascha fuhren zusammen. „Was zum–,“ keuchte David aufgeschreckt und starrte fassungslos den Ursprung allen Unheils an, der zwischen Tellern und Töpfen am Boden stand und sein schrilles Geschrei ausstieß. „Das...kann doch nicht wahr sein...,“ flüsterte Dings ebenso entgeistert und rieb sich energisch die Augen, wie es die Leute in Filmen immer tun, wenn sie nicht glauben, was sie sehen. Währenddessen bemühte David sich, alle seligen Schmetterlinge, die noch immer in seinem Bauch umher flatterten, soweit zu beruhigen, dass er gegen diesen erbarmungslosen Weckruf der Realität vorgehen konnte. Schließlich schaffte er es, den Wecker zu packen und ihn mit einem scharfen Klaps zum Schweigen zu bringen. Stille trat ein und gemeinsam mit Sascha beugte er sich über das Zifferblatt des Weckers. Dessen Urteil war...niederschmetternd. „Oh Scheiße...,“ hauchte Sascha bestürzt, „Ich kann’s nicht glauben... Gerade eben war es doch erst zwei...,“ Er nahm David den Wecker aus der Hand und schüttelte ihn grob, als wolle er eine Fehlfunktion feststellen. David gluckste tonlos und rieb sich ebenfalls über die Augen. Nun, da die Nacht offenbar zu Ende und der neue Tag angebrochen war, spürte er erstmals eine dumpfe, schmerzhafte Müdigkeit gegen seine Schläfen pochen. Aber jetzt war es Mittwoch. Halb sieben Uhr morgens und er hatte...urg...Nachtschicht. „Dann...,“ sagte er langsam, kratzte sich am Kopf und sah Mr. Ich-Kann’s-Nicht-Glauben verblüfft an, „Dann...werd ich mal arbeiten gehen, was...?“ „So eine Scheiße...,“ erwiderte Sascha nur. Sie sahen sich an und mussten ein bisschen kichern. Aber es hatte mehr was von einem Todesröcheln, als von dem ehrlichen Lachen, das sie in den vergangenen Stunden so oft miteinander geteilt hatten, und erstarb rasch wieder. Anschließend stöhnte Dings wie ein gequälter Kriegsgefangener. „Maaan... Wie kann eine Nacht nur so schnell vorbei gehen...?“ „Keine Ahnung...,“ antwortete David matt und schaffte es nach zwei Versuchen tatsächlich aufzustehen und in seinem Zimmer umher zu wanken. Er fühlte sich noch etwas groggy und wacklig auf den Beinen. „Du kannst dich ja noch mal hinlegen... Für ne Stunde...,“ „Oh, nee...!“, wehrte Sascha entschieden ab und fuhr sich durch das Haar, „Wenn ich mich jetzt für eine Stunde hinlege, dann bin ich hinterher tot...,“ ächzend erhob er sich ebenfalls, „Nein, nein... Ich steh jetzt auch auf, räum den Dreck hier weg und mach dir Frühstück...,“ „Nett von dir...,“ murmelte David abwesend und bekam seine Füße mit Müh und Not in seine Gummistiefel gezwängt. „Klar, zu dir bin ich doch immer nett, mein Schätzchen,“ schnurrte Mr. Eine-Stunde-Schlaf-Und-Ich-Bin-Tot auf Kommando, was David sofort vollständig in die Gegenwart katapultierte. Er hob den Kopf, um den – trotz der schlaflosen Nacht – selbstverständlich strahlenden Sascha böse anzufunkeln und unterdrückte dabei mit aller Kraft den Wärmeschauer, der ihn bei diesem Anblick zu durchrieseln drohte. „Falls du jetzt hoffst, dass ich ausraste, muss ich dich leider enttäuschen...,“ sagte er betont kühl und zerrte sich seine Strickmütze über den Lockenkopf, was ihn zwang die Augen von Sascha abzuwenden, „Ich werde deine Unverschämtheiten einfach ignorieren und mir meinen Teil denken!“ „Wie schade...,“ jammerte Dings lächelnd. David antwortete ihm mit einem kurzen Blick voll abgrundtiefer Verachtung. Sascha lachte auf und Davids Herz hüpfte im Takt dazu. Irgendwo in seinem Inneren entstand der bohrende Drang, auf Sascha zu zugehen, ihn rücklings zurück aufs Bett zu werfen und solange zu küssen, bis die Welt unterging. Bei diesem Gedanken drehte er ihm so hastig den Rücken zu, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Am Liebsten hätte er sich an Ort und Stelle in Luft aufgelöst. Verdammt noch mal, was war denn nur los?! So schlimm war dieses...dieses Gefühl noch nie gewesen. Das musste am Schlafmangel liegen. Bestimmt existierte irgendwo eine Studie über die unglaublich krankhaften Nebenwirkungen von akutem Schlafmangel. Grundgütiger, so musste es sein. Es gab keine andere Erklärung. Wieso sollte er sonst mit einem Mal solche Schwierigkeiten damit haben, den Reißverschluss seiner Jacke zu schließen, weil seine Finger so sehr zitterten? Und dieses vermaledeite Herzklopfen... Das war der Schlafmangel. Glasklar. „Wolltest du mir nicht Frühstück machen?“, fragte David fieberhaft und wünschte sich auf den entferntesten Planeten im Universum. „Oh, ja!“, hörte er Sascha hinter sich antworten und kurz darauf Porzellan klappern, „Auf der Stelle, mein Liebling. Ich fliege, ich eile, ich–,“ „Jaja!“, unterbrach David ihn laut und verfehlte beim ersten Greifversuch seinen Schlüsselbund auf dem Tisch, „Ich...geh dann...,“ „Okay, Schatz!“, antwortete Dings glucksend, „Ich ruf dich, sobald das Frühstück fertig ist.“ „Danke...,“ David wandte sich zum Gehen. Seine rechte Hand griff nach der Klinke und öffnete die Zimmertür. Seine Beine machten drei schwerfällige Schritte, die ihn jedoch kaum vorwärts trugen. Sein Herz pochte in seiner Brust. Alles in ihm lauschte auf die Geräusche hinter ihm: Eine leise gesummte Melodie, die David nicht erkannte, und das sanfte Klirren von Besteck auf Geschirr. Sein Magen kribbelte. Er konnte nicht anders – er musste sich einfach ein letztes Mal umdrehen... Großer Fehler. Sascha kniete am Boden, schichtete die benutzten Teller und Schüsseln aufeinander und – sah einfach hinreißend aus. Davids Beine drohten einzuknicken, sodass er sich kurz am Türrahmen festhalten musste. Als Mr. Ich-Bin-Der-Schönste-Weit-Und-Breit bemerkte, dass David den Raum noch immer nicht verlassen hatte, hörte er auf zu summen und blickte auf. „Was vergessen?“, fragte er lächelnd und legte eine handvoll benutztes Besteck auf den Geschirrstapel. David öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. „Was...summst du da?“, fragte er schließlich und spürte im selben Moment das Bedürfnis, seine Stirn solange gegen den Türrahmen zu schlagen, bis er diesen Schlafmangel gänzlich aus sich vertrieben hatte. „Ohrwurm von Linda...,“ erwiderte Sascha, „Mamma Mia!,“ er grinste verlegen und begann zu singen: „Don’t go wasting your emotions, lay all your love on me…,” David starrte ihn an. „Ah...,“ brachte er hervor, „Klar... Dann...bis später...,“ Er gab sich einen Ruck, drehte sich um und hastete die Treppe hinunter. Mehr oder weniger heil am Treppenabsatz angekommen, riss David die Badezimmertür auf und stolperte hinein. Kaum hatte er die Tür hinter sich zu geschlagen, wandte er sich mit zornfunkelndem Blick dem Spiegel zu. „Hör mal zu, du Volltrottel!“, fauchte er sein Spiegelbild an, „Ich kann ja verstehen, dass du müde bist und so weiter. Aber das du dich jetzt so benimmst wie ein absoluter...,“ er rang nach Worten, „...Hornochse, ist nicht notwendig. Also...reiß dich gefälligst zusammen!“ Stirnrunzelnd betrachtete er sein erschöpftes, aber wütendes Gesicht im Spiegel und atmete mehrmals tief ein und aus. Draußen hörte er Sascha summend den Flur entlang gehen und eine Ladung Geschirr irgendwo abladen. Davids Herz ziepte sehnsüchtig. „Ich hasse dich...,“ erklärte er seinem Spiegelbild kalt und schloss einen Moment die Augen, „Ich drehe wirklich langsam durch... Jetzt rede ich schon mit meinem eigenen Spiegelbild...,“ Fünf Minuten später in der Futterküche angekommen, stürzte David sich sofort in die Arbeit, um sich von der mühevollen Realität abzulenken. Selbstverständlich klappte dieser Plan genauso reibungslos wie alle seine Pläne... Zu seinem Leidwesen musste David feststellen, dass sich sein Kopf trotz der Aussprache mit seinem Spiegelbild nicht wirklich geklärt hatte. Im Gegenteil. Gemeinsam mit seinem Herz sprang sein Hirn ununterbrochen auf und ab. Es war zum Verrücktwerden. David fluchte leise, während er das Gewicht von einem kleinen, mageren Igel, der erst gestern eingeliefert worden war, in die Tabelle an seiner Box eintrug. Der Neuankömmling hatte schon zugenommen. Sehr gut. Unvermittelt überkam David der unbändige Wunsch, selbst ein Igel zu sein. Dann müsste er nur schlafen und fressen und alle würden ihn für jedes neue Gramm, das er zunahm, bejubeln. Als Igel hatte man bestimmt auch weniger Probleme mit der Liebe und mit hirnlosen Plänen, die man sich in einem Moment geistiger Umnachtung ausdachte und die eh nicht funktionierten! Dieser verdammte Plan... Tatsächlich hatte er nicht nur nicht funktioniert, nein, er war ganz offensichtlich absolut nach hinten losgegangen. Kein Wunder, er hatte ihn ja auch mitten in der Ausführungsphase aufgegeben. Statt sich auf seine Forschung zu konzentrieren und sachlich Antworten auf seine Fragen zu suchen, hatte er sich der Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung hingegeben. Er war so ein Trottel... Er hatte sich Klarheit schaffen wollen, stattdessen stand er jetzt völlig auf dem Schlauch, denn offenbar hatte sich sein...Zustand...verschlimmert. Okay, heute Abend...äh...gestern Abend war dieses...Dings...nein, dieses Gefühl...dieses...Dings-Gefühl auch schon da gewesen und auch davor und so weiter. Aber so schlimm...hatte es sich bisher nicht angefühlt. Was war also passiert? Es war doch gar nix gelaufen, im Gegenteil – sie hatten sich kaum berührt. Er und Sascha hatten doch nur...– oh, nein! Nicht an Sascha denken, nicht an... Mist...! Zu spät. Da war er schon wieder. Der Schlafmangel. Kaum befassten sich seine Gedanken auch nur ansatzweise mit Dings, kamen die Symptome zurück: Herzrasen, Nebelblick, Magenkribbeln und, um alles noch schlimmer zu machen, setzte jetzt anscheinend auch dieses entsetzliche Dauergrinsen wieder ein. Scheiße, scheiße, scheiße! David stöhnte und rieb sich die Schläfen. Er war so ein verdammter Vollidiot. Er hätte sich doch schon gestern Mittag aus dem Fenster stürzen sollen. Das hatte er nun von seinem Überlebenswillen: Eine tödliche Krankheit. Scheiße! Mit einem gefauchten Seufzen lehnte sich David kurz gegen die Anrichte und sah sich mit müden Augen in der Futterküche um. Er war erst zwanzig Minuten hier und ohne es zu bemerken, hatte er schon vier von den insgesamt neun Igelwannen fertig. Offenbar arbeitete er schneller, wenn er müde war und dabei auch noch an Dings dachte. Hahaha, was für eine Ironie. Gott, es war nicht zum Aushalten. Dieser Mistkerl machte ihn fertig. Er laugte ihn aus. Er war anstrengend und nervenaufreibend und absolut ganz und gar ungesund für ihn. Genauso wie Sven. Verdammt, Sven... Wieso musste ihm immer ausgerechnet dieser Name einfallen, wenn er an Sascha dachte? Es war, als ob die beiden durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft wären und das waren sie ja auch irgendwie. Schließlich hatte er sich diesen dämlichen Plan nur aus diesem Grund ausgedacht. Er hatte herausfinden wollen, was die beiden voneinander unterschied. Er hatte herausfinden wollen, ob Sascha es wirklich ernst mit ihm meinte. Er hatte herausfinden wollen, ob...er es wagen und sich auf eine neue Liebe einlassen sollte. Doch der Plan war fehlgeschlagen, weil er ihn nicht zu Ende befolgt hatte. Statt einer Lösung hatte er nun ein noch größeres Problem. Großartig. Toll gemacht, David. Herzlichen Glückwunsch. Niedergeschlagen warf David ein zusammen geknülltes und feuchtes Blatt Küchenpapier, mit dem er gerade eine weitere Igelbox trocken gerieben hatte, Richtung Mülleimer und verfehlte ihn knapp. Er fluchte und – erstarrte plötzlich. Einen Moment...hatte er da nicht etwas übersehen...? War...das nicht ein Widerspruch? Wenn der Plan tatsächlich misslungen war, wieso waren seine verkorksten Gefühle gegenüber Sascha dann nicht weniger geworden? Eigentlich – rein der Logik nach – hätten sie sich doch verringern müssen. Doch das hatten sie nicht. Nein, sie hatten sich sogar ein bisschen verstärkt. Was hatte das zu bedeuten? Sascha...machte ihn fertig. Sascha machte ihn krank. Sascha machte ihm das Leben zur Hölle. Und in diesem Moment machte er ihm Frühstück. Wer, außer seiner Mutter, hatte ihm jemals Frühstück gemacht? Niemand. Am allerwenigsten Sven. Das...war ein Unterschied. Vielleicht nur ein kleiner, aber immerhin ein Unterschied. David kniff die Augen zusammen. Mit pochendem Herzen stand er vom Boden auf und begann fieberhaft in der Futterküche auf und ab zu gehen. Diese letzte Nacht... Was war denn nun passiert? Abgesehen von der Tatsache, dass er und Dings NICHTS miteinander gehabt hatten? Was hatten sie getan? Sie hatten geredet. Mehr nicht. Geredet und gelacht. Das war alles. Mehr war nicht passiert. Und dann wurde es David mit einem Schlag klar. Wie hatte er das solange übersehen können? Er musste vollkommen blind sein. Der Unterschied hatte doch schon die ganze Zeit vor ihm gelegen. Der Plan, er war nicht fehlgeschlagen – im Gegenteil, er hatte blendend funktioniert. Und er, David, hatte es vor lauter Müdigkeit nicht bemerkt. Oder...hatte er es nicht bemerken wollen? Um sich die Schmerzen zu ersparen? Um eine Lüge zu schützen, die ihn jahrelang belastet hatte? Es tat weh, aber es war die Wahrheit und es war an der Zeit, sie sich einzugestehen: Im Gegensatz zu David, war Sven wohl niemals wirklich verliebt gewesen. Darum war es ihm auch so leicht gefallen, ihn zu betrügen. Darum war es ihm so leicht gefallen, ihm auch noch die Schuld daran zu geben. Darum war es ihm so leicht gefallen, ihm halbherzige Entschuldigungen vorzulügen. Darum...war es ihm so verdammt leicht gefallen, ihn zu vergessen. Denn schließlich war es nicht sein Herz gewesen, das Schaden genommen hatte. David schluckte. Unbeweglich stand er in der Mitte der Futterküche. Links raschelte ein Igel in seiner Box herum und hustete keuchend. Der Regen klopfte leise gegen das Klappfenster an der Decke. David nahm es nicht wahr. Fast zwei Jahre lang hatte er Sven jeden Tag vermisst. Fast zwei Jahre lang war er davon überzeugt gewesen, dass seine Beziehung zu Sven Zukunft gehabt hätte, wenn der ihn nicht betrogen hätte. Fast zwei Jahre lang hatte er geglaubt, dass ihre Beziehung glücklich gewesen war. Doch die Wahrheit sah anders aus, das wurde ihm jetzt klar. Hand aufs Herz: Das zwischen ihm und Sven...war niemals eine echte Beziehung gewesen. Das, was sie miteinander geteilt hatten, war von Beginn an rein körperlich gewesen. Das, was sie zusammen gebracht hatte, war keine beidseitige Zuneigung gewesen, sondern gegenseitige Anziehung. Sie hatten geknutscht, ein wenig rumgemacht und dann hatte Sven ihn betrogen, weil David noch keinen Sex gewollt hatte. Sicher, sie hatten sich gut verstanden. Sicher, sie hatten miteinander gelacht. Doch ihre Nähe hatte sich immer nur auf körperliche Nähe beschränkt. Niemals – in drei Monaten Beziehung – war David Sven so nahe gewesen, wie er Sascha in der letzten Nacht nah gewesen war. Denn niemals hätte er Sven seine Träume, Ängste und Geheimnisse anvertraut. Aber Sascha hatte er sie erzählt. Ohne zu zögern. Und Sascha hatte ihm zugehört. Er hatte ihn verstanden. Er hatte mit ihm mitgefühlt. Sven...hätte das niemals getan. Und er hätte David niemals sein Herz ausgeschüttet. Sascha...hatte das getan. Er hatte ihm von seiner Mutter erzählt und ihm den Kummer gezeigt, den er in sich trug. Er hatte allein ihm erzählt, dass er Sozialpädagogik und nicht BWL studieren wollte. Er hatte ihm offenbart, dass er Angst vor Gewitter hatte. Sascha...hatte ihm seine Seele geöffnet und war damit ein enormes Risiko eingegangen. Denn auch er – ebenso wie David – konnte sich in dieser Verletzlichkeit niemals sicher sein, nicht verletzt zu werden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte David in die Untiefen des Universums. Die Wahrheit, die Antwort, der Unterschied lag so klar und deutlich vor ihm, wie der Pappkarton mit dem sauberen Zeitungspapier: Sven hatte nur einen Teil von ihm gewollt. Sascha dagegen...wollte ihn ganz. Er wollte ihn nicht nur mit Haut und Haaren, er wollte ihn mit jeder Facette seines Charakters. Er wollte ihn mit seinen Stärken und Schwächen, mit all seinen Gemütsregungen und Wutausbrüchen. Er wollte ihn trotz seines größten Fehlers. Oder...nein, das war nicht ganz richtig: Sascha wollte ihn nicht trotz seines größten Fehlers, er wollte ihn deswegen. Wie viele Beweise brauchte er noch? David schluckte erneut und spürte plötzlich, wie sein Herz sich vor Freude wieder aufzupumpen begann. Sein Magen begann wieder zu kribbeln und zu schwirren als würde er Achterbahn fahren. Sein Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln. Dies konnte nicht der Schlafmangel sein. Denn in diesem Moment fühlte er sich so wach wie nie zuvor. Wie hatte er jemals müde sein können? Es war ihm ein Rätsel. Mit einem Mal konnte er es nicht erwarten, in die Zivi-Küche zu kommen, um Sascha zu sehen und mit ihm zu frühstücken. Er war bereit. Er wollte dieses Gefühl, er wollte Sascha. Und er wollte nicht nur mit ihm reden und mit ihm lachen. Er wollte mehr. Er wollte ihn küssen und seine Wärme spüren. Er wollte ihn riechen und schmecken. Aber er würde behutsam vorgehen, Schritt für Schritt. Er wollte nichts überstürzen. Er wollte nicht riskieren, dass etwas schief ging, dass sich dieser Schlafmangel in...Schlafüberfluss verwandelte. Dann würde er sich doch noch aus dem Fenster stürzen müssen. Oder eben Sascha umbringen. Wie ein Berserker stürzte David sich in die Arbeit. Zehn vor halb acht war die Futterküche fertig: Der Boden war gefegt, die alten Näpfe abgewaschen und alle Tiere – die neun Igel, die zwei Tauben, die junge Schleiereule und der Spatz – saßen in sauberen Wannen und Käfigen und hatten frisches Futter und Wasser. David stand am Waschbecken und wusch sich pfeifend die Hände. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so glänzende Laune gehabt hatte. Abgesehen natürlich von letzter Nacht und Dienstagvormittag und Sonntagabend... Die Müdigkeit, die ihm vorhin noch so unerträglich erschienen war, hatte sich restlos aufgelöst. Sein Herz sirrte friedlich in seiner Brust umher, sein Magen fuhr Fahrstuhl und seine Lippen lächelten so unentwegt, dass er fürchtete, bald Kiefersperre zu kriegen. Das war doch echt bekloppt. Jetzt stand er hier und grinste den Seifenspender dümmlich an, nur wegen diesem dahergelaufenen Mistkerl, der ihm ununterbrochen Schwierigkeiten machte. Ganz offensichtlich litt er nicht nur unter Schlafmangel, sondern auch unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Möglicherweise war es auch das Stockholm-Syndrom. Sonnenklar. Gerade in diesem Moment, da David begriffen hatte, wie ernst sein Zustand wirklich war, hörte er Schlüsselgeräusche am Eingang zur vorderen Scheune und Schritte an der Tierannahme. Schlagartig erfasste ihn ein neuer psychotischer Schub. Sein Herz, das sich in der letzten halben Stunde in einem sanften Zustand der seligen Verträumtheit befunden hatte, schreckte hoch und sprang in einen wilden Herzinfarkt-Modus zurück. Sein Magen überschlug sich. Sein Lächeln erstarrte für einen Augenblick. Eine Nanosekunde lang überlegte er stumpfsinnigerweise, ob er sich vielleicht irgendwo verstecken sollte. In einer Igelwanne vielleicht oder hinter der Tür. Doch es war bereits zu spät: Besagte Tür schwang auf und Mr. Davids-Tod-Wird-Meinen-Namen-Tragen steckte seinen hübschen Kopf in die Futterküche. „Hi...!“, begrüßte Sascha ihn schmunzelnd. „Hi...,“ erwiderte David matt und unterdrückte den Wunsch, sich etwas Luft zu zufächeln. „Wie sieht’s aus?“, fragte Dings und sah sich in der Futterküche um, „Bist du fertig?“ „Ja, bin ich. Du kommst...gerade richtig...,“ antwortete David und lächelte sanft. Einen Moment blinzelte Sascha. Dann breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, das nicht nur sein Gesicht, sondern auch die ganze Futterküche beschien. „Perfekt...!“, sagte er strahlend und in seinen Augen leuchtete die Freude so hell, dass sie David beinahe blendete, „Möchtest du dann rüber kommen und mit mir frühstücken?“ Davids Herz schien förmlich zu explodieren. Seine Knie wurden weich, sein Magen drehte ein paar Saltos hintereinander und er spürte, wie sein eigenes Lächeln die Intensität einer mittelmäßigen Atomexplosion erreichte. Posttraumatisches Stresssyndrom. „Ja...!“, sagte er dann, „Klar!“ Kapitel 23: Tot --------------- Huhu :-)! Hier ist das neue Kapitel und ich hoffe, Ihr habt wieder ein bisschen was zu lachen und zu schmachten :-). Ich arme Sau bin vor kurzem ungezogen - was mich allerdings unheimlich glücklich macht :-D - aber dafür habe ich jetzt erstmal eine Weile weder Internet noch Telefon. Im Moment sitze ich bei meiner lieben Freundin Julie am Computer und weil sie allein es ist, die mir das Hochladen ermöglicht... Widmung: Meiner Julie, weil sie mir ihr Internet leiht und überhaupt ganz großartig ist :-)! Und jetzt viel Spaß beim Lesen :-)! Liebste Grüße, BlueMoon __________________________________________________________________ Kurze Zeit später, als er hinter Sascha den Zivi-Bereich betrat, wurde David noch etwas ganz Anderes klar: In der Küche war auf Dings definitiv Verlass. Nicht nur, dass er sich frühstückstechnisch wieder ordentlich ins Zeug gelegt hatte, er hatte außerdem alle Schmutzspuren vom vergangenen Abend beseitigt, sodass sich die Zivi-Küche nun in einem fast erschreckend tadellosen Zustand befand – jedenfalls...soweit die in die Jahre gekommene, wild zusammen gewürfelte und zur Hälfte schrottplatzreife Küche des Tierschutzzentrums das vermochte... Das ganze benutzte Geschirr von gestern war abgewaschen, abgetrocknet und weggeräumt worden. Alle Arbeitsflächen waren abgewischt, der Herd entfettet, die Spüle geschrubbt worden. Was nicht glänzte, schimmerte immerhin. Stocksteif blieb David im Türrahmen stehen. „Wow...,“ sagte er beeindruckt und betrachtete den ungewohnten Anblick, „Du warst aber fleißig...,“ er wandte sich zu Dings um und sein Magen bestrafte ihn sogleich mit einem jähen Salto, „D... Du hättest das nicht alles alleine machen müssen. Ich hätte dir geholf–,“ „Ach, Papperlapapp!“, unterbrach Mr. Kolumna ihn brüsk und machte eine wegwerfende Handbewegung, „Du hast Nachtschicht und wahrlich genug zu tun. Das war kein Problem. Und jeeetzt...,“ fügte er gedehnt hinzu und wies strahlend auf den reich gedeckten Tisch, „Setz dich hin, mein Liebling, und iss was. Der Tag heute wird anstrengend und du brauchst Kraft.“ „Das muss ein Nicht-Frühstücker wie du gerade sagen,“ erwiderte David spöttisch und schob sich in die Sitzbank, „Dabei arbeitest du heute wieder länger als...ich...,“ Sascha war ihm in die Sitzbank gefolgt und auf der Stelle hatte Davids Herzschlag sein Tempo verdoppelt. Ihm wurde leicht schwindelig. Wenn Dings ihm zu nah kam... Oh je... Er könnte sich gezwungen fühlen, ihn auf die Tischplatte zu werfen und abzuknutschen. Das wäre wirklich schade um das Frühstück... Hastig bewegte er sich weiter von ihm fort. „Das stimmt zwar, aber ich schaffe das schon,“ erklärte Dings, der offenbar nichts von Davids Rückreaktion bemerkt hatte, gerade munter, „Ich bin schließlich eine Kämpfernatur.“ David schnaubte und das Schwindelgefühl verflog. „Nix da!“, entgegnete er dann streng und begann Brötchen auf Saschas Teller zu häufen, „Du wirst heute auch was essen, basta. Meine Mutter sagt immer: `Wenn man schon nicht schläft, muss man wenigstens essen!´,“ Sascha beobachtete ihn verblüfft. Dann gluckste er und lächelte ihn an. Davids Körper reagierte augenblicklich auf die übliche Weise, sodass er für einen Moment die Rückenlehne der Sitzbank in Anspruch nehmen musste. „Deine Mutter ist wirklich eine weise Frau.“ „Nicht wahr...?“, antwortete David matt und dann energischer, „Also, keine Widerrede: Iss!“ Mr. Kämpfernatur salutierte. „Jawohl, Sir! Sofort, Sir! Alles, was Sie wünschen, Sir!“ Sie kicherten vergnügt und alles in David schmachtete. Zwanzig Minuten später hatten sie sämtliche Horrorgeschichten von ihren ehemaligen Lehrern ausgetauscht, sich köstlich amüsiert und nebenher je zwei Brötchen und einen Apfel vertilgt. Außerdem hatte jeder von ihnen solche Unmengen Kaffee getankt, dass David sich inzwischen wie eine alte und halb vergessene Bombe fühlte – vielleicht aus dem zweiten Weltkrieg –, die nun mit einem Mal kurz vor der Detonation stand. Allerdings...könnte dieses Gefühl eventuell auch einen anderen Ursprung haben... Dieser eventuelle Ursprung saß neben ihm und berührte seit einiger Zeit und trotz des Sicherheitsabstands, den David in weiser Voraussicht konsequent einhielt, alle paar Minuten sein Knie, was ihm immer dann die Bildung eines vollständigen Satzes erheblich erschwerte. Bei jeder dieser kleinen Berührungen schien ein eigentümlicher Wärmestrom zwischen ihren Knien zu wechseln, der die Kraft hatte, sowohl Davids Herz als auch seine Zunge aus dem Takt zu bringen. Er kam sich vor wie eine Bandansage mit Wackelkontakt. „D...Du ma... machst das mit Absicht, oder?“, brummte er holprig nach dem neunten Kniestupser. „Was denn?“, fragte Dings und plinkerte unschuldig mit den Wimpern. „Na, das hier!“, erwiderte David knurrend und versetzte Saschas Knie mit seinem eigenen einen heftigen Stoß. Überrascht zuckte Mr. Kniequäler zusammen, was David ziemlich befriedigte. Einen Moment später begann der Dreckskerl jedoch ausgelassen zu kichern und das Triumphgefühl in David verpuffte wieder. „Ach das...,“ schnurrte Sascha und dann – zu Davids grenzenlosem Entsetzen – breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Ein Grinsen, das David auf der Stelle erkannte. Nicht irgendein Grinsen, oh nein. Es war DAS Grinsen. Das schreckliche, grausame, todbringende Sexgrinsen. Innerhalb von wenigen Nanosekunden stieg Davids Körpertemperatur auf das Zehnfache an. Sein Herz beschleunigte seinen Schlag besorgniserregend drastisch und in seinem Magen begann sein Frühstück zu rumoren. In einem verzweifelten Versuch das Unvermeidliche zu vermeiden, lehnte er sich zurück, um den Abstand zwischen ihnen zu erhöhen, doch er kam nicht weit – Sascha legte ihm eine Hand in den Nacken und kam immer näher. „Was bleibt mir denn anderes übrig...?“, wisperte er kummervoll und hauchte seinen warmen Atem auf Davids Lippen, „Wo doch alles in mir nach Körperkontakt verlangt, aber du mich die ganze Zeit auf Distanz hältst.“ David öffnete den Mund, um zu antworten, doch kein Laut verließ seine Kehle. Alles an und in ihm kribbelte. In seinem Kopf drehte es sich. Überdeutlich spürte er Dings’ Hand in seinem Nacken. „Du hast ja keine Ahnung, wie furchtbar es ist, dich nur ansehen zu dürfen...,“ hauchte Mr. Aphrodisiakum theatralisch und ließ seine Finger federleicht über Davids Gesicht streicheln, „Ich kann das kaum ertragen...,“ David versuchte zu schlucken. Saschas Berührungen brannten wie Feuer auf seiner Haut. Sein betörender Geruch ließ Davids Gedanken erlahmen und sein Blut kochen. Er konnte nicht mehr... Er wusste, dass er sterben würde. Qualvoll. Außer...dieser Vollidiot kam verdammt noch mal endlich in die Gänge! Sein Temperament verlieh ihm Kraft. David öffnete erneut den Mund, um etwas unglaublich Intelligentes und Weises zu sagen, und – Trommelwirbel bitte – diesmal schaffte er es. „Du nervst!“, blaffte er. Sascha, der gerade angesetzt hatte, weiter Süßholz zu raspeln, erstarrte. Irritiert musterte er David, der mehr tot als lebendig vor ihm in der Sitzbank hing. „Was hast du gesagt?“, fragte er verdutzt und der schmachtende Unterton war gänzlich aus seiner Stimme verschwunden. „Ich sagte: Du nervst!“, wiederholte David mit widerspenstiger Zunge und erwiderte Dings’ verblüfften Blick verklärt und böse zugleich, „Entweder du hörst jetzt endlich auf zu quatschen und küsst mich oder ich gehe.“ Sascha starrte ihn mit offenem Mund an. Allerdings währte seine Fassungslosigkeit nicht lange. Keine drei Sekunden, um genau zu sein. „Du bist so toll!“, stieß er begeistert hervor, strahlte über das ganze Gesicht und tat dann das, worauf David schon die ganze Zeit gewartet hatte: Er küsste ihn. Endlich. Hätte David gestanden, wäre er vermutlich an Ort und Stelle in sich zusammen gesackt. Doch zum Glück saß er bereits. Daher war es nicht weiter schlimm, als seine Beine bebend ihren Geist aufgaben, während seine Arme sich wie von selbst um Saschas Körper schlangen. Automatisch klappten seine Augen zu. Grundgütiger. Wie hatte er das nur überlebt? Wie hatte er fast vierundzwanzig Stunden lang ohne dieses Gefühl atmen können? Unbegreiflich. Unaufgefordert öffnete er seine Lippen und seufzte hingerissen in den Kuss hinein, als Sascha sein Tasten sofort erwiderte und sich ihre Zungen wiedersehensselig aneinander schmiegten. Feuer rauschte durch Davids Adern und füllte seinen Atem mit Hitze. Er zitterte und Sascha zitterte mit ihm. Sein Herz pochte, so schnell, als wolle es abheben und davon fliegen – und im selben Takt spürte er Saschas Herz schlagen. Er spürte dessen Finger, wie sie verlangend über seinen Rücken strichen und trotz all dem Stoff, der seine Haut von ihnen trennte, eine prickelnde Spur auf ihr hinterließen. Leise seufzend vergrub er seine Finger in Saschas braunen Haaren. Dies fühlte sich so unheimlich gut an. Wenn es doch nie enden würde... David hatte das Denken schon längst eingestellt. Aber Denken war sowieso unnötig. Kein Gedanke war es wert, diesen Augenblick, diesen Kuss in der sauberen Zivi-Küche, vor dem dreckigen Frühstückstisch zu stören, zu verderben. Außer...einer vielleicht...: Ähm... Schließt da grad jemand die Tür auf? David riss die Augen auf und lauschte. Tatsächlich. Da waren Geräusche. An der Tür zum Hof. Jemand war drauf und dran herein zu kommen und – sie zu sehen. Innerhalb von drei rasenden Herzschlägen verflog jegliche Romantik aus Davids Geist. Voller Grauen stemmte er seine Arme gegen Saschas Brust und presste ihn ruckartig von sich fort. „Wa–,“ keuchte Mr. Ich-Hab-Nix-Mitbekommen entgeistert. „Da kommt wer!“, zischte David panisch, drehte sich von ihm weg und da waren sie schon: zielstrebige Schritte auf dem Flur. „Morgen!“, raunzte Heiko in seinem üblichen Ton und schmiss die Bildzeitung ziellos Richtung Tisch, wo sie klatschend zwischen Zuckerdose und Kaffeekanne landete. „Morgen...!“, erwiderten David und Sascha im Chor, während David sich mehrmals fieberhaft über den Mund wischte und Sascha sich eilig bemühte, sein Haar zu glätten. Der Tierpfleger, der schon halb durch die Tür zum Seminarraum war, blieb plötzlich abrupt stehen und musterte sie argwöhnisch. „Was ist los...?“, fragte er lauernd, „Habt ihr was ausgefressen?“ David starb tausend Tode. „Nein!“, stießen er und Dings hastig hervor. Heiko runzelte die Stirn und seine Augen bohrten sich in die ihren. David wusste, dass es Menschen gab, denen man auf zehn Meter Entfernung ansehen konnte, dass sie vor Verlegenheit fast vergingen. Und an diesem Mittwoch erkannte er innerhalb weniger Sekundenbruchteile, dass er zu diesen Menschen gehörte. Diese Erkenntnis trug nicht gerade dazu bei, dass sich sein hochroter Kopf entfärbte oder sich sein angestrengter Atem entspannte. Doch Heiko schien mit seinen Gedanken glücklicherweise schon wieder woanders zu sein. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte er sich auf dem Absatz um, entschwand durch die Seminarrraumtür und polterte einen Moment später die Treppe zu den Büros hoch. Ächzend vergrub David seinen Kopf in den Armen. „Oh, Gott... Ich sterbe...,“ wehklagte er dumpf durch seinen Kopfschutz hindurch. „Ach, was...,“ hörte er Sascha unbekümmert neben sich antworten. David schnaubte, hob den Kopf und blinzelte ungläubig zu Dings empor, der sich munter eine weitere Tasse Kaffee eingoss. „Wie kann dich das so kalt lassen?“, fragte er vorwurfsvoll, während grässliche Versionen vor seinem inneren Auge vorbei zogen, „Er hätte uns fast beim...beim...,“ er schluckte krampfhaft, „Er hätte uns fast gesehen! Was, wenn er jetzt was ahnt?!“ „Ach, was!“, wiederholte Mr. Unerträglich-Unbeschwert und schüttete großzügig Zucker in seinen Kaffee, „Du machst dir viel zu viele Sorgen, Schatz.“ David wimmerte. Hätte Bettina ihn nicht um kurz vor elf gerettet, hätte David den Vormittag eventuell nicht überlebt. Das hatte zwei elementare Gründe: Erstens, er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und trotz des akuten Kaffeekonsums machte sich dies nun langsam, aber sicher bemerkbar. Zweitens, immer, wenn ihm Sascha über den Weg lief, und dabei war es gleich, wo, wann und wie, erlitt er einen heftigen Herzklabaster, der ihn jedes Mal an den Rand des Freitods brachte. Diese Tatsache lag nicht etwa an Dings’ verführerischem Äußeren – jedenfalls...nicht nur –, sondern an seinem unmöglichen Verhalten. Würde Mr. Herzattacke einfach nur still und starr an ihm vorbei gehen, wäre das alles nur halb so schlimm. Aber nein, natürlich musste Sascha ihn bei jeder Begegnung strahlend anlächeln und im Vorbeigehen auch noch Davids Hand mit seiner eigenen berühren, sodass der jedes Mal fast tot umfiel und obendrein vergaß, weshalb er die Greifvogelquarantäne überhaupt verlassen hatte. Tod und Teufel. Doch zum Glück wurde gegen halb elf die verletzte Waldschnepfe eingeliefert und da auf dem Speiseplan dieser Vogelart unter Anderem Regenwürmer stand, schickte Bettina ihn mit einer kleinen Schaufel und einer violetten Plastikschüssel bewaffnet auf das Gelände. Unter anderen Umständen hätte David seine Chefin nach einer solchen Anweisung gern in die begehbare Kühltruhe eingesperrt, doch unter diesen tödlichen Vorraussetzungen war er ihr sogar dankbar. So entging er nicht nur Saschas lebensgefährlichen Attentaten, sondern dank der kühlen Luft und des unerschöpflichen Nieselregens auch der bleiernen Müdigkeit. Gemeinsam mit Linda, die ihm bei dieser eher unerfreulichen Aufgabe freiwillig Gesellschaft leistete, hockte er sich in Regenjacke auf einen großen, schlammigen Erdhaufen in die Nähe der Außenterrarien und buddelte im Dreck. „Was ist eigentlich mit dir und Sascha los?“, erkundigte sich die kleine Praktikantin, nachdem sie mit vereinten Kräften und wie Kleinkinder giggelnd einen erstaunlich langen Wurm ans Licht der Welt gezogen hatten. Bei dieser Frage verdoppelte sich Davids Herzschlag augenblicklich und er stieß beinahe die Wurmschüssel um. War es tatsächlich so offensichtlich? Das wäre eine...eine...eine Katastrophe! „W...Was meinst du?“, fragte er betont locker und vermied ihren Blick. „Ihr gähnt die ganze Zeit und eure Augenringe...,“ Die Erleichterung durchfloss ihn wie heißen Tee. „Ach, so...,“ murmelte er und atmete beruhigend ein und aus, „Na ja, wir waren die ganze Nacht wach.“ Sie sah ihn mit großen Augen an. „Die ganze Nacht? Wieso das denn?“ „Wir...,“ David dachte an Mr. Wachhalter und die Erinnerung zauberte ihm ein Lächeln auf das Gesicht, „Wir haben die ganze Nacht geredet und so...,“ Er hob den Kopf und sah sie an. Sie lächelte ebenfalls. „Wie süß!“, flüsterte sie. David spürte, wie er errötete und wandte das Gesicht hastig wieder ab. „Ach, was!“, murrte er und köpfte um ein Haar einen weiteren Wurm. Er zögerte. Mit einem Mal verspürte er den bohrenden Wunsch, Linda alles zu erzählen. Von der vergangenen Nacht und von Sascha und von den Küssen und von Sascha und von dem Glück, das so hell und warm in seiner Brust leuchtete. Doch...nein. Entschlossen schluckte er den Drang hinunter. Das ging niemanden etwas an, niemanden außer ihn und Sascha. Niemand sollte wissen, was zwischen ihnen geschehen war und noch immer geschah. Niemand. Noch nicht. Er konnte es ja selbst kaum glauben. Er begann wieder zu schaufeln. Um das plötzliche Schweigen zu durchbrechen, sagte er: „Kennst du eigentlich dieses Lied?“ „Welches Lied?“, fragte Linda zurück und warf einen faustgroßen Stein, den sie soeben ausgegraben hatte, ins Gesträuch. „Das mit den hustenden Regenwürmern?“ „Na klar!“ ...Regenwürmer husten...? ...dunkles Erdreich ziehen...? ...winden...verschwinden... ...Nimmernimmerwiedersehen... „David?“ ...waren...Loch, Loch, Loch... ...wiederkommen...noch, noch, noch... „David!“ ...husten...? ...ziehen...? ...schwinden... ...sehen... „Wach auf!“ David fuhr aus dem Schlaf und das Lied in seinen Ohren verklang. Wild sah er sich um und erkannte Linda, die neben seinem Bett hockte und ihn anschaute. „W... Was?“, stieß er hervor und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Sein Gehirn arbeitete im Schneckentempo. Es dauerte, bis er begriff, was um ihn herum geschah. „Was ist...,“ keuchte er und schüttelte den Kopf, um diese mörderische Mattigkeit aus sich zu vertreiben, „Wie... Wie spät ist es?“ „Kurz vor fünf,“ antwortete die Praktikantin und schmunzelte leicht, „Tut mir Leid, dass ich dich wecken musste, aber Bettina ist noch da und...du solltest dich vielleicht kurz in der Futterküche blicken lassen. Sobald sie weg ist, kannst du wieder ins Bett gehen. Sascha, Jessika und ich haben soweit alles fertig.“ David ächzte leise. In seinen Schläfen pochte ein bohrender Schmerz. Sein ganzer Körper tat weh. Vor Erschöpfung konnte er kaum denken, geschweige denn artikuliert sprechen. „Ich bin tot...,“ krächzte er nur und zwang sich, sich aufzusetzen. „Das hat Sascha auch schon gesagt,“ antwortete Linda lächelnd und wandte sich zum Gehen, „Aber du kannst ja bald weiter schlafen. Bis gleich dann.“ „Okay, danke...,“ brachte David hervor, winkte ihr kraftlos und raufte sich die Haare, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so sterbenselend gefühlt. Nicht mal nach der letzten Silvesterfeier, wo Kenji ihm literweise von dieser grässlichen Wodkamischung eingeflößt hatte... Vielleicht hätte ich nach meinem Schichtende nicht schlafen gehen sollen..., überlegte er sehr langsam, während er sich mühsam aufrappelte und seine Klamotten zusammen sammelte. Doch nachdem er gegen zwölf etwas gegessen und dann heiß geduscht und sich aufgewärmt hatte, war die Müdigkeit so unerbittlich zurück gekommen, dass er kaum mehr hatte aufrecht stehen können. Jetzt allerdings...fühlte er sich noch miserabler als vor den paar Stunden Schlaf. Wie eine lebende Leiche. Ein...Untoter. Als David fünf Minuten später in die Futterküche geschlurft kam, gelang es seinem Herz tatsächlich leicht zu schwirren, als sein Blick auf Sascha fiel, was ihn prompt ein wenig wacher machte. Mr. Zombie hatte sich an den Kühlschrank gelehnt, die Augen geschlossen und schlief offenbar im Stehen. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe und er war blasser als sonst. Er sah so müde aus, wie David sich fühlte. Abgesehen von ihm und Linda, die am Waschbecken stand und sich die Hände wusch, befanden sich noch Eric und Ben in der Futterküche und unterhielten sich; Jessika war offenbar schon gegangen. Als David eintrat, unterbrachen die beiden ihr Gespräch und wandten sich zu ihm um. „Guten Morgen,“ begrüßte Eric ihn grinsend, „Gut geschlafen?“ „Geht so...,“ erwiderte David und unterdrückte ein Todesgähnen. Beim Klang seiner Stimme erwachte Dings zum Leben. Er regte sich, klappte die Augen auf und lächelte ihn zärtlich an. Allein der Augenkontakt reichte, um Davids Atem stocken zu lassen. Automatisch verzog sich auch sein Mund zu einem Lächeln. „So, jetzt wo du da bist, können wir uns ja vom Acker machen,“ meinte Ben und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, „Morgen habe ich frei. Noch jemand?“ Sascha hob schweigend seinen Arm. „Ich...,“ sagte er lahm und legte den Arm auf seinem Kopf ab, als wäre er zu müde um ihn zu halten, „Gott sei Dank...,“ Davids Miene verdunkelte sich leicht. Richtig, Dings hatte frei. Er erinnerte sich daran. Er hatte es auf dem Dienstplan gelesen. Mann, das Leben war so ungerecht... „Dann kannst du dich morgen ja ordentlich ausschlafen,“ grinste Linda. „Und das werde ich auch...,“ murmelte Sascha, „Darauf könnt ihr Gift nehmen...,“ „Schwächling!“, frotzelte Ben schmunzelnd. Während Ben und Eric den erschöpften Sascha ein wenig piesackten, brachte Linda David in Sachen Neuankömmlinge und Abgänge schnell auf den neuesten Stand und erklärte ihm, was noch gemacht werden musste. Doch er hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Das lag daran, dass die Müdigkeit sowohl seinen Gehörgang, als auch den größten Teil seines Gehirns lähmte. Und das Stück Gehirn, das inzwischen einigermaßen aktiv war, konnte nur darüber nachdenken, dass Dings wegen seiner Unverschämtheit – er hatte frei, David nicht – kräftig getreten gehörte. Anschließend hätte David eigentlich nichts gegen einen halbstündigen Kuss einzuwenden. Oder wenigstens eine halbstündige Umarmung. Oh ja, eine Umarmung. Eine von diesen warmen, weichen, duftenden, perfekten Umarmungen. Immer vorausgesetzt, sie beide würden eine solche Anstrengung überleben... „So, ich muss dann,“ sagte Linda mit einem Blick auf die digitale Anzeige des Radioweckers, der auf einem der Regale stand und sechs Minuten nach ging, „Schlaft gut, ihr beiden Nachtwächter. Wir sehen uns morgen, David?“ David nickte, schenkte ihr ein Lächeln und winkte Ben und Eric beiläufig zum Abschied. Hinter den Dreien fiel die Tür ins Schloss. David starrte die Tür an und schluckte. Er spürte, wie sich das Blut in seinen Adern zu erhitzen und sein Herzschlag sich prompt zu beschleunigen begann. Er war jetzt allein mit Sascha. Ganz allein. Ganz, ganz allein. Ganz, ganz, ganz... Einen Moment später hörte er hinter sich ein leises Seufzen und hektisch drehte er sich um, als erwarte er, Mr. Hinterhältig würde ihm jeden Augenblick in den Nacken springen, was – Hand aufs Herz – gar nicht so unwahrscheinlich war. Doch Sascha stand noch immer durch und durch unschuldig am Kühlschrank und betrachtete David lediglich verschwommen lächelnd. Dessen Herz überschlug sich intuitiv und seine Kehle produzierte ebenfalls einen von diesen Seufzern, die Prinzessinnen beim Anblick ihres Prinzen ausstießen. Oder...nein! Dieser Vergleich hinkte ganz eindeutig. David unterrückte den Seufzer und räusperte sich stattdessen. „Also...,“ sagte Dings schwach und gähnte hinter vorgehaltener Hand so sehr, dass ihm Tränen in die Augen schossen, „Was möchtest du heute Abend essen?“ David starrte ihn an. Hatte er gerade richtig gehört? Sascha wollte für ihn kochen? Wo er doch so tot aussah, dass David sich fragte, ob er nicht ernsthaft in Lebensgefahr schwebte. „Wie bitte?“, fragte er entsetzt, „Du kochst mir heute Abend doch nix! In dem Zustand fackelst du noch das ganze Zentrum ab.“ Mr. Lebensmüde gluckste und rieb sich die Augen wie ein übermüdetes Kind. Davids Herz schmolz bei diesem entzückenden Anblick und schwappte wehrlos über den Boden. „David?“, flüsterte Sascha und blinzelte ihn matt an. „Mhm?“ „Du bist so unheimlich süß...,“ David schnaubte und spürte, wie ihm im Gesicht ein wenig wärmer wurde. Schmachtend begann seine Herzpfütze am Boden zu blubbern. „Unsinn!“, erwiderte er grob und verfluchte sein Herz für dessen Verrat, „Und jetzt ab ins Bett mit dir! Du fängst ja schon an zu–,“ Doch bevor er sich ausdenken konnte, womit genau Dings schon anfing, hatte dieser die Futterküche durchquert und sich mit einem Laut der Begeisterung auf ihn gestürzt. „Mein Schatz!“, jauchzte er David ins Ohr und drückte ihn so fest an sich, dass David sekundenlang die Luft ausging, „Du bist so wunderbar!“ David ächzte, während sein Magen prickelnde Saltos schlug und sich sein ohnehin müdes Gehirn zufrieden gurgelnd hinter einem rosaroten Nebel verkroch. „Schon gut...,“ reibeiste er mühsam und bemerkte milde verdutzt, dass sich seine eigenen Arme schon längst um Saschas Körper gelegt hatten. Der seufzte abermals auf, vergrub sein Gesicht an Davids Hals und seine Finger in dessen Pullover. Da war sie, die Umarmung, die er sich gewünscht hatte. Und in der Realität war sie noch viel schöner als in Gedanken. Tödlich schön... „Ich bin so tot...,“ wisperte Mr. Schmusetiger gegen Davids Haut, sodass ihm kalte und heiße Schauer über den Rücken regneten. David schluckte trocken. „Dann geh endlich ins Bett...,“ krächzte er. „Noch nich...,“ murmelte Dings und schmiegte sich noch enger an ihn. David starb. Kapitel 24: Kalt ---------------- Hallo Ihr :-)! Ich freue mich, Euch mitzuteilen, dass Kapitel 25 endlich da ist :-)! Hurra^^! Trotz der Hitze und der Tatsache, dass ich zwei Essays schreiben muss, habe ich mich vorwiegend um David gekümmert. Asche auf mein Haupt^^. Kapitelwidmung: Für meinen Lap Top Brendan, weil er so immer so toll durchgehalten hat, obwohl er geglüht hat wie ein Ofen. Ich hoffe, Ihr habt Spaß und Schmacht und ein wunderschönes Wochenende :-). Liebste Grüße, Eure BlueMoon ___________________________________________________________________ Eine halbe Stunde später lebte David immer noch. Allerdings zum größten Teil nur noch aus purer Gewohnheit. Sein gesunder Menschenverstand und das meiste seines Körpergefühls hatten sich inzwischen verabschiedet und schlafen gelegt. Natürlich lag das an der Müdigkeit, die nun wieder vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte. Außerdem an dem schrecklichen Hunger und der Eiseskälte, die plötzlich durch die Ritzen des Zentrums drang und David malträtierte. Und es lag an dem Opa, der sich spontan dazu entschlossen hatte, dem Tierschutzzentrum einen Besuch abzustatten und seinen Igel vorbeizubringen. Dass der schon lange tot war, schien der alte Herr nicht bemerkt zu haben. David war gerade mit dem Fegen der Futterküche fertig geworden, in Gedanken bereits bei seinem herrlich warmen Bett, als der Opa in Anzug an der Scheunentür Sturm geklingelt hatte und ihn nun seit zwanzig Minuten beharrlich misshandelte. Wäre David nicht so übertrieben pflichtbewusst und so grauenhaft müde, hätte er sich wohl schon längst eine Schaufel vom Dachboden geholt und wäre damit Amok gelaufen. „Dieses Tier frisst nur Kartoffelsalat und Wiener Würstchen,“ erklärte der Opa ihm gerade zum dritten Mal und betrachtete David mit einem Ausdruck grantiger Verachtung, „Haben Sie das verstanden, junger Mann? Nur Kartoffelsalat und Wiener Würstchen!“ „Ich habe es verstanden, ja,“ sagte David matt, rieb seine frierenden Hände an seinem nutzlosen Pullover und warf bibbernd einen Blick auf den starren Igel in dem Pappkarton, „Ich versichere Ihnen, dass wir uns...gut um Ihren Igel kümmern werden.“ Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch, ohne seinen stechenden Blick von ihm abzuwenden. David erwiderte ihn mit trüben Augen und war sich überbewusst, dass er aschfahl war, seine Augenringe bestimmt bis zum Kinn reichten und er leicht schwankte, wenn er sich nicht am Tisch der Tierannahme festhielt. Garantiert hielt der Opa ihn mindestens für einen drogensüchtigen Kriminellen. Wenn nicht sogar für einen geistesgestörten Mörder. „Was geben Sie den Tieren denn hier so?“, fragte der Alte und sah sich misstrauisch in der vorderen Scheune um. Sein Blick blieb an den Spinnweben in den Ecken hängen, an der klapprigen Dachbodentreppe und dem Staub am Fußboden. „Katzenfutter,“ erwiderte David tonlos. „Katzenfutter?!“, wiederholte der alte Herr hellauf entsetzt und seine Hakennase erzitterte entrüstet, „Sie können diesem Tier doch kein Katzenfutter vorsetzen! Ich sagte doch, es frisst nur–,“ David schloss einen Moment die Augen. Am Liebsten hätte er laut nach Sascha gerufen. Er stellte sich vor, wie Mr. Superman herbei geflogen kam und ihn rettete... Gott, hätte er ihn bloß nicht ins Bett geschickt... Die Erinnerung trieb David fast die Verzweiflungstränen in die Augen: „Soll ich nicht noch bleiben und dir helfen?“ „Nein.“ „Warum denn nicht?“ „Weil du müde bist.“ „Na, und? Du bist auch müde.“ „Nein.“ „Dann lass mich dir wenigstens was zu Essen machen.“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil du müde bist.“ „Aber du hast doch Hunger.“ „Nein.“ „Ich kann deinen Magen aber meilenweit knurren hören.“ „Nein!“ „Dann bleibe ich aber bei dir und helfe!“ „NEIN!“ Und dann hatte er ihn ohne Widerspruch zu zulassen ins Bett befohlen. Er war so ein Esel. „– Kartoffelsalat und Wiener Würstchen!“ Oh, Sascha... Bitte, bitte hilf mir… „Wissen Sie überhaupt, wovon Sie reden, junger Mann? Haben Sie eine Ausbildung?“ Oh Gott... Ich kann nicht mehr... „Ich bin Zivi.“ „Zivi?! Das ist ja ungeheuerlich! Sie wollen mir also sagen, dass sie keinerlei Fachausbildung haben und dennoch hier arbeiten?“ Ich glaube, ich muss kotzen... „Ja.“ „SKANDAL! Eine Schande ist das! Das ganze Land geht vor die HUNDE–,“ David konnte sich nicht entscheiden, ob er lachen oder weinen sollte. In einer Komödie wäre diese Szene bestimmt ungeheuer komisch, doch in der Realität war sie einfach nicht zu ertragen. Nicht, wenn man so müde, so hungrig und so kalt war, dass man nicht einmal mehr die Kraft zum Ausrasten hatte. Normalerweise Davids leichteste Übung... „–ohne AUSBILDUNG um wehrlose Tiere kümmern! Eine Katastrophe! Diese verdammten KOMMUNISTEN–,“ Das wurde wirklich langsam lächerlich. Trotzdem wollte David nur sein Gesicht in seinen Händen vergraben und laut weinen. Er war so müde und hungrig und frieren tat er wie ein Eskimo ohne Schneeanzug. Er hasste sein Leben. „–DEUTSCHLAND kaputt! Sowas wäre früher nie passiert! Damals als der FÜHRER–,“ „WAS, ZUR HÖLLE, IST HIER LOS?!“ Die Stimme schlug wie ein donnernder Blitz zwischen David und dem Opa ein, sodass sie beide zusammen zuckten. Sascha wäre vermutlich vor Entsetzen krepiert. Als David den Kopf herum wirbelte, sah er in der untergehenden Sonne eine Gestalt über den Hof auf die offene Scheunentür zu gehen. Wie ein Raubtier und trotz der grässlichen Kälte und des Nieselregens nur in T-Shirt und kurzer Hose. Es war Freddy. Und wäre David nicht so unglaublich erleichtert gewesen, ihn zu sehen, hätte der Ausdruck auf seinem Gesicht ihm Angst gemacht. „Warum brüllen Sie hier so rum?“, knurrte Freddy den Alten an, noch bevor der den Mund geschlossen hatte, „Sie jagen den Tieren eine Todesangst ein!“ „Oh... Ich...,“ stammelte der und starrte Freddy an wie eine Erscheinung, „Ich... wollte... nicht–,“ „David, ist mit dir alles in Ordnung?“, unterbrach Freddy den Opa. David, der beinahe das Gleichgewicht verloren hatte, als er beiseite getreten war, um Freddy Platz zu machen, nickte schwach. „Ja...,“ reibeiste er und rieb sich die Augen, „Ich bin nur so müde und–,“ „Dann geh ins Bett,“ befahl Freddy, „Ich übernehme hier den...Rest...,“ Aus den Augenwinkeln sah David, wie der alte Herr schluckte. „Okay, danke...,“ murmelte er und schaffte es, Freddy ein Lächeln zu schenken, „Ähm... Gute Nacht...,“ fügte er noch an den Opa gewandt hinzu und verließ dann so schnell er konnte die Scheune. Noch bevor er die Betreten verboten-Tür vollständig passiert und hinter sich geschlossen hatte, hörte er Freddy brüllen: „SIE HABEN IHN MIT KARTOFFELSALAT UND WIENER WÜRSTCHEN GEFÜTTERT?! KEIN WUNDER, DASS ER TOT IST!“ Hinter David fiel die Tür ins Schloss, sperrte Wind, Regen und Freddys lautstarke Kopfwäsche aus. Er schloss die Augen. Sein Kopf war furchtbar schwer, seine Beine kraftlos, seine Augen brannten. Er war so müde. Müder als je zuvor in seinem Leben. Wie ein Sack Getreide ließ sich David gegen die Tür plumpsen und dann langsam an ihr hinab, auf den Fußboden gleiten. Er zog die Knie an und legte seinen Kopf auf die Arme. Von draußen hörte er das gedämpfte Wehklagen des Opas, als er erkannte, dass er seinen geliebten Igel aus Versehen umgebracht hatte. Davids Mundwinkel zuckten matt. Durch den zügigen, harten Flur pfiff ein beißender Wind und David zitterte. Doch er konnte sich vor Müdigkeit nicht rühren. Der Regen klopfte einschläfernd gegen das Fenster in der Zivi-Küche. Im Heizungsraum, ihm gegenüber, gurgelte Miriams Wäsche in der Waschmaschine sanft vor sich hin. David biss die Zähne zusammen und beachtete die entsetzliche Kälte nicht, die von den Fliesen langsam an ihm hoch kroch und jede Zelle seines Körpers schmerzhaft füllte. Er wollte nichts anderes, als für alle Zeiten hier sitzen bleiben. In dieser Ruhe, diesem Frieden und einfach schlafen. Auch wenn ihm so schrecklich kalt war. Kalt...kalt...kal... Sein Magen ließ ein lautes, wütendes Knurren hören und David fuhr hoch. „Wa...?“, machte er tonlos und blinzelte verschreckt in die Dunkelheit des Flurs. Stille umgab ihn. Jedenfalls äußerlich. ICH HABE HUUUNGAAA!, zeterte sein Magen verzweifelt. ICH BIN MÜÜÜDEEE!, schrie sein Kopf kläglich. MIR IST SOOO KALT!, heulte sein Körper voller Grauen. David wimmerte laut. Er war mit Abstand der mitleiderregendste Mensch auf der ganzen Welt. Niemandem auf der Welt konnte es so schlecht gehen – jedenfalls wenn man die Welt auf das Zentrum beschränkte – wie ihm. Er war zu hungrig zum Schlafen, zu müde zum Essen und ihm war zu kalt zum Aufstehen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Eine schlimmere Kombination konnte es nicht geben. David litt minutenlang grausame Qualen. Er verfluchte sein Leben, den lieben Gott und den Opa draußen, der ihm sämtliche Kraft gestohlen hatte. Anschließend schaffte er es, sich mühsam, mit knirschenden Zähnen und kratzenden Knochen, hochzustemmen und in die Zivi-Küche zu schleppen. Bei dem Gedanken, sich jetzt noch etwas zu Essen machen zu müssen, wurde ihm ganz schlecht. Selbst das Anstellen des Wasserkochers erschien ihm als unerträglicher Kraftakt. Er war zu schwach. Zu müde, zu hungrig, zu kalt. Doch es half alles nichts. Mit Mühe ignorierte er sein winselndes Ich, hob die Hand und schaltete das Licht an. Sobald sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, blickte er auf – und erstarrte. Auf dem Esstisch stand ein einzelner Teller mit zwei großen und köstlich aussehenden Sandwiches. David lief das Wasser im Munde zusammen und sein Magen stöhnte sehnsuchtsvoll auf. Fassungslos tappte er ein paar Schritte auf das Festmahl zu und blieb stocksteif stehen, als er einen kleinen Zettel neben dem Teller entdeckte, der mit einer runden, ebenmäßigen Schrift beschrieben war. Für einen Moment vergaß sein Kopf sogar die verzehrende Mündigkeit und sein Körper die quälende Kälte. Ich weiß genau, dass du Hunger hast. Guten Appetit :-)! David öffnete den Mund und klappte ihn dann wieder zu. Sein Herz, das die letzte Stunde frierend und im Halbschlaf seine Arbeit getan hatte, machte unwillkürlich einen Sprung nach vorn. Sein Magen drehte sich um sich selbst und begann wie von Sinnen zu kribbeln. Eine Wärme, so allumfassend und unendlich, dass sie jegliche Müdigkeit, jeden Hunger und alle Kälte aus ihm verdrängte, erfüllte ihn von Kopf bis Fuß. Seine kraftlosen Spaghettibeine knickten ein und seufzend ließ David sich auf Heikos Stuhl sinken, während das Feuer, das ihn mit Sascha verband, sekundenlang durch seine Venen floss und ihn wärmte. Er war so ein verdammter Vollidiot. David hatte ihm doch gesagt, er solle ihm nichts mehr zu Essen machen, sondern ins Bett gehen. Er war doch auch so furchtbar müde gewesen... David schluckte und musste sich zwingen, nicht auf der Stelle aufzuspringen, in Saschas Zimmer zu rennen und ihn zu wecken. Er wollte sich dafür bedanken, dass es sich Mr. Sandwich trotz seiner Müdigkeit nicht hatte nehmen lassen, ihm etwas zu essen zu machen. Gleichzeitig wollte er ihn dafür boxen. Und er wollte ihn festhalten und nicht mehr loslassen. Er wollte sich an ihn schmiegen und seinen Duft inhalieren und sein leises Lachen hören und all die dummen Kosenamen, mit denen er ihn so oft nervte. Er wollte jetzt sofort bei ihm sein und die Wärme, die er ausstrahlte, körperlich fühlen. Doch...nein. Er durfte ihn nicht wecken und seinen gerechten Schlaf stören. Er war noch müder als er selbst gewesen, er brauchte seinen Schlaf. Er musste sich zusammen reißen. Morgen war auch noch ein Tag. Vorausgesetzt...er würde den nächsten Tag noch erleben und vorher nicht elendig verschmachten... Gott, war es eigentlich normal, jemanden, den man vor knapp einer Stunde noch gesehen hatte, ganz plötzlich so zu vermissen, dass es wehtat? War es wirklich normal, von einer Sekunde auf die andere davon überzeugt zu sein, es keinen weiteren Moment ohne diesen Jemand auszuhalten? Konnte das normal sein? Und hatte er sich damals bei Sven genauso gefühlt? Irgendwie konnte er sich nicht daran erinnern. Allerdings hatte das angesichts seiner zweijährigen Verdrängungsbemühungen nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Aber normal war das bestimmt so oder so nicht. Doch normal oder nicht, David ging es trotzdem so. Und das hatte sich zehn Minuten später auch noch nicht geändert, als er satt im Badezimmer stand und sein Bestes tat, das Zähneputzen zu überleben. Zuerst hatte er sich bei seinem eigenen Anblick im Spiegel so erschrocken, dass er seine Zähnbürste fallen gelassen hatte. Dann hatte er sich beim Bücken nach ihr den Kopf am Waschbecken gestoßen und daraufhin beinahe sein ohnehin nur noch halbanwesendes Bewusstsein verloren. Um dem ganzen Drama die Krone aufzusetzen, ertrank er anschließend fast bei dem Versuch, seinen Mund mit Wasser aus dem Hahn auszuspülen. Unter normalen Umständen – und diese Unstände waren alles Andere als normal –, hätten all diese Unfälle mehrere Wutausbrüche ausgelöst. Doch dazu war er heute eindeutig nicht fähig. Zwar war sein Magen inzwischen zufrieden, doch die Kälte hatte währenddessen einen Weg zurück in sein Herz gefunden. Sie drang feucht und scharf unter seine Klamotten und biss ihm in die Haut. Seine Füße waren bestimmt schon abgestorben, seine Hände schmerzten. Nur mit Mühe bekam David seine Zahnbürste in seinen blauen Zahnputzbecher zurück. Er fror und er war so müde... Er wollte nur noch ins Bett. Ins Bett und...zu Sascha. Aber das ging nicht. Nein, das ging nicht. Morgen, morgen. David ächzte, schaltete das Licht aus und verließ zitternd vor Kälte und wankend vor Müdigkeit das Bad. Mühsam schleppte er sich durch den finsteren Flur und die Treppe zu den Zivi-Zimmern hoch. Als er vor Dings’ geschlossener Tür stand, zögerte er einen sehnsüchtigen Augenblick lang. Dann wandte er sich schweren Herzens ab und betrat sein eigenes Zimmer. Hier war es ruhig und genauso eisig wie im Badezimmer. Eine Straßenlaterne vor seinem gekippten Fenster erhellte den Raum soweit, dass David mehr als nur die dunklen Umrisse seiner Möbel erkennen konnte. Leise schloss er die Tür hinter sich und rieb sich mit dem rechten Handrücken über die Augen. Laut und deutlich konnte er sein Bett nach ihm rufen hören. Mit klappernden Zähnen begann er sich endlich aus dem abscheulichen Tag zu schälen, zog Gummistiefel und Socken aus und ließ seine Jeans raschelnd zu Boden fallen. Seine Haut brannte jetzt vor Kälte wie in einem frostklirrenden Feuersturm. Es fühlte sich an, als würde die Feuchtigkeit in seinen Augen zu Eis erstarren. Jede Bewegung fiel ihm schwer, seine Muskeln und Knochen waren steif. Fast bildete er sich ein, dass weiße Schneeflocken von der Zimmerdecke fielen. David hatte sich gerade bibbernd seinen Pullover über den Kopf gezogen, als er plötzlich einen unerwarteten Laut vernahm und augenblicklich zu einer Eisstatue erstarrte. Mit weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem stand er unbeweglich in der Mitte seines Zimmers und lauschte. Da war es wieder. Ein sanftes Rascheln aus der Ecke, in der sein Bett stand. Davids Körper vibrierte vor Anspannung und seine müden Augen tränten, während sie sich konzentrierten, die Dunkelheit zu durchdringen. Dort war etwas. Etwas wölbte seine Bettdecke über seinen Matratzen. David keuchte leise auf: Jemand lag in seinem Bett. Seine Stirn furchte sich und sein Herz raste in seiner Brust, ließ keinen Platz für Müdigkeit und Kälte. Lautlos ließ er seinen Pullover zu Boden gleiten und machte in T-Shirt und Boxershorts ein paar geräuschlose Schritte auf sein Bett zu. Zu seiner eigenen Verwunderung verspürte er weder Angst, noch den Drang, Hals über Kopf und um Hilfe schreiend sein Zimmer zu verlassen. Vielleicht lag das daran, dass er in seinem inneren Kern ganz genau wusste, wer dort lag. Es gab nur einen Menschen auf der Welt – abgesehen von seiner Schwester Marisa –, der sich ungefragt in sein Bett legen und dort einschlafen würde. David hielt den Atem an, tappte weiter vorwärts und blieb dann stehen, die Augen fest auf das weiße Gesicht geheftet, das dort auf seinem Kissen lag und sich in seligem Schlummer befand, die dunklen Haare auf dem gemusterten Bezug ausgebreitet. Er war es. Wie konnte es auch anders sein? Er lag hier, in Davids Bett, und schlief tief und fest, wie ein Murmeltier: Sascha. Der Sack. Wieso liegt der Typ in meinem Bett?, fragte sein Temperament mürrisch, das die letzte Stunde verschlafen hatte, Das ist mein Bett. Er soll da raus–, Aber weiter kam er nicht, denn die Wärme, die Saschas Anblick in ihm auslöste, durchströmte David von Neuem. Sein Herz veränderte seinen Schlag, sprach nicht mehr von Aufregung, sondern von Zärtlichkeit. Sein Magen zitterte, sein Geist erlahmte und die Sehnsucht kehrte zurück, berauschend und bedingungslos. Er wollte nur noch ins Bett. Ins Bett und...zu Sascha. Jetzt sofort. Langsam und plötzlich mit Atemproblemen überbrückte David die letzte Entfernung, die ihn von Dings trennte, und ging vor seinem Bett in die Hocke. Er betrachtete Sascha, wie er schlief und träumte, entspannt und mit unter dem Kinn gefalteten Händen, wie bei einem kleinen Kind. Davids Herz bebte und sein Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln. Er zögerte einen Moment, dann hob er vorsichtig die Bettdecke an und kroch darunter. Die ungeheuere Wärme, die darunter herrschte und von Saschas Körper ausging, stürzte sich auf seine frostklirrenden Glieder und brannte Löcher in seine Poren. David sog zischend die Luft ein und schob sich behutsam näher an den Anderen heran, näher an seinen warmen Körper. Als Dings die Bewegungen neben sich spürte, seufzte er leise im Schlaf und tastete nach der Kältequelle neben sich. Doch anstatt ihn dann wegzuschieben, legte er seine Arme um David und zog ihn näher. „David...,“ hauchte Mr. Kamin, ohne aufzuwachen und schmiegte sich an ihn. David schloss selig lächelnd die Augen, ließ Saschas Umarmung widerstandslos zu und atmete den überwältigenden Duft ein, den er ausströmte und seine Sinne besänftigte. Er war so müde. So müde und ihm war so angenehm warm. Warm...warm...war... Einen Moment später war er eingeschlafen. Kapitel 25: Warm ---------------- Guten Abend allerseits :-)! Also, hier kommt das neue Kapitel und es ist - wie der Name schon sagt^^ - sozusagen das Gegenstück zum letzten. Leider passiert auch diesmal nichts sonderlich Spannendes, was Ihr mir hoffentlich verzeiht. Im nächsten Kapitel wirds wieder interessanter und außerdem wird ein Stück in der Zeit gesprungen. Schließlich wollen wir ja mal wieder etwas vorwärts kommen, nicht^^? Die Kapitelwidmung geht diesmal an ich-hab-keine-ahnung, weil sie mir einen so schönen Kommentar geschrieben hat :-). Ich wünsche Euch allen einen schönen Abend und viel Spaß und Schmacht beim Lesen :-). Liebe Grüße, BlueMoon ____________________________________________________________________ David erwachte nicht durch das übliche Geschrei seines Weckers, sondern dadurch, dass ihm Jemand federleicht über die Stirn streichelte. Ganz langsam, ganz behutsam zog ihn diese zärtliche Berührung aus den Armen des Schlafs und brachte ihn völlig schmerzfrei in die Gegenwart. Davids Augenlider zuckten. Ihm war wunderbar warm und behaglich zumute. Die Luft um ihn herum war kühl und frisch und roch nach etwas Angenehmen, Vertrauten, das seinen Magen schwirren ließ. Er seufzte leise und streckte sich ein wenig. Dabei fiel ihm auf, dass er seine Beine nicht bewegen konnte, da sie ganz offensichtlich verknotet waren. Verknotet, mit einem anderen Paar Beine... Alarmiert klappte David die Augen auf. Noch immer war es tintenschwarz im Zimmer, einzig die Straßenlaterne ließ ihn erkennen, was um ihn herum geschah: Ein junger, sehr hübscher Mensch in einem hellen T-Shirt lag ihm in der Finsternis gegenüber, stützte sein Kinn in seine linke Handfläche und betrachtete ihn. Sein Haar war zerzaust und wirr und seine noch verschlafenen Augen schienen durch die Dunkelheit zu leuchten. Als der Mensch sah, dass David wach war, zuckte er erschrocken zurück. „Oh, entschuldige...!“, sagte Sascha schuldbewusst und nahm eilig seine rechte Hand weg, mit der er ihm die Locken aus dem Gesicht gestrichen hatte, „Ich wollte dich nicht wecken! Tut mir Leid...,“ David starrte ihn an. Gott, was macht der denn schon wieder hier?, gähnte sein Temperament, das nur langsam aus der Versenkung auftauchte, Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass der morgens in unserem Bett liegt..., „Oh Mann...,“ krächzte David tonlos und rieb sich die Augen. Dings erstrahlte unwillkürlich wie die Sonne, die noch nicht aufgegangen war, und robbte ein wenig näher an David heran. „Heißt das in deiner Sprache soviel wie guten Morgen?“ „Nein...,“ antwortete David heiser und löste mit einigen Schwierigkeiten seine Beine aus dem Geflecht unter der Decke, „Es heißt: Oh Mann...,“ „Mhm...,“ machte Mr. Guten-Morgen und schob die Unterlippe ein Stück vor, was ihn jedoch keineswegs weniger heiter aussehen ließ. David sah ihn an. Sascha sah zurück. Schlagartig begann sich Davids Körper wild zu regen. Sein Magen begann mal wieder zu kribbeln, seine Haut glühte und sein Herz, das vor kurzer Zeit noch tief geschlafen hatte, erwachte mit einem heftigen Schlag, der es sofort vollständig in die Gegenwart beförderte. „Wie...spät ist es eigentlich?“, stieß David aufgescheucht hervor, wirbelte herum und warf sich – von einem plötzlichen Adrenalinstoß unterstützt – seinem schweigenden Wecker entgegen, um auf sein düsteres Zifferblatt zu starren. „Keine Ahnung...,“ hörte er Sascha hinter sich belustigt antworten und spürte mit abrupt aufkeimender Erregung, dass er ihm hinterher gerückt war, „Ich tippe so auf...sechs Uhr?“ „Sechs...Uhr...,“ wiederholte David und erinnerte sich voller Entsetzen daran, dass er mit dem attraktiven Mr. Verführer in einem Bett lag. Nur mäßig bekleidet... Diese Erkenntnis war offensichtlich zu viel für Davids nach wie vor übermüdetes Bewusstsein. Ihm wurde leicht schwindelig. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, konzentrierte er sich auf den Wecker und die schwarzen Zeiger, die er im Licht der Straßenlaterne eben noch ausmachen konnte. Es war... ...zehn vor zwei?! „Oh Mann!“, wiederholte David laut und vergaß für einen Moment, dass er sich zwar warm, aber auch sehr schwach fühlte, „Von wegen sechs, es ist erst kurz vor zwei!“ „Bitte?“, erwiderte Mr. Miserables-Zeitgefühl verdutzt und beugte sich über Davids Schulter, um ebenfalls auf das Zifferblatt des Wecker zu schauen, „Oh... Tatsache... Sowas...,“ David schnaubte angesichts Saschas halbherzigem Erstaunen und drehte sich mit geöffnetem Mund zu ihm um, in dem festen Vorsatz, ihm ordentlich die Meinung zu geigen. Doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Sascha war ihm sehr nah. Sehr, sehr nah. So nah, dass er trotz der Nacht jede Gefühlsregung in den dunklen Augen sehen konnte. Er sah den Schalk, die Zärtlichkeit, den Frohsinn und...ein überdeutliches Vorhaben. Mit einer einzigen, vorrausschauenden Bewegung hob David die Hand und klatschte sie dem näher rückenden Dings auf den Mund. Der erstarrte. „Nein!“, stieß David hervor, während sich sein Herz vor Aufregung zerfledderte, „Das ist keine gute Idee!“ „Wum niff?“, fragte Dings und seine Lippen kitzelten so köstlich an Davids Handfläche, dass sich die angenehme Wärme in ihm unvermittelt in eine brennenden Hitze verwandelte. „Weil wir beide müde sind und...,“ David blickte wie hypnotisiert in diese schwarzen Iriden und seine Zunge erlahmte, „...weiter...schlafen...sollten... und...die...Arbeit...,“ sein Widerstand bröckelte wie uraltes Gestein, „...oder...nicht?“ Mr. Wum-Niff schüttelte den Kopf und unter seiner Hand spürte David ihn grinsen. GRINSEN. Davids Atem stockte und ohne jeglichen Protest ließ er es zu, dass Sascha die Hand von seinem Mund nahm, ihn zu sich zog und küsste. Spätestens jetzt, als sich ihre Lippen wieder fanden und tausende kleiner, warmer Flämmchen in Davids Herzen empor loderten, vergaß er endgültig Vernunft und Arbeit und Schlaf. Nichts auf der Welt war so wichtig und wunderbar wie dies. Mit einem erlösten Seufzer der endlich gestillten Sehnsucht schlang er die Arme um Saschas Nacken und zog ihn rücklings mit sich, zurück auf die Matratze. Sein Blut rauschte und sein Herz trommelte wie eine Herde Rehe auf der Flucht. Im Gesicht spürte er, wie Dings erregt ausatmete und bereitwillig öffnete David seinen Mund, als Sascha seine Lippen mit der Zunge teilte und ihn so leidenschaftlich zu küssen begann, dass sich Davids Magen schäumend umdrehte und sich sein Verstand vollends auflöste. Hingerissen schloss er die Augen. Es war ihm ein Rätsel, wie er jemals in seinem Leben hatte frieren können. Die Kälte war unwichtig und der kommende Winter hatte keine Bedeutung mehr. Es war Sommer. Er war Sommer. Er war Wärme, er war Hitze. Er bestand nur noch aus Feuer, das ihn verzehrte wie der Wüstenwind persönlich. Aber mit der Zeit verlor ihr Kuss an Intensität, er wurde sanfter und vorsichtiger, und irgendwann – eine Ewigkeit, die eigentlich nur eine halbe Stunde, und trotzdem viel zu kurz gewesen war, später – löste Sascha den Kuss schließlich ganz. Langsam kippte er zur Seite und vergrub sein Gesicht an Davids Hals, zu erschöpft, um seinen Kopf weiter zu halten. David wollte Einspruch erheben, doch kein Wort kam ihm über die Lippen. Die Müdigkeit war zurück. Nachhaltig und endlos. Zwar ging sein Atem schwer und seine Haut glühte noch immer, doch in seinem Kopf herrschte bereits dumpfe Ruhe und sein Körper war so drückend wie ein Geröllblock. Er war so müde, dass er es nicht schaffte seine Augen zu öffnen. Durch einen Schleier der Erschöpfung meldete ihm sein Körper, dass Sascha sehr schwer war und inzwischen eine eher ungünstige Position eingenommen hatte. „Runter...,“ murmelte er und mit einem Ächzen schob er Sascha von sich weg. Anschließend drehte er sich seufzend auf die Seite. Hinter sich hörte er Mr. Zu-Müde-Zum-Knutschen gedämpft glucksen. David überlegte einen Moment, nach hinten auszutreten, aber er entschied sich dagegen. Völlig unnötige Kraftanstrengung... Er spürte noch, wie etwas Großes und Warmes wieder näher an ihn heran kroch, dann befand er sich auch schon wieder im Land der Träume. Am Donnerstag um halb sieben stimmte der Ursprung allen Unheils seinen allmorgendlichen Schlachtruf an. So schrill und schrecklich wie immer. Doch heute war David zu seiner Verwunderung auf der Stelle wach. Wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch, blinzelte durch die milchige Dunkelheit des neuen Tages und brachte den Wecker mit einem gezielten Hieb zum Schweigen. Dann richtete er sich wieder auf, fuhr sich durchs Haar und gähnte. Aus irgendeinem Grund schienen seine Lippen angeschwollen zu sein und ihm war sehr warm. Das lag an der Bettdecke auf ihm und an dem Wesen, das groß und wärmend neben ihm lag und sich zu einer Kugel zusammen gerollt hatte. Es jammerte, verschlafen und weinerlich: „Oh Gott... Ich hasse deinen Wecker...,“ David drehte langsam den Kopf und starrte es an. Der Schock, Sascha in seinem Bett zu finden, war diesmal beinahe gar nicht lebensbedrohlich. Oh Mann..., knurrte sein Temperament, Der schon wieder... „Du musst ja nicht hier schlafen...,“ brummte David, während sein Herz schon wieder anfing zu bollern und die Wärme sein Blut mit Endorphinen füllte. Sein Mund bog sich zu einem unfreiwilligen Lächeln. „Ich will aber hier schlafen,“ erklärte Dings und lugte mit einem Auge über die Bettdecke rüber, „Hier riecht alles nach dir...,“ David sah ihn an. Ihm war sehr warm. Zu warm. Eilig strampelte er sich aus der Bettdecke frei und machte Anstalten, sich zu erheben. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass Dings schon um diese Zeit eine potenzielle Gefahr erkennen und vereiteln konnte. Bevor David auch nur seinen Hintern von der Matratze erhoben hatte, schlang Sascha die Arme um seine Taille und drückte ihn an sich. „Nein, geh nicht!“, wimmerte er gegen Davids Rücken, „Geh nicht. Bleib bei mir...,“ Gegen seinen Willen musste David lachen, während in seinem Körper sämtliche Alarmglocken zu schrillen begannen. Sein Herz hüpfte, sein Magen rumorte und seine Haut prickelte die übliche Botschaft: Sascha. Sascha. Sascha. Sascha. Sascha. Sascha... „Ich muss arbeiten...,“ erinnerte er Mr. Klammeraffe und versuchte sich halbherzig aus dem Griff zu befreien, „Nicht alle haben heute frei wie du.“ „Mir egal,“ verkündete Dings störrisch und lockerte seinen Griff um keinen Millimeter, „Ich lasse dich erst los, wenn du mich geküsst hast.“ Als hätte David es nicht geahnt. Also...nicht, dass er etwas dagegen einzuwenden hätte, doch...es wäre möglich, dass sie dann nicht mehr aufhören konnten. Wer würde sich dann um die Igel kümmern...? „Ich muss arbeiten...,“ erklärte David schwach und blickte in diese tiefbraunen, warmen Augen, „Ich...kann nicht...,“ „Doch, du kannst...,“ wisperte Sascha und hievte sich allmählich in eine ebenfalls sitzende Position, ohne David loszulassen, „Küss mich, David. Küss mich...,“ Davids Herz pumpte warmes Blut durch seine Venen. „Küss mich. Küss mich. Küss mich...,“ flüsterte Mr. Ich-Lass-Nicht-Locker in einem hypnotischen Singsang, „Küss mich, David. Küss mich. Küss–,“ Einen Moment länger und David wäre verschmachtet. Doch bevor es soweit hatte kommen können, hatte er seine Hände um Saschas Gesicht gelegt, ihn zu sich gezogen und ihn auf den Mund geküsst. Auf der Stelle gab Dings Ruhe. Glückselig seufzte er in den Kuss hinein und verstärkte seine Umarmung dann so schraubstockartig, dass David die Luft wegblieb. Spielend leicht öffnete Sascha seine Lippen und liebkoste sie mit seinen eigenen. Unter seinen Händen spürte David die Bewegungen von Dings’ Kiefer, sanft und sinnlich unter der weichen, warmen Haut. Sein Verstand, eben gerade erst erwacht, zog sich summend wieder in sein Nest zurück, während sein Körper zu brennen begann. Jede Faser, jeder Muskel, jede Zelle stand in Flammen und Erinnerungen an letzte Nacht und den Tag davor und den davor stiegen in ihm auf. Erinnerungen an das Küssen und an Saschas Nähe und an dieses Gefühl. Dieses unglaublich warme Gefühl in seiner Magengegend und in seiner Lungengegend und seiner Herzgegend... David stockte und der Anblick der Futterküche trat vor sein inneres Auge. Hastig stemmte er seine Hände – so kraftvoll es eben ging – gegen Saschas Brust und löste sich mit einigen Schwierigkeiten von ihm. „Ich...muss...arbeiten...,“ keuchte er zwischen einigen Küssen und versuchte verzweifelt, sich aus Saschas Umklammerung zu befreien, „Lass...mich...jetzt...los...,“ Mr. Kuss-Am-Morgen-Vertreibt-Kummer-Und-Sorgen schien davon wenig zu halten. Er knurrte in den Kuss hinein und lockerte seine Umarmung nur widerwillig. „Muss...das...sein...?“ „Mhm... Ja!“ Mit einem Ruck stieß sich David von ihm fort, rappelte sich auf so schnell er konnte und taumelte Richtung Fenster. Hinter sich hörte er Sascha zurück in die Kissen fallen. „...grausam...,“ wehklagte er unzusammenhängend in David Bettdecke, „...so grausam...,“ David ignorierte ihn. Seine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und er musste sich an der Fensterbank festhalten, um nicht umzukippen. Sein Herz klopfte energisch, seine Lippen trauerten laut um den Verlust und die Wärme in ihm verhinderte, dass ihn der kalte Wind von draußen zum Frösteln brachte. So ein Stress am frühen Morgen..., dachte David matt, während er sich bemühte, seine Atmung und seinen Herzschlag zu regulieren und gleichzeitig keinen Blick zum Bett zu werfen, Ich werde vorzeitig altern. Oh Mann, ist mir warm... Er atmete ein letztes Mal tief ein und aus, dann schloss er das Fenster und tappte über seine Klamotten am Boden zu seinem Kleiderschrank hinüber. Ihm war überdeutlich bewusst, dass Sascha dann vom Bett aus eine hervorragende Sicht auf seinen Hinterkopf hatte. Und auch auf alles...was darunter kam... Hätte er den Schrank damals nur anders herum gedreht... Wie auf Kommando hörte er Sascha vom Bett aus schnurren, als er sich vorbeugte, um sich ein sauberes T-Shirt und eine frische Boxershorts aus seinem Schrank zu kramen: „Hallooo... Was für ein hübscher–,“ „Lass das!“, unterbrach David ihn fauchend, wirbelte zu ihm herum und ließ fast das langärmelige, dunkelbraune Shirt in seiner Hand fallen. Die Wärme in seinem Körper verwandelte sich prompt in Hitze und kroch sein Gesicht hoch. „Was soll ich lassen?“, schmunzelte Mr. König-Der-Dummen-Anmachen unschuldig und plinkerte mit seinen Wimpern wie er es immer tat, wenn er etwas ausheckte. David schoss einen seiner bösesten Blicke auf ihn ab. Dann fiel ihm ein, dass Dings es ja mochte, wenn er wütend wurde, was ihn nicht gerade abkühlte. Welch ein Teufelskreis. „Du sollst aufhören, mich anzustarren. Sieh gefälligst woanders hin!“ Mr. Was-Soll-Ich-Lassen? schaute ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Woanders hinsehen? Wohin könnte ich denn bitte sehen, wenn du mit mir im selben Raum bist? Dann kann ich nirgendwo anders hinsehen. Dann kann ich nur dich ansehen.“ David starrte ihn an und Sascha lächelte. In seinen Augen lag so viel Wärme und Wahrheit, dass Davids Knie wieder Anstalten machten, an Ort und Stelle einzuknicken. Er öffnete den Mund, aber seine Zunge war taub und schwer. Sie hatte keine Antwort. Also schloss David den Mund wieder, griff das T-Shirt, das er trug, und zog es sich schweigend und gedankenlos über den Kopf. Dings war natürlich begeistert. „Und jetzt strippst du auch noch für mich!“ „Halt’s Maul!“, rief David, aber seine Mundwinkel zuckten. Er holte aus und katapultierte sein eben ausgezogenes T-Shirt Richtung Dings, den es sanft ins Gesicht traf. Sascha lachte, zog es sich vom Kopf und schmiegte sich hinein als wäre es eine Seidendecke. David schnaubte. Dann beschloss er, dass Boxershortswechseln völlig überbewertet wurde, zog das langärmelige Shirt über, dicht gefolgt von der alten Jeans am Boden. Diesmal suchte er ein Paar Socken und einen Pullover aus, die mehr Kälte abhalten konnten als die letzten Exemplare. „Ich geh dann...,“ sagte er, als seine Füße in den Gummistiefeln steckten, und blickte zu seinem Bett hinüber, um den üblichen Protest entgegen zu nehmen. Aber Mr. Stripfan hatte das Gesicht in Davids T-Shirt vergraben und schien wieder zu schlafen. Als er jedoch Davids Stimme mit ihm sprechen hörte, schreckte er hoch und blinzelte ihn verwirrt an. „W...Was...? Oh, okay. Soll ich dir Früh–,“ „Nicht nötig,“ unterbrach David ihn und spürte, wie sich auf seinem Gesicht ein Lächeln ausbreitete, das vielleicht ein bisschen sehr liebevoll war, „Übrigens danke, dass du mir gestern noch etwas zu Essen gemacht hast – du Arsch!“, fügte er leicht grimmig hinzu und Dings kicherte nur unwesentlich reumütig. „Gern geschehen...,“ erwiderte er schmunzelnd und gähnte, „Bist du dir sicher, dass du kein Frühstück willst. Ich mach dir das gern.“ „Ich bin sicher. Schlaf lieber noch etwas. Schließlich hast du heute frei.“ Dings nickte dankbar und kuschelte sich wieder in Davids T-Shirt. „Darf ich...hier bleiben?“ Plötzlich wusste David genau, woher der Begriff Hundeaugen kam. Er hatte keine Chance. „Ja...,“ antwortete er brummig und zwängte seine Haare unter seine Strickmütze, „Aber benimm dich unauffällig. Ich will keine dummen Fragen.“ Mr. Hündchen grinste schwach und nickte erneut. Seine Augen klappten zu und in David entstand der bohrend Wunsch, sich wieder zu ihm zu legen und ihn in die Arme zu nehmen, wie er es mit Marisa tat, wenn sie nicht schlafen konnte. Mühsam unterdrückte er diesen Drang, wandte sich um und ging zur Zimmertür. Bei ihr angekommen, drehte er sich noch einmal um und betrachtete den hübschen Menschen, der dort in seinem Bett, auf seinem Kissen lag, sein T-Shirt von gestern im Arm. So. ein. Depp. „Schlaf schön...,“ sagte er leise und Sascha lächelte und winkte schwach. David schüttelte leicht den Kopf, öffnete die Tür und trat hindurch. Leise schloss er sie wieder hinter sich und ging langsam die Treppe hinab, die er gestern Abend im Kälteschock hinauf gestolpert war. Er lächelte glücklich und bemerkte verwundert, dass die Unsicherheit in ihm, die ihn so lange geplagt hatte, fast vollständig verschwunden war. Draußen konnte es kalt sein soviel es wollte, in ihm drinnen war es ganz warm. Kapitel 26: Süchtig ------------------- Hallo Ihr :-)! Ich hoffe, Ihr hattet oder habt alle schöne Ferien oder wenigstens angenehme Wochenenden^^. Ich melde mich mit einem neuen Kapitel zurück und diesmal ist es wieder etwas länger geworden. Gestern hatten David, Sascha und ich Jahrestag, weil ich am 21. August 2008 das erste Kapitel von Mosaik hochgeladen habe. Glückwünsche werden gerne entgegen genommen^^. Widmung: Diesmal für , , und . Weil sie mir so schöne Kommentare geschrieben haben :-). Und jetzt viel Spaß beim Lesen! Liebste Grüße, Lung (ehemals BlueMoon) _____________________________________________________________________ Die letzten Wochen des Oktobers und die ersten Tage des Novembers flogen dahin, wie die Gänseschwärme, die in ihrer V-Formation über das Land Richtung Süden davon zogen. Das Wetter wurde immer schlechter. Auch dann noch, wenn die Mitarbeiter des Tierschutzzentrums glaubten, es könne gar nicht mehr weiter abwärts gehen: Graue Wolken und kalte Regenschauer wechselten sich ab wie Tag und Nacht. Die Sonne, die mit jedem Morgengrauen später kam und früher ging, blieb nie länger als ein paar Stunden zu Besuch. Die Futterküche wurde von abgemagerten Igeln überschwemmt, sodass man sie nur noch im Storchengang über die Unmengen Kisten hinweg und mit zugekniffener Nase durchqueren konnte. Diejenigen, die den vollgestapelten Waschplatz aufräumen und all die benutzten Boxen säubern mussten, kehrten als durchnässte und durchgefrorene Nervenbündel zurück. Die Außenterrarien wurden geräumt und in mehreren Stunden nervtötender Schinderei von oben bis unten geschrubbt, während ihre kälteempfindlichen Insassen in den überfüllten Rep.-Raum umgesiedelt wurden. Die Wasserschildkröten wurden gezählt, gewogen und in mit Erde gefüllten Wannen auf den Winterschlaf vorbereitet. Für die Papageien, die wegen der mangelnden Zeit in der Sonne und im Außengehege nacheinander in eine gelangweilte Depression fielen, wurden mehrere primitive Spielzeuge aus Klopapierrollen und Futter gebastelt, die sie bei Laune halten sollten. Außerdem bekamen auch sie nun eine kleine Bestrahlungseinheit, die von Woche zu Woche verlängert wurde. In der Nord, wohin manche der bereits gesunden Tiere zwecks Platzsparung verlegt wurden, war es so grauenhaft zugig und kalt, dass man sich mehrere Schichten und Handschuhe anziehen musste, um die Arbeit zu überleben. Beim ersten Mal Frost froren alle draußen stehenden Wassernäpfe ein und mussten mit den Schuhen aufgetreten werden. Viele der Wege waren mit Schlamm und abgefallenem Laub bedeckt, sodass Harken zum Alltagstrott wurde. Vorräte wurden gehortet; die Landschildkröten mussten von frischem Löwenzahn auf gekauften Blattsalat umsteigen und einige wilde Störche landeten vom Hunger getrieben im Gehege der Zentrumsvögel und taten als gehörten sie dazu, um ebenfalls gefüttert zu werden. Kurz: Der Herbst machte der Natur – und mit ihr dem gesamten Tierschutzzentrum – nachdrücklich klar, dass der Winter unaufhaltsam näher rückte. Diese Tatsache ging natürlich auch an den Mitarbeitern nicht spurlos vorbei. Abgesehen davon, dass alle unter dem scheußlichen Wetter und der Kälte zu leiden hatten, wütete auch eine Erkältung nach der nächsten unter ihnen und schwächte die ohnehin angeschlagenen Kräfte. Während Bettina und Mark nun verstärkt darauf achteten, dass alle Türen geschlossen waren, um keine Wärme zu verschenken, heftete Heiko eine lange Liste an einen der Schränke in der Zivi-Küche, auf der alle Arbeiten notiert waren, die noch vor dem kommenden Winter erledigt werden mussten, und der sich Zivis, FÖJler, Azubis, Praktikanten und Ehrenamtliche gleichermaßen ungern näherten. Durch den Wegfall der meisten – mehr als Igel jedenfalls – pflegebedürftigen Tierarten wurde die Arbeit zwar weniger, aber durch die Wetterbedingungen auch unangenehmer, sodass es unter den jüngereren Mitarbeitern Mode wurde, sich zu einem Pläuschchen im warmen Rep.-Raum zu treffen und extra lange Mittags- und Kaffeepausen einzulegen. Das funktionierte so lange gut, bis Freddy sie verriet und Bettina diesem Treiben ein Ende setzte. Trotz all dieser Kleinigkeiten, die sein Dasein erschwerten, konnte sich David an keine Zeit seines Lebens erinnern, in der er irgendwie glücklicher gewesen wäre. Der Grund dafür presste ihn in diesem Moment rücklings und ungestüm an das kalte Volierengitter des Graupapageis Quatschkopf und küsste ihn so leidenschaftlich, dass Davids Magen einen Salto nach dem anderen schlug. Seine Knie bebten und seine Hände hatte er regelrecht in Saschas weichem Rollkragenpullover verbuddelt. Vorsorglich, damit er nicht den Boden unter den Füßen verlor, indem er davon flog oder auch wahlweise durch die Fliesen Richtung Erdkern hinab fiel. Sein Herz wummerte so nachdrücklich gegen seine Rippen, dass er befürchtete, sie würden früher oder später splitternd nachgeben. Seine Sinne waren benebelt von dem wunderbaren Geruch, den Mr. Lover-Lover ausströmte wie ein ewig aktives Parfümfläschchen. In seinem Kopf herrschte ein dumpf kreisendes Vakuum und er fühlte sich so alt und klapprig wie ein neunzigjähriger Rollstuhlfahrer auf Stelzen. Dennoch schaffte er es, den Kuss so stürmisch zu erwidern, dass ihm keine Zeit zum Denken geschweige denn zum Atmen blieb. Sein Zeitgefühl war verreckt, irgendwo zwischen der Gegenwart und dem längst vergangen Augenblick, als Sascha den Papageienraum betreten hatte. Als sie nach fast zehn Minuten schließlich den Kuss lösten, schnappten sie beide nach Luft, als hätten sie soeben den Weltrekord im Langstreckenlauf gebrochen. „Ich...muss...zurück...in die...Futter...küche...,“ japste Dings, ohne den Abstand zwischen ihnen auch nur um einen Zentimeter zu vergrößern, und lehnte seine warme Stirn gegen die Davids, „Sonst...macht Ben wieder Scheiße und...schmeißt nen Igel in den Müll...oder so,“ David schnaubte belustigt, während er sich bemühte, den Sauerstoffmangel in seinem Blut mit besonders tiefen Atemzügen auszugleichen. „So...ein...Vollidiot...,“ keuchte er zurück und löste mühsam seine angespannten Finger aus ihrem Klammergriff. Unter seinen drei Oberteilschichten spürte er Saschas kühle Herbstfinger auf seiner nackten, erhitzen Haut, wo sie kalte, prickelnde Brandlöcher hinterlassen hatten. „Sehen wir uns in der Mittagspause?“, wisperte Dings und zog seine Hände, die er nicht nur zu Aufwärmungszwecken dort drunter geschoben hatte, unter Davids T-Shirt hervor. „Sicherlich...,“ antwortete der und erzitterte unvermittelt bei diesen sanften Berührungen, „Wie...i...immer..,“ Sascha lächelte gegen seine Lippen, hauchte ihm einen letzen Kuss entgegen und löste sich dann mit einem Ruck von ihm, als würde er es kaum über sich bringen. „Gut...,“ flüsterte er und schob sich rückwärts zu Tür, ohne seine Augen auch nur ein einziges Mal von Davids Gesicht abzuwenden, „Vorausgesetzt...ich verschmachte nicht vorher...,“ David schmunzelte matt, während er all seine verbliebenen Sinne darauf konzentrierte, nicht an Ort und Stelle zusammen zuklappen. Gott sei Dank hatte er eine feste Gitterwand hinter seinem Rücken, die seinem ausgelaugten Körper etwas Halt gab. „Bis dann...,“ murmelte er. Einen Moment sah er noch Saschas lächelndes Gesicht, dann fiel die Tür zu und David sackte ächzend und der Länge nach am Gitter hinab auf den feuchten Boden, den er eben gerade noch gewischt hatte. Der Abzieher lag nun vergessen am Boden, wo David ihn bei Saschas Ankunft achtlos hingepfeffert hatte. Alles um ihn herum schien sich zu drehen. Seine Beine bestanden aus Pudding. Aus ausgesprochen weichem Pudding. Er musste einige Momente die Augen schließen. David war sich sicher: Keine Droge auf der Welt könnte solche Effekte auf ihn haben wie ein einziger Kuss von Sascha. Und das Schlimmste daran war, dass er sich einfach nicht an die Wirkung gewöhnte. Jedes verdammte Mal haute sie ihn um wie ein Fohlen, das eben gerade Laufen gelernt hatte. Jedes verdammte Mal schien ihm Dings à la Dementor die Seele aus dem Mund zu saugen. Und David hatte keinen Patronus, um sich zu verteidigen. Es hatte am 18. Oktober angefangen. Dem Donnerstag als sie das dritte Mal gemeinsam in Davids Zimmer, in Davids Bett von Davids Wecker aufgeschreckt worden waren. Das war jetzt fast drei Wochen her. Seitdem hatte es sich zu einem Ritual entwickelt, dass Sascha sich mehrmals in der Arbeitszeit unter irgendwelchen Vorwänden zu ihm stahl, wo immer er auch gerade war und arbeitete, und ihn halb besinnungslos küsste. Anfangs hatte er sich selbstverständlich gesträubt. Was, wenn sie jemand erwischte? Was, wenn jemand etwas ahnte? Aber inzwischen...strukturierte sich Davids Arbeitstag nicht mehr nach Arbeitsbeginn, Mittagspause und Feierabend, sondern nur noch nach Wann-Kommt-Sascha-Und-Küsst-Mich-Endlich?. Er konnte sagen und tun, was er wollte. Die Wahrheit war absolut überdeutlich: Er war längst über alle Maßen süchtig. Er war süchtig nach Saschas Nähe und seinem Duft. Süchtig nach all diesen beknackten Kosenamen, mit denen er ihn immer noch täglich betitelte. Süchtig nach jedem Detail seines Gesichts. Süchtig nach seinem Grinsen, seinem Lachen und seinem liebevollen Schmunzeln. Süchtig nach all den tausend Küssen, die sie jeden Tag austauschten, und jeder einzelnen der ungezählten Nächte, in denen sie, nachdem sie sich müde geküsst hatten, eng aneinander geschmiegt einschliefen. Und er war süchtig nach den stundenlangen Gesprächen und all den Kleinigkeiten, die er inzwischen über Dings wusste und die er immer noch täglich über ihn erfuhr. Er war süchtig nach Saschas Verständnis und der Tatsache, dass er ihn zu nichts – rein gar nichts – drängte. Sven war ihm damals schon nach kürzester Zeit an die Wäsche gegangen und David hatte es mit zusammen gebissenen Zähnen geschehen lassen. Sascha...war ganz anders. Trotz all den Nächten, die sie dicht aneinander gekuschelt wie Hundewelpen in einem Bett verbracht hatten, hatte er niemals versucht, irgendeinen Schritt weiter als küssen zu gehen. Nie hatte er irgendetwas von David verlangt; und David, dessen Körper bei jeder von Dings’ Berührungen vor Sehnsucht zu glühen und zu pochen begann, war ihm unendlich dankbar dafür, dass er ihn selbst entscheiden ließ, wann er bereit für einen Schritt vorwärts war. Daher war David auch derjenige gewesen, der zuerst seine Hände unter Saschas Pullover geschoben hatte. David schlug die Augen wieder auf und atmete tief die Luft um ihn herum ein. Der Papageienraum war so ziemlich der einzige Raum des Zentrums, in dem es nicht auf die eine oder andere Weise stank. Hier roch es nach Obst und nach frischer Luft und den Federn der Vögel. Es war ein angenehmer Geruch. Aber natürlich nicht so angenehm wie der von– David ächzte, verdrängte diesen Gedanken und hievte sich schwerfällig hoch. Seine Beine bebten noch etwas, waren aber wieder bereit sein Gewicht zu tragen. Langsam setzte er sich in Bewegung, hob den Abzieher auf und schleifte ihn hinter sich her. Die Papageien zwitscherten und schäkerten leise und beäugten ihn von ihren Stangen herunter. David runzelte die Stirn und blickte von einem buntgefiederten Vogel zum Anderen. Er musste daran denken, dass die Tiere des Zentrums die einzigen Zeugen von seinem und Saschas...ähm...Dingsbums...waren. „Macht ihr euch über mich lustig?“, fragte er lauernd in die unvollkommene Stille hinein. Die Papageien schrien zustimmend und Loui, der gerupfte Weißhaubenkakadu, stellte seinen Kamm auf und nickte krähend mit dem Kopf. David schnaubte und schmunzelte. Hinter ihm bellte der Quatschkopf. Als er zehn nach zwölf die Betreten verboten-Tür aufschloss, schlugen David sofort fröhliche Stimmen, das Geklapper von Geschirr und Besteck und, allem voran, der herrliche Geruch nach Spaghetti entgegen. Sein Magen holperte auf seinem Sitzplatz hungrig auf und ab und betont behutsam betrat David die Zivi-Küche. Denn – wo es nach Essen roch, konnte Mr. Heroin bekanntlich nicht weit sein. Diese Regel hatte sich eingebürgert, als Dings freiwillig begonnen hatte, jeden Mittag für alle Mitarbeiter zu kochen. Dies und die Tatsache, dass ihm keine Aufgabe zu ätzend, keine Hilfeleistung zu anstrengend, kein Wetter zu mies war, um gute Laune zu verbreiten, hatten ihn zum neuen Zentrumsliebling gemacht. Gemeinsam mit Linda schaffte er es sogar, dem ständig mürrischen Freddy hin und wieder ein Lächeln abzuringen. Auch an diesem Tag stand Sascha am Herd und rührte in einem Topf mit blubbernder, duftender Tomatensoße, während Ben, Linda, Miriam, Eric und sogar Jessika hinter ihm eifrig Teller, Gläser, Gabeln und Löffel für alle in den Seminarraum schleppten. Aber David achtete kaum auf sie. Seine Augen hafteten an Dings’ Gesicht wie Magneten an einem Kühlschrank. Es war wirklich unheimlich. Damals, als Mr. Ecstasy neu ins Tierschutzzentrum gekommen war, hatte er gut ausgesehen. Jetzt sah er umwerfend aus. Sein Haar, gelfrei und weich wie Federn, fiel ihm dunkel und glänzend in die Stirn. Seine Haut über den festen Muskeln schimmerte golden von der warmen Herbstsonne und die modernen, geschniegelten Bonzenklamotten von damals, nun unbekümmert und achtlos kombiniert und behandelt, trugen inzwischen die überdeutlichen Zeichen, die eine solche Arbeit zwangsläufig mit sich brachte. Die Sonnenbrille war verschwunden und die teuren Turnschuhe durch dreckige Gummistiefel ersetzt worden. Und es war diese Natürlichkeit, die Sascha so hervorragend stand. Diese Natürlichkeit und dieses Leuchten, das aus seinen braunen Augen strahlte und seine gesamte Gestalt umgab wie ein Heiligenschein. Dieses Leuchten, das nur das Glück in einem Menschen entflammen konnte. Egal wie lange David ihn ansah, er konnte sich einfach nicht an ihm satt sehen und er wusste, dass es mindestens Jessika genauso ging. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass David beunruhigend besitzergreifende und eifersüchtige Züge an sich selbst feststellte. Er wollte Sascha für sich ganz allein und er war absolut bereit, dafür Morde zu begehen. Jedenfalls...theoretisch. Ganz natürlich bei Süchtigen. Gott, es kam ihm vor, als würde er Sascha schon seit Jahren kennen, als hätten sie schon Monate damit verbracht, einfach nur durchzuknutschen. Allein bei der Vorstellung, dass er über zwei Wochen damit vergeudet hatte, Sascha zu hassen und vor ihm zu flüchten, wo er ihn doch hätte küssen können... Was für eine grässliche Zeitverschwendung! Tatsächlich gab es im Moment nichts, was David lieber tat als Sascha zu küssen. Diese Beschäftigung stand unangefochten auf Platz eins seiner Lieblingstätigkeiten. Kein Wunder. Schließlich war er süchtig. Dies war auch der Grund dafür, dass David zu Marisas Missfallen schon seit Wochen nicht mehr zu Hause in Braunschweig gewesen war. Doch der Gedanke, sich auch nur für ein paar Tage von Mr. Kokain und seinen Küssen trennen zu müssen, war einfach unerträglich. Er wollte nichts anderes tun, er brauchte seine tägliche Dosis, um nicht an den Entzugserscheinungen zu krepieren. Außerdem hatte er in den letzten Tagen schon genug gelitten. Denn seit Montag hatte Sascha das erste Mal Nachtschicht, was freie Nachmittage einschloss, weshalb David in dieser Zeit auf seine lebenswichtige Suchtbefriedigung verzichten musste. Die gab’s erst wieder abends. „Hey, da bist du ja...,“ begrüßte Sascha ihn liebevoll und strahlte ihm entgegen, als wäre er allein der Grund dafür, dass er hier stand, kochte und atmete. „Hallo...,“ erwiderte David mit lahmer Zunge und lächelte schwammig. „Alles klar?“ „Mhm...,“ Mr. Crack lächelte ihn zärtlich an und David brauchte all seine Selbstbeherrschung, um seinen Blick von ihm loszureißen und, statt sich wie eine drogensüchtige Klette an ihn zu heften, an ihm vorbei zu gehen. Diese Sucht würde ihn noch umbringen... Irgendwie schaffte David den Weg von der Küchenzeile in den Seminarraum, wo er sich wortlos auf einen der Stühle rund um den langen und für insgesamt zehn Personen gedeckten Tisch sinken ließ und tief und konzentriert atmete. „Hey, David!“, begrüßte Linda ihn fröhlich, „Alles okay mit dir? Du siehst so fertig aus.“ David blinzelte zu ihr hoch und schmunzelte matt. „Alles bestens...,“ murmelte er undeutlich und schlug sich innerlich gegen die Stirn angesichts seines miserablen Schauspieltalents. Bevor Ben und Jessika mehr tun konnten, als sich bedeutungsvolle Blicke zu zuwerfen, betrat zum Glück Mr. Retter-In-Der-Not mit einem großen Nudeltopf in den Händen den Raum. „Essen!“, rief er laut und ausgelassen Richtung Büros und stellte den Topf auf dem Tisch ab, „Kann jemand bitte noch die Soße holen?“ Während sich Eric emsig auf den Weg machte und die Anderen sich ebenfalls an den Tisch setzten – bevor er sich versah, saß David zwischen Ben und Miriam, was ihn zugleich erleichterte und enttäuschte – ertönten Schritte auf der kleinen Treppe zu den Büroräumen und Bettina, Mark und Luisa erschienen im Seminarraum. „Ich habe gehört, es gibt Essen...?“, grinste Mark in die Runde und nahm sich als Erster, als Mittlerer und als Letzter noch mal. Die nächste Stunde verbrachten sie in familiärem Arbeitskreis. Heiko und Freddy waren die einzigen, die fehlten, denn sie waren die einzigen, die nicht süchtig nach Saschas Kochkünsten waren. Heiko verkündete nach wie vor, Saschas Speisen wären vergiftet und Freddy zog in der Mittagspause schlicht die Einsamkeit der Zehnsamkeit vor, womit er im wahrsten Sinne des Wortes ziemlich allein da stand. Für David waren diese gemeinsamen Mahlzeiten vor allem eins: anstrengend. Denn abgesehen davon, dass er ganz unauffällig essen, reden und lachen musste, obwohl er doch von seiner Sucht abgelenkt wurde, musste er sich zwingen, auf gar keinen Fall zu Sascha hinüber zu sehen, der ihm selbstverständlich ausgerechnet gegenüber sitzen musste und seine Augen anzog wie Honig einen Schwarm Bienen. Aber die Gefahr, dass er dann nicht mehr würde wegsehen können, war – wie er sehr genau wusste – einfach zu groß. Sucht hin oder her, er musste sich zusammen reißen. Sonst würde er sich früher oder später noch verraten. Und das wollte David auf keinen Fall. An diesem Mittwoch dauerte es noch ganze sieben Stunden, bis David endlich seine nächste und lebensrettende Dosis bekam. Erst gegen halb acht konnten er und Mr. Speed sicher sein, dass sie die Zivi-Küche für sich allein hatten und ungestört waren, um sich gegenseitig über die Entzugserscheinungen hinweg zu helfen. Fast eine Dreiviertelstunde lang klebten sie untrennbar wie zwei sich mit Creme einreibende Hände aneinander, bis sie es halbwegs ertragen konnten, sich loszulassen und Abendbrot zu machen. Nach dem Essen saßen sie gemeinsam auf der Eckbank, ihre Beine umeinander gewickelt wie Schlingpflanzen. Der Tisch vor ihnen war beladen mit frischem Brot, knusprig gebratenen Hähnchenkeulen und einem köstlichen Nudelsalat, den Sascha innerhalb von Minuten aus dem Rest Spaghetti gezaubert hatte. „Und er hat dich wirklich so lange im Klo eingesperrt gelassen?“, fragte Sascha gerade empört, grinste ihn dabei aber erwartungsvoll und amüsiert an. David lachte bei der Erinnerung und sein Herz pochte heftig unter Dings’ Blick, der wie hypnotisiert auf ihm lag, als wolle er sich jede Einzelheit von Davids Gesicht genau einprägen. „Jaah und vermutlich hätte er mich auch nicht rausgelassen, wären meine Eltern nicht früher nach Hause gekommen,“ antwortete er lächelnd und dachte an seinen großen Bruder, „Er behauptet immer noch steif und fest, ich hätte es verdient.“ Sascha legte seinen Kopf in den Nacken und lachte. „Herrlich! Ich wünschte, ich hätte so einen Bruder.“ „Red keinen Unsinn, das ist die Hölle.“ „Glaub ich nicht.“ David wollte gerade loslegen und Mr. Bruderlos jede der zahlreichen Unzulänglichkeiten von Julians Charakter unterbreiten, als plötzlich das schnurlose Zentrumstelefon sein grässlich unmelodiöses Klingeln anstimmte, an das David sich vermutlich noch als Großvater erinnern würde, und seine Stimme abwürgte. Sascha stieß einen leidenden Laut aus. „Oh nee... Nicht jetzt...,“ Schweren Herzens ließ David es zu, dass Dings seine langen Beine aus ihrem Knoten zog, aus der Bank rutschte und sich das lärmende Telefon vom Sofa holte. Wer Nachtschicht hatte, war nach dem regulären Feierabend auch fürs Telefon zuständig. „Tierschutzzentrum Rötgesbüttel, was kann ich für Sie tun?“, meldete er sich mit freundlicher Stimme, drehte sich aber zu David um und verzog das Gesicht. David grinste ihn an, schlug die Beine übereinander und wollte gerade in Saschas Anblick versinken, als der plötzlich versteinerte. Seine Augen weiteten sich und richteten sich mit konzentrierter Bestimmtheit auf David. David starrte verdutzt zurück. „Ja, natürlich,“ sagte Dings dann und machte sogar Anstalten, sein Atomstrahlen anzuknipsen, „Einen Moment bitte.“ Lächelnd kam er zurück zum gedeckten Tisch und reichte David den Telefonhörer über das Essen hinweg entgegen. „Für dich. Deine Mutter.“ David blinzelte. Dann ergriff er hastig den Hörer, drückte ihn sich ans Ohr und drehte sich leicht der Wand zu. Aus irgendeinem albernen Grund war er ein wenig verlegen – und besorgt. Eltern riefen doch nur an, wenn irgendetwas passiert war... „Hallo?“, fragte er etwas nervös ins Telefon, während Sascha sich ihm gegenüber auf einen der Stühle sinken ließ. „Hallo Schatz,“ schallte die Stimme seiner Mutter an sein Ohr und zum Glück klang sie ruhig und fröhlich wie immer, „Tut mir Leid, dass ich anrufe. Ich möchte auch gar nicht lange stören.“ „Schon gut...,“ brummte David und warf Sascha, der bei seinem murrenden Tonfall leise aufgelacht hatte, einen bissigen Blick zu, „Was gibt es denn? Ist alles in Ordnung?“ „Jaja, keine Sorge,“ antwortete die Stimme seiner Mutter und David hörte, dass sie lächelte, „Ich...wollte nur fragen, ob es für dich möglich ist, am Montag hier bei uns zu sein.“ David runzelte die Stirn und blickte an Sascha vorbei zum Arbeitsplan, auf dem Mark Anfang jeder Woche festlegte, wer wann arbeitete. Er hatte zwar den Dienstag frei bekommen, aber den Montag nicht. Dafür würde er sich einen seiner Urlaubstage nehmen müssen – und sich außerdem von seiner Droge trennen. Bei dem Gedanken musste David unvermittelt schlucken. „Ähm... Wieso?“, erkundigte er sich langsam und zwang sich – zum Schutze seines süchtigen Seelenheils –, nicht an das Küssen zu denken. Seine Mutter schwieg einen Moment und David wurde dadurch augenblicklich bewusst, dass er soeben etwas gesagt haben musste, das ihr nicht gerade zusagte. „Vielleicht weil dein Bruder Geburtstag hat?“, sagte sie dann und klang tatsächlich ein kleines bisschen kühler als sonst. Davids schlechtes Gewissen schlug schneller zu als ein Karateschlag von Jackie Chan. Natürlich. Wie hatte er das nur vergessen können?! Diese verdammte Sucht hatte es ihm aus dem Kopf gefegt wie ein Sturmwind. Er war ein miserabler Bruder... „Ja, richtig...,“ murmelte er zerknirscht, „Felix wird fünfzehn. Tut mir Leid.“ Schuldbewusst fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. Er spürte Saschas Blick so intensiv an sich haften, dass ihm heiße und kalte Schauer über den Rücken rieselten. Er gab sich alle Mühe, nicht darauf zu achten und seinen Herzschlag unter Kontrolle zu halten. „Ist ja nicht schlimm,“ antwortete seine Mutter und hörte sich schon wieder besser gelaunt an, „Felix sagt es zwar nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich sehr freuen würde, wenn du an seinem Geburtstag da wärst.“ „Möchte er denn nicht mit seinen Freunden feiern?“ „Doch, aber erst am Freitag. Also, wie sieht es aus? Könntest du arbeitstechnisch kommen?“ David biss sich auf die Lippe und sah zu Sascha hinüber. Der spielte mit dem Kronkorken, der schon den ganzen Tag über auf dem Tisch gelegen hatte und vermutlich zu einem vergangenen Saufgelage gehörte, und betrachtete David aufmerksam, als wäre so ein Gespräch mit der Mutter das Spannendste auf der Welt. Als David seinen Blick erwiderte, lächelte er zärtlich und David blickte hastig wieder weg, um einen Entzugsanfall zu vermeiden. Gott, würde er es tatsächlich aushalten, sich zwei Tage von ihm zu trennen...? GOTT, allein, dass er sich solche Fragen stellte...! „Ähm, Mam? Also, ich...ich weiß nicht so genau...,“ stammelte David und versuchte krampfhaft nicht in Dings’ Richtung zu sehen, „Ich habe Dienstag frei, müsste mir aber für Montag einen...einen Urlaubstag nehmen. Und ob das klappt...ähm...,“ natürlich würde es klappen, denn – ein Blick auf den Arbeitsplan sagte es ihm – da arbeiteten außer Sascha alle, wodurch sein Fehlen überhaupt kein Problem wäre, „Aber ich kann ja mal fragen.“ Seine Mutter schwieg am anderen Ende wieder einen Moment. Allerdings klang die Stille diesmal weniger empört als neugierig und nachdenklich. Also auch nicht viel besser. „Äh, okay?!“, fragte David daher laut, um seine Mutter bloß vom Grübeln abzuhalten, „Ich ruf noch mal an, ja?“ „Ja, gut,“ erwiderte seine Mutter jetzt wieder fröhlich, „Ich sage Felix noch nichts davon. Dann ist er nicht enttäuscht, wenn es nicht klappt. Und wenn es klappt, bist du die Überraschung. Und...einen Moment!,“ es raschelte kurz in der Verbindung, „Und deine Schwester lässt dir ausrichten, dass du unbedingt kommen sollst, egal wie.“ David musste unwillkürlich schmunzeln. „Gut. Sag ihr, ich tu was ich kann. Bis dann.“ Er wollte schon erleichtert auflegen, als seine Mutter ihm noch etwas hinterher schrie: „Und wer war eigentlich dieser nette junge Mann vorhin am Telefon?“ David wurde übel. „Niemand!“, rief er in den Hörer, „Tschüss.“ Hastig drückte er auf den Knopf, um die Verbindung zu trennen, und legte das Telefon möglichst weit weg von sich auf den Tisch. Ihm war unangenehm warm und sein Herz rumpelte schon wieder wie eines dieser Asphaltstampfgeräte, die immer auf den lautesten Baustellen benutzt wurden. Auch ohne ihn anzusehen, wusste er mit hundertprozentiger Sicherheit, dass der nette junge Mann am Telefon ihn anblickte. „Alles okay?“, fragte der auch gleich. David atmete tief ein und aus, schluckte und riss sich dann zusammen. Gequält lächelnd hob er den Kopf und erwiderte Dings’ Blick. „Ja. Ja, sicher. Ich...soll nach Hause kommen am Montag. Weil mein kleiner Bruder fünfzehn wird und... Na ja...,“ Er verstummte und starrte auf ein paar Brotkrümel auf der fleckigen Tischdecke. „Oh...,“ machte Sascha und David, der den enttäuschten Tonfall bemerkt hatte, hob erneut den Blick. Sascha sah genauso aus, wie David sich fühlte, wenn er an ihre Trennung dachte. Vielleicht war die Zeit reif für eine Entzugsklinik... „Und...,“ begann Sascha in diesem Augenblick wieder und knabberte dabei auf seinem Daumennagel herum, als wäre er nervös, „Wirst du fahren?“ David sah ihn an. Zwei Tage bei seiner Familie. Zwei halbe Tage eigentlich nur. Zwei halbe Tage und eine Nacht. Das war nicht lang. Außer...man war so süchtig, dass körperliche Entfernung von der Droge regelrecht schmerzhaft war. Grauenhaft! „Ich...weiß noch nicht so genau...,“ Seine Stimme erstarb wieder und prüfend musterte er Mr. LSD. Er wirkte, als wäre er hin- und her gerissen, zwischen zwei Wünschen, die sich gegenseitig widersprachen. „Wieso?“ Dings räusperte sich und biss sich auf die Unterlippe. Seine Augen zuckten kurz wie Scheinwerfer in einer Disko durch den Raum, dann richteten sie sich wieder auf David. „Ich dachte nur, dass wir...dass wir was gemeinsam machen könnten, weil ich wegen dem Ende meiner Nachtschicht ja auch Montag und Dienstag frei habe und...,“ David starrte ihn an, doch bevor er ein Wort sagen konnte, fuhr Sascha hastig fort, „Aber ich will dich natürlich auch nicht von deiner Familie fernhalten und wenn dein Bruder–,“ In diesem Moment schnitt das Schrillen des Telefons ihm erneut das Wort ab. David und Sascha stöhnten im Chor. Jetzt bitte kein nach Igeln fragender Opa. Während Mr. Phencyclidin nach dem Hörer angelte, klopfte Davids Herz hektisch vor Aufregung in seiner Brust. Was gemeinsam machen. Wie was? Sowas wie Kino? Oder Eis? Oder Zoo? So wie ein Date? So wie ein...Pärchen??? In Davids Kopf kreiselte es. „Tierschutzzentrum Rötgesbüttel, was kann ich für Sie tun?“ David starrte Sascha an, sah ihn jedoch nicht richtig. Vor seinem inneren Auge schwebte eine Szene nach der anderen vorbei: Er und Dings Arm in Arm und knutschend im Zirkus, im Park, im Restaurant... „Oh...ähm... Ja, genau. Woher weißt du das?“ ...im Eislaufstadion, im Museum, im Theater... „Tatsächlich? Danke. Ich freue mich auch.“ ...beim Picknicken, beim Achterbahnfahren, beim Enten füttern... „Das...äh...das ist wirklich nett, aber ich...ich will nicht stören...,“ ...beim Wolken zählen, beim... Hä? Was redet der da eigentlich? Nach Igeln hört sich das nicht an... David erwachte aus seinen Träumen, blinzelte und begann sich auf den Grund seiner Sucht zu konzentrieren. Der wirkte plötzlich leicht verstört. Er schien zwischen Freude, Belustigung und Grauen zu schwanken. Diesen Ausdruck kannte David ganz genau. Er kannte nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der einfach im Zentrum anrufen würde, Sascha voll quatschen und ihn dann innerhalb kürzester Zeit aus der Fassung bringen konnte. Davids Magen drehte sich um vor Entsetzen. „Gib mir mal das Telefon!“, sagte er laut und stemmte sich über den Tisch, „Schnell!“ Sascha blickte halb erstaunt, halb erleichtert zu ihm hoch. „Warte mal,“ sagte er dann ins Telefon, „Dein Bruder möchte dich sprechen,“ er schmunzelte, „Okay, danke. Ja, bis dann.“ Er übergab David wortlos den Hörer. In seinen Augen blinkte eine beeindruckte Sprachlosigkeit. David schluckte. „Hast du noch alle Tassen im Schrank?!“, fauchte er in den Hörer, kaum hatte er ihn am Ohr, „Wieso rufst du denn hier an?“ „Ich wollte nur sagen, dass du kommen sollst,“ antwortete Marisas Stimme und klang, angesichts Davids barschem Ton, alles andere als freundlich, „Warum schimpfst du so?“ „Weil ich doch Mama schon gesagt habe, dass ich es mir überlege,“ entgegnete er hitzig und achtete nicht auf Saschas perplexen Blick, „Da musst du mir nicht auch noch hinterher spionieren.“ „Ich habe gar nicht spioniert! Du bist doch nur böse, weil ich mit Sascha geredet habe und ihm gesagt habe, dass er mitkommen kann.“ David verschlug es die Sprache. Er musste nach Hause fahren. Einzig, um seine Schwester zu erwürgen. Mitkommen? MITKOMMEN?! Das würde Saschas Tod bedeuten. Andererseits...bräuchte er sich dann nicht von ihm zu trennen... „Rede keinen Unsinn! Er will nicht mitkommen!“, pampte er, ohne richtig nachzudenken oder Sascha anzusehen, dessen Gesicht bei seinen letzten Worten gezuckt hatte. „Will er wohl!“, krähte Marisa zurück, „Das habe ich sofort gehört! Er traut sich nur nicht, dich zu fragen. Aber er will mitkommen. Er will mein Puppenhaus sehen.“ David wimmerte innerlich. Sein Blut kochte. Seine Schwester war die Ausgeburt der Hölle schlechthin. Eines Tages – sofern seine Sucht das nicht übernahm – würde sie sein Leben beenden. Unter Schmerzen. „Das will er nicht!“, fauchte David ungehalten, „Und jetzt geh ins Bett und lass uns in Frieden!“ „Du bist gemein!“, jammerte seine Schwester zurück und erschrocken stellte David fest, dass ihre Stimme so zittrig klang wie immer, wenn sie angestrengt die Tränen zurückhielt, „Sascha ist viel netter als du. Ich hasse dich!“ Es klickte in der Leitung. „Marisa? Es tut mir Leid! Ma... Marisa?“ Er seufzte und legte auf. Das schlechte Gewissen bohrte sich in sein Inneres. Er hätte nicht so grob sein sollen. Sie wollte doch nur Sascha kennen lernen. „Deine Schwester ist unglaublich,“ sagte der in dieser Sekunde dumpf. „Stimmt...,“ murmelte David und starrte Dings an, „Du... Du willst doch nicht mit... Oder?“ Mr. Schwesterlos sah ihn einen Moment vollkommen ausdruckslos an. „Also...ich... Ich weiß nicht... Ich...,“ stammelte er dann und sein Gesicht verzerrte sich von einer Emotion zur nächsten. Zuerst flog Freude darüber, dann Furcht, dann Neugier und schließlich wieder Furcht. Fasziniert beobachtete David sein Mienenspiel, während sein Puls wieder zu rasen begonnen hatte und sein Magen eifrig Loopings drehte. Ob vor entsetzter Panik oder vor süchtiger Begeisterung wusste er selbst nicht so genau. „Irgendwie ja, aber irgendwie auch nein...,“ Sascha schluckte krampfhaft, „Was wenn... Was wenn...,“ Seine Stimme erstarb und David runzelte die Stirn. So gehetzt hatte er ihn sonst nur bei Gewitter erlebt. Aber draußen war alles ruhig. „Was wenn was?“ Dings starrte ihn an. Er schien nach Worten zu ringen, die seiner Angst Ausdruck verleihen konnten. Dann brach es plötzlich und gewaltsam aus ihm heraus: „Was, wenn sie mich nicht mögen?!“ Kapitel 27: Erleichtert ----------------------- Hallo Ihr Lieben :-)! Ich melde mich mit einem neuen Kapitel aus Davids Familie zurück. Eigentlich wollte ich noch viel mehr in dieses Kapitel packen, aber...leider bin ich nicht so der Typ fürs Kürzen. Daher müsst Ihr Euch mit dem, was es heute gibt, erstmal zufrieden geben^^. Vorsicht Spoiler: Hiermit kündige ich für das (bzw. eines der) nächsten Kapitel einen kleinen Lime zwischen David und Sascha an! Ich hoffe, das ist in eurem Sinne XD. Und jetzt viel Spaß beim Lesen :-). Liebste Grüße, Lung ____________________________________________________________________ Es war Montag. Früher Nachmittag. Der Zug ratterte leise, während er auf seinen Gleisen dahin glitt und sich an Bäumen, Kühen und Strommasten vorbei schlängelte. Der Himmel, der sich wie eine stumme Drohung über die herbstliche Landschaft spannte, war zur Abwechslung mal schiefergrau und trostlos. Die dicken Regenwolken hingen so dicht aneinander, als wollten sie die Sonne endgültig in ihrer flauschigen Nässe ertränken. Es war wirklich ein Wunder, dass es nicht aus Eimern schüttete. Aber vielleicht wartete der Himmel nur auf den richtigen Augenblick. Zum Beispiel darauf, dass ein glückliches und eben getrautes Pärchen – selbst Schuld, wenn es so dumm war, sich ausgerechnet im November das Ja-Wort zu geben – in sensibler Garderobe aus der nächsten Kirche trat. Oder darauf, dass irgendein Mädchen ihren untreuen, aber reuevollen Freund mit einer Ohrfeige in die Wüste schickte und anschließend weinend in einem Taxi davon fuhr, während er dem Auto verzweifelt rufend nachrannte. Oder darauf, dass David und Sascha aus dem Zug ausstiegen, Davids Mutter begegneten und sie auf der Stelle feststellte, dass sie Sascha nicht ausstehen konnte. Denn jeder wusste ja, dass der Regen unpassende Momente und Dramatik liebte. David wandte den Blick vom geduldig Ausschau haltenden Himmel ab und blickte zu Mr. Dramaqueen hinüber, der ihm gegenüber auf dem zerschlissenen Zugpolster saß und vollkommen regungslos aus dem Fenster starrte. Seit sie vor zehn Minuten in den Zug gestiegen waren, hatte Dings kein Wort mehr gesagt. Einzig seine rechte Hand, die auf seiner schmalen Reisetasche lag und deren Finger sich in regelmäßigen Abständen krümmten und streckten, bewiesen David, dass er noch lebte und in der Zwischenzeit nicht an Herzstillstand gestorben war. Aber darauf wartete David eigentlich schon seit Samstagabend. Da hatte Sascha nämlich eingewilligt, mit ihm nach Braunschweig zu fahren. Nachdem David sich bei Mark den Montag freigebettelt hatte und vorsichtig bei seiner Mutter angefragt hatte, ob es in Ordnung ginge, wenn er seinen...ähm...Kollegen...mitbringen würde. „Aber natürlich ist das in Ordnung!“, hatte seine Mutter am Telefon begeistert betont, während Marisa im Hintergrund vor Freude gejault hatte, „Wir freuen uns alle darauf, endlich einen deiner Freunde aus dem Zentrum kennen zu lernen.“ David hatte Dings diese erleichternde Familienbotschaft ausgerichtet, doch der hatte daraufhin nur ein Geräusch von sich gegeben, das dem Todesröcheln einer Waldohreule ähnelte. Was immer das zu bedeuten hatte. Seither hatte Sascha seine Zeit vor allen Dingen damit verbracht, angsterfüllt an seinen Fingernägeln zu kauen und sich lauter hirnrissige Szenarien auszudenken, die alle damit endeten, dass Davids Eltern ihn aus dem Haus jagten und ihm untersagten, je wieder ein Wort mit ihrem Sohn zu sprechen. „Sehr unwahrscheinlich...,“ hatte David immer wieder versichert – mit jedem Mal etwas weniger enthusiastisch. Gott, insgesamt hatte er bestimmt schon mindestens acht Stunden seines Lebens damit verschwendet, Dings beruhigende Monologe zu halten, die zu Davids Erleichterung letztendlich auch gewirkt hatten. Tatsächlich war Mr. Familienphobie heute Morgen recht zuversichtlich gewesen. Offenbar...war er das inzwischen nicht mehr. David seufzte innerlich, während er sein Gegenüber, dem die Aufregung wie eine Leuchtreklame im Gesicht stand, eingehend betrachtete. „Sascha...,“ zischte er dann leise, „Sascha...!“ Dings zuckte zusammen, als hätte David ihm mit aller Kraft gegen das Schienbein getreten. Flackernd richteten sich seine dunklen Panikaugen auf David, dessen Magen unwillkürlich einen Salto schlug. Doch er achtete nicht darauf. „Alles in Ordnung?“, fragte er leise. Sascha starrte ihn an. Dann zwang er sich zu einem Lächeln. „Klar...,“ antwortete er mit einer Stimme, die eindeutig ein wenig höher und zittriger klang als sonst. Sofort schwemmte eine Welle Wärme durch Davids Inneres und seine Muskeln bebten sehnsüchtig. Am Liebsten wäre er aufgestanden und hätte sich neben Sascha gesetzt, um ihn mit...anderen, sehr wirksamen Argumenten zu trösten. Doch diesmal befanden sich nicht nur eine Oma und ein Punk mit ihnen im Abteil, sondern auch noch zwölf andere Fahrgäste – unter anderem ein giggelndes Mädchentrio –, von denen David ungern angestarrt werden wollte. Also räusperte er sich und rutschte nur kurz auf seinem Platz hin und her, bis der Kussdrang halbwegs verschwunden und sein Mund wieder bereit war, auf der sprachlichen Ebene zu arbeiten. „Mach dir doch nicht solche Sorgen!“, flüsterte er dann, während Dings ihn leidend ansah, „Meine Familie wird dich lieben!“ Das hatte er auch schon so oft gesagt, dass es ihm langsam zum Halse raus hing. Doch er war sich nach wie vor sicher, dass es der Wahrheit entsprach. Außerdem schien es Sascha jedes Mal wieder etwas zu trösten und zu erleichtern. „Meinst du...?“, murmelte der auch gleich und klang dabei so hoffnungsvoll, dass David ein leises Lachen unterdrücken musste. „Ja, natürlich!“, erwiderte er dann nachdrücklich, konnte sich aber einen kleinen Nachtrag nicht verkneifen, „Solange du meine Mutter nicht aufforderst, dich Meister zu nennen.“ Den Rest der Fahrt verbrachte David damit, den Schaden zu beheben, den sein Scherz in Saschas Seelenfrieden ausgelöst hatte. Als sie schließlich gemeinsam mit ihrem Gepäck – diesmal ohne Cello – in Braunschweig ausstiegen, hatte sich Sascha wieder einigermaßen von dem Meister-Schock erholt. Trotzdem war er noch ziemlich blass um die Nase, sodass David ihm alle paar Sekunden einen besorgt-schuldbewussten Blick zu warf, während sie sich durch den Andrang auf dem Bahnsteig schoben und nach Frau Spandau Ausschau hielten. Und langsam wurde auch er nervös. Hoffentlich geht alles gut..., flehte alles in ihm, Hoffentlich passiert kein Unglück. Hoffentlich mögen sie ihn. Oh Gott! – Hoffentlich mag er sie! In diesem Moment erspähte er seine Mutter neben einem Snackautomaten, wo sie sich suchend umsah. Sein Herz sprang ihm in die Kehle. „Da ist sie!“, informierte er Dings aufgeregt, der prompt noch eine Nuance weißer wurde, riss den Arm hoch und winkte. Sein Herz bollerte gegen seine Rippen, als der Blick seiner Mutter dem seinen begegnete. Sie trug Jeans und bequeme Schuhe und hatte sich ihre blonden Locken, die sie lediglich an David und Marisa weiter vererbt hatte, am Hinterkopf hochgesteckt. Sie sah aus wie immer – und lächelte strahlend. „Hallo!“, rief sie glücklich und nahm David in die Arme, als hätte sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, „Wie schön, dich zu sehen, mein Schatz. Gute Fahrt gehabt?“ „Mhm, ja...,“ machte David und befreite sich leicht verlegen aus ihrer mütterlichen Umarmung, „Mam, das ist Sascha.“ Er griff wahllos hinter sich, ertastete Dings’ Jacke und zog ihn näher. Fast konnte er ihn durch den Stoff zittern spüren. Himmel, hoffentlich geht das gut... „Hallo...,“ sagte Mr. Was-Wenn-Sie-Mich-Nicht-Mögen?! mit einer Stimme, so schüchtern, wie David sie noch nie aus seinem Mund gehört hatte. Mit wild pochendem Herzen schaute David ihn an. Das erste Mal in seinem Leben hatte er Lust zu beten. „Hallo, Sascha!“, sagte seine Mutter freundlich und ergriff die Hand, die er ihr unsicher hinhielt, „Es freut mich sehr, dich kennen zu lernen! Nenn mich einfach Elisa, das tun alle.“ Sascha blinzelte und dann – zu Davids unheimlicher Erleichterung – verzogen sich auch seine Lippen zu einem freudigen, erleichterten Lächeln, in dem noch etwas Anderes zum Ausdruck kam als bloße Freude über die herzliche Begrüßung. Doch David erkannte es nicht. „Danke,“ antwortete Dings gerade und tatsächlich füllten sich seine Wangen wieder mit etwas Farbe, „Ich freue mich auch...,“ Und man konnte meilenweit sehen, dass er das vollkommen ernst meinte. Während der Autofahrt vom Bahnhof zum Sitz der Familie Spandau fing es dann schließlich an zu regnen. Dicke Tropfen prasselten auf Straßen, Dächer und Autos und verwandelten die Stadt innerhalb kürzester Zeit in einen flachen See. David sah aus dem Fenster und lauschte seiner Mutter, die verkündete, dass sie bereits eine zweite Matratze in Davids Zimmer gelegt hatten und hofften, dass Sascha damit einverstanden wäre, was – oh, Wunder – er natürlich war. Anschließend erzählte sie fröhlich, dass Felix nach wie vor keine Ahnung von ihrem Kommen hatte, obwohl Marisa deswegen schon das gesamte Wochenende ganz aus dem Häuschen war, und dass sich auch Julian für den späten Nachmittag angekündigt hatte. Mit jedem Wort, das sie sprach, wuchs Davids Mitleid für Sascha. Er hoffte inständig, dass sich der Regen ein anderes Drama ausgesucht hatte und kein böses Vorzeichen für das folgende Aufeinandertreffen von Dings und dem Rest seiner Familie war. Er drehte den Kopf und schaute Mr. Rainman an, der neben ihm auf der Rückbank saß und sehr konzentriert atmete. Trotzdem wirkte er dabei ein bisschen erleichterter als noch auf der Zugfahrt. Bei seinem Anblick vibrierte jede einzelne von Davids Körperzellen vor Zärtlichkeit. Sascha war so tapfer. Und er war so unheimlich süß. Scheiße! Hoffentlich ging alles– „Wie lange arbeitest du eigentlich schon im Zentrum, Sascha?“, fragte Elisa in diesem Moment, hielt an einer Ampel und blickte in den Rückspiegel. Dings zuckte leicht zusammen. „S...Seit Anfang Oktober.“ „Und, gefällt es dir?“ „Ja, sehr. Es...ist wirklich interessant. Aber auch anstrengend.“ David lächelte matt, versuchte seinen liebevollen Herzschlag zu ignorieren und wandte mit Mühe seinen Blick von Sascha ab, der sich mit seiner Mutter über die Wetterverhältnisse im November und die Arbeitsbedingungen im Zentrum zu unterhalten begann. Noch nie zuvor hatte er sich so sehr eine Fernbedienung für sein Leben gewünscht. Er könnte einfach auf Pause drücken, sodass die ganze Welt um ihn herum – Sascha ausgeschlossen – einfror und nichts mehr mitbekam. Dann würde er ihn in die Arme nehmen und küssen und küssen und küssen und...küssen. Bis Sascha sich keine Sorgen mehr machte und seine eigenen Lippen endlich aufhörten so scheußlich zu kribbeln. Es war tatsächlich schon wieder fast eine Stunde her, dass er Dings geküsst hatte. Das war zu lange. Viel zu lange. Eine Ewigkeit, wenn man sich ständig nah war, sich aber nicht so nah sein konnte, wie man eigentlich wollte, weil alles um einen herum voller gaffender Leute war! Verdammte Scheiße. Grimmig starrte David durch die Windschutzschreibe nach draußen in den Regen, während sich sein Magen händeringend um die eigene Achse drehte und sein Herz wimmernd pochte. Ob seine Mutter es merken würde, wenn er Sascha einfach ganz schnell küssen würde? Ganz kurz? Wenn sie gerade konzentriert nach vorne schaute und dabei eine komplizierte, lange Frage formulierte... Natürlich würde Dings dann kurz nicht antworten können, aber dann würden sie sich einfach kurz fassen müssen. Außerdem– Himmel! Welcher verfluchte Mistkerl hat eigentlich Rückspiegel erfunden?! Kam es ihm nur so vor oder sah seine Mutter da recht oft hinein? So, als würde sie ihn und Sascha... beobachten... Um Gottes Willen! Was hatte das zu bedeuten? Ahnte sie etwa was? Benahm er sich zu auffällig? David riss sich zusammen und schüttelte kurz und entschieden den Kopf. Nein, nein... Das konnte nicht sein. Unmöglich. Ganz ruhig, ganz ruhig... Atmen... Alles war in Ordnung. Alles war gut. Alles war unter Kontrolle... Nachdem Elisa das Auto schwungvoll in eine Parklücke gelenkt hatte, stiegen sie aus und liefen hastig durch den Regen auf das Haus zu, in dem David aufgewachsen war. Es war mit Efeu bewachsen und aus mehreren Fenstern fiel warmes Licht auf den ausgestorbenen, dunklen und von Pfützen übersäten Fußweg. David fand, dass es einnehmend freundlich wirkte und hoffte mit ganzem Herzen, dass es Sascha genauso ging. Sein Herz begann wieder heftig in seiner Brust zu pochen. Julian war zwar noch nicht da und auch Felix war, soweit er wusste, noch in der Schule, aber sein Vater und Marisa waren wohl zu Hause. Sein Vater würde wahrscheinlich kein besonders großes Problem darstellen, aber Marisa...bildete auf ihre eigene Art und Weise eine kleine Herausforderung. Er schluckte und verschlang seine Hände ineinander, während seine Mutter die Haustür aufschloss. Neben sich spürte er Sascha beben. Irgendetwas in ihm schlug ihm vor, Dings’ Hand zu nehmen und zu drücken, um ihm ein wenig von seiner Furcht zu nehmen. Doch sie waren noch immer nicht allein. Und so ließ David es bleiben. „Wir sind da!“, rief Davids Mutter, sobald sie die Tür hinter ihnen dreien geschlossen und die trockene Wärme des Hauses sie in Empfang genommen hatte. Aus dem Wohnzimmer antworteten prompt zwei verschiedene Stimmen. Eine eher tief und eine eher hell. Irgendetwas fiel zu Boden und einen Moment später hörte David die kleinen, hastigen Schritte, die nur von einer einzigen Person stammen konnten. „David, David! David!“, kreischte die helle Stimme – dann bog ihre Urheberin auch schon um die Ecke. Marisas blonde Locken umrahmten ihr Kindergesicht. Ihre Augen strahlten ihren Bruder an. Vor lauter Eile stolperte sie fast. David wollte schon die Arme ausbreiten, da fiel der Blick seiner Schwester auf seinen Begleiter und urplötzlich wechselte sie die Richtung. „Sascha! Sascha!“ Und noch bevor irgendwer – Dings allen voran – erstaunt die Augen aufreißen konnte, flog sie Mr. Oh-Gott-Ein-Kind-Fällt-Mich-An in die Arme, als hätte sie ihr ganzes Leben nur auf ihn gewartet. Völlig verdutzt fing der sie auf und erwiderte Davids fassungslosen Blick auf die gleiche Weise, während sie ihn wie ein lange vermisstes Spielzeug herzte. „Da bist du ja endlich!“, krähte sie ihm ins Ohr, „Ich warte schon das ganze Wochenende. Ich muss dir unbedingt mein Puppenhaus zeigen!“, sie ließ seinen Hals los, richtete sich etwas auf und strahlte ihm ins Gesicht wie eine gigantische Glühbirne, „Papa hat mir nämlich aus Streichholzschachteln Kinderbetten gebaut und sie angemalt und die sehen jetzt ganz, ganz schön aus. Und Mama hat mir eine kaputte Tasse geschenkt und jetzt können meine Puppen auch baden und...,“ David schaltete ab. Irgendwo hinter sich hörte er seine Mutter lachen und auch sein Mund verzog sich zu einem erleichterten Grinsen. Es war ein herrlicher Anblick: Marisa, die strahlend auf Saschas Arm saß und ihm dabei einen Monolog hielt, während sein Gesichtsausdruck ununterbrochen zwischen beeindruckter Belustigung und sprachloser Verblüffung schwankte. Offenbar war er noch nicht so vielen Kindern wie Marisa begegnet. David öffnete gerade den Mund, um a) Sascha zu retten und b) seine Schwester dezent darauf hinzuweisen, dass er auch noch da war, als sein lächelnder Vater in seinem Blickfeld auftauchte und ihn davon abhielt. „David!“, unterbrach er den Puppensermon seiner Tochter und schenkte David eine feste, männliche Umarmung, „Auch mal wieder im Lande?“ David grinste verlegen gegen seine Schulter. Doch bevor er sich einen Grund zurecht gelegt hatte, weshalb er erst nach über einem Monat wieder zu Hause auftauchte, löste sich sein Vater wieder von ihm und wandte sich Dings zu, der Marisa in der Zwischenzeit zurück auf den Boden gesetzt hatte und nun abermals etwas nervös aussah. „Sascha,“ sagte Davids Vater lächelnd und schüttelte ihm die Hand, „Ich bin Volker. Schön, dass wir endlich mal einen Kollegen von David kennen lernen.“ David sah gerade noch rechtzeitig hin, um das plötzliche Flackern zu sehen, dass bei diesen letzten Worten seines Vaters über Saschas Gesicht huschte. Es war kein richtiges Mienenspiel, eher ein blasser, leiser Schatten eines Ausdrucks, der innerhalb eines Herzschlags wieder verschwand und sofort durch ein erleichtertes Lächeln ersetzt wurde. Eine Sekunde später war David sich schon sicher, dass er es sich nur eingebildet hatte. „Vielen Dank,“ lächelte Dings, während David versuchte, mit seiner Schwester Augenkontakt aufzubauen, den sie ihm aber beharrlich verweigerte, „Es ist wirklich nett, dass ich mitkommen durfte. Ich hoffe nur, das Geburtstagskind hat nichts dagegen.“ „Ach, bestimmt nicht,“ antwortete Volker munter und schenkte seiner Frau, die inzwischen Jacke und Straßenschuhe ausgezogen hatte und sich nun elegant an ihm vorbei Richtung Wohnzimmer schob, ein liebevolles Lächeln, „Der wird sich, sobald er von der Schule kommt, auf sein neues Playstationspiel stürzen und nichts Anderes um sich herum wahrnehmen.“ David hob den Kopf. „Was für ein Spiel?“, fragte er seinen Vater. Der seufzte und zuckte die Schultern. „Keine Ahnung wie es heißt. Irgendwas mit Autorennen. Julian hat es geschickt und er–,“ „Kann ich Sascha jetzt mein Puppenhaus zeigen?!“, schnitt Marisa ihrem Vater das Wort ab und zog eine Schnute, „Er möchte es jetzt endlich sehen!“ Dings’ Gesicht zuckte amüsiert. „Lass den Armen doch erst mal ankommen,“ antwortete Volker, bevor Sascha sich selbst ins Unglück reiten konnte. „Er ist doch schon angekommen!“, maulte Marisa und verschränkte ihre Arme. „Er hat aber immer noch Schuhe und Jacke an,“ entgegnete David und machte sich daran, seinen Reißverschluss zu öffnen, „Außerdem möchte er zuerst mein Zimm–,“ „Mit dir rede ich gar nicht!“, verkündete Marisa laut und sah ihn so böse an, dass David unwillkürlich einen Schritt rückwärts machte. „Wieso nicht?“ „Du warst gemein zu mir! Am Telefon!“ David unterdrückte ein entnervtes Stöhnen. Also daher wehte der Wind. Tja. Im Gegensatz zu anderen Kindern in ihrem Alter konnte seine Schwester eben sehr nachtragend sein. Er wusste das und wäre er allein mit ihr gewesen, würde er sich jetzt eventuell demütigen, indem er sie um Verzeihung anflehte und ihr hoch und heilig versprach, es nie wieder zu tun. Doch heute stand Sascha neben ihm. Sascha, vor dem er ungern eingestehen wollte, wie vernarrt er in seiner Schwester war. Sascha, der – oh Gott, er konnte es kaum glauben! – tatsächlich bei ihm zu Hause war. Sascha, der mit diesem schüchternen Lächeln und dem vom Regen feuchten Haar einfach hinreißend aussah und nach dem er sich seit Anfang ihrer Zugreise körperlich sehnte. „Ich war nicht gemein, ich war nur...,“ er suchte nach Worten, „...in Eile...,“ „Gar nicht...!“, plärrte Marisa und ballte ihre Fäustchen, „Du wolltest nur–,“ „Marisa, Schätzchen!“, rief Davids Mutter in diesem Moment aus der Küche, „Felix’ Torte ist fertig. Wolltest du sie nicht probieren?“ Einen Moment sah Marisa aus, als würde sie herzlich gern auf die Torte verzichten, wenn sie ihren Bruder dafür nur noch ein bisschen weiter anschreien durfte. Dann drehte sie sich jedoch um und rannte ohne ein weiteres Wort zu ihrer Mutter in die Küche. David ächzte erleichtert. Er konnte sich leibhaftig vorstellen, was das kleine Monster ihm alles an den Kopf geworfen hätte. Dinge, die Sascha und vor allem sein Vater nicht unbedingt wissen mussten. Auf keinen Fall wissen mussten. Trotzdem – der erste Teil des Hindernislaufs war damit erfolgreich bewältigt. Blieben noch seine Brüder, wobei Felix vermutlich der kompliziertere von beiden war. Sobald Sascha den geschafft hatte, würde Julian ein Klacks sein. Volker zwinkerte David zu. „Glück gehabt,“ sagte er und schmunzelte, „Fürs Erste bist du noch mal um ihr Puppenhaus herum gekommen, Sascha.“ „Oh, das wäre kein Problem gewesen,“ antwortete Mr. Puppenfreund treuherzig, „Ich habe–,“ Aber David ließ ihn nicht ausreden. „Und was für ein Problem das gewesen wäre, glaub mir,“ brummte er und zog sich hastig die Jacke aus, „Komm, ich zeige dir mein Zimmer und den Rest des Hauses. Bevor Marisa genug Torte probiert hat...,“ Offen gestanden ging es David weniger um die Hausbesichtigung als darum, so schnell wie möglich einen leeren Raum zu finden, in dem er seines Amtes walten konnte. Die Wahl fiel auf das erstbeste Zimmer, an dem sie vorbei kamen. „Also, das ist das Arbeitszimmer meiner Mam,“ eröffnete David seinem Besuch und zog ihn am Pullover hinter sich her, „Hier sitzt sie und korrigiert.“ Sobald Sascha den Raum ebenfalls betreten hatte und sich umzusehen begann, schloss David hastig, aber bemüht lautlos die Tür. „So viele Bücher...!“, hörte er Dings beeindruckt sagen, „Das müssen an die dr–,“ David erfuhr nie, wie viele Bücher seine Mutter wohl in ihren Regalen stehen hatte. Er konnte einfach nicht mehr warten, bis Sascha seine Schätzung ausgesprochen hatte. Er nahm ihn an den Hüften, drückte ihn rücklings an das nächste freie Stückchen Wand – direkt neben der Tür, beim Lichtschalter –, stemmte sich hoch so gut er konnte und küsste Mr. Bücherwurm stürmisch und glückselig auf den Mund. Einen Moment war Sascha wohl zu perplex, um sich zu bewegen oder den Kuss zu erwidern. Einen Moment. Dann fühlte David den Stromstoß, der durch seinen Körper hindurch zu gehen schien, und Dings zog ihn so heftig an sich, dass ihm die Luft wegblieb. Davids Herz überschlug sich beinahe vor Begeisterung und irgendwo in seinem Unterleib entzündete sich eine kribbelnde Flamme, die sich in alle Ecken seines Körpers ausbreitete. Erregt seufzte er in den wilden Kuss hinein und seine Hände schoben sich gierig unter Saschas Pullover und T-Shirt, legten sich verzückt auf die warme, glatte Haut des muskulösen Rückens, während Sascha die Finger in seinen Locken vergrub. Nach fünf brennenden Minuten lösten sie den Kuss schließlich und lehnten sich haltsuchend aneinander, bis sich ihr Atem normalisiert hatte. „Tut...mir...Leid, dass...ich dich...so überfallen hab...,“ keuchte David leise und legte seine Stirn an Saschas warme Brust, während sich seine Gedanken kopf- und hirnlos im Kreis drehten und Dings’ Haut noch unter seinen Fingern glühte. „Macht mir...gar nix...,“ japste Mr. Attackenopfer ebenso leise zurück und streichelte David liebevoll übers Haar, „Ich habe...sowieso...nur auf den richtigen Moment gewartet...,“ David lachte leise gegen Dings’ Schlüsselbein. „Vollidiot...,“ raunte David zärtlich und sein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Mit Mühe zog er seine Hände und einen Teil seiner Arme unter Saschas Klamottenschichten hervor und wischte sich einmal über den Mund. Jetzt galt es vorsichtig zu sein. Vorsichtig und vorausschauend. Niemand durfte sehen, wie sie zu zweit und leicht verplant aussehend aus dem Arbeitszimmer von Davids Mutter kamen, dessen Tür noch dazu geschlossen gewesen war. Vor allem nicht Marisa. Die brachte es fertig, diesem Umstand durchs ganze Haus zu brüllen. Und darauf konnte David sehr gut verzichten. David wandte sich eben ab, um zur Tür zu schleichen und durchs Schlüsselloch zu äugen, als Sascha nach seinem Arm griff. David wandte sich zu ihm um. „Was ist?“, fragte er leicht gehetzt, „Wir müssen aus dem Zimmer raus. Sonst–,“ „David?“, schnitt Dings ihm das Wort ab. David sah ihn an und sein Herz begann wieder schneller zu klopfen. Irgendetwas an Saschas Stimme und seiner Miene verunsicherten ihn. „Ja...?“ „Deine...Eltern... Also, deine Familie...,“ er holte einmal tief Luft und David musste unvermittelt schlucken, „Deine Familie...weiß nicht, dass wir beide z...mehr als nur...Kollegen sind. Oder...?“ David starrte ihn an, während sein Magen sich verkrampfte. „Nein!“, stieß er dann entsetzt hervor, „Natürlich nicht!“ Dings schwieg und einen Augenblick lang war sein Gesicht so ausdruckslos, dass David beim besten Willen nicht erahnen konnte, wie ihm zumute war. Dann lächelte er. „Okay...,“ David war so erleichtert, dass er nicht weiter auf Saschas Stimme und sein Lächeln achtete. Kapitel 28: Liebevoll --------------------- Guten Morgen Allerseits :)! Willkommen zum ersten Mosaik-Kapitel nach VIEL zu langer Zeit^^. Es enthält überwiegend Familienfluff, aber ich hoffe, es gefällt Euch trotzdem. Im nächsten Kapitel kommt dann das, worauf Ihr alle schon so sehnsüchtig wartet ;). Und ich verspreche, dass dieses nächste Kapitel nicht so lange auf sich warten lässt wie dieses hier >< . Entschuldigt, dass ich bei der Info-Ens vergessen habe, den Link zur Veränderungs-Liste einzufügen. Schaut in meinen Weblog, da ist der Link. Kapitelwidmung: Für , weil ich es ohne sie nie geschafft hätte. Und für , weil sie nicht müde wird, mich beim Schreiben anzufeuern :) Viel Spaß beim Lesen! Liebste Grüße, Lung ____________________________________________________________________ Hätte die steinalte und gänzlich humorlose Frau Petzold an diesem Abend gegen neun Uhr nicht die linke, sondern die rechte Route – am Haus der Spandaus vorbei – gewählt, um ihren Mops Bubi auszuführen, hätte sie nach einigen Metern eventuell vor Schreck den Herzinfarkt erlitten, auf den ihre geldgierige Verwandtschaft schon so lange ungeduldig hoffte. Ein jüngerer und etwas widerstandsfähigerer Passant wäre vielleicht stattdessen auf den Gedanken gekommen, dass in dem sandfarbenen Backsteingebäude mit der silbernen Nummer 22 neben der Haustür ein großes Bankett mit zwanzig angeheiterten Gästen aus der Comedyszene stattfand, die alle gleichzeitig redeten und lachten. Um sich davon zu überzeugen, dass dieser Gedanke nicht der Wahrheit entsprach, hätte ein kurzer Blick durch die Gardinen eines der geschlossenen Wohnzimmerfenster genügt. Doch da die meisten Nachbarn von Familie Spandau ungern dabei gesehen werden wollten, wie sie geduckt und klammheimlich in das erleuchtete Fenster eines fremden Gebäudes äugten, wurde der Beweis über die wahren Vorgänge im Haus Nummer 22 nie erbracht. Allerdings...wäre der größte Teil der Nachbarn wohl sowieso von der eher unspektakulären Realität enttäuscht gewesen. In Wahrheit (und in Langweile) waren weder Hella von Sinnen, noch Mario Barth oder sonst ein Vertreter ihrer Kategorie anwesend. Und obwohl die Lautstärke der Geräusche von Besteck auf Geschirr, das fröhliche Durcheinander von unterschiedlichen Stimmen und das ausgelassene Gelächter sämtlicher Tonlagen die Vermutung nahe legten, dass die sechsköpfige Familie Spandau mindestens eine Fußballmannschaft zu Besuch hatte, saß nur eine weitere Person mit am Esstisch. Und obwohl diese Person sich relativ zurückhaltend verhielt, war sie der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Ein Umstand, der David Spandau mittlerweile nicht einmal mehr ein verhaltenes Schnauben oder ein mattes Kopfschütteln entlocken konnte. Tatsächlich hatte David es nach dem vergangenen Nachmittag ganz aufgegeben, irgendwie auf die Begeisterungsstürme zu reagieren, in die Sascha seine Familie ausbrechen ließ. Wäre er jedoch einer dieser Menschen gewesen, deren Lebensinhalt darin bestand, anderen Menschen gegenüber permanent die eigene Unfehlbarkeit zu demonstrieren, indem sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit Siehste! brüllten, hätte er in den letzten paar Stunden wohl nichts anderes getan. Glücklicherweise gehörte David jedoch nicht zu dieser anstrengenden Gattung Mensch, wofür ihm vermutlich alle Anwesenden – und besonders Sascha – sehr dankbar waren. Und dennoch: Er hatte es ja gewusst, verdammt noch mal! Natürlich würden seine Eltern Dings sofort und auf ewig in ihre Herzen schließen, wenn er sein strahlendes Lächeln lächelte, über die mittelmäßig witzigen Witze seines Vaters lachte und seiner Mutter anbot, ihr beim Kochen zu helfen. Natürlich würde seine Schwester sich unsterblich in Dings verlieben, wenn er ehrliches Interesse für ihr angebetetes Puppenhaus zeigte. Und natürlich würden seine Brüder Dings augenblicklich und unwiderrufbar in ihren coolen Männerkreis aufnehmen, wenn er Felix in die Geheimnisse des Unbesiegbarseins bei Need for Speed Underground einweihte und Julian das beste Gulasch servierte, das der je gegessen hatte. Gott, es war ja von Anfang an total klar gewesen, dass es so kommen würde, geradezu logisch. Alles andere wäre schlicht und einfach undenkbar gewesen. Absolut...nein halt. Und Mr. Oh-Gott-Davids-Familie-Wird-Mich-Bestimmt-Hassen! hatte ihm einfach nicht glauben wollen. Der Vollidiot. „Sascha, erzähl uns noch mehr aus dem Zentrum!“, fiepte Marisa mit glänzenden Augen, sobald sie sich alle mehr oder weniger von dem Lachanfall erholt hatten, den Saschas letzte absurde Geschichte über einen sanften Riesen namens Leopold, seine Freundin Mathilda und drei verängstigte Zivis in ihnen ausgelöst hatte. „Ja, noch so was Witziges!“, stimmte Felix begeistert zu und spießte seine letzte Nudel, die er heute tatsächlich ohne Ketchup gegessen hatte, bedächtig auf die Gabel, „David hat uns nie solche Geschichten erzählt.“ „Weil es euch vorher nie interessiert hat,“ erwiderte David und rieb sich den vor lauter Lachen schmerzenden Bauch, „Immer, wenn ich vom Zentrum angefangen habe, habt ihr zwei rumgenörgelt, dass das langweilig wär.“ „Stimmt ja gar nicht,“ empörte sich Marisa. „Kinder...,“ murmelte Volker aus Gewohnheit, während Elisa nur sanft schmunzelte. „Stimmt wohl,“ brummte David verdrießlich. Seine jüngeren Geschwister öffneten die Münder, um weiter zu streiten, aber Julian, der sich soeben seinen vierten Nachschlag Gulasch nahm, unterbrach sie barsch: „Ist doch völlig schnuppe jetzt. Erzähl weiter, Sascha.“ Während Dings, dessen Wangen vor lauter Freude über all die Liebe und all die Aufmerksamkeit gerötet waren, seine Stirn in Falten legte, um in seinem Gedächtnis nach weiteren Zentrumsanekdoten zu suchen, grummelte David stumm in sich hinein. Und es stimmte doch. Die einzigen, die sich wirklich und immer für seine Arbeit im Zentrum interessiert hatten, waren seine Eltern und sein bester Kumpel Kenji gewesen. Dass seine kleinen Geschwister sich so für sein Leben in Rötgesbüttel begeistern ließen, war neu und lag vermutlich weniger am Inhalt der Geschichten, sondern mehr an der Person des Erzählers. Diese elenden Heuchler. Doch aus irgendeinem Grund konnte David Mr. Alle-Lieben-Sascha einfach nicht böse sein. Obwohl seine eigene Anwesenheit neben der Dings’ zu verblassen schien. Obwohl Marisa, von der er Liebesschwüre und ungeteilte Aufmerksamkeit gewohnt war, sobald er die Schwelle des elterlichen Hauses übertrat, ihn wegen Dings den halben Nachmittag ignoriert hatte. Und obwohl Felix, dessen Geburtstagsüberraschung er ja hätte sein sollen, nur Augen für Dings hatte, als wäre der ein berühmter Rockstar. Davids fehlende Empörung mochte an den zwei Gläsern Sekt liegen, die er getrunken hatte, um mit den Anderen auf Felix’ Geburtstag anzustoßen. Oder daran, dass Saschas Gulasch wirklich und wahrhaftig absolut köstlich gewesen war. Oder auch daran, dass Saschas Zentrumsgeschichten – die David nie und nimmer so hätte erzählen können – tatsächlich herrlich und zum Brüllen komisch waren. Oder es lag eben daran, dass Sascha dieser Rotschimmer im Gesicht einfach fabelhaft stand. Und daran, dass seine Augen im warmen Licht der Deckenlampe wie glühender Bernstein funkelten. Und daran, dass er sich immer wieder gedankenlos die Soße von der Oberlippe leckte. Und daran, dass er ununterbrochen zugleich verlegen und glückselig lächelte und vor Aufregung ständig an seinen Fingernägeln knabberte. Gott, er war so nett. Und so lieb. Und so unglaublich niedlich... Wie er sich solch große Mühe gab, mit jedem einzelnen Mitglied von Davids Familie gut auszukommen. Und wie er sich gleichzeitig so sehr darüber freute, wie diese ihn daraufhin in ihrer Runde willkommen hießen. Das alles...rührte David mehr, als jeder Anmachspruch es je könnte. Die liebevolle Flamme, die seit einigen Wochen immer heißer und lebendiger in seiner Brust gelodert hatte, schwang sich zu Höchstleistungen auf. Und das war so entsetzlich, David konnte es kaum aushalten. Wieso, zum vermaledeiten Teufel, war er eigentlich nicht dazu imstande, die Zeit anzuhalten? Oder mit jemandem im Schlepptau an einen weit entfernten und möglichst ausgestorbenen Ort seiner Wahl zu disapparieren? Dann könnte er sich hier und jetzt einfach quer über den gedeckten Esstisch und auf Sascha werfen. Um ihn zu umarmen und zu küssen und zu streicheln und zu knutschen, bis die Sonne am nächsten Morgen wieder aufging. Und ohne damit rechnen zu müssen, dass seine Familie Verdacht schöpfte. Aber nein. Leider Gottes war David kein Zauberer. Das hatte er schon vor einigen Jahren missmutig feststellen müssen. Also blieb ihm seit zwei geschlagenen Stunden nichts anderes übrig, als Sascha aus der Ferne anzuhimmeln und sich mit steigendem Alkoholpegel immer detailreicheren Phantasien hinzugeben, die im wachsenden Maße nackte Haut enthielten. Gruselig. Und außerdem ziemlich frustrierend auf die Dauer. Und...kontraproduktiv... „Vielen Dank fürs Kochen, Sascha,“ sagte Volker in diesem Moment und wischte sich mit einer Serviette über den Mund, „Das war wirklich hervorragend.“ „Allerdings...,“ grunzte Julian gedehnt durch zwanzig Gramm Gulasch und überging den tadelnden Blick, den seine Mutter ihm zuwarf, fachmännisch, „Du bist ein kranker Gott, Sascha. Knüppelgeil!“ „Äh...,“ machte Sascha fragend. „Ja, das war ein Kompliment,“ antwortete David spöttisch, „Aber da Julian leider sprachbehindert ist, kann er sich nicht–,“ „Schnauze, du kleiner Bastard!“ „Jungs, bitte...,“ mahnte Volker. „Du musst Weihnachten zu uns kommen und kochen!“, meinte Felix entschieden. „Oh jaah!“, quietschte Marisa verzückt und klatschte in die Hände, „Kann Sascha Weihnachten mit uns feiern, Mama? Bitte!“ David schnaubte und drehte den Kopf, um Mr. Weihnachtskoch zu zugrinsen. Der erwiderte seinen Blick und unwillkürlich machte Davids Herz einen Sprung in Richtung Mond. Dings strahlte ihn an. So...strahlend, dass David Angst bekam, er könnte jeden Moment schneeblind werden. Vielleicht hätte er seine Sonnenbrille mitnehmen sollen... „Ich glaube nicht, dass Sascha das möchte, Schatz,“ erwiderte Elisa und lächelte milde, „Außerdem wären seine Eltern bestimmt traurig, wenn er nicht mit ihnen feiert.“ „Oh nein, das glaube ich kaum,“ entgegnete Dings so beiläufig, wie David ihn noch nie über dieses heikle Thema hatte sprechen hören. Prompt schwante ihm Unheil. Hastig öffnete er den Mund, um das Schlimmste zu verhindern, aber...es war bereits zu spät. „Meine Mutter und ich haben nie so richtig Weihnachten gefeiert. Und meinen Vater sehe ich nur ein paar Mal im Jahr. Ich habe kein besonders gutes Verhältnis zu meinen Eltern.“ Sascha lächelte. Aber die Stille, die seinen Worten folgte, war so vollkommen, dass man von draußen das tropf-tropf-tropf der triefenden Bäume im Garten hören konnte. Sogar Julian hatte mitten im Kauen inne gehalten und fixierte ihn entgeistert, sodass Dings’ Grinsen nun allmählich in sich zusammen fiel. David ging – auf Gutdeutsch gesagt – der Arsch auf Grundeis. Okay. Genauso gut hätte Mr. Familyguy, dieser Volltrottel, sagen können: Meine Mutter ist fast immer zu betrunken, um mit mir Weihnachten zu feiern. Und meinen Vater sehe ich so gut wie nie, weil er wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis sitzt. Aber das macht nichts, meine Eltern haben mich eh jahrelang nur missbraucht und misshandelt. Er musste schnell handeln! Bevor seine überbesorgten und harmoniesüchtigen Eltern beim hamburgerischen Jugendamt anriefen, um die Adoptionspapiere für Sascha anzufordern. „Habe ich euch eigentlich die Geschichte über den Rentner erzählt, der uns einen toten Igel gebracht hat?!“, fragte er so laut, dass alle Anwesenden zusammen zuckten. Eine halbe Stunde später, nachdem Marisas Kopf um ein Haar in ihre halbleere Puddingschale gesunken wäre, löste Davids Mutter die Tafel endlich auf. Unter Marisas Ich-bin-aber-noch-gar-nicht-müde!-Protestgeschrei erhoben sie sich nacheinander. Dings fing sofort an, die benutzten Teller aufeinander zu türmen, wurde aber fast in der gleichen Sekunde noch unterbrochen. „Was machst du denn da, Sascha?“, fragte Elisa mit nahezu aufgebrachter Stimme, während Volker im Hintergrund mit Marisa zankte, „Du räumst doch hier nicht auf. Nicht, nachdem du so wunderbar für uns gekocht hast.“ Mr. Allzeit-Bereit wirkte leicht erschüttert. „Aber–,“ begann er, kam jedoch erneut nicht weit. „Red keinen Unsinn, du Pfeife!“, entrüstete sich Felix und packte seinen Arm, „Wir zwei zocken jetzt noch ne Runde Playstation. David und Julian können aufräumen.“ „Pahahaha!“, machte Julian höhnisch und war noch vor dem Geburtstagskind im Wohnzimmer, wo die Playstation neben dem Fernseher stand und wartete. David schnaufte empört und hatte schon die Hände nach einem der Kochtöpfe ausgestreckt, um ihn seinem flüchtenden großen Bruder an den Kopf zu werfen, als seine Augen Saschas muskulösen Rücken fanden und sich in einem Anflug von beinahe unerträglicher Sehnsucht an ihn hefteten. Er verharrte mitten in der Bewegung und schaute Mr. Ich-Bin-Auch-Von- Hinten-Zu-Schön-Um-Wahr-Zu-Sein nach, den Felix eilig hinter sich her zerrte, um ihnen beiden noch vor Julian einen Controller zu sichern. Davids Magen drehte einen zwölffachen Salto. Sein Herz erzitterte. Grundgütiger Himmel. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Er wollte jetzt endlich allein mit Dings sein! Er fehlte ihm richtig – und das, obwohl sie doch die ganze Zeit zusammen gewesen waren... Aber dieses Zusammensein genügte David einfach nicht mehr. Er wollte Sascha ganz nah bei sich haben, ihn endlich wieder berühren und küssen dürfen. Ihn nicht mehr mit seiner Familie teilen müssen, sondern ihn für sich ganz allein haben, um... In diesem Moment wurde David aus den Augenwinkeln gewahr, dass seine Mutter ihm direkt gegenüber stand. Er zuckte zusammen. Mit Mühe wandte er den Blick von Sascha ab und biss sich zur Strafe selbst auf die Zunge. Verflucht, er war so ein Vollidiot! Er musste sich zusammen reißen, zum Teufel noch mal! Eilig begann er Dings’ Stapelaktion fortzusetzen und bemühte sich dabei, den Eindruck zu erwecken, er würde nicht jede Sekunde vor Verlangen nach einem gewissen Koch den Löffel abgeben. Doch als Elisa wie aus dem Nichts plötzlich neben ihm stand und ihm liebevoll den Arm um die Schultern legte, fuhr er trotzdem so heftig zusammen, als hätte sie ihm ohne Vorwarnung ins Ohr geschrien. „Was ist?“, brachte er erschrocken hervor. „Nichts...,“ antwortete seine Mutter leise, damit Volker und Marisa sie nicht hörten, und küsste ihn sanft auf die Schläfe, „Ich liebe dich.“ Einen Augenblick später befand sie sich mit der Salatschüssel und dem leeren Brotkorb auf dem Weg in die Küche. Völlig verdattert sah David ihr nach. Mütter..., dachte er verwirrt und machte sich wieder an die Arbeit. Er schichtete grad den letzten Teller und lauschte dabei mürrisch dem ausgelassenen Gejohle, das aus dem Wohnzimmer drang, als erneut jemand unauffällig neben ihm erschien. Doch diesmal war es Marisa, die sich offenbar mit Volker geeinigt hatte. Ungewohnt schüchtern sah sie zu ihm auf. „Bringst du mich ins Bett?“, wisperte sie. Überrascht starrte David auf sie hinunter. Hatte er richtig verstanden? Sie wollte von ihm ins Bett gebracht werden? Wo sie ihn doch den größten Teil des Tages mit Verachtung gestraft hatte, weil er am Telefon gemein zu ihr gewesen war? „Ähm...,“ machte er unsicher und blickte in ihre großen, grünblauen Kulleraugen, die seinen so ähnlich waren, „Sicher. Wenn du das möchtest.“ Seine kleine Schwester nickte und lächelte verlegen. Dann griff sie nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her in Richtung Treppe. Als er sich noch mal zum Esstisch umdrehte, fiel sein Blick auf Volker. Sein Vater sammelte das Besteck vom Tisch und schmunzelte stumm in sich hinein. „Nein, hier ist kein Monster.“ „Bist du sicher?“ „Ganz sicher.“ „Schau genau hin!“ David ging erneut auf die Knie und linste mit zusammen gekniffenen Augen in die Finsternis unter Marisas Bett. Außer Staub, einigen vergessenen Glasperlen und einem Pixi-Buch gab es dort jedoch nichts zu sehen. Auch kein Monster. Also tauchte er wieder auf und schüttelte den Kopf. Ein Teil von ihm, der sich partout nicht mit der Rolle des großen Bruders identifizieren mochte, lauschte krampfhaft ins Wohnzimmer hinab und fragte sich, ob Dings ihn wohl vermisste. Der große Bruder schob diesen Gedanken jedoch entschieden zur Seite. „Nein, kein Monster,“ beteuerte er Marisa, die aufrecht in ihrem Bett saß und ihren Plüschpanda Graupel im Arm hielt, „Aber soll ich vorsichtshalber noch mal in den Schrank schauen?“ „Ja!“, piepste seine Schwester strahlend und zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. David stand vom Boden auf, nahm sich das neonpinke Lineal von Marisas Schreibtisch und baute sich dann an der Wand neben ihrem Kleiderschrank auf. Er runzelte angespannt die Stirn und hielt das Lineal, als wäre es ein Baseballschläger. Todesmutig klopfte er mit der Faust gegen die Schranktür. „Komm raus, Monster!“, befahl David mit Grabesstimme und packte den Griff; hinter sich hörte er seine kleine Schwester quietschen und giggeln, „Ich weiß, dass du da drin bist! Komm heraus!“ David wartete einen Augenblick, um dem vermeintlichen Ungetüm die Chance zu geben, auf sich aufmerksam zu machen. Als nichts geschah, tat er einen urplötzlichen Satz, riss die Schranktür auf und schwang drohend das Lineal. Marisa kugelte sich in ihrem Bett vor Vergnügen, sodass sein Herz vor brüderlicher Zuneigung liebevoll zu flattern begann und Mr. Gehirnwäsche noch weiter in den Hintergrund drängte. Um sein eigenes Grinsen zu verstecken, schob er seinen Kopf so tief wie möglich in den Schrank hinein. „Hier ist auch nichts,“ entwarnte er dann und schloss die Tür umsichtig. „Vielleicht in meiner Spieltruhe?“ „Ja, vielleicht...,“ Doch zu ihrer beider Erleichterung ließ sich weder in Marisas Spieltruhe, noch hinter dem Schreibtisch ein Monster finden. Offenbar war das Kinderzimmer – wie eigentlich immer, wenn David abends nachschaute – monsterfreie Zone. Nachdem er sein Schwert weggelegt hatte, setzte er sich zu seiner Schwester an den Bettrand. Sie hatte sich inzwischen eingerollt und betrachtete ihn liebevoll lächelnd aus ihrem Kissen heraus. Das Licht ihrer Leselampe ließ ihre blonden Locken wie einen Heiligenschein leuchten. „Brauchst du noch irgendwas?“, erkundigte David sich und strich die Bettdecke glatt. Marisa schüttelte den Kopf und musterte ihn unentwegt. „Bist du noch böse auf mich?“, fragte er dann leise, einem familiären Impuls folgend, „Weil ich am Telefon geschimpft habe?“ „Nein...,“ flüsterte sie. „Und auch nicht, weil ich doch mein Cello nicht mitgebracht habe?“ „Nein,“ wisperte sie und lächelte wieder. Beinahe war David misstrauisch. Normalerweise bekam er gewaltigen Ärger, wenn er ihr abends nichts mehr vorspielte. Aber diesmal, als er ihr diesen Umstand beim gemeinsamen Zähneputzen gebeichtet hatte, hatte sie nur mit den Schultern gezuckt. „Warum nicht?“, wollte er deshalb wissen. Seine Schwester seufzte leise. „Weil du der einzige bist, der immer nach Monstern guckt, wenn ich schlafen gehe...,“ David blinzelte verdutzt angesichts dieser Erklärung. „Ehrlich?“, fragte er dann mit gespielt grimmiger Stimme. Marisa nickte nachdrücklich und umarmte ihren Panda. „Da werde ich wohl mal ein ernstes Wort mit Mama und Papa reden müssen, was?“ Seine Schwester kicherte. „David...?“, hauchte sie dann. „Ja?“ „Ich hab dich lieb. Ich hab dich am allerliebsten von allen.“ David sah sie an und von allen Seiten kroch Wärme in seine Poren, als hätte er sich soeben in eine vorgeheizte Sauna gesetzt. Er lächelte seine kleine Schwester liebevoll an und streichelte ihr behutsam eine ihrer Löckchen aus der Stirn. „Ich dich auch,“ antwortete er zärtlich und beugte sich vor, um ihr und Graupel einen Gute-Nacht-Kuss zu geben, „Ganz, ganz dolle.“ „Echt?“, fiepte Marisa schläfrig, als seine Lippen sanft ihre Stirn berührten, „Hast du mich auch lieber als Sascha?“ Kapitel 29: Grenzenlos ---------------------- Hallo Ihr :)! Hier kommt nun endlich der Lime, den ich schon seit laaanger Zeit ankündige^^. Ich hab mir beim Schreiben in einer Tour die Haare gerauft, da ich etwas unsicher war. Deshalb hoffe ich besonders, dass Euch das Kapitel gefällt und Eure Erwartungen erfüllt. Ach ja, nehmt David und mir das Ende bitte nicht übel...^^... Und vielen lieben Dank für all die tollen Kommentare, die ich zum letzten Kapitel bekommen habe. Ich hab mich echt unheimlich gefreut und mich sehr motiviert gefühlt - Danke :)! Kapitelwidmung: Für Alle, die sich - wie ich^^ - nach dem ersten Lime zwischen David und Sascha verzehrt haben. So, genug geredet^^: Viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, Lung ______________________________________________________________________ Apropos Sascha. David hörte die vertraute Stimme schon auf der Treppe, als er auf dem Rückweg ins Erdgeschoss war. Sie vermischte sich mit Felix’ schockierend ausführlichen Schimpftiraden und Julians animalisch anmutenden Lachsalven, die sogar das heisere Röhren der aufgetunten Motoren und die elektronische Musik aus den Lautsprechern übertönte. Es klang, als hätte sich das Wohnzimmer der Spandaus auf Weiteres in eine Rennbahn der Formel 1 verwandelt. Wie auf Schienen, mit nervtötend intensiv pochendem Herzen, rollte David an der Küche vorbei, aus der das Geklapper von Geschirr und die Stimmen seiner Eltern heraus wehten, und erreichte das Stadion. Seine Augen fanden Dings’ Hinterkopf über der Sofalehne so blitzartig, dass seine Beine einen schrecklichen Moment lang einfach wegzuknicken drohten. Zum Glück bemerkte das keiner der Rennfahrer. „Na los, Felix, zeig’s dem Kerl! Drück auf die Tube! Komm schon!“ „Ich krieg dich! Ich krieg di– Wooow!“ „Pass auf die Bäume auf, Mann! Du Idiot! Bleib auf der Fahrbahn!“ „Halt die Klappe, Julian! Na warte, gleich habe ich dich!“ „Ha, niemals! Siehst du, ich bin schon fast am Zie-hiel!“ „Schon?! Mann, du bist mit dem Teufel im Bunde!“ David wünschte, er hätte das Wohnzimmer nie betreten. Aber natürlich lag das weniger an dem allgemeinen Getöse oder dem nahezu anstrengend maskulinen Klima, als viel mehr an der Tatsache, dass Sascha beim Playstationspielen einfach...grenzenlos...sagenhaft aussah. Lieber Gott. Wie machte Dings das nur? Wie konnte er seinen Controller nur auf diese umwerfend intensive Weise halten? Wie brachte er es nur fertig, seine Stirn so hinreißend konzentriert zu runzeln und dabei seine Zunge so haarsträubend aufreizend zwischen seine schimmernden Lippen zu schieben? Wie konnten sich seine Schulterblätter nur so überwältigend sinnlich unter seinem T-Shirt abzeichnen? David stockte der Atem. Auf der Stelle begann sein gesamter Körper zu vibrieren. Sein Herz blähte sich zur Größe eines kleinen Museums auf und sein Magen drehte sich in einem Ausbruch des Karussellsyndroms gurrend um sich selbst. Seine Beine gaben endgültig nach und mit einem wimmernden Geräusch, das niemand hörte, lehnte er sich langsam gegen die Wohnzimmerkommode, vor der Mr. Heiß-Heißer-Sascha – beim Anblick der ganzen Baby- und Kinderfotos – erst vor ein paar Stunden einen kleinen Kollaps bekommen hatte. Himmel, was war denn los mit ihm? War das, was er hier durchmachte, überhaupt anatomisch möglich? Gab es wissenschaftliche Dokumente, die das bewiesen? Und die ihm obendrein versichern konnten, dass diese unerträglichen Qualen medizinisch vertretbar und nicht akut gesundheitsschädlich oder sogar tödlich waren? Wie konnte es sein, dass er Sascha so sehr wollte? Ihn sogar jedes Mal, wenn er ihn anschaute, noch mehr wollte, als bei dem Mal davor? Das konnte doch nicht immer so weiter gehen...Wo kam das plötzlich her? Und wo, zur Hölle, blieb die Grenze? Lag es etwa daran, dass er seine ganzen Empfindungen die letzten paar Stunden so gewaltsam unterdrückt hatte, um sich ja nicht zu verraten? Funktionierten diese Gefühle so? Wie bei einem reißenden Fluss, den man mit einem Damm aufhält und der sich immer weiter aufstaut, bis der Wall schließlich irgendwann bricht? Herrgott. Wenn das stimmte, dann hatte Davids Damm schon haufenweise Risse. Früher oder später würde er brechen, der Fluss würde heulend ins Landesinnere tosen und alles überrollen, was ihm dabei im Wege war. Und er, David, würde sich vor den Augen seiner Brüder auf Dings stürzen und ihm die Kleider vom Leib reißen. Ein grauenerregender Gedanke. In diesem Augenblick stimmte Sascha ein lautes Triumphgeheul an und David fuhr zusammen. Mr. Schumacher warf die Arme in die Luft, als hätte er gerade tatsächlich einen Pokal gewonnen. Julian, der links neben ihm saß, seufzte theatralisch und suchte, angesichts der Niederlage seines kleinen Bruders, Trost bei seiner Bierflasche. Gleichzeitig pfefferte Felix mit einem belustigten Fauchen seinen Controller zur Seite, packte eins der drei Sofakissen und begann den überrumpelten Dings damit zu verhauen. „Du Dreckskerl! Du bescheißt doch! Was ist dein Trick, hä?! Sag. Es. Mir!“ „Ahhh, es gibt keinen Trick!“, heulte Sascha unter Felix’ Kissenfolter dramatisch ins Sofa, „Ich schwöre! Gnade, Gnade!“ David schluckte schwer. Krampfhaft versuchte er, Sascha nicht anzusehen, während er ihn unverwandt anstarrte. Er versuchte, nicht zu bemerken, wie Saschas Muskeln sich bewegten, wie ihm das Haar in die Stirn fiel, wie er lachte, während er sich bemühte, Felix’ Prügeleinheit zu entgehen. Natürlich vergeblich. „Mann, sei vorsichtig, wo du deinen Fuß hintust,“ meldete sich Julian grimmig von links, wo er gerade ein neues Spiel auf der Playstation einleitete. Glucksend ließ Felix von Sascha ab und sich wieder zurück auf seinen Platz fallen. „Also gut,“ sagte er wild entschlossen und griff nach Dings’ Controller, den der zwecks Selbstverteidigung verloren hatte, „Ich will noch eine Revanche. Und diesmal wird es garantiert klappen!“ „Nix da!“, pampte Julian dazwischen und schnappte seinem kleinen Bruder den Controller wieder weg, „Du hattest deine Chancen. Jetzt bin ich wieder dran.“ „Wieso?“, empörte sich Felix laut, „Du durftest den halben Nachmittag gegen Sascha fahren, aber das ist mein Geburtstag und mein Spiel–,“ „– das ich dir geschenkt habe!“ „Na und?! Jetzt gehört es mir. Her mit dem Controller!“ „Nö.“ „Alter!“ Davids Gedanken rasten. Was sollte er tun? Alles an und in ihm, alles, was er von sich kannte und nicht kannte, wollte zum Sofa, in Saschas Nähe. Aber – Gott im Himmel! – das war keine gute Idee! In seinem Zustand würde er es nie und nimmer hinkriegen, sich nichts anmerken zu lassen. Er könnte niemals einfach nur neben Mr. Adonis sitzen, ohne ihn anzufassen. Und es wäre eine Katastrophe, wenn ausgerechnet Julian und Felix den Braten riechen würden und von seinem Geheimnis erführen. Also, zweite Möglichkeit? ZWEITE MÖGLICHKEIT?! Nach oben, in sein Zimmer gehen? Es sich selbst machen? Den Kopf gegen eine Wand schlagen oder ihn wahlweise auch ins Klo stecken und kräftig spülen? Nach draußen in den Regen laufen und sich vor ein Auto– Und dann drehte Sascha plötzlich den Kopf und blickte ihn an. Fast hätte David nach Luft geschnappt. Dings’ Augen waren so dunkel und so voller Feuer... Eine Sekunde lang wirkte er überrascht, David im Wohnzimmer stehen zu sehen. Dann strahlte er vor Freude. Und David wurde beinahe ohnmächtig. Verfluchte Scheiße! Hieß es nicht immer, Körper und Geist würden zusammen gehören? Eine Einheit darstellen? Sich gegenseitig bedingen und brauchen? Pah! – was für ein Blödsinn! Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte ein Geist so sehr das Gegenteil seines Körpers gewollt. David hatte das Gefühl, er bestünde aus zwei Fäusten, die immer wieder und wieder krachend aufeinander trafen, um die jeweils andere in die Knie zu zwingen. Er würde noch platzen, auseinander fallen, explodieren... Wenn er den Fluss nicht unter Kontrolle bekam. David wusste selbst nicht, was es war. Vielleicht der Überlebensinstinkt, von dem immer in Biologie- und Philosophiebüchern die Rede war. Auf jeden Fall lenkte sein Körper auf einmal ein. Seine Beine kehrten um und flohen, rannten fast. Aus dem Wohnzimmer hinaus, an der Küche vorbei, die Treppe hoch und in das dunkle Zimmer hinein, auf dessen Tür noch immer ein blaues Pappschild mit der Aufschrift Davids Zimmer klebte. Kaum war diese Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, fauchte er wie eine zornige Katze. Er ballte die Fäuste so fest, dass es wehtat. Am liebsten hätte er sich selbst vermöbelt. Allerdings nicht mit einem Kissen, sondern eher mit einem Felsbrocken... GOTT! Das war doch nicht normal! Noch nie hatte er von einem Menschen gehört, der einen anderen so grenzenlos begehrt hatte, dass er sich gezwungen fühlte, einen Raum zu verlassen. Wie krank war das, bitte? Seit wann war er denn so schwanzgesteuert?! Okay, er war ein Mensch und ein neunzehnjähriger Kerl obendrein, aber wieso kam dieser Wahnsinn erst jetzt? Er hatte Sven doch schließlich auch attraktiv gefunden – jedenfalls...ein bisschen. Aber das hier war anders. Vollkommen anders. Und so fremd. Er brauchte nicht an sich hinunter zu sehen, um zu wissen, dass er so erregt wie nie in seinem Leben war. Aber wieso? Reagierte sein Körper nur so heftig, weil er diese Gefühle zum ersten Mal wirklich wahrnahm? Weil er sich zum ersten Mal eingestand, wie sexuell anziehend er Sascha tatsächlich fand? Und wie gerne er eigentlich... David schluckte. Nach dem, was zwischen ihm und Sven geschehen war, nachdem dieser ihn so gedrängt hatte, hatte er gedacht, er könnte gut und gern auf diesen ganzen Kram verzichten. Ein bisschen unters T-Shirt okay, aber alles andere... Nein. Und dann war Sascha gekommen. Der Drecksack. Er atmete tief ein und aus. Seine Augen blieben an seinem Bett hängen und an der gemachten Matratze direkt daneben, die seine Eltern für Dings dort hingelegt hatten. Die Straßenlaternen von draußen beleuchteten sie und den Rest des Zimmers. Sein Magen begann unerträglich stark zu kribbeln und sein Herz schlug aus wie ein bockendes Pferd. Er wusste, dass ihm in dieser Nacht kein Kuss der Welt reichen würde. Heute Nacht wollte er mehr. Er wollte Saschas Haut, er wollte seine Hitze. Und er wollte... In seinem Kopf entstanden Bilder. Bilder, die so privat und in seinem Verstand so tabuisiert waren, dass er sich buchstäblich vor sich selbst schämte. Was, wenn er heute Nacht mit Sascha schlafen würde? Sich ihm einfach hingeben würde? Auf dieser Welle aus grenzenlosem Verlangen an seiner Angst und seiner Unsicherheit vorbei reiten würde? Sascha war der Richtige für sein erstes Mal, da war er sich aus irgendeinem Grund hundertprozentig sicher. Und der Zeitpunkt war auch ideal, also– Es klopfte. Vor Schreck zuckte David so heftig zusammen, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Er wirbelte herum, als die Tür sich öffnete. Und erstarrte zur Salzsäule, während das Adrenalin sein Blut zum Schäumen brachte. Es war Sascha. Wie könnte es auch anders sein, verfluchte Scheiße?! „Alles okay?“, fragte er und klang ein wenig besorgt, „Du bist so plötzlich abgehauen.“ David fixierte ihn wie eine Erscheinung. Sein Herz hämmerte so sehr, so grenzenlos, dass sich sein Brustkorb anfühlte, als ob er jeden Moment bersten müsste. „Sicher...,“ erwiderte David mit eigentümlich rauer Stimme, „Mir geht’s...gut...,“ Mr. Hat-Keine-Ahnung-In-Was-Für-Einer-Gefahr-Er-Sich-Befindet wirkte nicht wirklich überzeugt. Vielleicht weil er bemerkte, dass David ihn mit den Augen auszog...? „Willst du nicht...runter zu uns kommen?“, fragte er und klang regelrecht nervös. David schüttelte den Kopf. Er fühlte sich so betrunken, so bekifft, so...anders als je zuvor... Er wollte hin zu ihm. So dringend. Un-be-dingt. Wenn er ihn nicht sofort in den Arm nehmen würde, würde er von innen heraus verbrennen. Spontane Selbstentzündung. „Sascha...,“ hauchte David eindringlich und dessen Augen weiteten sich unmerklich, „Hier ist das Ultimatum: Entweder...du verlässt sofort das Zimmer oder,...du verlässt es heute Nacht gar nicht mehr... Entscheide dich jetzt.“ Dings starrte ihn an. Sprachlos. Er schluckte, als würde er sich fragen, ob er vielleicht träumte, und David konnte sehen, wie sich sein Kehlkopf bewegte. Dann – in einer einzigen fließenden Bewegung – betrat Sascha das Zimmer. Hektisch schloss er die Tür hinter sich. Und war mit zwei Schritten an Davids Seite. David hatte solche Szenen schon im Kino gesehen: Zwei Menschen, die aufeinander zu gehen und rumzumachen beginnen, ohne sich mit Smalltalk aufzuhalten. Allerdings...war es doch etwas ganz anderes, einer dieser zwei Menschen zu sein. Denn zum allerersten Mal sah David es nicht nur. Er spürte es, er erfuhr es. Am eigenen Leib. Kaum war er nah genug, packte David Saschas Pullover, zog ihn mit einem Ruck zu sich hin und presste den Mund auf seinen. Und Sascha zögerte keine einzige Sekunde lang. Fest vergrub er die Finger in Davids Locken, öffnete seine Lippen stürmisch mit der Zunge und küsste ihn – so gierig und allumfassend, dass David instinktiv aufstöhnte. Sein ganzer Körper drängte vorwärts und er erwiderte den leidenschaftlichen Kuss so intensiv, wie er nur konnte. Saschas Duft überwältigte ihn und ertränkte den letzten Rest Bedenken in Davids Verstand. Seine Hände gehorchten einem scheinbar fremden Willen, machten sich selbstständig und gruben sich unaufhaltsam unter Saschas Klamotten. David japste in den Kuss hinein. Saschas nackte Haut war so heiß und samtig, so unwiderstehlich unter seinen Händen. Er musste noch viel mehr von ihr spüren... Sein Herz raste, als er sich heftig von Sascha löste, um ihm Pullover und T-Shirt fast grob über den Kopf zu zerren. Achtlos ließ er sie auf den Boden fallen, schlang seine Arme verlangend um Saschas schmale Taille und legte die Lippen auf seine nackte Brust. Sascha keuchte auf. „Oh...mein...Gott...! David...,“ In Davids Ohren klingelte es. Er tupfte tausend und einen Kuss auf Saschas muskulösen Oberkörper, ließ seine Zähne über jeden Muskel huschen, seine Zunge jeden Zentimeter schmecken, den er erreichen konnte. Seine Hände glitten ruhelos über Saschas Rücken, seine Schultern und seine Hüfte. Himmel, dies fühlte sich großartig an. So richtig, so ursprünglich. Wie hatte er all die Zeit darauf verzichten können? Auf diese Art von Körperkontakt? Und wieso hatte ihm niemand gesagt, was er verpasste, verflucht?! Seine Hände schoben sich jetzt über Saschas flachen Bauch. Der atmete schwer unter Davids Berührungen. Seine Finger streichelten seinen Nacken so zärtlich und unkontrolliert, dass David eine Gänsehaut bekam. Bebend hob er den Kopf und blickte in Saschas verhangene Augen. Er versuchte zu schmunzeln und Sascha erwiderte sein nebliges Lächeln so verträumt, als wäre er nicht mehr ganz Teil dieser Welt. Davids Finger zuckten und berührten Saschas Jeansbund. Sein Magen überschlug sich vor Aufregung, als sie begannen, den Gürtel zu lösen, den Knopf zu öffnen und den Reißverschluss langsam hinab zu– „David, was–,“ Saschas Hände schlossen sich um seine und hielten sie auf. „Was...machst du da...?“, ächzte er. David starrte ihn an. „Ich...öffne deine Hose...?“, brachte er hervor und schluckte, um seine Gedanken zu klären. Sascha blickte entgeistert auf ihn hinunter. „Ähm... Ja...,“ wisperte er heiser, „Aber...warum...?“ David verengte die Augen. Warum? Was war denn das für eine bescheuerte Frage – Warum?! „Ich... Ich dachte, wir könnten vielleicht...Sex haben...,“ Okay. Das hatte Sascha offenbar als letztes erwartet. Der Teil seiner Miene, den David in der trüben Dunkelheit des Zimmers erkennen konnte, verzerrte sich in einer Flut von Empfindungen, die von grenzenloser Fassungslosigkeit, über ekstatische Freude, bis zu überschäumender Erregung reichten. David wurde allein vom Hinsehen noch wirrer im Kopf. „Sss....?“, machte Sascha schwach, als würde er das Wort nicht über die Lippen bringen. David nickte bestätigend. Atemlos versuchte er seine Finger zu bewegen, aber Sascha hielt sie weiterhin fest. Ihm kam ein absolut furchtbarer Gedanke. „Oder willst du etwa nicht?!“, stieß er entsetzt hervor. Saschas Kinnlade sackte herunter. „W.. Wie bitte?“, keuchte er, „Nicht wollen?! Bist du verrückt?“ Endlich ließ er Davids Hände frei und ergriff stattdessen sein Gesicht, sodass Davids Herz einen Hüpfer machte. „Seit Stunden – was sag ich? – seit Wochen muss ich mich ununterbrochen beherrschen, damit ich nicht einfach über dich herfalle,“ wisperte er angespannt und seine Augen musterten ihn so durchdringend und glasig, dass David heiß und kalt wurde. „Mein erster Gedanke, als ich dich das allererste Mal sah, war, dass ich unbedingt mit dir schlafen muss, aber...,“ fuhr Sascha fieberhaft vor, kam näher und sein Atem strich glühend über Davids Lippen, der ihn begierig noch näher zog, „...ich will nicht, dass du...,“ er küsste ihn so leicht wie eine Feder und Davids Magen verkrampfte sich vor Lust, „...dass du denkst, dass...dass das alles ist...,“ er küsste ihn noch einmal so sanft, „...was ich...von dir will...,“ David hatte das Gefühl, als wollte sein Inneres aus ihm heraus. Als wollte es ihn verlassen und den ganzen Raum einnehmen. Saschas Worte ließen sein Blut kochen. Ihm war so heiß und...Sascha, dieser verdammte Scheißkerl..., wollte nicht mit ihm schlafen... „Das...denke....ich...nicht...,“ antwortete er krächzend gegen seinen Mund. „Versprich es...,“ hauchte Sascha sehnsüchtig und seine Zungenspitze berührte zart Davids Unterlippe. „Ich...verspreche es...,“ flüsterte David und küsste diese Lippen, die seine Gedanken so grenzenlos beherrschten. Und sein Magen schlingerte vor Wonne, als Sascha die Arme um seine Schultern legte und den Kuss ungestüm erwiderte. Dieses Mal erlaubte Sascha, dass David den Reißverschluss seiner Jeans öffnete und sie dann vollständig herab zog, sodass sie mit einem leisen Rascheln zu Boden fiel. Und er erlaubte ihm auch, dass er dasselbe mit seiner Boxershorts tat. Sascha keuchte schwer in ihren unbeholfenen Kuss hinein, als Davids zittrige Finger über sein Steißbein und seinen Hintern fuhren, um jeden nackten Hautpartikel zu erkunden. David spürte Saschas Herz gegen sein eigenes trommeln, das jeden Moment zu zerspringen drohte. Sein ganzer Körper prickelte so grenzenlos, dass es an Schmerz grenzte. Seine Hände brannten und pochten und strichen weiter, über Saschas Rückgrat, seine breiten Schultern, seine Brust, seinen Bauch. Sie strichen tiefer...und tiefer und...tiefer und– Sascha stöhnte auf. Er unterbrach den Kuss, krallte seine Finger fest in Davids langärmeliges Shirt und vergrub das Gesicht an seiner Halsbeuge. „David...,“ röchelte Sascha und leckte über seinen Hals, „David...,“ David keuchte. Ihm war so schwindelig und dieser Druck in seinem Unterleib war inzwischen beinahe...unerträglich... „Warte...,“ reibeiste er, von dem letzten Rest Logik in seinem Hirn getrieben. Mühsam löste er sich von Sascha und wankte zu seiner Zimmertür hinüber, um den Schlüssel umzudrehen. Es klickte. David füllte seine Lunge mit Sauerstoff und wandte sich vorsichtig wieder um. Sascha hatte seine Jeans und seine Shorts abgeschüttelt und zupfte sich grad die Socken von den Füßen. Er konnte kaum stehen. Langsam richtete er sich wieder auf und erwiderte Davids Blick. Der schluckte. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen heraus zu treten. Sein Herz dröhnte nahezu. Sascha stand nackt vor ihm. Genau wie damals, Anfang September, bei ihrer zweiten Begegnung. Als er ihm ohne Klamotten die Tür geöffnet hatte, obwohl David noch nicht mal seinen Namen kannte. Damals hatte er sofort den Blick abgewendet. Und jetzt...wollte er nicht blinzeln, um Saschas Körper keinen Wimpernschlag lang aus den Augen zu lassen. Er schluckte. Seine Kehle war so trocken wie Wüstensand. „Sascha...,“ formte seine lahme Zunge das erste Wort, das ihr in den Sinn kam. Der Angesprochene lächelte verschwommen. Er streckte die Arme nach David aus und David taumelte geradewegs in sie hinein. Grundgütiger Gott. Wenn es etwas gab, das noch besser war, als Sascha anzufassen und ihn auszuziehen, dann war es, von Sascha angefasst und ausgezogen zu werden. David genoss es, als er seine Arme besitzergreifend um ihn legte und ihn so tief und grenzenlos küsste, dass er kaum noch zum Atmen kam. Er ließ zu, dass Sascha seine Hände ergriff und ihn rückwärts Richtung Bett führte. Als Sascha über die Matratze stolperte, kicherte er. Doch sein Lachen verwandelte sich fast auf der Stelle in ein genießerisches Seufzen, als Sascha sich auf den Bettrand setzte und Davids Shirt hochzog, um seinen nackten Bauch zu beknabbern. David erbebte wie Espenlaub, sein Inneres verbog sich vor Erregung. Saschas Finger nestelten am Verschluss von seiner Jeans, öffneten sie und beförderten sie zu seinen Fußknöcheln. David japste auf, als seine Shorts nur einen Moment später folgte. Dann zog Sascha ihn auf seinen Schoß und küsste ihn auf den Mund. Die Lust strömte durch Davids Körper wie ein Funkenregen. Er stöhnte auf und flehte zu allen Göttern des Himmels, dass Marisa tief und fest schlief. Sascha küsste seine Lippen und biss spielerisch in seinen Hals, er zog ihm das Shirt aus und kostete sein Schlüsselbein und seine Brustwarzen. Gott, seine Hände waren so fordernd und zärtlich, so wissend und unsicher zugleich... Sie raubten David den Verstand, als sie alles erkundeten, was sie von seinem Körper ertasten konnten. Denn das war verdammt viel. David stand in Flammen. Wortwörtlich. Seine Haut knisterte. Er bekam nicht genug von Saschas Berührungen, seinen Küssen und seiner sanften, belegten Art, Davids Namen zu flüstern. Fast verzweifelt nahm er ihn mit allen Sinnen wahr, sog alles von Sascha grenzenlos sehnsuchtsvoll in sich auf. Als wäre er das Wasser, das die verdorrte Erde so dringend brauchte. Und er spürte, dass Sascha nicht genug von ihm bekam. Von seinem Körper, ganz nah bei ihm, und all den Geräuschen, die er unkontrolliert von sich gab. Als wäre er das Tageslicht, auf das die Nacht so lange gewartet hatte. David vergaß alles um sich herum. Es gab nur noch Sascha. Und es war keine Grenze in Sicht. Trotz Davids Versprechen schlief Sascha in dieser Nacht nicht mit ihm. Dafür tat er fast alles mit ihm, was man stattdessen tun konnte. David hatte keine Ahnung, wie spät es war, als er schließlich völlig entkräftet auf der Seite lag und darauf wartete, dass er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er fühlte sich matschig. So matschig, wie schon lange Zeit nicht mehr. So grenzenlos matschig, wie nie zuvor. Sein Atem war flach und er hatte die Augen geschlossen. Überall auf seinem Körper spürte er noch Saschas Hände. Und seine Lippen taten vom vielen Küssen richtig weh. Mr. David-Fiel-Grad-Beim-Besten-Willen-Nix-Gutes-Ein lag ihm gegenüber, ebenfalls auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt. Er war so nah, dass David seinen Atem auf der Stirn fühlen konnte. Er hatte einen Arm um David gelegt. Ihre Beine waren unter der Decke verwickelt wie diese geflochtenen Zöpfe, die Davids Mutter manchmal Marisa machte. David fühlte sich so schwach, so wunderbar behaglich und schläfrig, dass er ein bisschen zusammen zuckte, als Sascha ihn unvermittelt einen Kuss auf die pochenden Lippen hauchte. David schaffte es nach mehreren Versuchen endlich, flackernd die erschöpften Augen zu öffnen. Er brauchte länger als sonst, um Saschas Gesicht in der matten Nacht ausfindig zu machen. Der blickte ihn schweigend an. „Was...ist...?“, erkundigte David sich so leise, dass er sich selbst kaum hörte. Sascha antwortete nicht. Seine Augen schienen sich in Davids hinein zu bohren. „Was ist?“, fragte David erneut und erwiderte unsicher Saschas Blick, „Alles okay?“ Sascha schwieg einen weiteren Moment. Dann lächelte er matt. „Ja...,“ antwortete er leise und streichelte ihm zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn, „Aber ich...muss dir...,“ Er verstummte. Irgendwo in seiner Seele, verschüttet von Erregung und Hitze, regte sich Davids Temperament und gab seinem schnurrenden Verstand einen heftigen Stupser, der ihn aufweckte und in die Gegenwart katapultierte. Er räusperte sich rau. „Wovon redest du...?“ Sascha starrte ihn an. Seine Augen wirkten bedenklich groß. „David, ich...,“ stammelte er zaghaft, „Ich bin total...,“ Langsam begann David, sich ernsthaft Sorgen zu machen. So verstört hatte er Dings selten gesehen. Und es gewitterte draußen noch nicht mal. „Was bist du?“, wisperte er und musterte ihn misstrauisch, „Was ist denn los...?“ Sascha öffnete den Mund und schien ganz offensichtlich nach Worten zu ringen. „Ich... Also, ich denke, ich habe m... Ich... Ich meine, ich bin...,“ „Was denn, zur Hölle?“ „Ich...,“ Sascha stockte verzweifelt und dann, „...bin ganz schön müde.“ David blinzelte. Das...war ja wohl ein grenzenlos schlechter Scherz. Oder? „Wie...?“, zischte er durch die Dunkelheit. „Ich bin müde...,“ wiederholte Sascha und schluckte, als würde er sich selbst ein bisschen verachten, „Gute Nacht...,“ Dann schloss er die Augen und...drehte David den Rücken zu. Kapitel 30: Erstens, zweitens, drittens --------------------------------------- Hey Ho :)! Ich habe mich in den letzten Tagen echt reingehängt, damit ich Euch nach all der Zeit und all den verworfenen Anfängen mal wieder mit einem neuen Kapitel beglücken kann^^. Es war ein Kampf, das will ich Euch nicht verhehlen, und leider muss ich mich ab jetzt auch wieder der Uni widmen, weshalb es bis zum nächsten Kapitel leider, leider wieder dauern kann. Ich hoffe, Ihr nehmt mir das nicht allzu übel, das mache ich schon...><...! Kapitelwidmung: Once again für meine Mi, die mich ununterbrochen inspiriert und angefeuert hat und ohne die ich das Schreiben vermutlich aus Frust ganz und gar an den Nagel hängen würde. Ich hoffe, es gefällt Euch :)! Liebste Grüße, Lung ____________________________________________________________________ Am Anfang waren die Geräusche. Und die Worte. Sie drangen in Davids Träume ein und konfrontierten sein behaglich schlafendes Gehirn mit der geradezu unrealistisch realen Realität. Davids Ich winselte flehentlich und schob den Lärm beiseite, versuchte zurück in den warmen, weichen Traum zu gleiten, der grad noch seine ganze Welt gewesen war. Keine Chance. Der Krach wiederholte sich und der Traum versank allmählich im Vergessen. Es war zu spät: Davids Verstand knipste das Licht an, sein Gehör rollte die Tomaten zur Seite, seine Augen vertrieben die Fische, die ihnen die Sicht versperrten. Er erwachte. Als erstes bemerkte er, dass es bereits hell im Zimmer war. Dann nahm er zur Kenntnis, dass er nichts an hatte. Einen Moment später registrierte er, dass er nicht der einzige nackte Kerl in seinem Bett war. Da lag noch einer. Direkt neben ihm. Und der rieb sich die Augen und gab eine Art brummendes Wimmern von sich. Es klopfte erneut. „David?“, rief es piepsig hinter der Zimmertür und der Angesprochene fuhr zusammen, „Schlaft ihr immer noch?“, die Türklinke bewegte sich anklagend, „Wieso hast du abgeschlossen?!“ David blinzelte. Dann aktivierte sich jener kleine Schalter im Gehirn, den jeder Mensch besitzt und der für diese Art von brenzligen Situationen bestimmt ist, die nackte Körper und kleine Geschwister implizieren. Von einer Sekunde zur anderen saß David aufrecht im Bett. Seine Beine reagierten zuerst: Sie stemmten sich gegen den unbekleidete Mann neben sich – Sascha, wie David auf den zweiten Blick feststellte – und gaben ihm einen heftigen Tritt, der ihn vom Bett beförderte. Dings japste vor Überraschung und Schmerz auf und landete bäuchlings auf der nach wie vor unbenutzten Matratze weiter unten. „Was zum–,“ keuchte er erschrocken, stemmte sich mühsam auf die Unterarme und fixierte David mit einem Ausdruck schläfriger Fassungslosigkeit. „Pschhhht!“, machte David panisch und hämmerte sich den Zeigefinger auf die Lippen, während er versuchte, sich der klammernden Bettdecke zu entledigen und sich gleichzeitig nicht davon ablenken zu lassen, wie entzückend Saschas Haare zu Berge standen oder wie verführerisch sein Rückgrat– Grundgütiger Gott! „DAVID! Aufwachen!“, kreischte es von draußen. „Ja, doch!“, bellte er zurück und war mit einem Satz auf den Beinen, „Ich komme gleich!“ Verflucht, wo war nur seine Jeans? Und die Boxershorts?! „Weg da...!“, blaffte er Mr. Schreck-Lass-Nach an, der die Gefahr offenbar endlich begriffen hatte und sich gerade hektisch in die zweite Bettdecke einwickelte, um seine Blöße zu bedecken, falls die Tür unter Marisas Entrüstung freiwillig aus den Angeln springen sollte. David erspähte seine zerknitterten Klamotten, nachdem Sascha, der anscheinend ahnte, dass er David in diesem Zustand besser nicht widersprach, eilig zur Seite gerückt war. Er zerrte sie hervor und schlüpfte nacheinander in Shorts und Jeans hinein, so schnell, dass er beinahe rückwärts zu Boden gestürzt wäre. Es klopfte schon wieder. „Daaaviiid...,“ jammerte es von der Tür her. „Ich komme!“, erwiderte David laut, während er sich fieberhaft die Jeans zuknöpfte und die zahlreichen zerknüllten Taschentücher am Boden, deren Anblick ihm absolut unpassendes Feuer durch die Venen pumpte, mit hüpfendem Herzen unters Bett kickte. Einfach nicht hinsehen. Ganz cool bleiben. Nicht an letzte Nacht denken. Durchatmen. Er holte einmal tief Luft, verzichtete darauf, sich prüfend nach Dings umzudrehen, stolperte stattdessen jedoch prompt über seinen Kleiderhaufen, der noch immer in der Mitte des Raumes lag und in Davids Verdrängungstaktik nahezu unsichtbar war. Wie gut, dass Davids Zimmertür nach innen aufging. Sonst hätte er seiner kleinen Schwester vermutlich vor unterdrücktem Zorn die Nase gebrochen. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte ihn an die letzte Woche: sieben Tage Regenwetter. „Warum hat das so lange gedauert?“, meckerte sie sofort und drängte sich an ihrem Bruder vorbei ins Innere des Zimmers, „Ich warte schon seit Stunden!“ „Pfta...!“, machte David, gleichermaßen einsilbig vor Empörung und Entsetzen, und folgte ihr hastig, „Marisa! Was, zum Teufel, willst du hier?!“ Seine Schwester wirbelte erbost zu ihm herum. „Ich komme euch natürlich wecken! Ich wollte schon heute Morgen reinkommen, aber Mama hat es mir verboten. Und jetzt ist es schon Mittag!“, sie schnaufte, offenbar vor Entrüstung, „Ich war schon in der Schule. Und Sascha hat versprochen, uns heute Pfannkuchen zum Mittagessen zu machen.“ Die kleine Nervensäge wies mit dramatischer Geste in Richtung besagtem Verbrecher, der die Augenbrauen hoch und sich die Bettdecke bis zum Kinn gezogen hatte. David schwirrte der Kopf. Schon Mittag? Das konnte doch nicht stimmen! Sollte das heißen, sie hatten den ganzen Vormittag verschlafen, weil sie gestern Nacht so lange– Rasch unterbrach sein Kopf sich selbst: PFANNKUCHEN? Wieso Pfannkuchen?! „Pfannkuchen?“, wiederholte David dumpf. „Ja!“, erwiderte Marisa vergrämt, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte Dings an, dessen Gesichtsausdruck zwischen Belustigung, Schreck und schlechtem Gewissen pendelte, „Er hat es versprochen!“ David stöhnte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist das wahr?“, brummte er an Sascha gewandt. Der lächelte unterwürfig. „Ähm, ja... Kann schon sein, dass ich gestern, im...Eifer des Gefechts..., sowas gesagt hab...,“ er schluckte, „Sorry...,“ David verdrehte die Augen. „Schön,“ murrte er dann, „Meinetwegen. Marisa – sei so nett und lass uns allein, damit wir uns...anziehen können. Wir kommen dann gleich runter.“ Marisa faltete ihr Gesicht so konzentriert zusammen, dass es mehr lächerlich als wütend wirkte. Ihr Mund war so schmal wie die Schneide eines Tranchiermessers. „Versprochen?“, mäkelte sie. „Jaah, versprochen...,“ erwiderte David entnervt und wedelte mit den Händen, während Dings emsig aus seinem Deckenzelt heraus nickte und unentwegt lächelte. Misstrauisch blickte Marisa sie abwechselnd an. Dann machte sie ein zischendes Geräusch, drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte aus dem Zimmer. David beeilte sich, hinter ihr die Tür zu zuschlagen. „Kinder...,“ grummelte er gedämpft und drehte sich ins Zimmerinnere um. Seine Augen fanden augenblicklich Saschas Gesicht und sein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Der Arsch erwiderte seinen Blick. „Guten Morgen,“ sagte Sascha leise und seine Mundwinkel zuckten leicht. „Morgen...,“ erwiderte David ungnädig. Es entstand ein sonderbares, leicht verlegenes Schweigen. Prompt stiegen Erinnerungen in David auf, Erinnerungen an heiße Küsse, forschende Hände und schweres Atmen. Er spürte, wie das Blut sowohl in seinen Kopf, als auch in seinen Schritt schoss und wandte sich ab. „Wir sollten uns beeilen,“ knurrte er und schritt energisch zu seinem Rucksack hinüber, ohne Sascha oder seinen Kleiderhaufen eines weiteren Blickes zu würdigen, „Sonst steht die kleine Pest in fünf Minuten wieder hier auf der Matte.“ „Okay.“ Die Antwort kam prompt und schlicht und mit der üblichen Portion augenzwinkernder Heiterkeit, die für Mr. Lasst-Uns-Froh-Und-Munter-Sein so bezeichnend war und die einem in geballter Ladung – und besonders David – schrecklich auf die Nerven gehen konnte. Und doch... Irgendetwas war anders als sonst. David spürte es, obwohl er nicht wusste, woran es lag. Vielleicht war es nur eine klitzekleine Vibration in der Tonlage oder so. Aber er hatte das deutliche Gefühl, dass dieses unverbindliche Okay in Wirklichkeit viel weniger fröhlich war, als es klang. Und vermutlich auch klingen sollte. Er hielt beim Durchwühlen seines Rucksacks nach frischen Socken inne und sah vorsichtig auf, um Dings anzuschauen. Der stand inzwischen aufrecht, trug bereits eine frische Boxershorts (David war sich sicher, dass sie frisch war – an das Muster der vorigen konnte er sich beunruhigenderweise noch ganz genau erinnern) und war soeben damit beschäftigt, in seine Jeans zu schlüpfen. Dabei klapperte die Schnalle seines Gürtels leise und erinnerungsträchtig vor sich hin und bei jedem Handgriff bewegten sich die Muskeln seiner Oberarme verlockend unter der glatten, nackten Haut und– Nein, nein, nein! Lass das gefälligst! Schau ihm ins Gesicht, ins GESICHT! David schluckte und zwang seine Augen und Gedanken nachdrücklich an Saschas körperlichen Vorzügen vorbei, hin zu seiner Miene. Mehrere Strähnen seines braunen Haarschopfes fielen ihm weich und überaus bezaubernd in die Stirn. Seine vollen Lippen schimmerten betörend und die dichten Wimpern umrahmten die dunklen, wunderschönen Augen wie– Verdammt noch mal, DAVID! Bist du verrückt geworden?! Wutentbrannt wandte David den Blick ab und biss sich fest und schmerzhaft auf die Zunge. Nein, mit Mr. Zu-Sexy war alles in bester Ordnung. Er, David, war derjenige, der augenscheinlich vergangene Nacht komplett den Verstand verloren hatte und nun nur noch mit dem Unterleib denken konnte. Mein Gott, wie konnte das passieren?! Zwei Jahre lang hatte seine sexuelle Lust passiv und praktisch nonexistent irgendwo hinter Schloss und Riegel verbracht, ohne sich auch nur im Geringsten zu regen. Sven hatte sie damals deaktiviert und David hatte damit wunderbar leben können. Und nun...hatte Sascha sie gestern Abend offenbar reaktiviert und da war sie nun – gefährlich und unstillbar wie nie. Er würde Sascha umbringen müssen, diesen Mistkerl. „Bist du fertig?“, fragte der Mistkerl in diesem Moment und David erwachte jäh aus seinen zutiefst niederschmetternden und unkeuschen Gedanken. „Ähm...,“ erwiderte er zugleich zerstreut, alarmiert und verlegen und schaute den mittlerweile vollständig angezogenen Dings nur einen sehr flüchtigen Moment lang an, bevor er schleunigst und verbissen wieder in seinen durchgekramten Rucksack starrte, „Nein... Ich...wollte noch kurz...duschen gehen... Geh ruhig schon mal vor.“ „Okay,“ meinte Sascha kurz angebunden, „Dann...bis gleich.“ Und ohne ein weiteres Wort oder einen weiteren Blick ging er an David vorbei und verließ das Zimmer. Mit offenem Mund starrte David ihm nach und hörte, wie er schnellen Schrittes die Holztreppe hinunter lief, als würde er vor ihm flüchten. Okay. Mal ganz abgesehen davon, dass Saschas Hintern in dieser Jeans wirklich zum Anbeißen aussah – räusper! –, war er sich jetzt doch absolut sicher: Irgendetwas stimmte nicht, ganz gewaltig nicht. Etwas war anders. David hatte Sascha gerade die ideale Vorlage gegeben! Eine Vorlage, die Mr. Berechenbar normalerweise sofort ergriffen hätte, die er sich niemals durch die Lappen hätte gehen lassen. Aber was hatte er getan? Nichts! Absolut nichts. Wie war das möglich? Wie war es nur möglich, dass er ihm nicht angeboten hatte, ihn unter die Dusche zu begleiten? David schluckte. Tief irritiert griff er sich wahllos eine handvoll frischer Klamotten, stapfte nachdenklich ins Badezimmer und knipste das Licht an. Vielleicht war Dings ja einfach nur höflich...? Vielleicht dachte er, nach dieser Nacht bräuchte David erst mal ein Weilchen Pause und Privatsphäre? Oder vielleicht hielt er es in Davids Elternhaus dann doch für etwas...gewagt, gemeinsam im Bad zu verschwinden? Mit gerunzelter Stirn starrte David den Schlüssel an, der im Schloss der Tür steckte und seinen Blick unschuldig und stumm erwiderte. Wenn er im Zentrum duschte, schloss er die Badezimmertür immer ab. Man konnte schließlich nie wissen, ob nicht irgendein Mitarbeiter plötzlich ein dringendes Bedürfnis verspürte und sich gezwungen sah, das verräterische Wasserrauschen zu ignorieren. Für Sascha galt dies im Besonderen, da es ihm bewiesenermaßen sowohl an Takt- als auch an Schamgefühl fehlte und er außerdem schon immer ein Faible fürs gemeinsame Duschen hatte. Und eben hier lag der Hund begraben: Sascha hielt beim Duschen nichts von Höflichkeit oder Privatsphäre. Er würde sich niemals eine Duschbemerkung verkneifen können, vollkommen gleichgültig, in welchem Haus sie sich befanden. Also gab es nur eine Erklärung: Sascha hatte ein Problem, das ihn offenbar ehrlich belastete. Und David hatte absolut keine Ahnung, was es war und woher es plötzlich kam. Betroffen schloss er die Tür – ohne den Schlüssel umzudrehen! –, zog sich aus und stieg unter die Dusche, wo er sich das angenehm heiße Wasser aufs Gesicht prasseln ließ. Himmel! Nun, wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass es noch viel mehr verdächtige und überdeutliche Anzeichen gegeben hatte, die ihm eigentlich unleugbar hätten signalisieren müssen, dass irgendwas nicht richtig war, dass Dings etwas bekümmerte: Erstens hatte er ihn nicht unmittelbar nach dem Aufstehen zu einem Guten-Morgen-Kuss genötigt, eine Tätigkeit, mit der Sascha sonst und gegen alle Widerstände den größten Teil des Vormittags zubringen konnte. Zweitens hatte er keine einzige zweideutige und oberpeinliche Bemerkungen über die letzte Nacht oder Davids unkontrolliertes Verhalten gemacht, was sonst zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählte und womit er David regelmäßig auf die Palme brachte. Und drittens – und jetzt wurde es wirklich ernst – hatte er ihn heute noch kein einziges Mal angestrahlt, was sonst die erste, mittlere und letzte Tat seines Tages war, sodass es manchmal beinahe so wirkte, als wäre dieses Strahlen mit seinem Gesicht verwachsen. Schlimmer noch, er hatte ihn noch nicht einmal richtig angelächelt. Jedenfalls nicht auf diese herrlich liebevolle, zärtliche Weise, auf die er ihn sonst anzulächeln pflegte und nach der David insgeheim verrückt war. Grundgütiger, so viele Signale... Wie hatte David das nicht sofort bemerken können? Hatte ihm etwa seine neugewonnene Libido den Blick verschleiert? Pff, vermutlich... Doch was, zum Teufel, war passiert? Was hatte sich seit gestern Nacht zwischen ihnen so verändert, dass Sascha nun so geknickt war, dass er sogar sein Atomstrahlen eingebüßt hatte? David hielt beim Einschäumen seiner Locken inne und betrachtete verwirrt die zahlreichen Wassertropfen, die inzwischen an den gläsernen Innenseite der Duschkabine hinab rannen. Mhm, vorhin konnte es nicht geschehen sein, schließlich hatten sie, seit Marisa sie so grob aus dem Bett geworfen hatte, kaum miteinander gesprochen. Es war absolut nichts vorgefallen, was diese dramatischen Charakterveränderungen gerechtfertigt hätte. Also musste es davor gewesen sein.... Aber davor hatten sie geschlafen. Und davor hatten sie eine atemberaubende Nacht zusammen verbracht, in der Mr. Leidenschaft-Pur nicht den geringsten Zweifel an seiner Glückseligkeit gelassen hatte. Also...musste die Erklärung dazwischen zu finden sein... Die Erkenntnis traf David so plötzlich und erschreckend, dass er unwillkürlich ein bisschen taumelte und sich am festgeschraubten Duschkopf festhalten musste. Wie hatte er das nur vergessen können?! Gestern Nacht...da hatte Sascha ihm doch etwas sagen wollen! Etwas so ungeheuer Großes und Wichtiges, dass er es auch nach mehreren Anläufen nicht über die Lippen gebracht hatte und David, noch völlig benommen von all den Orgasmen, hatte es nicht begriffen und dann...hatte Dings behauptet, er wäre müde, und hatte ihm den Rücken zugedreht. Das musste es sein! Dies war der Moment gewesen, an dem die Stimmung urplötzlich gekippt war. Der Augenblick, in dem sich durch Davids Beschränktheit und Saschas Unfähigkeit, mit der Sprache rauszurücken, etwas verändert und Sascha unglücklich gemacht hatte. Wenn David nur wüsste, was es damit auf sich hatte... Während er sich den weißen, weichen Schaum aus den Haaren spülte, zermaterte er sich das Hirn darüber, was Sascha ihm hatte sagen wollen. Aber er...kam einfach nicht darauf. Umso länger er darüber nachdachte, desto mehr bekam er zwar das Gefühl, dass die Antwort eigentlich ganz und gar unübersehbar auf der Hand lag, doch es war, als hätte er in dieser Hinsicht ein Brett vor dem Kopf, welches klare Gedanken verhinderte. Und irgendwie hatte er das unmissverständliche Gefühl, dass das mal wieder mit Sven zu tun hatte. Deprimiert und verärgert über sich selbst stieg David schließlich aus der Dusche, wickelte sich in ein frisches Handtuch und betrachtete sein Gesicht im beschlagenen Spiegel. Mein Gott, wie Leid er es war... Wie konnte er nur zulassen, dass sein verfluchter Ex-Freund ihm systematisch das Leben versaute, seine Psyche bis zur Unkenntlichkeit verkorkste und ihm damit ein Problem nach dem anderen bescherte? Nach all den Problemen, die er bereits entdeckt und einigermaßen bewältigt hatte, waren es nun schon wieder drei an der Zahl, die ihn vor schier unlösbare Schwierigkeiten stellten: Erstens hatte er sich über Nacht in ein gruseliges Sexmonster verwandelt, das sich nur noch für nackte Tatsachen interessierte und die überdeutlichen Probleme anderer Menschen mutwillig übersah. Zweitens hatte er Sascha offenbar unabsichtlich, aber nachhaltig vor den Kopf gestoßen und traurig gemacht, sodass er der ihn nun nicht mehr anlächeln oder necken mochte, und zwar weil er drittens eine unausgesprochene Nachricht von ihm einfach nicht begriffen hatte, obwohl er gleichzeitig das Gefühl nicht los wurde, dass sie eigentlich und verdammt noch mal absolut offensichtlich war. Es war zum Verzweifeln! Davids Temperament begann sich entschiedener zu regen. Es schnaubte zornig und schlug grimmig vor, wie üblich vorzugehen und Sascha an allem die Schuld zu geben. Aber David schüttelte den Kopf. Er hatte endgültig genug davon, immer nach diesem Schema zu handeln und Dings für Probleme verantwortlich zu machen, die in Wirklichkeit nur etwas mit ihm selbst und den unangenehmen Erlebnissen seiner Vergangenheit zu tun hatten. So konnte es nicht weiter gehen. Es musste etwas passieren, wenn er nicht auch noch den Rest seiner Tage an Sven und dessen Scheußlichkeiten knabbern wollte. Aber was tun? Wie durchbrach man einen solch festgefahrenen Kreislauf? David strich sich ein paar triefende Locken aus der Stirn und starrte in die Augen seines nachdenklichen Spiegelbildes. Dann kam ihm die Idee: Wie wäre es, wenn er genau das Gegenteil von dem tat, was er unter normalen Umständen tun würde? Das würde bedeuten, dass er erstens, seinen erwachten Sexualtrieb nicht wie gehabt unterdrücken und leugnen, sondern ausleben würde. In Zukunft würde er sich nicht von Sascha zurückziehen, weil ihn seine natürlichen Bedürfnisse mit Scham erfüllten. Stattdessen würde er ab jetzt zu seinen Gelüsten stehen und sich auf Mr. Sex-Auf-Zwei-Beinen stürzen, wann immer ihm der Sinn danach stand. Zweitens würde er sich nicht mit der einfachen Erklärung zufrieden geben, dass Dings schlicht und ergreifend keinen Grund für seine Empfindungen hatte, da er ja kaum von David verlangen könnte, seine kryptischen Andeutungen von gestern Nacht zu entschlüsseln, und von ihm erwarten, dass er sich zusammen riss. Stattdessen würde er ihn auf sein Problem ansprechen, zu ergründen versuchen, was ihn so bedrückte und sich bei ihm entschuldigen. Und drittens...würde er Sascha – tja, und es gab wohl keine andere Möglichkeit – einfach fragen, was er ihm hatte mitteilen wollen. Auch wenn dies implizierte, sich als stumpfsinniger Hornochse outen zu müssen. Aber das...würde es hoffentlich wert sein. Leider Gottes musste sich David noch eine ganze Weile in Geduld üben, bis er seine Pläne eins bis drei in die Tat umsetzen konnte. Als er nach dem Anziehen die Küche betrat, war diese bereits voll von seinen Familienmitgliedern, die alle begeistert lachten, im Chor Hochwerfen! Hochwerfen! riefen und damit ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen mit Dings unmöglich machten. Missmutig und mit vor Nervosität rollendem Magen lehnte sich David in den Türrahmen und beobachtete Sascha, der vergnügt lachend und mit geröteten Wangen am Herd stand und in regelmäßigen Abständen goldbraune Eierkuchen aus der Pfanne in die Luft warf, um sie nach einem anmutigen Salto wieder aufzufangen. Nach jedem geglückten Wurf klatschten und jubelten Felix und Marisa so ohrenbetäubend, dass es die Stimmen von Davids Eltern und Julian glatt übertönte. David schwieg dazu nur und feindete stumm die Pfannkuchen an. Immerhin bekamen sie all die Aufmerksamkeit und all die strahlenden Einheiten, die eigentlich ihm gebührten und auf die er schon den ganzen Vormittag verzichten musste. Aber er würde es ihnen schon zeigen. „Warum seid ihr gestern eigentlich so plötzlich verschwunden und nicht mehr wiedergekommen?“, wollte Julian von David wissen, während ihre kleinen Geschwister lautstark Mr. König-Der-Pfannkuchen anhimmelten – etwas, das David zur gleichen Zeit ebenfalls tat, allerdings geräuschlos. „Mhm...?“, machte der Angesprochene abwesend und bemerkte einmal mehr, wie umwerfend und einmalig Dings beim Kochen aussah. „Hör mir zu, du Arsch! Warum ihr so plötzlich verschwunden seid, hab ich gefragt,“ echote Julian ruppig und diesmal hörte David die entsetzliche Frage. Sein Magen verkrampfte sich und sein Kopf begann vor Scham zu köcheln. Er schluckte. „Ähm...,“ begann er panisch, ohne die geringste Ahnung, was er sagen sollte. Wenn Julian auch nur das kleinste aller kleinen Stückchen über das herausfand, was er und Dings gestern Nacht miteinander getan hatten, dann würde er sich die Kugel geben müssen. Glücklicherweise kam ihm in diesem Moment Volker zu Hilfe und bat ihn, mit Julian den Tisch zu decken. So eilig hatte es David noch nie gehabt, eine Hausarbeit zu erledigen. Das Mittagessen schien sich eeeewig lang hinzuziehen. Marisa erzählte Sascha unentwegt von der Schule, ihrem blöden Puppenhaus und ihren Lieblingstieren (Pferde natürlich) und da dieser Idiot auch noch interessierte Fragen stellte, hörte sie vor Entzücken selbst dann nicht auf zu plappern, als Julian laut zu betonen begann, wie wenig sich alle Anwesenden für ihren ,Babykram´ interessieren würden. Offenbar hatte sie glatt vergessen, dass außer ihr und Mr. Kinderflüsterer überhaupt noch andere Menschen am Tisch saßen. Währenddessen fluchte David still in sich hinein, zerschnitt und kaute jeden von Saschas köstlichen Pfannkuchen übertrieben brutal und versuchte gleichzeitig möglichst unauffällig Dings’ Blick auf sich zu ziehen. Vergeblich, wodurch mit jeder Minute seine Frustration wuchs. Mal ehrlich, so ein beschissenes Mittagessen hatte er schon lange nicht mehr erlebt: Da war er und wartete verzweifelt auf eine Situation, in der er allein mit Sascha reden konnte, seinem Kerl, der ihn ignorierte und ihn noch dazu mit seiner neunjährigen Schwester betrog. Es war einfach nicht zu fassen! Am Liebsten hätte David seinem tobenden Temperament nachgegeben, seine Pläne über den Haufen geworfen und das Pfannkuchentablett quer über den Tisch in Saschas Gesicht gepfeffert. Erst als seine Mutter das Wort an ihn richtete, sah er von diesem Plan ab. „Wann wollt ihr zwei eigentlich wieder fahren? Habt ihr euch schon einen Zug rausgesucht?“ „Ähm...,“ erwiderte David abermals sehr einfallsreich und wandte die Augen mühsam von Dings ab, „Nee, keine Ahnung. Unsere Züge fahren immer um dreiunddreißig. Am Besten wir fahren nicht so spät, damit–,“ „Aber Sascha und ich wollten noch mal mit meinem Puppenhaus spielen!“, zeterte Marisa. „Oh Gott, bitte nerv nicht!“, knurrte Julian, bevor David sie vor Zorn enthaupten konnte, „Also ich fahre um 14:24 Uhr Richtung Rostock. Wie wär’s, wenn ihr den Zug um 14:33 Uhr nehmt? Dann können wir gemeinsam zum Bahnhof fahren.“ In diesem Augenblick liebte David seinen großen Bruder mehr als je zuvor in seinem Leben. „Ja, das klingt gut,“ antwortete er und sah vorsichtig zu Sascha hinüber, „Was...meinst du...?“ Sein Herz vollführte vor Freude einen wilden Salto, als der seinen Blick endlich erwiderte. Allerdings nur eine einzige Sekunde lang. Dann wandte er das Gesicht hastig wieder ab und nickte seinen vermaledeiten Pfannkuchen zu. „Okay.“ Gott, wie David dieses Wort hasste! Als das Essen endlich, endlich beendet war, begab sich Mr. Ich-Habe-Gekocht-Und-Muss-Deshalb-Nicht-Mit-Abräumen nach oben, um vor der Abreise noch schnell duschen gehen zu können. David war drauf und dran, einen auf Sascha zu machen und zu versuchen, ihm unter die Dusche zu folgen. Dort würden sie höchstwahrscheinlich ungestört sein. Doch da er nicht diese ,absolut sagenhaft, Sascha!´-Pfannkuchen gebacken hatte, weigerten seine Eltern sich standhaft, ihm ebenfalls einen Freischein auszustellen, wodurch fast noch eine ganze Viertelstunde verging, bevor David endlich die Treppe hinauf poltern konnte. Vor Aufregung und Groll hämmerte sein Herz geradezu schmerzhaft in seiner Brust. Inzwischen hielt er seine drei Pläne – besonders zweitens und drittens – längst nicht mehr für so einfach durchführbar. Es konnte so viel schief gehen... Was, wenn Dings ihm nicht sagen wollte, was er ihm gestern Nacht hatte sagen wollen? Was, wenn er nicht geneigt war, seine Entschuldigung anzunehmen? Und was, um Himmels Willen, wenn David ihn so getroffen hatte, dass er ihn nicht mehr anfassen oder küssen wollte? Allein der Gedanke war... David kämpfte diese niederschmetternde Vorstellung rücksichtslos beiseite und riss ohne Anzuklopfen die Badezimmertür auf. Sascha, der angezogen, aber barfuß und mit feuchten Haaren am Waschbecken stand, fuhr so heftig zusammen, dass er sein Handtuch fallen ließ. „Mein Gott!“, keuchte er vor Schreck, „Was ist denn in di–,“ „Halt den Mund!“, fauchte David und schlug die Tür hinter sich zu. Das Krachen gefiel seinem Temperament so sehr, dass er sie gern gleich noch einmal so zugeschlagen hätte. Doch er verzichtete darauf und begnügte sich damit, Sascha so wütend anzufunkeln, dass der unweigerlich einen Schritt zurücktrat. „Setz dich auf den Klodeckel und hör mir zu!“, kommandierte David und drängte den erstarrten Mr. Mein-Gott-David-Ist-Verrückt-Geworden rückwärts zur Toilette, „Und wehe, du redest dazwischen, ich hab dir was zu sagen, klar?!“ Mit aufgerissenen Augen nickte Sascha und ließ sich gehorsam auf den Toilettensitz sinken. Er sagte kein Wort, aber sein Blick war so unverwandt auf David gerichtet, dass der die Wut wie Sirup aus sich herausfließen fühlte. Dings sah ihn an. Endlich. Mit einem Mal fühlte er sich nicht mehr groß und zornig, sondern klein und entmutigt. „Hast du...was auf dem Herzen...?“, fragte er leise und schluckte, „Hab ich dich gestern Abend irgendwie...verletzt...? Wenn ja, dann...wollte ich das nicht... Es tut mir wirklich Leid... Ich wollte nicht, dass du...,“ Er verstummte. Saschas Miene hatte sich mit einem Mal vollkommen verändert. Das überrumpelte Erstaunen war aus seinen Augen gewichen und von so weicher, warmer Zuneigung ersetzt worden, dass David ganz schwach zumute wurde. „Oh David, mein Liebling...,“ wisperte Sascha hingerissen und erhob sich mit einer einzigen raschen Bewegung, „Du bist so süß, ich fass es nicht...!“ Und ohne auch nur ein bisschen angesichts der Tatsache zu zögern, dass sie sich in einem unabgeschlossenen, öffentlichen Badezimmer im Haus einer gemeingefährlichen Puppenhaussüchtigen befanden, griff er mit beiden Händen in Davids Locken, zog ihn zu sich und küsste ihn verlangend auf den Mund. Einen Herzschlag lang drohte David auf den glatten, feuchten Fliesen zusammenzusacken. Dann verlor er jegliche Beherrschung, schlang seine Arme um Dings’ Hüfte und küsste ihn so hemmungslos zurück, dass sie strauchelten und sich gegen das Waschbecken lehnen mussten. Grundgütiger, wie hatte David auch nur zehn Minuten hierauf verzichten können? Sein Inneres schien von einem zum anderen Augenblick dem Hitzetod nahe zu sein. Tausende Tausendfüßler kribbelten durch seinen Magen. Seine Hände schoben sich zielstrebig unter Dings’ Shirt, streichelten über seinen nackten, heißen Rücken und legten sich anschließend so fest auf seinen Hintern, dass Sascha aufkeuchte. „Scheiße... David...,“ seufzte Sascha abgehackt in den Kuss hinein, „Du hast...mir so...gefehlt...,“ David brachte es nicht fertig, zu antworten. Seine Zunge war schwer beschäftigt. „Tut mir...Leid, dass ich...so abweisend...war...,“ fuhr Dings japsend fort, „Ich...wollte nicht, dass...du...denkst, dass...du–,“ „Schon...gut...,“ keuchte David zurück und zog Sascha mit einem Ruck noch näher an sich heran, als wolle er vor Sehnsucht und Lust in ihn hineinkriechen, „Quatsch nicht... Küss...mich...lieber...,“ Dings gluckste erregt gegen seine Lippen und folgte seiner Aufforderung dann voller Leidenschaft. In den folgenden Minuten schaltete Davids Kopf auf Durchzug. Erst als Mr. Mentalist sich schließlich sanft von ihm löste, erinnerte er sich an den dritten Plan. „Hör...mal...,“ flüsterte David schweratmend und versuchte seine Gedanken zu klären, was nicht einfach war, da Sascha ihm unzählige kleine, heiße Küsse auf Hals und Kiefer hauchte, „Wegen...gestern...,“ „Mhm...?“, machte Sascha und ließ seinen Mund über Davids Kinn, zurück zu seinen Lippen wandern, „Das war...der Wahnsinn...,“ David spürte, wie sich sein Mund gegen seinen Willen zu einem anzüglichen Grinsen verzog. „Oh jaah...,“ hauchte der Nymphomane in ihm erinnerungsselig. Zur Antwort kicherte Dings dreckig und verdrängte damit Plan Nr. Drei beinahe restlos von Davids To-Do-Liste. Doch er riss sich zusammen und rief sich und seinen Unterleib erbost zur Ordnung. Dafür war heute Nacht noch Zeit. Konzentration, bitte! „Nein, mal ehrlich!“, sagte er bestimmt, machte sich von Sascha los und sah ihm direkt in die leicht verhangenen Augen, „Wegen gestern... Da hast du doch etw–,“ In diesem Augenblick geschah das, was David irgendwo tief in seinem Alarmsystem schon die ganze Zeit befürchtete: Die Tür flog so plötzlich auf, dass die beiden abrupt auseinander stoben. In der Tür stand natürlich Marisa, diese kleine, verfluchte Mistkröte...! „Sascha!“, plärrte sie und hatte wieder ihr Wutgesicht aufgesetzt, „Wo bleibst du denn so lange? Wir wollten doch noch mal mit meinem Puppenhaus spielen!“ David hatte den erbitterten Impuls, sie im Klo zu ertränken und ihr verdammtes Puppenhaus mit einer Axt zu Kleinholz zu verarbeiten. „He, das hier ist ein Badezimmer!“, fauchte David empört und – wenn man’s es genau nahm – ziemlich scheinheilig, „Da klopft man an! Außerdem reden wir hier gerade!“ „Aber dazu habt ihr noch den ganzen Abend Zeit!“, konterte die Mistkröte ebenso entrüstet, „Ich will noch mal mit Sascha spielen!“ „Äh...,“ erwiderte Mr. Tauziehtau beunruhigt und blickte von einem aufgebrachten Lockenkopf zum Anderen. David hatte nicht übel Lust, seine kleine Schwester daran zu erinnern, dass er ihr älterer Bruder war und hervorragend mit pinken Linealen umgehen konnte. Aber...er war eben der ältere Bruder. Er war neunzehn Jahre alt und erwachsen und kein kleines Kind mehr. „Na, geh schon...,“ brummte er also an Sascha gewandt, „Wir reden später...,“ „Okay,“ nickte Dings und lächelte ihn an, so zärtlich und strahlend wie es sich gehörte und sodass David herrlich warm ums Herz wurde. Dann ließ er sich von Marisa aus dem Bad und in ihr Zimmer ziehen. Wieder allein im Badezimmer seufzte David und sank sonderbar erschöpft auf den Toilettensitz. Erstens – geschafft! Zweitens – geschafft! Drittens – … Nun ja. Gott sei Dank würden sie bald wieder im Zentrum sein. Kapitel 31: Ehrlich ------------------- Hallo Ihr Lieben :)! Hier ist das neue Kapitel, auf das Ihr leider Gottes mal wieder ziemlich lange warten musstet. Tut mir Leid deswegen...*drop*... Aber einen Lichtblick gibt es: Da ich das nächste Kapitel jetzt schon fertig habe, werdet Ihr wohl nicht nochmal so ewig warten müssen. Hurra :)! So. Ich hoffe, es gefällt Euch und Ihr verabscheut David hinterher nicht allzu sehr. Wir gelangen langsam in die entscheidende Phase, sodass jetzt sämtliche Tiefen erschlossen werden, wenn Ihr versteht, was ich meine^^. Drückt Sascha von mir, wenn Ihr ihn seht! Liebste Grüße von Eurer Lung ____________________________________________________________________ Das Zentrum empfing David und Sascha am Nachmittag mit dem üblichen Geräuschpegel, der alltäglichen Geruchspalette und dem gewöhnlichen Panorama. In den Gehegen zwitscherten, krähten, schrien und plapperten die Vögel, die Luft roch nach kaltem Regen, feuchtem Gras und zusammen gepferchten Tieren, die sich in ihren beengten Boxen tummelten. Fast war es malerisch, wie sich die dunklen Äste der inzwischen nahezu ganz und gar blattlosen Bäume in den mattgrauen Himmel bohrten. Aber nur fast. Während David neben Sascha über den gepflasterten Hof seines zweiten Zuhauses schritt, klopfte sein Herz immer noch laut und heftig in seiner Brust. Er und Dings hatten vor zwei Minuten die letzte Chance und die vorübergehende Abwesenheit anderer humanoider Lebensformen genutzt, um hinter einem Baum noch ein paar Intimitäten auszutauschen, bevor sie erneut – wie vorher im Zug und im Bus – von Menschen umringt sein würden. Eigentlich eine ziemlich blöde Idee. Denn nun war ihm furchtbar heiß und sein Kopf voll von anzüglichen Erinnerungen. Wie sollte er sich da auf freundlichen Smalltalk unter Kollegen konzentrieren? „Warte noch nen Moment,“ murmelte er also, nachdem sie die Betreten verboten-Tür zum Zivi-Bereich erreicht hatten und blieb stehen. Sascha, der bereits seinen Schlüssel gezückt hatte, hielt ebenfalls inne und sah ihn fragend an. „Ich will nur...kurz abkühlen...,“ fügte David peinlich berührt hinzu, „Falls jemand...drin ist.“ „Ach so...,“ erwiderte Mr. Feuerstein und lächelte schief, wobei er zwischen echter und falscher Belustigung zu schwanken schien, „In Ordnung...,“ Sie lehnten sich neben die Tür an die dunkelrote Backsteinmauer und schwiegen, während David sich die frische Luft zufächelte, um sein erhitztes Gesicht zu kühlen. Er schluckte. Dies wäre der richtige Moment, um Plan Nr. Drei noch einmal zu aktivieren und Dings zu fragen... Sie waren allein und die Stimmung war schon wieder ein wenig gespannt, dass sämtliche Organe in Davids Innerem mit Warnschildern wedelten. Außerdem würde diesmal mit Sicherheit keine Schwester zur Tür hereinplatzen und stören. David nahm all seinen Mut zusammen und holte Luft. Doch bevor er den Mund aufmachen konnte, kam ihm Sascha zuvor. „Übrigens, ich wollte...,“ fing Dings drucksend an und räusperte sich, „...ich wollte mich noch dafür bedanken, dass du...mich mitgenommen hast...,“ er erwiderte Davids verdutzten Blick ziemlich verlegen, „Das...war wirklich schön. Deine Familie ist...echt großartig.“ „Danke...,“ lächelte David und sein Herz hüpfte freudig. „Aber...,“ fuhr Dings mit schwerer Stimme fort und Davids Herz versteinerte, „Du...musst mich nicht noch einmal mitnehmen, wenn...es dir unangenehm ist...,“ David starrte ihn an. „Unangenehm?“, wiederholte er irritiert, während Sascha konzentriert in den bewölkten Himmel blickte, als kreise dort ein Drache, „Wieso...sollte es mir denn unangenehm sein? Red doch nicht son Scheiß!“ Sascha zuckte tatsächlich leicht zusammen. Dann wandte er das Gesicht wieder David zu. Seine Miene war unergründlich. Irgendwie...hoffnungsvoll und zärtlich und...misstrauisch zugleich. Davids Herz machte einen nervösen Purzelbaum. „Wirklich nicht,“ sagte er ernst, um Sascha diese dämlichen Flausen endgültig aus dem Kopf zu vertreiben, „Ehrlich gesagt...,“ er zögerte kurz, „Ehrlich gesagt, fand ich es... sehr...nett..., dass du...mitgekommen bist. Ich glaub, ohne dich...wär ich nicht gefahren...,“ Er verstummte eilig und senkte den Blick. Super. Jetzt brannte sein Gesicht schon wieder so. Hatte ja wunderbar geklappt, mit dem Abkühlen. Überhaupt, wieso sagte er Dings sowas? Okay, es stimmte zwar, aber der Depp bildete sich darauf bestimmt etwas ein und machte irgendwelche unpassenden Bemerkungen. Hastig begann David wieder damit, sich Luft zu zufächeln. „Ehrlich...?“, hörte er Sascha dann jedoch wispern und sein Herz stockte. Vorsichtig hob er den Kopf und schaute Mr. Offenbar-Fast-Zu-Tränen-Gerührt wieder an. Dessen ganzes Gesicht strahlte so hingerissen, dass David bei dem Anblick beinahe vergaß, was er eben gesagt hatte. „Mhm...,“ machte er schwach. „Gott, David...,“ hauchte Sascha und leuchtende Sternchen traten in seine Augen, „Du bist sooo toll! Ich bin so v–,“ Seine Stimme erstarb mit einem Schlag und ein gequälter Ausdruck ersetzte die schimmernden Sternschnuppen. Jedoch nur für einen einzigen Wimpernschlag und bevor David auch nur im Geringsten reagieren konnte. Sofort war das Leuchten wieder da, allerdings...ein kleines bisschen vermindert. Sascha lächelte sanft. Dann streckte er die Hand aus und ergriff die Davids. Ganz behutsam und vorsichtig, als wäre Händchenhalten in der Öffentlichkeit etwas unerhört Verbotenes und Anrüchiges. Und tatsächlich: Davids gesamter Bauchbereich schien vor Schreck in die Höhe zu springen. Er zuckte zusammen und schnappte unwillkürlich nach Luft. Und entzog Sascha seine Hand auf der Stelle. „Bist du bescheuert?!“, zischte er entsetzt, „Wenn uns jemand sieht! Die Zivi-Küche hat ein Fenster, du Idiot!“ Saschas Gesicht fiel prompt in sich zusammen. „Aber...hier ist absolut niemand außer uns...!“, flüsterte er erschrocken. Wie um Dings’ Worte Lügen zu strafen, erklang in diesem Moment ein schicksalhaftes Rumpeln aus der Scheune, das David abermals zusammen fahren ließ. Als er sich hektisch umdrehte, um durch die Fenster der geschlossenen Doppeltür zu spähen, erkannte er eine breite Gestalt, die bei der Tierannahme herum hantierte. Könnte Eric sein. Sein Magen verkrampfte sich. „Und ob hier jemand ist!“, fauchte er gedämpft und funkelte Mr. Unerträglich-Leichtsinnig ungehalten an, „Wir werden hier nie allein sein, verdammt!“ Er atmete einige Male tief durch. „Entschuldige...,“ murmelte Dings tonlos. „Schon gut...,“ brummte David und rieb seine Hände an seiner Jeans, als hätte Sascha auf ihnen ein verräterisches Sekret hinterlassen, „Lass uns jetzt reingehen. Bevor noch wer rauskommt...,“ Dings nickte stumm. Kommentarlos trat er zur Betreten verboten-Tür, schloss sie auf und ging hindurch. David folgte ihm mit etwas Abstand. Kaum hatten sie den Flur betreten, hörten sie die Stimmen aus der Zivi-Küche. Es waren Linda und Miriam. Sie saßen am Esstisch und unterhielten sich gedämpft. „–echt krass,“ meinte Linda gerade, „Ich meine, er war ja schon immer etwas... schwierig, aber das...,“ David machte Anstalten die Treppe zu seinem und Saschas Zimmer hinaufzusteigen, um seinen Rucksack erst mal abzulegen (und eventuell noch ein wenig...nun ja). Doch statt es ihm gleichzutun, stürmte Dings zielstrebig am Heizungskeller vorbei und in die Küche hinein, seine Reisetasche nach wie vor über der Schulter und ohne auch nur im Mindesten auf David zu achten. Der starrte ihm völlig verblüfft hinterher. „Wer ist schwierig?“, hörte David ihn einen Moment später sehr interessiert fragen und kurz darauf, wie er von den Mädchen erfreut begrüßt wurde. Er runzelte die Stirn. Sein Magen zog sich wiederholt schmerzhaft und verwirrt zusammen. Irgendwas stimmte hier schon wieder nicht. Das war doch sonst nicht Saschas Art. Einfach so an ihm vorbeizurennen... Beunruhigt wandte er sich wieder von der Treppe ab und ging Mr. Hide hinterher in die Küche. „Hallo, David!“, strahlte Linda ihm zu, sobald er im Türrahmen erschien. David zwang sich zu einem unbekümmerten Lächeln und einem lässigen Hi!, das selbst in seinen Ohren mehr als nur beknackt klang. Doch er war zu abgelenkt, um sich lange damit zu beschäftigen. Seine Augen huschten sofort zu Sascha hinüber, der sich, seine Jacke und seine Reisetasche bereits auf das leere Sofa gesetzt hatte und Davids Anwesenheit so vollkommen ignorierte, als hätte Linda lediglich eine hereinschwirrende Fliege begrüßt. „Wer ist schwierig?“, wiederholte er seine Frage soeben, seinen Blick starr auf Miri gerichtet. „Freddy,“ entgegnete Linda und zog vielsagend die Augenbrauen hoch. „Wieso? Was hat er denn gemacht?“, mischte sich David laut ein, um Sascha daran zu erinnern, dass er sich ebenfalls im Raum befand. Doch offenbar war Dings vorübergehend sowohl erblindet als auch ertaubt. Jedenfalls...was David anging. „Ben hat ihn so genervt, dass er ziemlich ausgerastet ist,“ erzählte Miri betroffen, „Er hat durch die ganze hintere Scheune gebrüllt und seine Faust in die Wand gerammt. Ihr solltet sie sehen. Sie ist ganz blau und geschwollen.“ „Gott o Gott...,“ flüsterte Dings mit großen Augen und auch David schluckte. Allerdings weniger aufgrund von Freddys Verhalten. Das der leicht reizbar und ziemlich ungeduldig sein konnte, wusste er schon lange. Spätestens seit Nick, sein eigener Vorgänger, wegen einer Auseinandersetzung mit Freddy in Tränen ausgebrochen war und seinen Zivildienst daraufhin zwei Monate früher beendet hatte. Nein, mit Freddys Unberechenbarkeit konnte er umgehen. Aber mit Saschas nicht. Was, zum Teufel, war nur wieder los? Es war ja schön und gut, dass Mr. Normalerweise-Keine-Hemmungen-Und-Jetzt-Das sich vor den Mädchen zusammen riss und ihn nicht ansprang, aber...ansehen...das konnte er ihn jawohl. Oder mit ihm sprechen. Das war jetzt schon das zweite Mal an diesem verfluchten Tag, dass er David wie ein Möbelstück behandelte. Was hatte er jetzt wieder falsch gemacht? Okay, er hätte ihn nicht so anblaffen müssen, als er draußen seine Hand genommen hatte. Aber mal ehrlich: Das war einfach viel zu auffällig gewesen, das müsste ihm doch klar sein! Den Rest des Gespräches bekam David nicht mit. Er schwieg und bemühte sich, nur alle vier Sekunden zu Sascha hinüber zu blicken, während er ein endloses Mantra in seinem Kopf hin und her rollen ließ: Sieh mich an! Sieh mich an! Sieh mich an! Doch es war vergeblich. Dings nahm seine telepathische Nachricht einfach nicht wahr. Er sah Linda und Miriam abwechselnd an und redete und lachte. Aber David war Luft für ihn. Der unsichtbare Mensch namens David kam erst wieder zu sich, als er eilige Schritte auf der kleinen Treppe zu den Büroräumen vernahm. Einen Augenblick später stieß Bettina die Tür zwischen Seminarraum und Zivi-Küche auf. „Oh, hallo,“ sagte sie und lächelte David und Sascha an, „Da seid ihr ja wieder. Schöne freie Tage gehabt?,“ bevor einer von ihnen antworten konnte, fuhr sie fort, „Übrigens, Sascha, ich soll dich von deiner Mutter grüßen.“ Einen Moment herrschte Grabesstille. David drehte den Kopf, um den schweigenden Sascha anzuschauen und erschrak tatsächlich ein wenig: Dings war blass geworden. Er wirkte geradezu paralysiert und musste sich einmal räuspern, bevor seine Stimme wieder funktionierte. „Ähm... D...Danke...,“ stammelte er und David sah aus den Augenwinkeln, wie Linda und Miriam verwunderte Blicke tauschten, „Aber....wieso? Hattest du etwa Kontakt...mit ihr?“ „Ja, allerdings,“ erwiderte seine Chefin gleichmütig und David erinnerte sich jäh daran, dass Bettina ja Saschas Tante und somit auch die Schwester seiner Mutter war, „Sie hat mich angerufen und sich nach dir erkundigt. Ich hab ihr gesagt, dass du ausgezeichnete Arbeit leistest,“ sie schenkte dem absolut perplexen Sascha ein weiteres Lächeln und wandte sich dann ohne Umschweife David zu, „Da fällt mir ein: David, kann ich kurz in meinem Büro mit dir sprechen?“ David sackte das Herz in die Hose. Wenn die Chefin jemanden allein im Büro sprechen wollte, war das normalerweise kein gutes Zeichen. Hastig durchwühlte er sein Hirn nach irgendwelchen Verbrechen, die er begangen und vergessen hatte. Doch ihm fiel nichts ein. „Äh... Sicher...,“ antwortete er unruhig, ließ seinen Rucksack von seiner Schulter gleiten und folgte Bettina aus der Zivi-Küche. Als er sich noch einmal zu seinen drei Kollegen umdrehte, erwiderten nur Linda und Miri seinen Blick. Sascha fixierte unverwandt seine Reisetasche, schien sie jedoch nicht zu sehen. Vielleicht verweilte er das erste Mal seit langer Zeit wieder in Hamburg. Im Büro seiner Chefin angekommen, setzte sich Bettina auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch, während David stehen blieb und sich mit klopfendem Herzen umsah. Er war schon seit einer Weile nicht mehr in diesem Raum gewesen und leicht schockiert angesichts der herrschenden Unordnung: Auf dem Tisch türmten sich die Papiere und Unterlagen, jedes Regal fasste zahllose Aktenordner und Kartons. Der Boden war bedeckt von Kisten und irgendwelchem Krimskrams, der offenbar nirgendwo mehr Platz gefunden hatte – unter Anderem der Hundekorb von Cindy, Bettinas braunweißgefleckter Promenadenmischung. Dort, wo Mark, der Vize-Chef üblicherweise saß, stapelten sich außerdem mehrere benutzte Kaffeetassen und Teller mit Kuchenkrümeln. „David...,“ begann Bettina schließlich und der Angesprochene schluckte schwer. „Ja...?“ „Ich...möchte dir danken.“ David blinzelte. „Äh...,“ machte er verständnislos, „Danken...? Wofür...denn das...?“ „Dafür, dass du Sascha unter deine Fittiche genommen hast.“ Fast wäre David die Kinnlade auf die Brust gesackt. Wie bitte?! Fittiche? Er? Sascha? Was meinte sie bloß damit? Grundgütiger! Hatte Bettina etwa Verdacht geschöpft?! Nein, nein, bitte nicht! Das konnte doch nicht sein! Oder...?! Mit Müh und Not hielt David seinen entsetzten Körper davon ab, erst in Flammen aufzugehen und dann schnellstens das Weite zu suchen. Als er sprach, zwang er sich zu einer einigermaßen ruhigen Tonlage. „Ich...fürchte, ich...verstehe nicht ganz...,“ Seine Chefin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte ihn scharf. „Nun ja. Zu Beginn seines Zivildienstes fiel Sascha die Anpassung sichtlich schwer. Er kam ständig zu spät und Freddy hat sich mehrmals über seine fehlende Arbeitsmoral beklagt. Aber seit ihr zwei so viel Zeit miteinander verbringt, hat sich das von Grund auf geändert. Ich dachte, du hättest ihm ins Gewissen geredet?“ David konnte es kaum glauben. Gleichzeitig durchströmte ihn herrliche Erleichterung bis in die Zehenspitzen. Gott sei Dank. Sie ahnte nichts. GOTT SEI DANK! Dennoch... Dies war irgendwie auch zuviel der Ehre. Schließlich hatte David Mr. 180-Grad-Drehung nie direkt ins Gewissen geredet. Eigentlich hatte er ihn die erste Zeit über nur zusammen geschissen. Ob das den gleichen Effekt gehabt hatte? „Ich...ich glaub nicht, dass ich...,“ antwortete er vage, aber ehrlich und räusperte sich ratlos, „Ich hab eigentlich nie...,“ „Wie auch immer,“ unterbrach Bettina sein Gebrabbel und presste einen Finger auf die Tastatur ihres uralten und summenden Computers, worauf der Bildschirm sich erhellte, „Auf jeden Fall scheinst du einen guten Einfluss auf ihn zu haben,“ sie hob ein letztes Mal den Kopf und lächelte ihn an, „Ich freue mich, dass ihr so gute Freunde geworden seid.“ David lächelte zum Abschied dümmlich und machte ein quakendes Geräusch, das man sowohl als Danke als auch als Tschüss interpretieren konnte. Anschließend verließ er hastig das Büro seiner Chefin und begann dann sehr langsam die paar Stufen zum Seminarraum hinabzusteigen. Sein Herz hatte bei Bettinas letztem Satz einen sonderbar verqueren Hüpfer gemacht, als wüsste es nicht direkt, was es von dieser Sicht der Dinge halten sollte. Guter Freund. Nein, so würde er Dings nicht beschreiben. Kenji war sein Freund, seit ewigen Zeiten. Mit Linda und Miriam war er befreundet. Aber mit Sascha? Okay, sie lachten und redeten viel. So, wie man es mit guten Freunden machte. Doch wenn er an Kenji oder Linda dachte, dann erinnerte er sich an eine witzige Gegebenheit oder fragte sich, was sie wohl gerade taten oder wie es ihnen ging. Wenn er dagegen an Sascha dachte, dann...wurde ihm heiß und kalt und das Verlangen stieg in ihm hoch wie frisch eingeschüttetes Warsteiner in einem Bierglas. Mit Kenji wollte er rumhängen, um sich mäßig tiefgründig zu unterhalten oder Musik zu hören oder Fußball zu spielen. Mit Sascha wollte er rumhängen, um...ihn zu küssen und seine nackten Schulterblätter zu streicheln und...ihn einfach nur mal anzuschauen, wenn er...kochte oder sich die Zähne putzte oder sich das dunkle Haar aus der Stirn strich... Nein, Sascha und er waren keine guten Freunde. Jedenfalls nicht im engeren Sinne. Sie waren... Ja, was eigentlich? Gab es ein Wort für ansatzweise befreundete Kollegen, die knutschten und in einem Bett schliefen und...gemeinsam die Familie des einen besuchten, um sich nicht voneinander trennen zu müssen? Bevor David auf diese Frage eine befriedigende Antwort gefunden hatte, hatte er die Tür zur Zivi-Küche erreicht und aufgestoßen. Miriam und Linda waren inzwischen fort und vermutlich wieder an die Arbeit gegangen. Doch Mr. Freund-Oder-Nicht- Freund-Das-Ist-Hier-Die-Frage...war noch da. Er kniete auf dem Sofa, mit dem Rücken zu David, und prüfte den Dienstplan für die kommende Woche, der hinter dem Sofa an einer Pinnwand befestigt war. Als David jedoch eintrat, fuhr er zusammen und wirbelte herum. Ihre Blicke trafen sich und sofort schlug Davids Magen ein paar so energische Loopings, dass er beinahe die Balance verlor. „Was wollte sie?“, erkundigte sich Sascha atemlos. David starrte ihn grimmig an. Aha, jetzt beachtete ihn der Herr also wieder, ja? War er ihm als Gesprächspartner jetzt wieder gut genug? War sein Anblick jetzt wieder zu ertragen? „Nichts Besonderes,“ knurrte er und griff nach seinem Rucksack am Boden. „Ging...es um meine Mutter?“ David verharrte mitten in der Bewegung und stand dann wieder auf. Überrascht betrachtete er sein Gegenüber. Sascha wirkte angespannt. „Wie kommst du denn darauf?“, fragte er. Dings ächzte leise und stieß die Luft aus, die er scheinbar angehalten hatte. „Das...heißt nein, oder...?“ David nickte und beobachtete Dings dabei, wie er sich mit einem Seufzer zurück auf die Couch sinken ließ und sich erschöpft über das Gesicht strich. Davids kurzweilige Empörung verpuffte in Sekundenschnelle. „Alles okay?“, fragte er besorgt und machte einen Schritt auf ihn zu. „Ja...,“ murmelte Sascha und hob den Kopf, um David anzusehen, „Schon gut. Alles in Ordnung...,“ er schaffte den Anflug eines Lächelns, „Bettina hat mich nur ziemlich kalt erwischt mit dem...Gruß...,“ David dachte an die komplizierte Beziehung, die Sascha zu seiner Mutter hatte und von der er immer noch nicht besonders viel wusste, und nickte abermals. „Hättest du...es lieber gehabt, wenn...sie dich angerufen hätte?“, fragte er behutsam. Dings musterte ihn immer noch. Dann zuckte er die Schultern und wandte den Blick ab. „Jein...,“ antwortete er matt, „Ich...weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Bei mir meldet sie sich nie, stattdessen ruft sie ihre Schwester – meine Chefin – an und erkundigt sich bei ihr, wie es mir geht...,“ er schnaubte angewidert. David schluckte. Sascha so deprimiert zu sehen, deprimierte ihn ebenfalls. Er kannte sonst niemanden, der Dings mit seinen Worten und Handlungen so aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Was für eine Mutter war das eigentlich? Er wollte Frau Locon grad mit einem als unklug geltenden Wiederkäuer betiteln, als ihm etwas an Saschas letzter Äußerung auffiel. „Was soll das heißen, sie meldet sich nie bei dir? Wann hattet ihr denn zum letzten Mal Kontakt?“ Dings’ braune Hundeaugen richteten sich wieder auf Davids Gesicht. „Als ich damals angeblich krank war, erinnerst du dich? Irgendwann Mitte Oktob–,“ „Aber das ist schon fast nen ganzen Monat her!“, schnitt David ihm ungläubig das Wort ab, während sein Hirn die Vorgeschichte zu Saschas damaliger „Krankheit“ aus naheliegenden Gründen nur streifte – an Jessika und diese Sache wollte er jetzt nicht denken. Mr. Offenbar-Nicht-Nach-Hause-Telefonieren nickte. „Richtig. Das war das letzte Mal, das wir voneinander gehört haben. Seitdem...herrscht Schweigen zwischen uns...,“ er verstummte und beäugte seine Hände, „Ehrlich gesagt...hab ich schon ziemlich lange nicht mehr an sie gedacht...,“ Davids Herz schmerzte ein wenig. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, um Sascha zu trösten. Absolut hirnrissig, dass er gerade noch böse auf ihn gewesen war. „Wie auch immer,“ kam Dings einen Moment später jedoch jedem möglichen Tröstversuch zuvor und lächelte David an, als hätten sie die ganze Zeit über Butterblumen philosophiert, „Worum ging es denn jetzt bei Bettina? Sie hat dich doch nicht ausgeschimpft?“ „Oh nein...,“ entgegnete David und erinnerte sich plötzlich an das Gespräch zwischen ihm und der Chefin, „Im Gegenteil. Sie hat sich bei mir bedankt!“ „Wofür?“, fragte Sascha neugierig. David gluckste und zog sich endlich die Jacke aus, die er noch immer trug. „Für dich!“, Dings’ konfuser Gesichtsausdruck brachte ihn zum Lachen, „Keine Ahnung, wie sie darauf kommt. Aber sie meinte, dass es mir zu verdanken sei, dass du jetzt so gute Arbeit leistest, weil du ja am Anfang so schwierig warst. Als ob ich dich rehabilitiert hätte oder so...,“ er grinste Sascha an und zog die Augenbrauen hoch, „Schwachsinn.“ Sascha lachte leise. Doch als er David ansah, leuchteten seine Augen wieder und sein Lächeln war ehrlich und warm wie die erste Sommerbrise im Mai. „Nein...,“ sagte er zärtlich, „Das ist kein Schwachsinn...,“ Unvermittelt füllte sich Davids Bauch mit Luftblasen. Etwas zittrig atmete er aus. „Ist es...nicht...?“, flüsterte er. Sascha schüttelte den Kopf. „Nein. Ganz und gar nicht...,“ er schaute David unverwandt ins Gesicht, „Als ich hier ankam..., konnte ich nur daran denken, dass meine Mutter mich bestrafen will. Ich wollte nur wieder weg und dachte, wenn...ich mich möglichst schlecht benehme, wirft Bettina mich direkt wieder raus und ich kann zurück nach Hause. Aber dann...kamst du. Und du...warst...,“ er schluckte und wandte den Blick ab, „...du warst so ehrlich. Und so engagiert und begeistert. Ich hab gesehen, wie sanft und geduldig du mit den Tieren umgehst, wie...ehrlich du ihnen helfen willst. Das...hat mich unglaublich beeindruckt. Und bevor ich mich versah, war ich vollkommen...,“ er stockte, räusperte sich und fuhr fort, „Na ja, plötzlich war dies hier mein Zuhause. Und die Leute meine Familie. Und du...,“ Seine Stimme erstarb erneut und diesmal kam sie auch nicht zurück. Ganz vorsichtig hob er den Kopf und begegnete Davids Augen, so bedächtig, dass dem beinahe die Beine wegknickten. Er fühlte sich unendlich schwach und leicht und sein Herz war so voller Wärme, dass sein Brustkorb es kaum mehr halten konnte. Er wollte zu Sascha hin und sich in seine Arme werfen, auch wenn Bettina in ihrem Büro saß und die Gefahr bestand, dass irgendein Mitarbeiter urplötzlich die Betreten verboten-Tür aufschloss und durch den Flur rauschte, wie Heiko es einmal getan hatte. Er wollte sich an ihm festklammern und ihn riechen und ihm sagen, dass es ihm ehrlich Leid tat, dass er ihn vorhin so grob angefahren hatte. Er wollte ihm sagen, dass er gern seine Hand hielt und dass er heilfroh war, dass seine Mutter ihn damals ins Zentrum gezwungen hatte. „Sascha, ich–,“ begann er. Doch in dieser Sekunde klingelte das Telefon und schnitt ihm den Satz ab. Sie fuhren beide zusammen und Sascha lehnte sich kurzerhand zu dem Regal hinüber, auf dem das Telefon stand, und nahm ab. Als hätte er es sehr eilig und obwohl er doch eigentlich gar nicht im Dienst war. Und so schnell wie er gekommen war, verschwand der Drang, ehrlich zu Sascha zu sein, wieder aus David. Kapitel 32: Nachts ------------------ Hallo Ihr Lieben :)! Hier kommt das 32. Kapitel von Mosaik für Euch! Ich hoffe, Ihr mögt es so gern wie ich und lasst Euch schön einfluffen. Genießt es, ab dem nächsten Kapitel geht es steil bergab und mit Volldampf dem Ende der Geschichte entgegen. Hach, darauf freue ich mich schon ^-^ Viel Spaß beim Lesen! Liebste Grüße von Eurer Lung ____________________________________________________________________ „Ach, verdammt...,“ jammerte Linda fast sechs Stunden später und warf ihre Karten mit einem gequälten Lächeln auf den Tisch, „Immer verliere ich. Wie ist das nur möglich, dass man bei elf Spielen jedes Mal ganz hinten ist? Das ist doch scheiße!“ „Du kennst doch das Sprichwort,“ erwiderte Ben grinsend, während die glucksende Miriam die Karten zusammenkramte, um erneut zu mischen, „Pech im Spiel, Glück in der Liebe.“ Linda schnaubte bekümmert. „Ja, so heißt es. Aber ich kann dir sagen: Das ist Bullshit.“ „Och, Lindalein,“ antworte Sascha lächelnd und strich der kleinen Praktikantin liebevoll über den Rücken, „Sei nicht traurig. Das nächste Mal lass ich dich gewinnen, versprochen.“ „Danke, Sascha...,“ wimmerte Linda und legte ihren Kopf auf seine Schulter. „Nicht, wenn wir es verhindern,“ tönte Ben, „Nicht wahr, Miri?“ „Allerdings!” „David? Hey, David!“ „Was? Oh ja! Das werden wir.“ Tja. Zwar gab es im Tierschutzzentrum Rötgesbüttel keine kleinen Schwestern, die unaufgefordert einen geschlossenen Raum stürmten oder wehrlose Leute mit ihren Spielzeugen peinigten, doch dafür gab es befreundete Kollegen namens Miriam, Linda und Ben, die zu den unpassendsten Zeitpunkten auf die glorreiche Idee kamen, erst gemeinsam Pizza zu machen und anschließend kindische Kartenspiele zu spielen. Freilich, solche Abende machten Spaß, sorgten für gute Stimmung und ausgiebiges Gelächter, gleichzeitig vermasselten sie jedoch eventuell involvierten Zivis die Chance, nette Gespräche miteinander zu führen oder wahlweise auch dem allgegenwärtigen Bedürfnis nach körperlicher Nähe nachzugehen, das sich leider so gar nicht mit Pizza oder einer lautstarken Partie Schwimmen beseitigen ließ. Im Gegenteil. Während des Belegens, des Essens und des Spielens kostete es David jede Menge Selbstbeherrschung, sich und seinen Körper davon abzuhalten, keine sexuell motivierten Dummheiten zu begehen und Sascha in die erstbeste Ecke zu zerren, um dort vor aller Augen über ihn herzufallen. Stattdessen aß, schwatzte und lachte er mit den Anderen, alberte mit Miri herum und gewann und verlor in regelmäßigen Abständen, bekam jedoch kaum etwas davon mit. Denn immer wieder gelang es seinen Augen, sich der Kontrolle seines gereizten Verstandes zu entziehen und zu Sascha hinüber zu huschen, wo sie für einige Sekunden lang begehrlich hängen blieben. Und immer wieder beschlich ihn das bohrende Gefühl, dass ihn seinerseits jemand unverwandt beobachtete. Doch jedes Mal, wenn er daraufhin den Kopf drehte und vorsichtig in Dings’ Richtung schielte, betrachtete der Ben oder Miri oder Linda oder seine Karten oder irgendwas anderes in der Zivi-Küche. Alles und jeden, nur nicht ihn. Gott, was war das doch zum Kotzen. Und dabei köchelte die Sehnsucht nach Sascha in Davids Innerem schon den ganzen Abend lang vor sich hin, sodass sie inzwischen kurz vorm Überlaufen stand. Er fühlte sich wie heiße Milch, die in einem Kupfertopf auf dem Herd vor sich hin dampfte und mit jeder verstreichenden Sekunde dem Rand näher kam. Es war nach elf Uhr, als Davids Leiden endlich beendet und die vermaledeiten Spielkarten weggepackt wurden. Während Linda in ihrem knallroten Lupo davon brauste, Miriam die Treppe zu ihrer Wohnung über den Zivi-Räumen hinauf stieg, Ben ein letztes Mal in den Tierbetrieb watschelte, um nach den Viechern zu sehen, und Sascha die benutzten Teller, Messer und Gabeln in der Spüle stapelte, flüchtete er sich in sein finsteres Zimmer, um tief durchzuatmen und etwas Dampf abzulassen, indem er seinen Kleiderschrank trat. Himmel, Arsch und Zwirn, wie sehr ihn das alles nervte! Wieso musste es immer dann, wenn er und Sascha sich in einer Gruppe befanden – und wo sie ihre beständige Lust aufeinander nicht zeigen, geschweige denn ausleben konnten –, so unglaublich schwer für ihn sein, eben darauf zu verzichten? Wieso hatte David immer genau dann diesen besonders schmerzhaften, weil unmöglichen Wunsch, mit Sascha allein zu sein, ihn anzufassen und zu küssen? Wieso fiel es ihm immer gerade dann so unheimlich schwer, ihn nicht anzusehen? Wer hatte das so dämlich eingerichtet? War das normal? Ein dummer Witz von Mutter Natur? Ging es Sascha vielleicht genauso? Oder lag es doch an David? War er einfach völlig plemplem und hatte es tatsächlich so viel nötiger als Dings und alle anderen Menschen auf der Welt, sodass sich die unausgelebte Erregung nicht – wie normalerweise – mit der Zeit recycelte, sondern stattdessen immer weiter zusammen braute? Mal ganz abgesehen von diesem entsetzlichen Stich der Eifersucht, der Davids Körper lähmte, ihm jegliche Gedanken aus dem Kopf fegte und ihn immer dann heimsuchte, wenn Sascha mit einem der anderen Anwesenden vertraulichen Körperkontakt aufbaute – und sei er noch so rein freundschaftlich und flüchtig. David überlegte gerade, ob er noch einmal gegen seinen Schrank treten sollte – der filmreifen Theatralik wegen –, als seine Zimmertür ohne Vorwarnung aufgerissen wurde. Er zuckte heftig zusammen und wirbelte herum. Sascha stand in der Tür. Und er sah beinahe etwas ungehalten aus. „Hab ich dich,“ knurrte Mr. Unerwarteter-Auftritt und schloss die Tür ab, „Dachtest du echt, du kämst so einfach davon? Du könntest dich so mir nix, dir nix aus der Affäre ziehen, indem du dich in deinem Zimmer verkriechst? Pah! Falsch gedacht, mein Lieber.“ David verschlug es die Sprache. Er schluckte beunruhigt. „W... Wovon redest du?“, fragte er, während sein Puls sich alarmierend schnell beschleunigte. Dings antwortete nicht. Stattdessen...zog er sich das T-Shirt über den Kopf und warf es zur Seite. Und während David ihn noch mit offenem Mund anstarrte, begann er zu grinsen. Und dieses Grinsen, das er noch so gerade durch die Dunkelheit im Zimmer erkennen konnte, ließ Davids Herzschlag endgültig bersten. „Wovon ich rede...?“, schnurrte Sascha mit einem so gefährlichen Unterton, dass Davids Kehle ganz trocken wurde, „Ich rede davon, dass du...,“ langsam kam er auf ihn zu und David wich zurück, bis er an seinen Kleiderschrank stieß, „...den ganzen Abend mit allen redest, nur nicht mit mir. Schlimmer noch. Während ich vor Sehnsucht fast vergehe, ignorierst du mich geschlagene sieben Stunden lang und ich–,“ „Ich ignoriere dich?“, blaffte Davids Temperament aus den Untiefen seines überwältigten, aber dennoch sehr entnervten Geistes heraus und funkelte sein halbnacktes und äußerst anziehendes Gegenüber böse an, „Ich ignoriere dich überhaupt nicht! Du ignorierst mich! Und außerdem hast du ständig mit Linda geflirtet!“ Sascha riss die Augen auf und machte ein seltsam schnalzendes Geräusch, das offenbar seiner Empörung Ausdruck verleihen sollte. „Mit Linda geflirtet?!“, schnappte er zurück, „Das musst du gerade sagen! Wo du doch ununterbrochen mit Miriam geschäkert hast!“ „Du spinnst wohl!“, fauchte David entrüstet und versuchte sich vergeblich an irgendeine Szene dieser Art zu erinnern, „Ich hab mit niemandem geschäkert! Ich hab die ganze Zeit nur an dich gedacht und du–,“ David kam nicht mehr dazu, seinen wutentbrannten und dennoch sehr wahren Satz zu beenden. Er sah nur noch die Leuchtraketen, die sekundenlang in Saschas dunklen Augen aufglommen, dann wurde er rücklings gegen den schwer gebeutelten Schrank geschmettert und so stürmisch geküsst, dass es ihm den Atem nahm. Mit einem Schlag war Davids Temperament stumm und hilflos. Sein Kopf leerte sich mit einem Gurgeln, als wäre der Stöpsel einer Badewanne gezogen worden. Er konnte nur noch seine Arme wie in Trance um Saschas Hals werfen und mit einem Stöhnen den Mund öffnen, um ihn endlich so zu küssen, wie er es sich die letzten sieben Stunden ausgemalt hatte. „Da...vid...,“ keuchte Sascha heiser, als sich ihre Zungen berührten und zog David so eng an sich, dass es ihm den Verstand raubte, „Sag...es mir...noch mal...,“ „W...Was...?“, nuschelte David und reckte Dings begierig das Kinn entgegen. Aber Sascha wich vor seinem Kuss zurück und sah ihn an. „Sag es mir noch mal... Dass du die ganze Zeit nur an mich gedacht hast.“ David leckte sich über die Lippen und versank in diesen wunderschönen braunen Augen. Wozu lügen? Es war doch die Wahrheit. Er hatte den ganzen Abend lang nur an Sascha gedacht. Und daran, dass er vielleicht den Verstand verloren hatte. Und – um die komplette Wahrheit zu sagen – hatte er nicht nur den vorangegangenen Abend daran gedacht, sondern auch den größten Teil des letzten Monats. Aber das würde er vorerst doch für sich behalten. „Ich hab die ganze Zeit nur an dich gedacht...,“ wisperte er also. Sascha seufzte zittrig. „Echt...?“ „Ja... Sagte ich doch...,“ brummte David verlegen und spürte, wie ihm jetzt doch ein wenig warm wurde. Er senkte den Blick, wodurch ihm das glückselige Lächeln entging, das sich sekundenlang auf Saschas Gesicht ausbreitete. Dann spürte er Saschas Lippen an seinem Ohr und bekam prompt eine Gänsehaut. „Du bist so süß...,“ flüsterte Dings, „So wahnsinnig süß...,“ „Bin ich nicht...,“ grollte David mit prickelndem Magen. „Doch. Und jetzt komm her. Und küss mich...,“ Das ließ David sich nicht zweimal sagen. Er drückte seine Lippen auf die Saschas und küsste ihn voller Leidenschaft, während sein Herz dabei mit jeder Sekunde schneller in seiner Brust schlug und nach immer mehr, mehr, mehr verlangte. Nach zehn Minuten, in denen ihr Tempo und ihre Hitze immer mehr zugenommen hatten, löste Sascha schließlich seufzend den Kuss und widmete sich Davids Gesicht, küsste seine Stirn, seine Schläfen, seine Wangenknochen, sein Kinn und seinen Kiefer. „Hab...ich dir...eigentlich gesagt...,“ hauchte er ihm zwischen zahllosen Küssen heiß ins Ohr, sodass sich Davids Magen vor Erregung verkrampfte, „...wie unglaublich...scharf...ich deinen...Auftritt heute Mittag...im Bad fand...?“ „Nee...,“ stöhnte David und erzitterte, als er Saschas Finger an seinem Hosenbund fühlte. „Das...war...so...unglaublich...SCHARF!“, betonte Mr. Dingens grinsend, öffnete den Jeansknopf und zog auch Davids Reißverschluss mit einem leisen Sirren auf, „Setz dich hin und hör mir zu! Das war so böse. Und so sexy...!“ David gluckste. Und krallte seine Fingernägel einen Moment später japsend in Saschas Schultern, als der ihm mit beiden Händen in die Hose fuhr. Wie zwei betrunkene Tangotänzer schoben sie sich kichernd und keuchend durch Davids Zimmer; stießen erst gegen das Regal, dann gegen den Tisch, während sie sich unentwegt weiter küssten und verzweifelt versuchten, all die störenden Klamotten zwischen ihren hämmernden Herzschlägen loszuwerden, ohne sich dabei mehr als drei Millimeter voneinander zu entfernen. Als sie schließlich bei Davids Bett ankamen und übereinander hinein plumpsten, trug David lediglich noch sein T-Shirt und seine Socken. Sascha war nur seine Boxershorts geblieben. Schwer atmend wälzten sie sich über die Matratzen. Jedes Organ in Davids Innerem ächzte und krümmte sich vor Wonne. Und überall dort, wo Saschas Lippen ihn berührten oder seine Finger ihn streichelten, brannte seine nackte Haut lichterloh wie Feuer. „Sascha, warte...,“ stöhnte David mit schwerer Zunge, als Dings irgendwann über ihm lag und gerade dabei war, ihm auch noch das T-Shirt auszuziehen, „Warte... Warte kurz...,“ Keuchend hielt Sascha inne und blickte mit glasigen Augen auf David hinunter. „Was...ist? Alles...in Ordnung...?“ „Ja, aber...,“ In Davids Kopf drehte sich alles. Er spürte Saschas glühenden Körper so deutlich zwischen seinen geöffneten Beinen, dass es ihm einen heißkalten Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte und er kaum etwas anderes wahrnehmen konnte. Und sein Unterleib pochte so flehentlich und wild, dass es fast wehtat. Er wollte es. Er wollte es so unbedingt... Er griff nach Saschas Oberarmen, um sich irgendwo festhalten zu können. „Sascha...,“ nuschelte er rau, „Lass...lass es uns tun... Heute Nacht...,“ Verständnislos musterte Dings ihn. „W...Was tun...? Was meinst–,“ Dann unterbrach er sich. Offenbar war der Groschen doch noch gefallen. „D...David...,“ zischte er. „Sascha, ich...ich will nicht mehr warten...,“ flüsterte David drängend, schluckte und schaute hinauf in Dings’ Gesicht, „Ich...will es endlich tun. Mit...mit dir. Und ich...hab dir doch versprochen, dass ich nicht denke, dass es alles ist, was du von mir willst. Ich weiß, dass es nicht alles ist. Bitte...,“ er atmete tief ein, „...halt mich nicht mehr hin...,“ Sascha erwiderte seinen festen Blick. „W...Wieso...?“, wisperte er dann, „Wieso...bist du da so hinterher? Nach allem, was Sven dir angetan hat, könnte ich...es eher verstehen, wenn du...es nie machen willst...,“ David schluckte abermals. Was für eine gemeine Frage. Auch wenn sie aus Saschas Sicht wohl absolut verständlich war. Und er die Antwort ganz genau kannte. „Ich...,“ murmelte David und atmete tief ein, „Ich...will es endlich hinter mir haben. Eben weil Sven mich so gedrängt hat, ich...ich will endlich aufhören mich davor zu fürchten und außerdem...,“ er atmete erneut ein, „...und außerdem will ich...dich. Ich... weiß, dass du...der Richtige bist...,“ Hitze stieg in seine Wangen und verlegen blickte er an Sascha vorbei. Der schaute ihn einen Moment hingerissen an. Dann seufzte er schwer und hievte sich von David herunter, um sich neben ihn zu legen. Ärgerlich starrte David ihn an. „Hee!“, protestierte er leise, „Sag mir nicht, dass du nicht willst. Das glaub ich dir nämlich nicht. Ich weiß, dass du es auch willst. Das kann ich nämlich a) sehen und b) hab ich es bis eben sehr deutlich gefühlt. Also lüg mich nicht an.“ Sascha wirkte gleichermaßen betrübt, verlegen und erregt. „Nein. Ich...ich meine ja. Du...du hast Recht...,“ er seufzte erneut, griff dann nach Davids Händen, küsste seine Fingerknöchel und sah ihn genauso drängend an, wie der ihn vorher angeschaut hatte, „Du hast wirklich Recht, es...ist nicht so, dass...ich nicht will. Im... Gegenteil. Ich finde dich absolut umwerfend und ich will dich sooo sehr. Um die Wahrheit zu sagen, ich...ich kann mich kaum beherrschen und in meiner Phantasie hab ich schon hundertmal mit dir geschlafen, aber...,“ er holte tief Luft, „Ich...ich kann nicht...,“ David war sprachlos. Erbost zog er ihm zum zweiten Mal an diesem Tag die Hände weg. „Was soll das heißen, du kannst nicht?!“, knurrte er, „Was für ne saublöde Ausrede! Impotent bist du schließlich nicht, das hab ich schon bemerkt.“ „Daran liegt es doch auch nicht!“, erwiderte Sascha hastig und peinlich berührt, „Ich kann eher...emotional nicht...,“ „Wieso denn nicht?“ „Es...es geht mir einfach zu schnell!“ Jetzt sackte David endgültig die Kinnlade auf die Brust. Mit einem Ruck setzte er sich auf und funkelte Sascha zornig an. „Es geht dir zu schnell?“, fauchte er und zog sich sein T-Shirt so weit es ging über die Oberschenkel, „Zu schnell?! Du hast mit Jessika einen One-Night-Stand und mit mir, mit dem du schon seit fast nem Monat jeden Tag rummachst, geht es dir zu schnell?!“ „Jetzt reg dich doch nicht gleich so auf!“, antwortet Sascha rasch und setzte sich ebenfalls auf, um hitzig gestikulieren zu können, „Du verstehst das falsch. Jessika und du – ihr seid zwei völlig unterschiedliche Kisten. Mit Jessika hat es mir nichts bedeutet, aber bei dir, da...da bedeutet es mir viel, weißt du...? Und ich...ich will es richtig machen...,“ Inständig bittend betrachtete er David. Der beruhigte sich allmählich wieder. „Komm...,“ fuhr Sascha leise fort, „Gib...gib mir deine Hand. Ich...erkläre es dir, ja?“ David brummte nur. Eigentlich würde er seine beiden Hände gerne frei haben, um vernünftig zuschlagen zu können, falls ihm Dings’ Erklärung nicht gefiel. Doch er reichte Mr. Ich-Kann-Nicht seine Hand trotzdem. Der nahm sie liebevoll in seine und lächelte erleichtert. „Ähm... Du...du erinnerst dich doch noch daran, wie ich gestern sagte, dass...mein erster Gedanke, als wir uns zum ersten Mal begegneten, der war, dass ich mit dir schlafen will...?“ David nickte. „Und du...erinnerst dich auch noch daran, dass ich dir heute Nachmittag erzählt hab, dass ich...am Anfang meines Zivis sofort wieder von hier weg wollte und deshalb beschlossen hab, mich besonders schlecht zu benehmen. Oder?“ „Ja...,“ „Nun... Nachdem ich dich kennen gelernt hab, hat sich dieser Plan...geändert. Ich...ich wollte immer noch so schnell wie möglich nach Hause, aber vorher...wollte ich dich um jeden Preis flachlegen. Ich dachte, ich...ich bleib noch so lange, bis ich mit dir im Bett war und verschwinde dann auf Nimmerwiedersehen zurück nach Hamburg...,“ Er verstummte und beäugte David nervös, dessen Augenbrauen bei jedem Wort weiter in die Höhe gewandert waren. „I...Ich weiß...,“ fuhr er dann mit verzweifelter Stimme fort, „...das war absolut ekelhaft und ich schäme mich dafür. Ich...ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen, dass ich am Anfang so ein elendes Arschloch war. Und dass ich dich so schrecklich bedrängt hab und...so... Es...tut mir wirklich, wirklich Leid...,“ Seine Stimme erstarb. In Davids Kopf drehte es sich wieder. Diesmal allerdings aus einem ganz anderen Grund. Mit plötzlichem Verständnis erinnerte er sich an diese Nacht vor ewigen Zeiten, in der Sascha ihm Steak gemacht und einen Blow-Job als Bezahlung von ihm verlangt hatte, um hinterher, nachdem David abgelehnt hatte, ihn in genau diesem Zimmer an die Wand zu pinnen und heftig zu küssen. Und er erinnerte sich...an seine eigene Erregung, nachdem Dings’ ihm so dreist zwischen die Beine gegriffen hatte. Grundgütiger. Wenn David damals nicht zur Besinnung gekommen wäre, wenn er sich hätte verführen lassen und mit Sascha geschlafen hätte, dann...dann wäre er jetzt höchstwahrscheinlich schon seit Wochen über alle Berge. Und er, David, vermutlich an einem Kopfschuss gestorben. Doch es war glücklicherweise anders gekommen. Denn damals hatte David ihn ja fuchsteufelswild aus dem Zimmer geschmissen und sich geschworen, ihm nie wieder zu nah zu kommen. Darum war Sascha noch da und er noch lebendig. Eigentlich gar nicht so übel. „Woran denkst du...?“, flüsterte Sascha in diesem Moment und beugte sich vor, um einen warmen Kuss auf Davids Schulter zu hauchen. Der schreckte aus seiner Trance, wandte den Kopf und fixierte Mr. Ziemlich-Mies-Und- Verschlagen gedankenverloren. Der erwiderte seinen Blick, als hätte er Angst, dass David gleich mit Stühlen um sich werfen würde. „Ich...hab grad an diese Nacht gedacht. Weiß du noch? Dein erster Arbeitstag. Als du für mich gekocht hast und mir erst einen Blow-Job vorgeschlagen hast und mir danach in genau diesem Zimmer an die Wäsche gegangen bist.“ Dings’ Gesicht verzerrte sich gequält. „Oh Gott, erinner mich bloß nicht daran... Das ist mir so peinlich, ich... Es tut mir so Leid, David...,“ „Ich weiß...,“ murmelte David und schmunzelte, weil er es wirklich wusste, „Aber weißt du, was komisch ist?“ Sascha schüttelte den Kopf. „Heute Nacht, über einen Monat später, hast du das Gleiche noch mal getan. Du hast mich hier überrascht und mich in Grund und Boden geknutscht. Aber dieses Mal...hab ich dich nicht rausgeworfen, sondern zurück geknutscht. Und jetzt...versuche ich dich dazu zu bringen, mit mir zu schlafen, statt andersherum. Nicht zu fassen...,“ Dings kicherte leise und schmiegte seinen Kopf hingebungsvoll an Davids Schulter. „Stimmt. Aber ich finde, dass ist eine durchaus positive Entwicklung.“ David schnaubte. „Pfff... Du willst ja nicht. Ich finde das nicht besonders positiv.“ „Ich hab doch gesagt, dass ich nicht nicht will, du Blödmann,“ schmollte Sascha, „Ich will mich einfach noch ein bisschen geißeln, weil ich so ätzend war. Ich will es langsam angehen lassen, damit ich keinen Fehler mache. Ich hab dich wie Dreck behandelt und jetzt gebe ich mir selbst dafür die Quittung. Das ist nur fair.“ David verdrehte die Augen. Aber eigentlich war ihm mehr nach Lächeln zumute. Sein Herz pumpte eifrig und zufrieden warmes Blut durch seine Venen. „Sag mal...,“ begann er, als ihm noch etwas anderes einfiel, „Damals, als du mir nach dieser absurden Nacht mit Leopold...,“ sie giggelten beide kurz bei dem Klang dieses Namens, „Also, als du mir damals von deinem...deinem feuchten Traum erzählt hast und ich dich mit Äpfeln beworfen hab...,“ Dings räusperte sich betreten. „Äh... Ja?“ „Wolltest du mich da auch rumkriegen?“ „Ähm... Nein, eigentlich nicht. Da wollte ich dich nur wütend machen, weil...na ja...weil ich das halt so toll fand...,“ er senkte verlegen den Kopf, „Tut mir Leid...,“ „Schon gut...,“ murrte David, diese Eigenheit von Dings kannte er ja schon, „Und dann..., als du mich am nächsten Tag zum Bahnhof gebracht und mich einfach im Zug geküsst hast? Was wolltest du da? Wolltest du mich im Zugabteil vögeln oder nur in Rage versetzen?“ „Äh... Nein, da...da wollte ich dich einfach noch mal küssen.“ „Ach so,“ David sah ihn scharf an, „Du bist wirklich das Letzte, weißt du das?“ „Ja, das weiß ich...,“ jammerte Sascha und bedeckte Davids Hand mit kleinen, sehr reuevollen Küssen, „Ich bin unwürdig und minderwertig und verdiene dich nicht. Ich bin dein demütiger Diener. Dein Sklave, wenn du so willst. Dein untergebenster–,“ „Ja, ich hab’s begriffen!“, unterbrach David ihn glucksend und entzog ihm abermals seine Hand, „Du neigst eindeutig zum Masochismus, mein Lieber.“ „Richtig, aber...eigentlich...nur bei dir. Bei dir und...meiner Mutter.“ „Was für eine schöne Mischung.“ „Find ich auch. Herzerfrischend.“ David grinste ihn an. Herzerfrischend. Ja, so fühlte er sich gerade auch. Sein Herz war erfrischt und wenn er Sascha so ansah, seinen sinnlichen Mund und seine wohlproportionierten Muskeln, dann begann sein Magen schon wieder so sehnsüchtig zu kribbeln und seine Lunge zu säuseln und sein Herz zu zittern. Und dieses Problem in seinem Schritt bestand auch immer noch... „Sascha...,“ hauchte er und bewegte sein Gesicht wieder näher an das von Mr. Masochist heran, „Wenn du es in deiner Phantasie mit mir getan hast... War das gut?“ „Ohhh...,“ stöhnte Sascha hingerissen und näher sich ebenfalls, bis ihre Münder nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren, „Unvergleichlich. Und so hemmungslos...,“ Davids Unterleib krampfte sich verheißungsvoll zusammen. „Und wann bist du in deine Phantasiewelt abgetaucht?“, fragte er gespielt vorwurfsvoll, „Doch nicht etwa in deiner Arbeitszeit?“ „Immer und überall...,“ antwortete Sascha und kicherte dreckig, „Aber meistens...nachts.“ „Nachts?“, echote David schockiert, „Aber doch hoffentlich nicht, während ich nichtsahnend neben dir geschlafen hab, oder?“ „Ähm... Na ja...,“ wisperte Mr. Hemmungslose-Sexphantasien und klang nun doch wieder verlegen, „Nicht...direkt... Ich bin halt noch mal aufgestanden, wenn ich...mir sicher war, dass du schon schläfst, und bin aufs Klo gegangen und...,“ David konnte es nicht glauben. Und er hatte all die Wochen gedacht, dass Sascha das Knutschen auch ausgereicht hatte. Und dann, dass er der krankhaft Notgeile von ihnen beiden war. Und jetzt...erfuhr er, dass Dings... „Warte. Du...du willst mir allen Ernstes sagen, dass du manchmal nachts aufstehst, um dir auf dem Klo einen runt–,“ „Eigentlich nicht nur manchmal...,“ unterbrach Dings ihn zerknirscht, „...sondern immer. Gestern...war das erste Mal seit Wochen, dass ich es nicht getan hab.“ „Das...ist ja echt...krass...,“ murmelte David tonlos, während sein Temperament nur fassungslos den Kopf schüttelte, „Und du Heuchler sagst mir, dass du noch mit dem Sex warten willst.“ „Das ist etwas ganz anderes!“, ereiferte sich Sascha eilig, „Zwischen Phantasie und Realität ist ein großer Unterschied. Und ich hab ja nicht gesagt, dass ich bis in alle Ewigkeit warten will. Nur...noch ein bisschen...,“ „Und wie lange ist ein bisschen...?“ „Ich sag dir Bescheid, wenn ich’s weiß.“ „Versprochen?“ „Versprochen.“ „Also gut...,“ zischte David, biss sich auf die Unterlippe und rückte dann noch etwas näher an Dings heran, bis er die köstliche Hitze spüren konnte, die der wie ein Kamin ausstrahlte, „Aber rummachen... Das können wir doch, während wir warten, oder...?“ „Oh jaah...,“ schnurrte Sascha sexgrinsend und griff erneut nach Davids T-Shirt, „Das können wir... Komm her und ich zeige dir, was ich dir gestern Nacht noch nicht gezeigt hab...,“ Mitten in der Nacht schreckte David aus dem Schlaf. Um ihn herum war es tintenschwarz, nur die Straßenlaternen warfen etwas mattes Licht zum geschlossenen Fenster herein. Schlaftrunken strich er sich die Locken aus der Stirn und rieb sich die Augen. Was hatte ihn geweckt? Der Dunkelheit nach zu urteilen, war es noch lange nicht Tag, der dumme Wecker war also unschuldig. Und so laut heulte der Wind draußen nun auch wieder nicht. Er grummelte und wollte sich grad wieder zusammen rollen, als er plötzlich etwas hörte. Und diese Geräusche...schienen aus seiner unmittelbaren Nähe zu kommen. David erstarrte und lauschte mit aller Kraft. Und dann setzte er sich ruckartig auf. Sascha lag neben ihm. Er atmete leise, aber dabei...warf er seinen Kopf unruhig von einer Seite zur anderen. Und schluchzte. Mit einem Schlag war David hellwach. Verzweifelt versuchte er mit den Augen die Finsternis zu durchdringen und Saschas Gesicht erkennen zu können. „Sascha...?“, hauchte er mit klopfendem Herzen und zitternder Stimme, „Sascha? Alles...okay?“ Doch Sascha reagierte nicht. Er schien zu schlafen. David schluckte und begann vorsichtig zu tasten. Er berührte Saschas weiche Haare, seine Stirn, seine warmen Schläfen. Dann seine Wangen. Und einen Augenblick später schnappte David leise nach Luft. Seine Finger...waren feucht. Grundgütiger Gott. Sascha weinte im Schlaf. „Sascha!“, zischte David, vor Bestürzung lauter als beabsichtigt, und griff nach dessen Schulter, um sie leicht zu schütteln, „Sascha, wach auf! Komm schon, aufwachen!“ Es funktionierte: Mit einem heiseren Japsen und einem heftigen Zucken fuhr Sascha aus dem Schlaf. Er schlug die Augen auf und atmete schwer. „W... Was...?“, wimmerte er, „David...?“ „Ja...,“ hauchte David, dem vor Schreck und Erleichterung ganz flau im Magen war, „Ja, ich bin’s... Hattest du...einen Alptraum? Ist...alles okay?“ Sascha schniefte. „Nein...,“ flüsterte er dann mit brechender Stimme, „Nein, verdammte Scheiße...,“ Und zu Davids namenlosem Entsetzen stemmte er sich ebenfalls in eine sitzende Position, vergrub sein Gesicht in den Händen und...begann zu zittern. „S...Sascha...!“, murmelte David entgeistert, „Was...?“ Seine Kehle war wie zugeschnürt. Himmel, Sascha weinte. Was... Was sollte er jetzt nur tun? Sollte er trösten? Weggehen? So tun, als wäre nix? Nein, das konnte er nicht. Er war auch bei Jessika geblieben, als sie geweint hatte. Und dies hier war Sascha. Sein Sascha. Er konnte ihn unmöglich im Stich lassen. Er musste ihn trösten. Aber...wie tröstete man einen erwachsenen Mann? So, wie man kleine Schwestern tröstet? Oder gab es da ganz besondere Regeln, die man auf jeden Fall einhalten musste? Durfte man ihn in den Arm nehmen? Oder besser nicht? Drüber reden? Oder lieber schweigen? David schluckte schwer. Er kam sich schrecklich hilflos war. Aber Sascha so zu sehen, brach ihm das Herz. Er musste etwas tun. Auf der Stelle! „Sascha...,“ wisperte er, nahm seinen Mut zusammen und legte behutsam einen Arm um ihn, „Hey... Was...was ist denn passiert? Hast du...schlecht geträumt...?“ Er ließ seine linke Hand unter Saschas Hände gleiten und spürte die Feuchtigkeit, die zwischen seinen Fingern hindurch sickerte. Er biss die Zähne zusammen. „Komm her...,“ hauchte er, streichelte Saschas Rücken und zog ihm sanft die Finger vom Gesicht, „Was hast du geträumt? Sprich mit mir, Sascha.“ Sascha schluchzte, ließ jedoch zu, dass David diesmal ihm die Hände vom Gesicht nahm. Im Licht der Straßenlaterne konnte David die Tränen auf dem hübschen Gesicht glitzern sehen. Die zerbrochenen Einzelteile seines Herzens verkrampften sich schmerzhaft. „Tut mir Leid...,“ winselte Sascha so schwach, dass David ihn kaum verstehen konnte, „...dass ich...dich geweckt habe...,“ „Jetzt entschuldige dich doch nicht, du Trottel!“, zischte David verzweifelt und verfluchte den Umstand, dass sie seine letzte Packung Taschentücher vor einigen Stunden...äh...leer gemacht hatten, „Das macht doch nix. Und jetzt sieh mich an und erzähl mir von deinem Traum. Du...du hattest doch einen, oder?“ Sascha nickte. „Ja...,“ schluchzte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, „Es...ist immer der gleiche. Ich hab ihn schon seit Jahren und er...er kommt immer wieder... Ich hatte ihn schon lange nicht mehr, ich...ich hatte gehofft...,“ „Was für ein Traum...?“, erkundigte sich David mit leiser, doch eindringlicher Stimme, „Erzähl mir von ihm.“ „Aber hinterher...wirst du mich bestimmt für ein Monster halten...,“ „Unsinn...,“ brummte David, zögerte und tastete dann nach Saschas Hand, „Ich könnte dich doch nie für ein Monster halten. Komm... Gib mir deine Hand. Und dann...erzähl es mir, ja?“ Sascha schaute ihn an. Und obwohl David seinen Blick nicht wirklich sehen konnte, konnte er ihn doch spüren. Also lächelte er ermutigend. „Okay...,“ schniefte Sascha und einen Moment später fühlte David, wie sich Saschas Finger um seine schlossen, „Okay...,“ Er holte ein letztes Mal tief Luft. „Also... In meinem Traum, da...bin ich zu Hause. In... in Hamburg. Ich gehe durch den Flur in das Arbeitszimmer meiner Mutter und sie...sie sitzt am Schreibtisch... Wir streiten uns – wie immer – wegen irgendeiner Nichtigkeit... Und ich... ich raste völlig aus, während sie wie üblich ganz cool bleibt...,“ er seufzte bebend und David strich mit dem Daumen zärtlich über seinen Handrücken, „Und dann...dann schickt sie mich raus und...und dreht sich von mir weg und ich...und ich...,“ er legte seine freie Hand schluchzend über seine Augen, „...und ich greife nach dem Briefbeschwerer auf ihrer Tischplatte und schlage zu!“ Davids Herz setzte aus. „Du... Du schlägst zu...?“, hauchte er erschüttert. Sascha nickte und unter seiner Hand rollten ihm neue Tränen über die Wangen. „U... und ich ka... kann den Brief... Briefbeschwerer in meiner Ha... Hand fühlen und ich kann fühlen, wie er...wie er sie am Kopf trifft und dann...dann bricht sie zu... zusammen und ich... ich stehe da und ich weiß... weiß, dass sie... sie tot ist...,“ David schluckte schwer, um seine Stimme wiederzufinden. Nun. Jetzt konnte er Saschas Verzweiflung jedenfalls nachvollziehen. Sich so im Traum zu sehen, musste...schrecklich sein. Schrecklich und beängstigend. „Sascha...,“ wisperte er leise, auf der Suche nach den richtigen Worten, „Das...das muss doch nichts bedeut–,“ „David, ich töte meine Mutter im Traum!“, fauchte Sascha und diesmal entriss er David die Hand, „Ich töte sie, David!“ „Ja, das hab ich verstanden!“, erwiderte David erschrocken, aber auch unbeirrt, „Aber es war nur ein Traum, Sascha, ein Traum! Sieh dich doch an: Allein, dass du dich deswegen so fertig machst, beweist doch schon, dass du niemals zu so etwas fähig wärst. Und ich kenne wirklich niemanden, der weniger ein Killer ist als du. Im Gegenteil, du...du bist der netteste Mensch der Welt. Du redest noch ruhig mit den Leuten, wenn ich ihnen schon fast den Kopf abgerissen hab. Glaub mir, du... du könntest deiner Mutter nie ein Haar krümmen...,“ Sascha schluchzte leise und schaute David flehentlich an. „Aber wieso...tue ich es dann im Traum...?“, hauchte er. David holte tief Luft und zuckte die Schultern. „Hör zu, ich...ich bin nicht Sigmund Freud und hab eigentlich nur Erfahrung mit den Alpträumen von Marisa, aber wenn die davon träumt, dass unter ihrem Bett ein Monster ist und mich dann bittet nachzusehen, dann...dann ist da nie eins. Nie! Und... Und Linda hat mir letztens ganz entsetzt erzählt, dass sie geträumt hat, sie würde mit ihrem Vater schlafen. Aber das bedeutet doch noch lange nicht, dass sie das tatsächlich tun will. Gott bewahre, nein! Das sind alles Symbole aus dem Unterbewusstsein für etwas anderes.“ „Ich weiß, ich weiß. Aber für was...?“, flüsterte Sascha zweifelnd, „Seit Jahren bringe ich meine Mutter um. Was soll das bedeuten? Was will mir mein Unterbewusstsein sagen?“ „Keine Ahnung...,“ entgegnete David und wedelte hingebungsvoll mit den Armen, „Vielleicht... Vielleicht heißt es, dass du dir manchmal wünschst, dass sie...dass sie aus deinem Leben verschwindet... Dass du es schaffst, dich von...von ihrem Einfluss zu befreien. Ja, genau! Du wünschst dir, dass du sie aus eigener Kraft aus deinem Leben verbannen kannst, deine eigenen Entscheidungen fällen und dein eigenes Leben leben kannst, ohne dich dabei von ihr beeinflussen zu lassen. Oder... oder so. Was...Was meinst du?“ Sascha hatte endlich aufgehört zu weinen. Mit großen Augen starrte er David an. „Mein Gott, das...das käme ja sogar hin...,“ raunte er fasziniert, „Meinst du...meinst du das ernst? Meinst du, das...könnte wirklich die Erklärung sein...?“ „Ganz bestimmt!“, insistierte David und nickte salbungsvoll – die Erleichterung darüber, dass keine Tränen mehr über Saschas Wangen strömten, machte seinen Körper ganz wabbelig, „So macht es auch Sinn, dass du den Traum ausgerechnet heute Nacht wieder hattest... Du hast mir heut Nachmittag gesagt, dass du lange nicht mehr an deine Mutter gedacht hast. Und heute...hat Bettina dich von ihr gegrüßt und da...hat es diese Gefühle zurückgebracht...,“ er verstummte und betrachtete Sascha durch die Dunkelheit, „Meinst du nicht?“ „Doch...,“ antwortete Sascha hoffnungsvoll, „Aber was wenn...wenn ich sie insgeheim doch um die Ecke bringen will...?“ „Schwachsinn,“ sagte David ernst, „Du weißt doch: Zwischen Phantasie und Realität ist ein großer Unterschied. Genauso wie zwischen Traum und Wirklichkeit.“ Sascha schniefte ein letztes Mal. Aber diesmal klang es schon ein bisschen wie ein Lachen. „David...?,“ wisperte er dann und der Angesprochene zuckte leicht zusammen. „Ja...?“ „Kannst du... Kannst du mich in den Arm nehmen...?“ David atmete beruhigt ein, legte sich wieder hin und breitete die Arme aus. „Ja, sicher... Komm her...,“ Sascha seufzte ein letztes Mal und legte sich dann zu ihm. Er schmiegte sich in Davids Arme und legte sein klammes Gesicht an dessen Hals. David zog die Bettdecke über Saschas kalte Schultern. Tröstend strich er ihm über den Rücken und durchs Haar und tupfte mit einem Zipfel des Kissenbezugs die feuchten Stellen auf Saschas Gesicht trocken. „Alles wird gut...,“ murmelte er und ihm fiel ein, dass er genau das auch immer zu Marisa sagte, „Alles wird gut. Und ich bin ja bei dir...,“ „Ja...,“ flüsterte Sascha und drückte sich an ihn, „Ja, das bist du...,“ Und David hatte den Eindruck, dass er schon wieder etwas schläfrig klang. Kapitel 33: Nichts ------------------ Hallo Ihr :)! Hier kommt für Euch das 33. Kapitel, das ich schon eine Weile in der Hinterhand habe. Zum nächsten wird es aber wohl leider wieder eine Weile dauern. Mal sehen, was mein Kopf in der nächsten Zeit so von sich gibt. Ich hoffe, es gefällt Euch und Ihr hasst David nicht allzu sehr...^^ Kapitelwidmung: Für und . Einfach weil :) Macht Euch ein schönes Wochenende! Liebste Grüße, Lung ___________________________________________________________________ Es war kurz nach halb acht, als David verschlafen und mit chaotisch zerzausten Locken das Badezimmer betrat und die Tür hinter sich zu zog. Er trug nur seine Jeans, war barfuß und fröstelte in der kalten Novemberluft, die durch das gekippte Fenster strömte und die blauen Vorhänge leicht bewegte. Gähnend schloss er es, erleichterte sich und trat dann zum Waschbecken, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Anschließend hob er den Kopf, um sich im Spiegel zu betrachten und dem Wasser zu zusehen, wie es in glitzernden Tropfen über seine Wangen und Schläfen und von seinem Kinn auf seine nackte Brust perlte. Irgendwie war die Stimmung zwischen ihm und Sascha heute Morgen wieder etwas sonderbar gewesen. Allerdings auf eine ganz andere Weise als die letzten Male. Nach dem üblich unangenehmen Klingeln des Weckers hatten sie sich ein bisschen zurückhaltender als sonst begrüßt. Und dabei verlegen gelächelt. David hatte sich irgendwie nicht getraut, danach zu fragen, wie es Sascha ging. Ob er nach ihrem nächtlichen Gespräch wieder gut hatte einschlafen können. Ob er sich jetzt besser fühlte. Er hatte nur einen Blick auf Dings‘ rötliche geschwollene Augenlider geworfen und sich dann ins Bad verzogen. Die Erinnerungen an die vergangene Nacht wirkten so irreal. Erst dieses haarsträubende Sexgespräch und dann – als absolut krasser Gegensatz – Saschas Alptraum. Seine Verzweiflung. Und seine Tränen. David schluckte. Allein der Gedanke daran brachte sein Herz erneut dazu sich verkrampfen. Grundgütiger Gott. Sascha hatte geweint. Noch nie hatte ihn der Anblick eines weinenden Menschen so erschüttert. Und ihn so hilflos gemacht. Bei Marisa, da beunruhigten ihn Heulkrämpfe nur noch mäßig. Er hatte ihre Tränen schon hundertmal gesehen und sie beinahe ebenso oft getrocknet. Bei Marisa wusste er ganz genau, was zu tun und zu sagen war. Aber bei Sascha… Da hatte es ihn kalt erwischt. Und doch, irgendwie hatte er es geschafft. Er hatte Sascha erfolgreich beruhigt und getröstet. Er hatte offenbar tatsächlich die richtigen Worte gefunden und die richtigen Dinge getan. Trotz seiner Ahnungslosigkeit und seines Entsetzens. Fast war David ein wenig stolz auf sich. Allerdings nur fast. In erster Linie wollte er Sascha einfach niemals, niemals, niemals wieder weinen sehen. David seufzte, trocknete sich endlich das Gesicht ab und griff gerade nach seiner Zahnbürste, als die Badezimmertür aufschwang. „Hallooo…!“, trällerte Sascha und drehte den Schlüssel im Schloss. Im Spiegel sah David das Lächeln in seiner Miene, aus dem jegliche zurückhaltende Verlegenheit verschwunden war. Alarmiert öffnete er den Mund, aber da war Dings schon hinter ihm, schlang ihm verzückt die Arme um die Taille und bedeckte seine Schultern und seinen Nacken mit unangebracht heißen Küssen. „Mein Schätzchen!“, gurrte er. „Lass das!“, blaffte David verärgert und versuchte, sich aus der Umarmung zu befreien, „Ich will mir die Zähne putzen! Außerdem kommen die anderen jeden Mom–,“ „Jaja!“, unterbrach Sascha ihn eine Spur ungehalten, „Aber die Tür ist abgeschlossen und durchs Fenster schaut bestimmt keiner rein. Also entspann dich!“ „Sehr witzig!“, fauchte David und funkelte Mr. Viel-Zu-Unüberlegt über seine Schulter entnervt an, „Wie soll ich mich bitte entspannen, wenn du mich ständig in der Öffentlichkeit angräbst. Wieso begreifst du nicht, dass das gefährlich ist?“ Sascha seufzte resigniert und ließ ihn dann, zu Davids Erleichterung, endlich los. „Schon gut…,“ murmelte er und hob beschwichtigend die Hände, klang dabei aber eindeutig angepisst, „Schon gut… Entschuldige, dass ich immer so unvernünftig bin...!“ David schnaubte, drehte sich zu Dings um und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich will einfach nicht von den anderen gesehen werden,“ grummelte er. Sascha musterte ihn schweigend. Mit einem Blick, den David nicht ganz zu deuten wusste. „Ich weiß…,“ sagte er dann. Einige Sekunden herrschte betretene Stille. „Wie auch immer,“ begann Sascha schließlich von Neuem, räusperte sich und lächelte David zaghaft an, „Ich wollte dich nicht nerven. Im Gegenteil, ich…wollte mich bei dir bedanken. Weil du…gestern Nacht so großartig zu mir warst, als ich… Na ja, als ich den Alptraum hatte…,“ David senkte verlegen den Kopf und fixierte seine nackten Zehen. „Kein Problem…,“ brummte er, „Ich…bin froh, dass ich dir helfen konnte. Ich…hatte erst…ziemliche Angst, etwas Falsches zu sagen oder so…,“ „Du bist so süß…,“ wisperte Dings zärtlich und nahm Davids Hände in seine, „Aber du warst wunderbar. Danke, dass du…mich nicht verurteilt oder…ausgelacht hast.“ „Schwachsinn,“ knurrte David. Sascha lächelte, jetzt schon strahlender, und beugte sich dann vorsichtig vor, um ihn flüchtig auf den Mund zu küssen. Und diesmal ließ David ihn gewähren. Als sich ihre Lippen berührten, rieselte unwillkürlich dieses vertraute Kribbeln durch seinen ganzen Körper, dass ihm immer noch jedes Mal eine Gänsehaut bescherte. Sein Herz machte einen Hüpfer und er erzitterte leicht. Von der fehlenden Ohrfeige ermutigt, lehnte sich Sascha weiter vor, öffnete Davids Lippen mit seiner Zunge und ließ seine Hände behutsam über Davids Arme, zu seinem Hals streichen. David seufzte auf. Er vergaß seine öffentliche Diskretion und umarmte Mr. Danke-Dass-Du-Mich-Nicht-Ausgelacht-Hast, um seine warme, weiche Haut an seiner zu spüren. Himmel, davon würde er nie genug bekommen… Sie wollten gerade damit beginnen, in eine leidenschaftliche Badezimmerknutscherei auszubrechen, als es schon wieder – wie am vergangenen Morgen im Hause Spandau – an der Tür klopfte. Auf der Stelle war es mit Davids Entspannung vorbei. Hastig riss er sich von Sascha los. „Ja?“, rief er etwas zu laut und bemerkte gleichzeitig mit Grauen, dass seine Stimme sowohl belegt als auch unnatürlich schrill klang. „David, bist du das?“, fragte es von draußen mit Bens Stimme, „Bist du bald fertig? Ich muss aufs Klo!“ „K… Klar doch!“, entgegnete David panisch, „Bin fast soweit! Nur noch eine Minute!“ Er stemmte seine Hände gegen Dings‘ Brust und schubste ihn beinahe von sich fort. Seine Augen sprühten Funken vor Aufregung und in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Verfluchte Scheiße! Wie sollte er Sascha nur aus dem Bad rauskriegen, bevor Ben es betrat?! Sollte er ihn durchs Fenster schleusen? Aber er war kaum mehr angezogen als David selbst und draußen war November. Außerdem konnte er draußen jederzeit einem der anderen Mitarbeiter begegnen. Und was sollte er dem dann erzählen? Und dann machte Ben auch noch von seiner Fähigkeit gebrauch, eine unglücklichen Situation in eine aussichtslose zu verwandeln: „Sag mal, weißt du, wo Sascha ist? Der ist nicht in seinem Zimmer. Ist er bei dir im Bad?“ David erstarrte von Kopf bis Fuß. Sein Gehirn gefror zu Eis und machte jede Erwiderung für einige Sekunden unmöglich. Dann explodierte sein Herz und sein Magen drehte sich um, sodass ihm richtig übel wurde. Mit einem Mal war er so zornig auf Sascha, dass es ihm den Atem nahm. Dieser elende Dreckskerl! Das war alles seine Schuld! „Nein!“, grollte David wie aus der Pistole geschossen und würdigte Dings keines Blickes, „Natürlich nicht! V… Vielleicht ist er…im Tierbetrieb oder…Brötchenholen…,“ „Um diese Zeit schon?“, zweifelte Ben, „Na ja, kann sein. Ich schau mal nach. Bis gleich!“ „Bis gleich…,“ erwiderte David matt und lauschte mit trommelndem Herzen, bis er die Betreten verboten-Tür klappern und Bens Schritte im Hof verklingen hörte. Dann stieß er einen lauten Seufzer aus, wirbelte herum und blickte Sascha wutentbrannt an. „Das ist alles deine Schuld, du Vollidiot!“, fauchte er gedämpft und achtete nicht im Geringsten auf dessen Schweigen oder seinen Gesichtsausdruck, „Los! Hau ab, bevor Ben zurückkommt! Erzähl ihm meinetwegen, dass du im Büro bei Luisa warst oder Gott weiß wo! Los, verschwinde!“ Er schob ihn zur Tür, öffnete sie und stieß ihn dann fast schon rücksichtslos in den Flur. Anschließend zog er die Badezimmertür wieder ins Schloss. Einige Momente herrschte drückende Stille vor der Tür. Dann hörte David, wie sich Mr. Dumm-Dümmer-Sascha langsam in Bewegung setzte und davon ging. Das Blut rauschte immer noch in seinen Ohren und sein Herz schmerzte inzwischen fast von dem hämmernden Schlag. Mit geballten Fäusten und bebenden Lippen schritt er zum Waschbecken zurück, drehte das Wasser an und bespritzte sich erneut das Gesicht, um die Taubheit und die Hitze aus ihm zu vertreiben. Er atmete tief ein und aus. Mein Gott. War das knapp…, dachte er, während er sich seine nassen Hände auf das glühende Gesicht drückte, Das hätte sowas von ins Auge gehen können… Wenn Ben nicht weggegangen wäre, wenn er geblieben wäre…! Wie kann Sascha nur so dämlich und leichtsinnig sein? Wie kann er nur, verdammt nochmal?! Nach wie vor köchelnd vor Ärger, Schreck und Erleichterung startete er einen neuen Versuch, sich die Zähne zu putzen. Und merkte erst nach zwei Minuten, dass er die Zahnpasta vergessen hatte. Beim Frühstück in der Zivi-Küche ignorierte Sascha ihn mal wieder. Er setzte sich neben Linda aufs Sofa, unterhielt sich angeregt mit ihr über amüsante Kinofilme und gute Schauspieler und warf David, der sich auf der Eckbank am Esstisch niedergelassen hatte, nicht den winzigsten Blick zu. Aber diesmal machte sich David nichts daraus. Nein, diesmal ignorierte er ihn genauso hartnäckig zurück. Was dieser unbedachte Schwerenöter konnte, konnte er schließlich schon lange. Außerdem kratzte es ihn nicht die Bohne, wenn er ihn nicht ansah. Im Gegenteil! Er fand es angenehm und erfrischend und er fand es auch überhaupt nicht deprimierend, wenn sie sich stritten. Denn bekanntlich war das alles Dings‘ Schuld. Wäre er nicht so blöd und unvorsichtig, dann hätte Ben sie niemals gemeinsam im Bad überraschen können und David hätte sich nicht genötigt gefühlt, ihn erneut zusammen zu stauchen. Selber schuld. Jawohl. Als Bettina um halb neun kam, um die Aufgaben zu verteilen, suchte David sich die Futterküche aus. Das war natürlich Absicht, denn in der Futterküche herrschte immer besonders viel Bewegung, da ständig jemand irgendetwas holen, bringen oder erledigen musste. Das machte die Futterküche zum Zentrum des Zentrums, wodurch Sascha keine Gelegenheit erhalten würde, ihm unangebracht und öffentlich auf die Pelle zu rücken. Das implizierte zwar auch, dass sie wohl keins ihrer regulären Knutschtreffen einhalten konnten, aber das kam David gerade recht. Als ob er Sascha jetzt küssen wollte. Pah! Nichts da, so nötig hatte er es wirklich nicht. Er konnte gut auf Saschas Küsse verzichten. Genauso wie auf seine Umarmungen und den ganzen anderen Schmus. Das brauchte er nicht. Das wollte er nicht. Jedenfalls nicht hier und jetzt und so. Sollte Dings doch reden, mit wem er wollte. Sollte er doch das Außengelände machen, wo er möglichst weit weg von David arbeitete und kaum Gefahr lief, ihm zufällig über den Weg zu laufen. Bitte. Das kümmerte David überhaupt nicht. Er war ja kein Baby mehr. Auf diese Weise fuhr David noch eine ganze Weile fort. Fast den gesamten Vormittag, während er die Boxen der Igel säuberte, Katzenfutter anrührte, Küken für den Turmfalken in der Quarantäne zerschnitt und schmutzige Näpfe auswusch. Und er war dabei so vertieft in seine grimmigen Gedanken, dass er gar nicht bemerkte, wie sich seine ahnungslosen Kollegen über seinen verbissenen Gesichtsausdruck wunderten. Es war bereits zehn vor zwölf und er füllte gerade den Behälter für das Kaninchenfutter auf, als die Tür zum Waschplatz geöffnet wurde und jemand klappernd die Futterküche betrat. Automatisch wandte David den Kopf. Und erstarrte zur Salzsäule. Da war er. Endlich. Äh, nein! Verdammt nochmal, hatte er natürlich denken wollen. Der Drecksack. David schluckte. Er versuchte seinen Blick von Dings abzuwenden, aber irgendwie…schaffte er es nicht. Vielleicht lag es daran, dass Sascha genauso gebannt zurücksah. Als wollte er eigentlich gar nicht hinsehen. Konnte aber nicht anders. Doch schließlich gelang es Sascha doch. Er räusperte sich und fixierte den leeren Kükeneimer in seiner Hand. „Hallo…,“ sagte er matt. „H… Hallo…,“ erwiderte David und ärgerte sich über den schwachen Klang seiner Stimme. Stille. Grundgütiger, was für ne ätzende Situation! Wieso war er auch ausgerechnet jetzt allein in der Futterküche? Wo waren die anderen, wenn man sie mal brauchte? Und wieso sah Sascha in seinem grünen Rollkragenpulli und den gelben Gummistiefeln nur so umwerfend aus?! „Ähm…,“ machte Sascha unsicher und Davids Herz tat unvermittelt wieder einen seiner nervtötenden Hüpfer, „Kannst du mir sagen, was ich den Krähen geben soll? Können die auch Katzenfutter kriegen?“ „Äh, ja…,“ antwortete David matt, „Aber Trockenes. Weich es kurz ein und dann…kannst du ihnen auch noch nen Apfel und‘n paar Mehlwürmer geben. Dann freuen sie sich.“ Sascha nickte. „Okay. Danke.“ Sie schwiegen erneut. David biss sich auf die Lippe. Gott, das war doch alles scheiße! Das war alles so falsch! Normalerweise würde Dings jetzt sein strahlendstes Lächeln lächeln und den blöden Kükeneimer abstellen. Er würde auf ihn zu eilen und ihn seinen kleinen Schatz nennen und ihn dann trotz Davids halbherzigen Protesten an die Spüle pinnen, um ihn so heißblütig zu küssen, dass seine Knie nachgaben. Und es wäre ihm ganz egal, dass jeden Moment jemand die Futterküche betreten könnte. Stattdessen…stand Mr. Krähenfutter jetzt bewegungslos am anderen Ende des Raumes und musterte den Boden, als könne er durch ihn hindurch und den Erdkern sehen. Und David war ebenso starr. Es wäre so leicht, jetzt einfach die vermaledeite Tüte Kaninchenfutter zur Seite zu pfeffern und hastig den Raum zu durchqueren. Seine Arme um Saschas Nacken werfen und ihn dann selbst zu küssen. So ungestüm, dass sie beinahe in die Käfige hinter Saschas Rücken taumelten. Und völlig gleichgültig angesichts der Tatsache, dass jeden Moment jemand die Futterküche betreten könnte. Aber David regte sich nicht. Mit schmerzenden Organen unterdrückte er den Wunsch und wandte sich wieder dem halbvollen Behälter zu, um ihn weiter zu füllen. Durch das Geräusch des herabfallenden Futters hörte er, wie Dings nun doch den Eimer abstellte, sich in Bewegung setzte und näher kam. Augenblicklich beschleunigte sich sein Herzschlag und er biss die Zähne zusammen, um nicht den Kopf zu drehen. Seine Ohren summten. Und sein Magen überschlug sich vor Erregung, als er einen Herzschlag später Saschas Körperwärme an seinem Rücken spürte. Zittrig atmete er ein. Sascha schob eine seiner Hände behutsam Davids Hüfte entlang, über seinen Bauch. Er schmiegte sich zögerlich an ihn und vergrub sein Gesicht in seinen Locken. David hielt es nicht mehr aus. Nachlässig stellte er die Futtertüte ab, sodass sie kippte und ein wenig Inhalt verschüttete. Aber David kümmerte sich nicht darum. Er griff nach Saschas Hand, drehte sich um und schaute ihm ins Gesicht. Sascha war ihm ganz nah. Das seidige, braune Haar fiel ihm in die Stirn und in die dunklen Augen. Er sah so traurig aus, so verletzlich. Und es versetzte David einen Stich, als ihm klar wurde, dass er der Grund dafür war. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass dies die Futterküche war und sie sich damit im Zentrum des Zentrums befanden und er eigentlich immer noch wütend war und sich vor wenigen Minuten noch geschworen hatte, Sascha niemals wieder küssen zu wollen, stellte er sich auf die Zehenspitzen und tat eben das. Sascha seufzte leise. Dann schlang er seinen freien Arm um Davids Schultern, zog ihn weiter an sich und küsste ihn voller Hingabe zurück. Davids Herz setzte einen Schlag aus, sein Magen füllte sich mit prickelnder Ahoj-Brause und all seine finsteren Gedanken verpufften, ohne auch nur einen Hauch Nachgeschmack zurückzulassen. Sein Inneres vibrierte vor Zärtlichkeit und Lust. „Tut mir Leid…,“ flüsterte Sascha gegen seine Lippen, „Es tut mir Leid…,“ „Nein…,“ wisperte David und drückte seine Hand, „Mir tut es Leid. Ich war ungerecht zu dir. Ich hätte dich nicht so anschnauzen müssen…,“ Sascha schniefte leise, lächelte aber dabei. Er lehnte seine Stirn an Davids. „Schon gut…,“ hauchte er und mit einem warmen Gefühl in der Magengegend lächelte David zurück. In der Ferne schrillte die Scheunenklingel und kündigte einen Besucher an, der draußen auf dem Hof stand und die Dienste des Tierschutzzentrums in Anspruch nehmen wollte. Sich darum zu kümmern war üblicherweise Aufgabe desjenigen Mitarbeiters, der an diesem Tag die Arbeit in der Futterküche erledigte. Also Davids. Der stöhnte entnervt auf. Eine Sekunde dachte er daran, einfach in dieser höchst behaglichen Umarmung zu bleiben und den Kundenkontakt einem seiner Kollegen zu überlassen. Mit einem heftigen Schlag erinnerte er sich jedoch dann daran, wo und wie er sich gerade befand. Dies war die Futterküche. Und wenn er sich nicht bewegte, würde innerhalb der nächsten Minuten jemand die Tür aufstoßen, um ein neues Tier in die Futterküche zu bringen oder Eintrittsgeld in der Kasse zu wechseln. Prompt fing Davids Blut an zu kochen. Er schluckte schwer und löste sich dann angespannt, aber angestrengt gemächlich aus Saschas Umarmung. „Ich… Ich sollte da hingehen…,“ murmelte er verlegen. Zu seiner Erleichterung nickte Sascha sofort und ließ ihn los. „Ja, sicher…,“ erwiderte er sanft und lächelte immer noch. Leicht krampfhaft schmunzelte David zurück, drehte sich um und huschte aus der Futterküche, in die vordere Scheune. Hinter dem Glas der geschlossenen Scheunentür erkannte er die Umrisse zweier Personen, die offenbar warteten. David räusperte sich und nahm beruhigende Atemzüge. Er flehte zum Himmel, dass sein Kopf nicht allzu sehr glühte und öffnete die Tür mit einem fachmännischen Lächeln. „Hallo,“ sagte er freundlich, „Kommen Sie herein, was kann ich für Sie tun?“ Vor ihm stand eine alte Dame mit Brille und rundem Gesicht, die Eric bestimmt nur bis zum Ellbogen gegangen wäre. Sie hielt einen Pappkarton in den Händen. Hinter ihr trat ein junger Mann in Lederjacke ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er hatte einen hellbraunen Dreitagebart, ein Augenbrauenpiercing und wirkte allgemein leicht entnervt. „Guten Tag!“, antwortete die Oma beherzt und rauschte mit ihrem Paket sogleich durch die offene Tür an den Tisch der Tierannahme, „Mein Enkel und ich haben einen Habicht in unserem Garten gefunden.“ David, der die Tür hinter dem jungen Mann wieder geschlossen hatte, stutzte bei dieser Äußerung und warf dem Karton, den die alte Dame inzwischen auf dem Tisch abgestellt hatte und in dem es raschelte und schabte, einen sehr skeptischen Blick zu. „Ähm…,“ machte er, nahm ein paar Arbeitshandschuhe vom Tisch und streifte sie sich über, „Darf ich fragen, woher Sie das wissen?“ „Ich habe in einem der Vogelbücher meines verstorbenen Mannes nachgesehen,“ erklärte die Dame stolz und ruckelte an ihrer Brille, „Die Farbe des Gefieders ist ganz typisch. Wieso?“ „Nun ja…,“ formulierte David seinen Zweifel möglichst vorsichtig, um die engagierte Omi nicht zu kränken, „Meiner Erfahrung nach…, würde ein Habicht nicht in einen Karton dieser Größe hinein passen. Es ist wahrscheinlicher, dass es sich um einen Sperber handelt.“ „Nein, nein!“, winkte die Oma sofort ab und ihr Enkel ächzte deutlich vernehmbar, „Es ist ein Habicht! Ich habe doch in dem Buch nachgeschaut!“ David lächelte milde und sparte sich eine Antwort. Umsichtig und langsam begann er den Karton zu öffnen. Der Vogel im Inneren flatterte hektisch und versuchte zu entkommen, aber David ließ sich nicht beirren. Er wandte den Griff an, den Heiko ihm gezeigt hatte und der speziell für Greifvögel bestimmt war, und hob den Vogel aus seinem Pappgefängnis. „Ganz ruhig…,“ sagte David leise und tröstend zu dem verstörten Tier, „Ist ja schon gut… Du brauchst keine Angst zu haben…,“ „Und?“, fragte die Oma eifrig, „Es ist ein Habicht, nicht wahr?“ David räusperte sich und achtete vorsorglich nicht weiter auf Sascha, der soeben ebenfalls aus der Futterküche in die vordere Scheune getreten war und die beiden Besucher mit einem Lächeln grüßte. „Äh, nein…,“ entgegnete er bedächtig und betrachtete sich den Vogel von allen Seiten, „Wie ich mir gedacht habe – das ist ein Sperber.“ „Das kann nicht sein!“, empörte sich die alte Dame, „Ich habe doch in dem Vogelbuch nachgeschlagen. Da stand Habicht!“ „Oma…,“ brummte der junge Mann beschwichtigend. „So eine Verwechslung kann ganz schnell passieren,“ erklärte David geduldig und streichelte die weichen Federn des Sperbers, „Sperber gehören zur Familie der Habichtartigen und Sie haben Recht, das Gefieder ist typisch und bei beiden sehr ähnlich. Aber der Habicht ist ein ganzes Stück größer und kräftiger. Und sehen Sie die großen, gelben Augen? Daran kann man Sperber sehr gut erkennen. Die Augen der Habichte sind kleiner und orange.“ „Tatsächlich?“, erkundigte sich die alte Dame fasziniert und starrte dem Sperber in die wilden Iriden, „Und können Sie auch sagen, ob er weiblich oder männlich ist?“ „Der Größe, dem Gewicht und der Färbung nach zu urteilen ist dies hier ein adultes Männchen. Die Weibchen sind viel größer und schwerer.“ „Sie kennen sich aber gut aus,“ meinte die Omi beeindruckt und betrachtete ihn herzlich. David errötete und lächelte verlegen. „Ach was… Ich...ich arbeite einfach schon eine Weile hier. Da lernt man eine Menge,“ er räusperte sich leicht beschämt und fuhr eilig fort, „Wissen Sie, was mit ihm passiert ist?“ „Nicht genau,“ antwortete ihr Enkel, der sich bisher eher im Hintergrund gehalten hatte, an ihrer Stelle und gesellte sich zu David und seiner Großmutter an die Tierannahme, „Er saß im Garten und flog nicht weg. Sogar als ich mit dem Pappkarton gekommen bin, um ihn einzufangen.“ „Mhm…,“ David untersuchte den Sperber ein wenig genauer, „Keine äußeren Verletzungen… Die Flügel sind beide in Ordnung, das Greifen der Krallen funktioniert auch problemlos. Was ist mit dir, mhm?“, fragte er den Vogel sanft und überprüfte die Reaktionszeit seiner Augen, „Bist du mit einem Auto oder einem Fenster zusammen gestoßen und warst danach ein bisschen durcheinander? Keine Sorge, das kriegen wir schon wieder hin. Du brauchst nur etwas Ruhe.“ Achtsam verstaute er den Sperber wieder in seinem Pappkarton und wandte sich dabei an die kleine Oma und ihren Enkel, die ihn beide lächelnd beobachteten. „Wir behalten ihn ein paar Stunden hier, damit er sich von der Kollision erholen kann. Heute Abend kann er wahrscheinlich schon wieder raus.“ „Vielen Dank, junger Mann,“ strahlte die alte Dame, sodass sich ihr ganzes Gesicht runzelte, „Was schulde ich Ihnen?“ „Ach, nicht doch!“, winkte David lächelnd ab und zog sich die Handschuhe wieder aus, „Tiere nehmen wir umsonst an. Aber sie können uns gern etwas spenden, damit wir Futter und so einkaufen können,“ er deutete auf die hölzerne Sparbüchse, die in Form einer Eule auf dem Tisch stand und deren Anblick die alte Dame sofort ihre geblümte Geldbörse zücken ließ, „Sascha, würdest du ihn in die Quarantäne bringen und ihm zwei Küken geben?“ Mit vorgeschobener Professionalität drehte David sich um und schaute Mr. Unbeteiligter-Beobachter an, der an der Tür zur Futterküche stehen geblieben war. Als er ihn ansprach, zuckte er schwach zusammen und wandte den Blick von etwas ab, dass hinter David lag und offenbar gründlich sein Missfallen erregte. „Wie bitte? Oh ja, klar…,“ Dings wirkte alles andere als begeistert, seinen momentanen Standpunkt aufzugeben, kam aber trotzdem näher und nahm David den Sperberkarton ab, „Bin gleich wieder da…,“ Den letzten Satz wisperte er seltsam hervorgehoben und so leise, dass nur David ihn hören konnte. Anschließend entfernte er sich mit einer grantigen Miene Richtung Greifvogelquarantäne, die David noch nie an ihm gesehen hatte. Verdattert blickte er ihm einige Sekunden nach. Was war denn mit dem los? Seit wann verdarb ihm die Anwesenheit von Besuchern die Laune? Und was hatte er mit der letzten Bemerkung gemeint? „Ähhh…,“ machte David langsam und rief sich dann angesichts der beiden Zuhörer zur Ordnung, „Entschuldigung. Könnten Sie die Rückseite der Anmeldung für unsere Akten ausfüllen? Damit wir wissen, wer, wann, welches Tier gebracht hat.“ „Natürlich,“ antwortete die Omi, nach wie vor zufrieden lächelnd, und nahm die Anmeldekarte und einen Kugelschreiber von David entgegen. Während sie ihren Namen und ihre Adresse notierte, bemerkte er endlich, dass ihr Enkel ihn schon seit einer ganzen Weile interessiert musterte. Irritiert hob er den Kopf und erwiderte seinen Blick. Und der junge Mann lächelte ihn breit an. Es war kein böses oder spöttisches Lächeln, im Gegenteil. Es war sogar ausnehmend einladend und aufrichtig. Sogar eine Spur… Ja, was war es? Leicht verunsichert lächelte David zurück. „Sag mal…,“ begann sein Gegenüber dann beiläufig, „Würdest du mir unter Umständen deine Handynummer geben?“ David blinzelte. „M… Meine Handynummer?“ „Ja,“ der junge Mann schmunzelte gewinnend, „Falls ich noch ein paar Fragen über Sperber habe. Oder…über irgendeine andere Vogelart.“ „Hendrik, also wirklich!“, tadelte ihn seine Großmutter und sah David entschuldigend an, „Sie müssen verzeihen. Er ist manchmal ein wenig vorlaut.“ Hendrik grinste und zuckte die Schultern. „Also…,“ fuhr er dann fort und betrachtete David unverwandt, „Krieg ich deine Nummer?“ David schaute ihn verdutzt an und wollte ihm gerade mitteilen, dass er jederzeit auf dem Zentrumstelefon anrufen oder wahlweise auch ins Internet gucken konnte, wenn er sich über Vogelarten informieren wollte, als eine energische Stimme hinter ihm erklang. „Sorry, dass ich mich einmische, aber nein. Du kriegst seine Handynummer nicht.“ Erschrocken wirbelte David herum. Sascha stand direkt hinter ihm und alles an ihm schien vor Empörung zu glühen. Mit einem Ausdruck von erzürnter Kampfeslust in den Augen fixierte er den gepiercten Vogelfreund, der seinen Auftritt mit flüchtiger Überraschung zur Kenntnis nahm. David hatte das eindeutige Gefühl, dass er etwas Entscheidendes verpasst hatte. „Sascha…,“ zischte er angesichts dessen unhöflichen Tonfalls Besuchern gegenüber. „Oh…,“ sagte Hendrik verstehend blickte zwischen ihnen hin und her, „Ich wollte niemandem auf die Füße treten. Seid ihr zwei…?“ Seine Frage verhallte bedeutungsschwer. Und mit einem Schlag…begriff David, worum es hier schon die ganze Zeit ging. Ihm brach der Schweiß aus und sein Herz machte einen dreifachen Salto. Mit einem schmerzhaften Satz sprang es ihm in die Kehle, sodass er nur mit Mühe ein Keuchen unterdrücken konnte. „Nein!“, rief er aus, bevor Sascha auch nur einen Mucks von sich geben konnte, „Sind wir nicht! Wir sind nichts! Absolut nichts! Wir sind–,“ Er verstummte und sein Magen verkrampfte sich. Alle drei Anwesenden starrten ihn an. Und ihre Mienen reichten von Verwunderung, über Betroffenheit bis zu sprachloser Bestürzung. Die Stille dröhnte wie eine Lawine durchs Zentrum. David wünschte sich, er könnte im Erdboden versinken. Einfach verschwinden und erinnerungslos durchs Weltall dümpeln. Er wünschte, die Zeit würde anhalten, sodass er aus dem Zentrum, aus dem Dorf und aus dem Land rennen könnte. Aber er verschwand nicht. Und die Zeit verging ebenfalls weiter. Hendrik regte sich als Erstes. „Oh…,“ machte er abermals, „Oh. Ähm. Gut. Ich…seh schon…,“ er räusperte sich und legte seiner perplexen Großmutter die Hand auf die Schulter, „Komm, Oma. Lass uns gehen.“ Die alte Dame nickte abwesend und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. „Ja. Vielen Dank nochmal. Und…alles Gute…,“ Ohne eine Antwort zu erwarten, ließ sie sich von ihrem Enkel aus der Scheune führen. Kurz bevor sich die Tür hinter ihnen schloss, drehte sich Hendrik noch einmal zu ihnen um. Und er sah so aus, als würde ihm irgendwas wirklich Leid tun. Aber weder David noch Sascha bekamen diesen letzten Blick mit. David betrachtete seine Gummistiefel. Und Sascha betrachtete die Tür der begehbaren Kühltruhe, hinter der all die toten und eiskalten Tierleichen lagen. David war ein wenig schwindelig. Sein Gehirn schien gelähmt. Müsste langsam Zeit für die Mittagspause sein…, war das einzige, das ihm träge und furchtbar unbedeutend durch den Kopf sickerte. Er atmete, versuchte sich zu konzentrieren und zu verstehen, was gerade geschehen war. Und wieso er sich jetzt so schrecklich fühlte. Ganz langsam hob er den Blick und drehte sich zu Sascha um. „Ich…,“ murmelte er und suchte nach Worten, die er nicht kannte. Aber Sascha schüttelte nur den Kopf und strich sich über die Stirn. „Weißt du was…?“, flüsterte er, biss sich kurz auf die Lippe und erwiderte dann Davids Blick mit einer solch verzweifelten Wut, dass der unwillkürlich einen Schritt rückwärts machte, „Vergessen wir’s einfach, okay?! Vergessen wir’s. Vergessen wir alles. Nein, ich meine: Vergessen wir nichts. Denn da ist ja nichts, was wir vergessen könnten, oder?“ Und mit diesen Worten stürmte er aus der Scheune. Und als die Tür hinter ihm zu schlug, klang es in Davids Ohren wie ein Schuss. Kapitel 34: Alles ----------------- Hallo Ihr :)! Willkommen zum 34. Kapitel von Mosaik! Nachdem ich den ersten Teil des Kapitels geschrieben hab, war ich völlig fertig mit den Nerven. Ich denke, Ihr werdet verstehen, wieso... Aber es gibt ja Hoffnung ;)! Kapitelwidmung: Für annahoide. Weil sie sich eine funktionierende Glühbirne für David gewünscht hat. Möglichst viel Spaß beim Lesen *hust*! Liebste Grüße ___________________________________________________________________ Er fand ihn in seinem Zimmer. Seinem eigenen, Davids Ex-Zimmer. Diesen Raum hatte David seit ihrer ersten Begegnung nicht mehr betreten. Nur einmal hatte er im Dunkeln hinein geschaut, um herauszufinden, ob Sascha schon wieder im Zentrum war. Nun sah er das Zimmer das erste Mal bei Tag und vollständig eingerichtet. Es war eigentlich ziemlich cool geworden. Gemütlich und hell und – durch die Kombination aus grünem Teppich und gelben Wänden – relativ bunt. Das Bett war so groß und einladend, dass David sich unwillkürlich fragte, wieso sie seit Wochen immer nur auf seinen ranzigen Matratzen schliefen. Abgesehen davon herrschte hier ein ganz schönes Chaos, was David kaum erstaunte. Überall lagen Klamotten und Krimskrams rum, stapelten sich auf dem wuchtigen Schreibtisch oder hingen wahlweise über jeder Ecke eines kompliziert aussehenden Krafttrainingsgerätes. Hier ein aufgeschlagenes Buch, da ein Paar Kopfhörer, Schuhe, Saschas unausgepackte Reisetasche, ein Handyaufladegerät und die Sonnenbrille, die er nur an seinen ersten Tagen als Zivi noch getragen hatte. Sascha stand mit gesenktem Kopf und dem Rücken zum Eingang mitten in dieser Unordnung und bewegte sich nicht. Davids Hände zitterten, als er die Tür hinter sich schloss und ihn ansah. Diesen Rücken, den er inzwischen so gut kannte. Den er zahllose Male berührt hatte. Seine Gedanken schwirrten. Er wusste nicht genau, was er hier eigentlich wollte. Und schon gar nicht, was er sagen wollte, um die letzten fünf Minuten ungeschehen zu machen. In denen er sich unfreiwillig vor Fremden geoutet hatte. Im Bestreben, eben dies nicht zu tun. Eigentlich hatte er sich nach Saschas Ausbruch in die Zivi-Küche verziehen wollen, um gemeinsam mit den anderen Mitarbeitern Mittagspause zu machen und zu vergessen, was gerade passiert war. Nur die Ruhe, keiner von seinen Freunden und Kollegen hatte die Szene mitbekommen. Und Sascha…würde sich schon wieder einkriegen. Er war nämlich wieder Schuld an der ganzen Sache. Hätte er Hendrik nicht so angemacht… Stattdessen war David jetzt hier gelandet. In diesem Zimmer. Um Sascha zu fragen, was er mit diesem vergessen gemeint hatte. Denn irgendwie…wurde David das Gefühl nicht los, dass es diesmal anders war. Und dass ein Kuss daran nichts ändern konnte. „H… Hey…,“ begann David schließlich zögernd und stopfte die Hände in seine Hosentaschen, „Es…tut mir Leid. Okay? Schon wieder. Ich…weiß zwar nicht genau, was diesmal dein Problem ist, aber…,“ Seine Stimme erstarb, als Saschas Rücken sich versteifte. „Klar…,“ murmelte Sascha dann und triefend vor Sarkasmus, „Klar, weißt du es nicht. Du wusstest es ja die ganze Zeit nicht. Tut mir Leid, dass ich mich so dumm anstelle und mich wegen solch nichtiger Dinge aufrege.“ „Hör auf damit!“, blaffte David von seinem Temperament getrieben, das ihm Kraft gab und seine Gedanken klärte, „Wovon redest du überhaupt?“ „Wovon ich rede?!“, fauchte Sascha und wirbelte auf dem Absatz herum. Seine Augen sprühten Funken und seine Fäuste, von denen die rechte ein schmales Handy umklammerte, waren zu Fäusten geballt. Unwillkürlich fuhr David zusammen und wich zurück. Noch nie hatte er Sascha zornig gesehen. Noch nicht einmal, seit sie sich kannten. „Ich rede davon, dass dieser Typ dich voll angemacht hat!“ David riss die Augen auf. „Angemacht?!“, wiederholte er fassungslos, „So ein Schwachsinn, er–,“ „Sag mal, David, bist du eigentlich blind?“, unterbrach Sascha ihn mit ungläubiger Stimme, „Und ob er dich angemacht hat! Er hat dich die ganze Zeit angestarrt und ich konnte genau sehen, was in ihm vorgegangen ist. Und es hat mich absolut wahnsinnig gemacht! Ich hätte ihm am Liebsten die Fresse poliert, aber ich hab mich nicht vom Fleck gerührt und sogar den Sperber weggebracht, als du mich darum gebeten hast, weil ich ganz genau wusste, dass du… dass du…,“ er verstummte mit gequälter Miene, sprach dann aber überstürzt weiter, „Aber dann hat er dich nach deiner Nummer gefragt und ich hab’s nicht mehr ausgehalten! Ich musste ihm einfach klar machen, dass du zu mir gehörst, verdammte Scheiße nochmal! Aber du… Anstatt meinetwegen einfach zu schweigen, hast du natürlich sofort…,“ Er verstummte erneut und hob die Arme, um sich die Handballen schwer atmend auf die Augen zu drücken. David fixierte ihn sprachlos. Dann bemerkte er, dass sein Mund offen stand. Er klappte ihn zu, nur um ihn einen Moment später wieder zu öffnen. „Was…habe ich natürlich sofort…?“, wisperte er gebannt und schluckte. Langsam ließ Sascha die Hände von seinen Augen sinken und musterte David traurig. „Du hast dir alle Mühe gegeben, nicht den geringsten Zweifel daran zu lassen, dass wir zwei… Dass da nichts ist zwischen uns.“ David erwiderte seinen Blick schweigend und vollkommen unbeweglich. Ja. Das stimmte. Das hatte er getan. Er hatte fast schon gebrüllt, dass er und Sascha absolut nichts waren und damit verraten, dass sie doch etwas waren. Und genau das waren sie ja auch. Es zu leugnen, wäre bescheuert. Schließlich hatten sie sich erst vor zwanzig Minuten in der Futterküche geküsst. „Ich…wollte doch nur, dass die beiden nicht erfahren, dass ich…,“ „Dass du schwul bist?“, beendete Sascha seinen Satz und beim Klang dieses Wortes zuckte David automatisch zusammen, „Ich weiß. Aber genau das ist das Problem.“ Davids Inneres vereiste. Irgendwo unter ihnen hörte er jemanden in der Zivi-Küche lachen. Vielleicht war es Eric. Oder Ben. „W… Was meinst du damit…?“, fragte er leise, war sich aber nicht sicher, ob er die Antwort wirklich hören wollte. In ihm wuchs ein taubes Gefühl. Er hatte Angst. Sascha seufzte. Einen Augenblick lang schloss er die Augen. „Ich kann das nicht mehr so,“ sagte er dann mit zitternder und dennoch fester Stimme, „Ich dachte, ich könnte es. Lange Zeit war es kein Problem für mich, weil es für dich kein Problem war. Ich war so glücklich, weil wir… Aber…aber dann fing es an, mich zu stören. Und jetzt…halte ich es kaum noch aus, es…es macht mich krank und ich…,“ er holte tief Luft und sah David dann direkt ins Gesicht, „Ich…ich gebe auf, David. Ich gebe auf.“ David starrte ihn an. Verständnislos und stumpf von der Kälte, sie sich mit jedem von Saschas Worten weiter in ihm ausgebreitet hatte. „Du…gibst auf?“, flüsterte er erstickt, „W…was soll das heißen, du gibst auf? Heißt das, du willst nicht länger mit mir–,“ „Was?!“, rief Sascha und die plötzliche Kraft in seiner Stimme ließ David abermals zucken, „Zusammen sein?! Aber das sind wir doch gar nicht! Das hast du doch eben grad Hendrik und seiner Oma gegenüber demonstriert. Du willst doch gar nicht mit mir zusammen sein, weil du nicht dazu stehen willst, was und wer du bist! Du hast viel zu große Angst davor! Im Verborgenen, ja, da kannst du so sein, wie du dich fühlst, aber in der Öffentlichkeit, da wo es wirklich zählt, da kannst du es nicht!“ Seine Stimme war zum Ende hin immer lauter geworden und ein kleiner Teil von David verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass irgendwer ihn gehört haben könnte. Doch der größte Teil von ihm hing an Saschas Lippen, paralysiert und entsetzt. „Und das alles, weil du solche riesige Angst hast, verletzt zu werden!“, fuhr Sascha unbeirrt und gnadenlos fort, „Versteh mich nicht falsch, ich kann verstehen, dass du Angst hast. Nach all der Scheiße, die Sven mit dir abgezogen hat. Aber ich…ich will dich nicht verletzen! Verdammt, im Gegenteil! Seit Wochen verletze ich lieber mich als dich, aber jetzt halte ich das einfach nicht mehr aus!“ Er raufte sich die Haare und fluchte so heftig, wie David ihn noch nie hatte fluchen hören. Er wollte etwas sagen, etwas erwidern, etwas, das Sascha beruhigte und alles erklärte, aber sein Kopf war vollkommen leer. In seinen Ohren klingelte es und mit Getöse fielen immer mehr Steine in seinen Magen, füllten ihn, bis er sich furchtbar schwer und betäubt fühlte. „Scheiße, wie mich das ankotzt!“, redete Sascha fieberhaft weiter und sein ganzer Körper zuckte von all den versteckten Emotionen, die endlich aus ihm herausbrachen, „Erst küsst du mich überall im Tierbetrieb und hast überhaupt keine Angst, dass uns irgendwer sehen könnte, weil alles nach deinen Bedingungen geschieht, und nachts lässt du mich bei dir im Bett schlafen und ich darf dich küssen, solange ich will, und ich bin total euphorisch und glücklich. Und du nimmst mich mit zu deiner Familie und ich kann es kaum glauben, dass du sie mir tatsächlich vorstellen willst, aber dann…,“ Sascha keuchte und sein Gesicht verzerrte sich, als würde ihm die bloße Erinnerung den Hals zuschnüren. „Aber dann… muss ich feststellen, dass sie absolut keine Ahnung haben. Ich hab mich so dumm gefühlt, weil mir plötzlich klar wurde, dass ich die ganze Zeit in einer verdammten Seifenblase gelebt habe! Ich dachte, dass mit uns beiden wäre schon längst offiziell, dass es nur noch ne Frage der Zeit wäre, bis wir es allen sagen. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen, aber dann hab ich gemerkt, dass du selbst deiner Familie nichts über uns gesagt hast, dass du überhaupt nicht vorhast, es irgendwem irgendwann mal zu sagen. Scheiße, du tust, als ob ich dir peinlich wäre! Du verleugnest mich vor deiner Familie, vor Ben, obwohl ich direkt neben dir stand, vorhin vor Hendrik und seiner Oma! Du verlangst von mir, dass ich mich in der Öffentlichkeit zusammen reiße und von dir fern halte, aber wenn ich dich ignoriere, ist es dir auch nicht recht. Scheiße, wenn du wüsstest, wie es mich fertig macht! Dieses ewige Hin und Her, dieses Auf und Ab, dieses ständige Ranlassen und Wegstoßen.“ David bekam inzwischen kaum noch Luft. Sein Herz pochte so schnell und hart in seiner Brust, dass es richtig wehtat. Und sein Kopf dröhnte. Er wollte all diese Dinge nicht mehr hören. Er wollte sich wehren, er wollte, dass Sascha aufhörte, dass er verstand, wieso… „Wegstoßen?!“, vernahm David auf einmal seine eigene Stimme und erschrak beinahe über ihren krächzenden Klang, „Ich stoße dich nicht weg! Hab ich nicht gestern Nacht noch–,“ „ABER DAS IST ES JA GERADE!“, brüllte Sascha urplötzlich und so verzweifelt los, dass es David buchstäblich von den Füßen riss. Er fühlte sich, als würde ein Orkan über ihn hinweg fegen, der ihn zu Boden drückte und ihm alle Luft aus den Lungen presste, während Sascha immer weiter sprach und ihm sein Herz ausschütte, indem mehr Frust verstaut war, als David je vermutet hätte. „Würdest du mich immer auf Distanz halten, dann könnte ich damit leben. Aber das tust du nicht! Wenn wir allein sind, dann küsst du mich und hältst mich fest, als würdest du mich nie loslassen wollen. Du küsst mich in deinem Zimmer und im Arbeitszimmer deiner Mutter und in eurem Badezimmer und hinter irgendwelchen Bäumen. Du sagst mir, dass du mir nicht wehtun willst, du sagst mir, dass du ohne mich gar nicht nach Hause gefahren wärst. Aber wenn ich auf dem Hof deine Hand nehmen will, dann beleidigst du mich. Du ignorierst mich vor den Anderen, bist aber eifersüchtig, wenn ich mit Linda rede und sagst mir, dass du die ganze Zeit an mich gedacht hast. Du bittest mich, mit dir zu schlafen und regst dich auf, wenn ich nein sage. Du tröstest mich, als ich nen Alptraum habe und lässt mich in deinen Armen einschlafen, aber wenn ich dich im Bad umarme, dann scheißt du mich wieder zusammen. Du küsst mich und kickst mich Sekunden später raus, damit Ben uns auf keinen Fall zusammen sieht. Du sagst, es sei alles meine Schuld und dass ich verschwinden soll und du siehst mich den ganzen Vormittag lang nicht an und dann entschuldigst du dich und küsst mich, nur um fünf Minuten später wieder darauf zu bestehen, dass da nichts zwischen uns ist!“ Saschas Stimme brach und er schluchzte trocken auf. „Und ich Vollidiot komme jedes Mal wieder angekrochen, weil ich es nicht ertragen kann. Und dann lässt du mich wieder ganz nah an dich ran, so nah, dass ich jedes Mal wieder denke, dass jetzt alles anders, alles besser wird. Aber dann stößt du mich wieder weg und jedes Mal tut es mehr weh und ich…,“ abermals verbarg er sein Gesicht in den Händen, „…ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr…,“ Und er verstummte. Diesmal endgültig. Die Stille, die seinen Worten folgte, war so tief und allumfassend, dass sie in Davids Ohren wie ein Gewitter donnerte. Ihm war übel. Sein ganzer Körper fühlte sich leblos an und seine Hände zitterten wie Espenlaub. Er konnte nicht denken. Er konnte sich nicht bewegen. Er konnte nur atmen und darauf warten, dass irgendwas geschah. Irgendetwas, das all das, was er gerade gehört hatte, erträglich machte. Aber es geschah nichts. „Bitte…,“ wisperte Sascha dann und nahm die Hände vom Gesicht, von denen die rechte immer noch das Handy festhielt, als würde ihn nur dieses Gerät auf den Beinen halten, „Bitte, geh jetzt. Ich…würde gern allein sein…,“ David nickte. Wie ein Roboter drehte er sich um und verließ das Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und blieb dann starr vor Schreck stehen. Er hatte keine Ahnung, wo er jetzt hingehen sollte. Was er jetzt tun sollte. Alles in ihm fühlte sich leer und ausgelaugt an, kraftlos und dumpf. Und er spürte einen seltsamen, stechenden Schmerz in der Brust. In der Mitte links. Irgendwie setzte er sich in Bewegung. Er ging die Treppe hinunter. Er ging durch die Betreten verboten-Tür auf den Hof. Er ging durch die Scheunentür in die Futterküche. Und begann alle Igelwannen noch einmal zu putzen. Jahre später wunderte sich David immer noch, wie er den restlichen Tag überstanden hatte. Vielleicht dadurch, dass er jede Erinnerung, jeden Blick und jedes Wort von Dings mit aller Gewalt aus seinem Kopf verbannte. Er stürzte sich in die Arbeit und dachte an alles, nur nicht an die Dinge, die er in der Mittagspause gesehen, gehört und gefühlt hatte. Seinen Kollegen und Freunden gegenüber verhielt er sich ganz normal. Dings sah er nur noch zweimal aus der Ferne. Das erste Mal reparierte er ein kleines Loch am Maschendrahtzaun vom Storchengehege, das andere Mal fegte er verrottetes Laub auf dem Hof zusammen. Jedes Mal machte Davids Herz einen überdimensionalen Sprung und in seinem Magen brodelte es vor Zorn. Er wollte zu Dings hinrennen, er wollte ihn anschreien und ihm die Faust ins Gesicht schlagen, er wollte ihm wehtun, ihn bis zur Unkenntlichkeit verprügeln, um es loszuwerden, dieses schreckliche, entsetzliche, grässliche Gefühl im H… Aber er tat nichts dergleichen. Obwohl er schon in der Mittagspause nichts gegessen hatte, verspürte er auch nach Feierabend noch keinen Hunger. Allein der Gedanke an irgendetwas Essbares ließ ihn beinahe würgen. Er wollte nichts essen, er wollte niemanden sehen, er wollte einfach nur schlafen und nicht mehr denken. Also machte er einen großen Bogen um die Zivi-Küche und verbarrikadierte sich in seinem leeren, kalten Zimmer. Er versuchte zu lesen, damit die Zeit schneller verging und es endlich Schlafenszeit wurde. Aber die Sätze ergaben keinen Sinn und so gab er es wieder auf. Er ging zum Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus, bis sie in sein Inneres zu kriechen schien und er sich abwenden musste. Er räumte sein Zimmer auf und sortierte seine dreckige Wäsche, er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum und fegte Staub von der Fensterbank. Er lief wie ein gehetztes Tier im Käfig auf und ab. Schließlich endete er da, wo er immer endete, wenn er nicht weiter wusste: an seinem Cello. Er nahm es in die Arme und streichelte das kühle, glatte Holz. Er hatte es in den letzten Wochen leider nur noch selten herausgeholt. Er führte den Bogen über die Seiten und wartete auf einen Ton. Aber irgendwie…hörte er nichts. Also stellte er es wieder weg. Er ging einen Schritt nach rechts und einen nach links. Er sah sich um. Er schluckte. Dann suchte er nach seinem Handy. Als er es gefunden hatte, drückten seine Finger zehn Tasten in einer Reihenfolge, die er in und auswendig kannte. Die allererste Nummer, die er in seinem Leben gewusst hatte. Es tutete und er wartete. „Spandau?“, erklang die Stimme seiner Mutter, freundlich und sanft wie immer. David musste sich einmal räuspern, bevor er sprechen konnte. „Ich bin’s,“ sagte er matt. „Hallo, David!“, antwortete Elisa so erfreut, wie nur eine Mutter erfreut klingen konnte, „Wie schön, dass du anrufst. Wie geht es dir, mein Schatz?“ „Gut…,“ log David und biss sich auf die Unterlippe, „Und euch?“ In den nächsten Minuten hörte er sich herrlich alltägliche Geschichten aus Braunschweig an. Von dem Waldprojekt in Marisas Grundschulklasse, von der lauten Musik, die ununterbrochen aus Felix‘ Zimmer schallte, von der Arbeit seines Vaters und dem letzten Theaterbesuch seiner Mutter. „Wir fanden es übrigens alle sehr schön, dass du hier warst,“ sagte Elisa nach einer kurzen Pause behutsam und unvermittelt verkrampfte sich Davids Herz ein wenig, „Felix hat sich unheimlich gefreut. Und Marisa natürlich auch. Und er ist wirklich wunderbar, dein Sascha.“ Alles in David erstarrte. „Er ist nicht mein Sascha!“, stieß er entschieden hervor. „Ist er… Ist er nicht?“ „Nein! Was für ein Scheiß, er ist…,“ Eine plötzliche Erkenntnis ließ David erschrocken bis ins Mark verstummen. „Ich…ich muss Schluss machen…,“ murmelte er, „Tschüss, Mam.“ Er legte auf, bevor Elisa noch ein weiteres Wort sagen konnte. Sein Herz hämmerte mit einem Mal und seine Hände zitterten so sehr, dass sein Handy zu Boden fiel, wo es mit einem metallischen Klatschen aufschlug. Grundgütiger Gott. Er hatte es wirklich getan. Er hatte es getan! Er hatte Sascha verleugnet. Ohne es richtig zu wollen, fast ohne, dass er es bemerkt hatte. Sofort und ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Sascha hatte Recht gehabt. David hielt es nicht mehr aus. Er zog sich um und lag mit weit geöffneten Augen im Bett und starrte an die dunkle Decke. Noch immer pochte sein Herz laut und beschleunigt gegen seine Rippen. Sein Magen knurrte, aber er verspürte nach wie vor keinen Appetit. Er fror und egal wie tief er sich in seine Bettdecke verkeilte, es wurde nicht besser. Und das schlimmste war, dass er die Gedanken und Erinnerungen nicht länger von sich fernhalten konnte. Als hätte ihn das Telefonat wachgerüttelt. Saschas Worte, seine Blicke und Gefühle rauschten mit Gewalt durch Davids Kopf und hinterließen dort...Fragen. Wie hatte das alles nur passieren können? Wie hatte er Sascha so wehtun können, ohne es zu bemerken? Warum tat er es immer und immer wieder? Warum hatte er solche Angst? Und wovor? Warum erfüllte es ihn mit solchem Grauen, dass irgendwer die Wahrheit über seine Sexualität herausfinden könnte? Hatte er sich nicht schon vor Wochen damit angefreundet, es für sich akzeptiert? Wieso konnte er diesen Gefühlen, die er in seinem Inneren doch so deutlich fühlte, in der Öffentlichkeit dann nicht Ausdruck verleihen? Warum konnte oder wollte er nicht einfach sein, was er doch war? Warum fiel es ihm nur so ungeheuer schwer…? Lag das alles…tatsächlich immer noch an…Sven? Aber wie das nur möglich? Wie konnte das sein? Hatte er nicht lang und breit darüber nachgedacht und sich immer wieder vorgenommen, jetzt endlich loszulassen und sich von Sven nicht mehr sein Leben versauen zu lassen? Hatte er sich nicht schon vor geraumer Zeit klar gemacht, dass Sascha vollkommen anders als Sven war und ihn niemals so verletzen würde? Im Gegenteil. Nicht Sascha hatte ihn verletzt, er, David, hatte Sascha verletzt. Er hatte es in seinen Augen gesehen. Er hatte es in seiner Stimme gehört. Noch nie zuvor hatte er jemanden so sehr verletzt. So sehr, dass die Reflexion der fremden Gefühle ihn beinahe von den Füßen gerissen hätte. So was tat er doch sonst nicht. Er verletzte doch niemanden, er wollte doch niemanden verletzen, er wusste doch gar nicht genau, wie das ging. Besonders bei Menschen, die ihm…etwas bedeuteten. Trotzdem war es ihm hier gelungen. So spielend leicht, dass er kaum etwas davon mitbekommen hatte. Er hatte Sascha verletzt. Genauso wie Sven damals ihn verletzt hatte. Einfach so. Ohne mit der Wimper zu zucken und dann auch noch mehrmals hintereinander. Nach allem, was er vorhin von Sascha erfahren hatte, hatte er ihn allein in den letzten drei Tagen, fünfmal auf die gleiche Art und Weise verletzt. Und jedes Mal hatte er David verziehen. Bis auf das letzte Mal. David schluckte, drehte sich auf die Seite und drückte sein Gesicht ins Kissen. Ihm war nie zuvor aufgefallen, wie sehr er sich daran gewöhnt hatte, mit Sascha in einem Bett zu schlafen. Ohne ihn wirkte das Bett nun so leer und so unglaublich kalt. Sascha…hatte gesagt, dass er aufgeben würde. Dass er nicht mehr konnte und dass er aufgeben würde. Ihn aufgeben würde. Was bedeutete das? Das Ende. Das Ende von ihrer Zweisamkeit. Keine gemeinsamen Nächte mehr. Keine Umarmungen, keine Küsse, keine Berührungen jeglicher Art. Keine Gespräche, kein Gelächter, keine Geheimnisse, die man miteinander austauschte. Das war das Nichts, von dem David behauptet hatte, dass es zwischen ihm und Sascha herrschte, obwohl es doch Alles zwischen ihnen gegeben hatte, nur kein Nichts. Mit seiner Behauptung hatte er also das Nichts beschworen, anstatt das Alles zu beschützen, wie er es doch eigentlich vorgehabt hatte. Oh Gott. Das war das Dümmste, was er je gehört hatte. Denn er wollte das Nichts nicht. Nein, er wollte es nicht. Er wollte das Alles zurück. Erneut musste David schlucken. Dann rollte er sich wieder auf den Rücken und fuhr fort, die Decke über ihm zu fixieren. Er könnte jetzt einfach rüber gehen, in Saschas Zimmer. Er könnte zu ihm ins Bett kriechen und sich entschuldigen. Er könnte schwören, dass er ab jetzt alles besser werden würde. Er könnte sich ernsthaft vornehmen, das nächste Mal, das bestimmt kommen würde, anders zu handeln. Aber…er hatte es sich schon vorgenommen. Und er war gescheitert. Großartig, David. Erstens, zweitens, drittens, ja? Du wolltest Sascha fragen, was er dir vorgestern Nacht hatte sagen wollen. Aber das hast du nicht geschafft. Du wolltest ihm nicht mehr die Schuld geben an allem, was deinetwegen falsch läuft. Aber genau das hast du getan. Immer wieder. Du hast deine Pläne nicht befolgt. Das einzige, was du geschafft hast, ist deiner Libido freien Lauf zu lassen. Super, David. Darauf kannst du echt stolz sein. Scherz. Scheiße. Wieso hatte ihm niemand gesagt, wie schwierig es war, seine Persönlichkeit zu verändern? Dass es so hart, so schwer sein würde, seine festgefahrenen Verhaltensweisen und tiefen Ängste zu durchbrechen? Aber hieß es nicht sowieso immer, dass man so sein sollte, wie man war und wie man sich fühlte? Trotz allem und gegen alle Widerstände? Dass Zuneigung nur zählte, wenn man gemocht wurde, wie man war, auch mit seinen Fehlern und Ecken und Kanten und Ängsten und allem? Ja, so hieß es. Doch stimmte das? Galt das auch noch, wenn man jemanden verletzte, der einem lieb und teuer war? Außerdem…war David doch gar nicht, wie er wirklich war. Sonst hätte er doch keine Probleme damit, offen zu zeigen, dass er…ja, verdammt nochmal!…dass er schwul war und Nacht für Nacht in den Armen eines anderen Mannes lag, den er küsste und mit dem er schlafen wollte, weil er ihm vertraute und ihn wie verrückt begehrte. Sascha, im Gegensatz zu Sven, wollte ihn ganz und gar, sogar mit seinen Wutanfällen. Das hatte David schon vor fast einem Monat herausgefunden. Er wollte ihn so sehr, dass er es sogar in Kauf genommen hatte, mit David im Verborgenen zu bleiben und sich immer wieder von ihm verletzen zu lassen. Bis jetzt. Und jetzt war der Punkt gekommen, wo David sich entscheiden musste: Wollte er Sascha oder nicht? Die Antwort brannte so heiß in ihm, dass sie schon da war, bevor er den letzten Gedanken zu Ende gedacht hatte. Sein Magen schlingerte unwillkürlich. JA! Natürlich wollte er Sascha. Er wollte ihn von Kopf bis Fuß. Er wollte ihn mit seiner nervtötenden Fröhlichkeit, seinen dummen Kosenamen, seinen bescheuerten Sprüchen. Er wollte ihn mit seinem Lachen, seinen Augen, seinen Oberarmen, seinem Chaos, seinen Klamotten, seiner Stimme, seinen Haaren, seiner Sonnenbrille, seinen Lippen, seinen Händen, seinen Witzen, seinen Gesten, seinen Gesichtsausdrücken, seinen Talenten und Fähigkeiten und Macken und allem. Er wollte ihn so, wie er war. Und er wollte ihn mehr, als er je zuvor irgendwen gewollte hatte. Und er wollte es retten. Das Alles, ihr Alles. Und David wusste, was er dafür tun musste. Gute Vorsätze reichten jetzt nicht mehr. Pläne reichten jetzt nicht mehr. Eigene Gedanken reichten nicht mehr. Ab jetzt musste er handeln. Sofort. Er musste etwas verändern, er musste zu dem werden, was er schon seit Jahren war und lernen, auch vor anderen dazu zu stehen. Er musste über seine Ängste siegen. Er musste kämpfen. Um Sascha und gegen sich selbst. Weil er wusste, dass alles, was er fürchtete, erträglich sein würde, so lange nur Sascha neben ihm stand und seine Hand hielt. Und er würde auf der Stelle mit dem Kämpfen anfangen. Von einem Tatendrang erfüllt, den er noch nie verspürt hatte, sprang David aus dem Bett. Er knipste das Deckenlicht an und schnappte nach seinem Handy. Obwohl es draußen nach Mitternacht aussah, war es tatsächlich erst kurz nach acht – kein Wunder, dass er nicht hatte schlafen können. Sehr gut. Soweit er wusste, fuhr der letzte Zug um 20:31 Uhr. Den würde er noch kriegen! Wie ein Berserker warf sich David in seine Klamotten. Er hielt sich nicht damit auf, einen Rucksack zu packen, er stopfte nur Handy, Schlüssel und Portemonnaie in seine Hosentaschen. Er stieg in seine Turnschuhe, zog sich die Jacke über und stopfte seine Haare unter seine Strickmütze. Dann verließ er sein Zimmer. Unter Saschas Tür sickerte Licht auf den finsteren Flur. Davids Herz begann zu trommeln und seine Kehle wurde trocken. Hinter dieser Tür war sein Sascha. Und er litt. Wegen ihm. Aber nicht mehr lange… Für einen kurzen Moment legte David seine Stirn an das Holz und schloss die Augen. „Warte auf mich. Bitte, warte auf mich…,“ wisperte er. Dann stieß er sich von der Tür ab und lief lautlos die Treppe hinunter. Er trat durch die Betreten verboten-Tür auf den kalten, windigen Hof. Er atmete einmal tief durch. Willkommen, Welt, zu meiner ganz persönlichen Freakshow, dachte er, Aber alles wird gut werden. Ganz bestimmt wird alles gut. Dann rannte David los und seine Schritte verhallten schon bald in der anbrechenden Novembernacht. Kapitel 35: Endlich ------------------- Hey Ho! Willkommen zum 35. Kapitel dieser endlosen Geschichte^^. Ich hoffe, es gefällt Euch so gut wie mir und es kann Euch ein wenig mit David aussöhnen :) Ach ja: In diesem, dem nächsten und vermutlich auch im übernächsten Kapitel wird Sascha nicht persönlich vorkommen, da es ja im Moment um David geht und er ein paar Dinge allein mit sich klären muss. Ich hoffe, Ihr seid nicht zu sehr enttäuscht...^^ Kapitelwidmung: Für meine Lieblings-Lisa. Weil sie wundervoll ist und mal wieder Recht behalten hat :) Viel Spaß beim Lesen! Eure Lung ____________________________________________________________________ Als David schließlich im Zug saß, verließ ihn das euphorische Gefühl der Ich-Stärke langsam. Draußen war es so dunkel, dass er kaum etwas von der Landschaft, durch die der Zug ratterte, erkennen konnte. Nur sein eigenes Spiegelbild, vom schmierigen Abteillicht beschienen, blickte ihm blass vor Nervosität entgegen und erinnerte ihn unentwegt daran, was er hier gerade tat und was er im Begriff zu tun war. Grundgütiger Himmel. Wie stellte man so etwas nur an? Gab es irgendwelche Gebote, die man beachten sollte, Worte, die man vermeiden musste? Gab es bestimmte Tricks beim Reden, die einem die Sache erleichterten und die Erfolgsaussichten steigerten? Er wünschte, er hätte einen Spiegel zur Hand, mit dem er üben konnte. So machte man das doch bei dramatischen Ansagen, oder? Man übte vor dem Spiegel, damit man wusste, was für eine Art Gesicht man beim Sprechen zog. David atmete tief und versuchte, sich zu beruhigen. Sein Herz schlug hart gegen seine Rippen und sein Magen verkrampfte sich in regelmäßigen Abständen. Als er die Hände hob, um sich die Haare aus der Stirn zu schieben, bemerkte er, dass sie vor Aufregung zitterten. Und allmählich spürte er auch, dass er seit Stunden nichts gegessen hatte. Seine Beine waren ganz wacklig. Aber vielleicht lag das auch an dem Sprint, den er vom Zentrum zum Bahnhof hingelegt hatte, um den Zug rechtzeitig zu erreichen. Davon tat ihm immer noch alles weh. Er schloss die Augen und versuchte an Sascha zu denken und nicht an das Gebirge, das sich mit jedem Meter, den der Zug zurücklegte, weiter vor ihm auftürmte. An Sascha und seine todtraurige Miene, seine trockenen Schluchzer und seine Hände vor den Augen. An seinen entsetzlichen Schmerz und seine Verzweiflung. Bei der Erinnerung musste David die Zähne zusammen beißen, damit ihm keine Tränen in die Augen schossen. Wie hatte er ihm das nur antun können? All die Zeit, ohne zu registrieren, wie Sascha unter seinem Verhalten litt? Wie hatte er so verblendet und ignorant sein können? Verdammt nochmal! Was war nur sein Problem? Wovor fürchtete er sich so sehr und wieso? War es tatsächlich der Klassiker? Dachte er… Dachte er ernsthaft, dass er…die Menschen, die ihm am wichtigsten waren, verlieren würde, wenn er dazu stand, wer und was er war? Aber das war doch Bullshit! Das wusste er doch ganz genau! Jeder wusste: Denen, die wirklich zählten, war es egal. Und die, denen es nicht egal war, zählten nicht wirklich. Auf Freunde, die etwas gegen seine Sexualität einzuwenden hatten, konnte er getrost verzichten. Und seine Familie… Zischend sog David die Luft ein. Niemals, niemals, niemals würde seine Familie ihn verlassen. Niemals würden seine Eltern aufhören, ihn zu lieben, nur weil er schwul war. Niiieeemals! Aber was wenn doch?, wisperte eine ganz leise Stimme in seinem Kopf, Was wenn doch? Was willst du dann machen? Wo gehörst du dann hin? Willst du dieses Risiko wirklich eingehen? Für Sascha? David ballte die Hände zu Fäusten. Das würde nicht geschehen! Und außerdem…tat er das nicht nur für Sascha. Sondern in erster Linie für sich selbst. Er wollte sich nicht mehr länger selbst verleugnen, verstecken und schämen für etwas, das in dieser Zeit, in dieser Welt, keine Rolle mehr spielen sollte. Wieso sollte er sich noch länger für etwas selbstbemitleiden, das vollkommen in Ordnung ging? Es gab Menschen, die lebten und lachten jeden Tag ohne Arme oder Beine, ohne genug Geld, ohne intakte Familie, mit Hunger, Aids oder Krebs oder irgendeiner anderen Krankheit. Er dagegen war nicht krank. Er hatte auch noch alle seine Gliedmaßen. Sogar seinen Blinddarm hatte er noch. Er war einfach nur…schwul. Und es war an der Zeit, dies endgültig und offen zu akzeptieren und dazu zu stehen. Zu Fuß dauerte der Weg vom Braunschweiger Hauptbahnhof zum Haus der Familie Spandau ungefähr fünfzehn Minuten. Zwanzig, wenn man langsam ging. Und David ging langsam. Während er einen Fuß vor den anderen setzte, arbeitete sein Kopf unentwegt an seinem Vorhaben, versuchte sich eine kluge Strategie und mitreißende Sätze zurechtzulegen, die die ganze Angelegenheit auflockern und entkrampfen würden. Vielleicht sollte er es so ähnlich machen, wie sie es in der Schule für die Kritik eines Referats gelernt hatten. Also, erst etwas Positives, dann etwas Negatives und dann wieder etwas Positives, damit das Negative dazwischen nicht so auffiel. Frei nach dem Motto: Mam, warst du beim Friseur? Steht dir gut. Übrigens, ich bin schwul. Schickes neues Hemd, Paps! Oder er versuchte, das Ganze angenehm humorvoll und witzig zu gestalten. Oder er äußerte sich besonders kompliziert und wissenschaftlich, damit es weniger persönlich klang. Oder aber er drückte kräftig auf die Tränendrüse, um Mitleid zu erregen. David schnaubte, wich einer Coladose auf dem graubraunen Fußweg aus und schüttelte entschieden den Kopf. Nein, so wollte er das nicht. Er wollte keinen Humor, keine Wissenschaft und auch keine falschen Tränen. Er wollte sich nicht verstellen. Er wollte es einfach sagen und dann abwarten, was passierte. Was anderes konnte er doch sowieso nicht tun. Was half es also, sich deswegen verrückt zu machen? Alles, was er tun konnte, war das Beste zu hoffen. Hauptsache, er bekam den Mund überhaupt auf. Ein Bus fuhr rumpelnd an ihm vorbei und seine Scheinwerfer ließen ein Verkehrsschild auf der Straße kurz aufglimmen. Zwei Jugendliche, die sich angeregt unterhielten, kamen ihm entgegen. Über ihm krochen finstere Wolken dahin und ein schneidender Wind trieb feuchtes Laub und Papierfetzen vor sich her. Doch zum Glück regnete es nicht. Das hätte ihm auch gerade noch gefehlt. Es war beinahe halb zehn, als David endlich vor dem hellen, mit Efeu bewachsenen Backsteingebäude stand, in dem er neunzehn Jahre seines Lebens zu Hause gewesen war. Wie es sich wohl anfühlen würde, es auf Nimmerwiedersehen zu verlassen? Schwachsinn! David rief sich selbst zur Ordnung. Doch inzwischen raste sein Herz wieder so sehr, dass ihm das Atmen schwer fiel. Sein ganzer Körper schien vor Angst instabil und schwach zu sein. Er wollte fortrennen und gleichzeitig zu Boden sacken und sich dort zusammen rollen. Ihm war so grauenhaft schlecht, dass er sich vielleicht übergeben hätte, wenn sein Magen nicht völlig leer gewesen wäre. Es fühlte sich an, als wäre er kurz davor, in echte Panik zu verfallen. Großer Gott, war das immer so, wenn man kurz davor war, seiner größten Angst ins Gesicht zu blicken? Würde das vorüber gehen? Reiß dich zusammen!, sagte David zu sich selbst und nahm einen letzten Atemzug, Werd endlich erwachsen und zieh das jetzt durch. Denk an Sascha. Das tat David. Er dachte an Sascha und holte den Schlüssel hervor, um die Haustür aufzuschließen. Im Haus war es herrlich warm. Allein das sanfte Licht, das vom Wohnzimmer her in den Eingangsbereich floss, wirkte schon beruhigend auf Davids Nerven. Und der Geruch war so vertraut und weckte Erinnerungen an die behagliche Geborgenheit, die David seine gesamte Kindheit und Jugend hier empfunden hatte. Er meinte den Fernseher hören zu können, vermischt mit den leisen Stimmen seiner Eltern. Lautlos schlüpfte David aus seinen Turnschuhen und hängte seine Jacke an einen Haken der Garderobe. Erst vor zwei Tagen hatte er mit Dings im Schlepptau hier gestanden und ihn Marisa und Volker vorgestellt. Das schien ihm nun schon Ewigkeiten her zu sein. Wie viel hatte sich seitdem zwischen ihm und Sascha verändert… David schluckte. Los jetzt. Bloß nicht in lähmenden Gedanken versinken. Dies ist der richtige Zeitpunkt, um über dich selbst hinauszuwachsen. Geh! Mit bebenden Knien setzte sich David in Bewegung. Seine Füße trugen ihn langsam, aber sicher durch den Flur und ins Wohnzimmer. Im Türrahmen blieb er stehen. Seine Mutter saß auf der Couch und nippte an einem Glas Rotwein, während sein Vater am Bügelbrett stand und offenbar einen von Felix‘ Pullovern bügelte. Auf dem Bildschirm lief etwas, das wie ein Krimi aussah. Sein Vater machte einen gedämpften Kommentar und seine Mutter kicherte amüsiert. Ein Lächeln huschte unvermittelt über Davids Gesicht. Dann meldete sich sein Herzschlag wieder und mit einem letzten Stoßgebet an die Götter des Mutes räusperte er sich deutlich vernehmbar. Seine Eltern zuckten beide leicht zusammen und wirbelten zu ihm herum. „David!“, sagte sein Vater überrascht, „Was machst du denn hier?“ „Ist was passiert?“, fragte seine Mutter sofort und erhob sich mit erschrockener Miene. „Nein, ich…ich wollte nur…,“ antwortete David mit brechender Stimme und machte ein paar unsichere Schritte ins Wohnzimmer hinein. Er musste fürchterlich aussehen, denn Volker stellte sofort das Bügeleisen zur Seite und eilte auf ihn zu, um ihn in die Arme zu nehmen. Eigentlich wollte David ihn wegschieben, aber es gelang ihm nicht. Irgendwie…war dies genau das, was er im Augenblick am Dringendsten brauchte: Den Schutz und den Trost seines Papas, der stark und mitfühlend war und jede Angst vertreiben konnte. Genau wie früher, wenn er hingefallen war und sich das Knie aufgeschlagen hatte, schlang David die Arme um seinen Vater und vergrub das Gesicht in seinem Pullover. Zornig kämpfte er gegen die Tränen an, während Volker ihn fest hielt. Fast konnte David sehen, wie seine Eltern mit wachsender Besorgnis Blicke austauschten. Ein solches Gebaren hatte David schon ziemlich lange nicht mehr gezeigt. „Was ist los, Schatz?“, fragte Elisa, die sich offenbar zu ihnen gesellt hatte, leise und David spürte, wie sie ihm zärtlich durchs Haar fuhr, „Was ist passiert?“ David schniefte und zwang sich dazu, seinen Vater loszulassen. Komm schon!, blaffte er sich selbst an, Fang an und hör, um Gottes Willen, auf zu flennen! Du hast kein Recht, traurig zu sein. Du bist hier nicht derjenige, der verletzt worden ist! „Nichts…,“ entgegnete David und wischte sich beschämt über die Augen, „Ich... Schon gut… Es geht schon, ich…ich muss mit euch reden… Okay?“ Er hob den Kopf und schaute seine Eltern flehentlich an. Sein Herz vollführte einen Trommelwirbel gegen seine Rippen und mit einem Schlag waren die Anspannung und die Aufregung zurück. Doch das, was er jetzt tun würde, war das Richtige. So oder so. „Könnt ihr euch bitte hinsetzen und mir…mir zuhören?“ Volker und Elisa starrten ihn betroffen an. Aber dann nickten sie, murmelten zustimmend und ließen sich nebeneinander auf dem Sofa nieder. Elisa schaltete den Fernseher ab und Grabesstille machte sich im Wohnzimmer breit. David atmete, um sich und sein bollerndes Herz zu entspannen. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Seine Eltern saßen ihm reglos gegenüber und musterten ihn mit unverhohlener Unruhe. Er versuchte sich an seine bereitgelegten Sätze zu erinnern, aber sie waren alle fort. Er war allein mit sich und der Wahrheit. „Also…,“ begann er atemlos, verschlang die Finger miteinander und lief ein bisschen vor dem schwarzen Fernseher auf und ab, „Es…es gibt da etwas, das… das ich euch sagen will…,“ „Etwas…Schlimmes?“, erkundigte sich seine Mutter vorsorglich. David holte tief Luft. „Nein…,“ sagte er dann, „Nein, eigentlich nicht, aber… Es ist…wichtig und… ich… ich hab heute – oder, besser gesagt, in der ganzen letzten Zeit – einige…Fehler gemacht, die schon…schlimm waren…,“ er verstummte und bemühte sich, nicht an Saschas Trauer zu denken, „Und deshalb, will ich jetzt endlich…mit der Sprache rausrücken…,“ „Was heißt denn endlich…?“, fragte Volker mit aufgerissenen Augen. „Das heißt, dass…ich es schon eine ganze Weile weiß…,“ murmelte David und biss sich auf die Lippe, als die Furcht, die er schon so lange in sich trug, nach seinem Inneren griff, „Schon seit zwei Jahren, um genau zu sein. Aber ich…,“ er stockte und spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. „Aber ich…hatte Angst…, euch davon zu erzählen, weil ich…Angst hatte, dass…,“ instinktiv presste David sich die Handballen auf die Augen, um die aufsteigenden Tränen zurück zu drängen, „…dass ihr mich rausschmeißt oder so…,“ Ein kleines Schluchzen entrang sich seinen zusammen gepressten Lippen. Er atmete schwer und als er die Arme sinken ließ, sahen seine Eltern bestürzter aus, als David sie je zuvor gesehen hatte. Seine Mutter hatte sich die Hände über Mund und Nase gelegt und ihre Augen glitzerten auf eine sehr kritische Art und Weise. Sein Vater war ganz bleich geworden. „David…,“ brachte er mühsam hervor, „Wir würden doch niemals–,“ „Ich weiß!“, unterbrach David ihn hastig und riss sich am Riemen, um nicht auf den letzten Metern den Antrieb zu verlieren, „Ich weiß, das war dumm. Ich weiß, dass ihr mir das nicht antun würdet, aber ich…ich hab mich so geschämt und…,“ „Was ist es denn, zur Hölle?“, brauste sein Vater auf und mit einem Mal wurde David klar, woher er womöglich sein Temperament hatte, „Hast du was gestohlen oder–,“ „Nein!“, fiel David ihm erneut ins Wort und kramte den letzten Rest Tapferkeit aus seinem überreizten Rückgrat hervor, „Nein, das ist es nicht. Es ist…es ist so, dass ich…,“ Er öffnete den Mund, aber kein Ton kam hervor. Na looos!, heulte alles in ihm, Du hast es doch fast geschafft! Es fehlt nur noch das eine Wort! Sprich es schon aus! Sprich es endlich aus! „…dass ich...ich… schwul bin!“ Das schlagartige Schweigen war beinahe greifbar. David bemerkte kaum, dass er die letzten beiden Worte fast schon gebrüllt hatte. Das Tosen seines Herzens übertönte alle Gedanken, die durch sein Hirn flirrten. Er hatte das Gefühl, dass seine Knie jede Sekunde nachgeben würden. „Das…ist alles…?“, ächzte plötzlich eine Stimme von der offenen Wohnzimmertür her und David zuckte so heftig zusammen, dass er für einige Momente das Gleichgewicht verlor, „Und ich dachte schon, du hättest jemanden umgebracht!“ „Felix!“, keuchte David, fassungslos vor Entsetzen und starrte seinen Bruder an, „Wie…wie lange stehst du da schon…?“ „Keine Ahnung… Zwei Minuten oder so…?“ David wurde schwindelig. Er konnte sich nicht erklären, wie er Felix‘ Ankunft hatte übersehen können. Schließlich war die Tür genau in seinem Blickfeld. Seufzend stützte er sich am Fernseher ab. Nun ja. Jedenfalls hatte er so gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Marisa, die glücklicherweise schon im Bett war, wusste es ja sowieso schon seit Monaten – auch wenn sie wahrscheinlich nicht genau erfasste, was es bedeutete – und was Julian anging... Naja. Der besaß ein Handy und war mit großer Wahrscheinlichkeit die halbe Nacht auf Sauftour. Die Frage war erst mal nur, was…jetzt geschehen würde. Wie würden seine Eltern reagieren? Und wie würde sein fünfzehnjähriger Bruder reagieren? Mit hüpfendem Magen richtete David den Blick wieder zur Couch. Sein Vater hatte sich zurückgelehnt und schien für den Augenblick versteinert zu sein. Doch seine Mutter tupfte sich das Gesicht mit ihrem Ärmel ab, stand auf und David war überrascht, dass sie strahlte. Mit drei Schritten war sie bei ihm und schloss ihn in die Arme. „Mein Armer…,“ flüsterte sie, „Mein Schatz, es tut mir so leid, dass du das zwei Jahre allein mir dir ausmachen musstest und dich dafür geschämt hast. Das musst du doch nicht. Das ist nichts, wofür du dich schämen musst…,“ David schniefte erneut, umarmte seine Mutter und wünschte, Felix würde das nötige Taktgefühl besitzen, um den Raum zu verlassen. Doch Taktgefühl…war noch nie eine große Stärke seiner Geschwister gewesen. In der Hinsicht waren sie alle drei gleich. „Wirklich nicht…,“ erklang auch die Stimme seines Vaters auf einmal ganz in der Nähe und ein weiteres Paar Arme legten sich um ihn, „Wir wollen, dass du glücklich bist, David. Und zwar genau so, wie du bist. Es tut mir nur um deine schönen Haare leid. Wer vererbt die jetzt weiter?“ „Ach, Haare!“, zischte seine Mutter ihrem Mann zu, „Red keinen Unsinn, du Blödmann.“ Sein Vater gluckste und streichelte den Lockenkopf seines Sohnes. Der wollte inzwischen erneut weinen. Schwere, sehr alte Steine fielen ihm vom Herzen und machten einem wundervoll weichen Gefühl der Erleichterung Platz, das ihm abermals die Tränen in die Augen trieb. Wie hatte auch nur der kleinste Teil von ihm an seinen Eltern zweifeln können? Er kannte sie doch schon so lange. Er hätte doch ganz, ganz, ganz genau wissen müssen, dass sein Geheimnis ihre Gefühle für ihn nicht im Mindesten ändern würde. „Muss die Gruppenkuschelei sein?“, meldete sich Felix schließlich aus der Ferne, „Jetzt seid doch nicht so melodramatisch. Das ist ja anstrengend!“ Irgendwo in David begann es zu lachen und er schaffte es, sich von seinen Eltern zu lösen. „Du hast Recht. Entschuldige, Felix…,“ „Ja, setzen wir uns erst mal hin,“ stimmte Volker zu und fuhr sich fahrig durch das ergraute Haar, „Komm, David, du zitterst ja. Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?“ „Heute Morgen…,“ „Ach, du liebes Bisschen!“, rief Elisa aus, die immer noch ganz glückselig wirkte, „Kein Wunder, dass du so blass bist. Setz dich hin, ich mach dir was zu essen.“ „Du musst nicht–,“ protestierte David schwach, während sein Vater ihn zur Couch drängte, aber seine Mutter schnitt ihm sofort das Wort ab. „Ruhe! Das mach ich doch gern, keine Widerrede.“ David gab sich geschlagen und ließ sich auf die Couch fallen. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so frei und leicht gefühlt zu haben. Es war als würde er fliegen können, wenn er nur hoch genug sprang. Und er konnte nicht glauben, dass er es tatsächlich getan hatte! Er hatte es gesagt, er hatte das Wort, das ihn jahrelang gequält hatte, endlich offen ausgesprochen. Und damit hatte es einen gewaltigen Teil seines Schreckens verloren. Und seine Eltern liebten ihn noch immer und Felix hatte ihm noch nicht ins Gesicht gespukt. Es war…fast wie ein Traum... Und er war noch nicht vorbei. Elisa holte ihm Brot, Käse, Salat und kaltes Huhn vom Mittagessen. Und Volker hörte zu bügeln auf und lief stattdessen in den Keller, um noch eine Flasche Wein zu besorgen. Und dann, während er seinen Magen mit Nährstoffen und Alkohol füllte, sollte David erzählen. Alles und ganz von Anfang an. Also tat er es. Nun ja. Er erzählte nicht alles, also nicht alle Details – schon gar nicht die schlüpfrigen. Er fasste sich einigermaßen kurz, als er das zweite Mal in seinem Leben von seiner und Svens Geschichte erzählte. Und es kostete ihn eine Menge Überwindung die Worte miteinander schlafen überhaupt in Gegenwart seiner Eltern auszusprechen. Eigentlich hatte er erwartet, dass Felix, der inzwischen schon bei seinem dritten Weinglas war, bereits zu Beginn des Gesprächs das Weite suchen würde. Doch tatsächlich blieb er. Und er ereiferte sich ganz außerordentlich, als David beim dramatischen Ende der Geschichte angekommen war. „Was issen das fürn Scheißverhalten, ey?!“, rief er außer sich und sprang empört vom Teppich auf, „Wie kann’n der so was abziehen, Alter?! Das is ja wohl voll daneben, so ein verfickter Flachwichser!“ „Felix!“, machte seine Mutter schockiert. „Nee, mal ehrlich! So kann der doch nich mit meinem Bruder umgehen, ey! Was fürn dreckiges Arschloch!“, unter den alarmierten Blicken seiner Eltern leerte Felix sein Weinglas und stellte es übertrieben energisch auf dem Couchtisch ab, „So. Gib mir seine Adresse, David, ich fahr hin und box ihn weg!“ „Ähm…,“ mischte sich David, dessen Herz vor neuentdeckter Liebe zu seinem kleinen Bruder gerade überzuschäumen drohte, lächelnd ein, „Ich glaub nicht, dass Sven noch zu Hause wohnt, Felix. Er ist bestimmt schon ausgezogen und seine neue Adresse kenne ich nicht. Außerdem ist er noch ein Jahr älter als ich und–,“ „Is mir egal!“, tönte Felix und stellte sich in Kampfstellung, „Der soll mich kennen lernen!“ „Mir aber nicht,“ entgegnete Volker schmunzelnd und erhob sich vom Sofa, „Außerdem kannst du nicht boxen. Was soll denn diese lächerliche Faustbewegung, he? Soll das ein Schlag sein?“ „Hee, was willst du denn jetzt, Alter? Komm her, wenn du Ärger willst!“ „Alter? Hast du mich gerade Alter genannt? Na, warte!“ Vater und Sohn begannen auf eine unglaublich alberne und peinliche Art umeinander herum zu springen und lachend und schimpfend Fausthiebe gegeneinander auszuteilen. David konnte nicht hinschauen, ohne sich entsetzlich fremdzuschämen. Also wandte er den Blick ab und betrachtete lieber seine Mutter. Sie saß neben ihm und lächelte ihn an. „Es tut mir leid, dass deine erste Liebe für dich so unschön gelaufen ist…,“ sagte sie dann, „Ich wünschte, ich hätte dich damals trösten können. Aber das haben bestimmt deine Freunde übernommen, oder?“ Irgendwie schuldbewusst räusperte sich David. „Nein…,“ gab er zu, „Mit ihnen habe ich auch nicht darüber gesprochen.“ „Noch nicht einmal mit Kenji?“, fragte sie betroffen. David schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hab ja noch nicht mal mit mir darüber gesprochen. Ich wollte es…einfach nur vergessen…,“ Elisa seufzte. Dann legte sie ihm den Arm um die Schultern, streichelte sein Gesicht und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Ich finde, du solltest Svens Adresse für Felix rauskriegen…,“ flüsterte sie. David musste lachen. Er sah seiner Mutter liebevoll in die von Lachfältchen umgebenen blaugrünen Augen, die seinen so ähnlich waren. Und plötzlich begriff er etwas. „Du wusstest es, oder?“, wisperte er, „Du wusstest es die ganze Zeit.“ Elisa sah ihn an. Dann ließ sie ihn los und strich sich verlegen eine ihrer blonden Locken hinters Ohr. David kannte die Antwort, bevor sie den Mund geöffnet hatte. „Nicht die ganze Zeit…,“ antwortete sie, „Ich…habe es mir irgendwann gedacht…und als du dann am Montag mit Sascha hier warst…,“ David schluckte. Sascha. Selbstverständlich musste der noch zur Sprache kommen. Aber er war ja auch…der Grund und der Auslöser für dies alles. Ihn nicht zu erwähnen, wäre bescheuert. Und unfair. Er gehörte dazu und er war wichtig und deshalb sollte er…ebenso ans Licht kommen. Schließlich schämte David sich wirklich nicht für ihn. Wie sollte er auch? Sascha war wunderbar. Das hatte seine Mutter auch schon vorhin am Telefon gesagt. „Ja…,“ raunte er also und nickte, „Du hast Recht gehabt… Er ist…mein Sascha. Jedenfalls…so gut wie. Wir…müssen da nur noch etwas klären…,“ Während Felix von Volker in die ersten Mysterien des Boxens eingeweiht wurde, erzählte David seiner Mutter mit stockender Stimme von dem schrecklichen Streit in der Mittagspause. Ein paar Dinge ließ er weg, aber die wichtigsten Einzelheiten wurden deutlich. Und er fühlte sich immer noch so grauenhaft schuldig, dass er beinahe befürchtete, Elisa würde ihn nachträglich doch noch aus dem Haus werfen. „Als ich heute Abend begriffen hab, was ich…ihm die letzten Monate angetan hab, da…hab ich beschlossen, jetzt sofort etwas zu verändern und euch die Wahrheit zu sagen. Denn ich…ich will ihn nicht verlieren, Mam. Er ist…,“ David verstummte, aber seine Mutter schien ihn auch so zu verstehen. Sie nickte und lächelte. „Ja, das ist er. Das ist er wirklich.“ „Wer?“, fragte Felix, der schwer atmete und sich an Davids Weinglas vergriff. David befeuchtete sich kurz die Lippen. „Sascha,“ erwiderte er dann. „Ahhh, natürlich…,“ sagte Volker und schlug sich leicht gegen die Stirn, „Darauf hätte ich auch von selbst kommen können.“ „Also mir war das schon die ganze Zeit klar,“ behauptete Felix prompt, „Wieso solltest du sonst nen Kollegen von dir mitbringen? Doch wohl nur, wenn er auch dein Lover ist.“ Hitze stieg in Davids Gesicht auf. Lover. Also wirklich… „Und ist er das…?“, erkundigte sich sein Vater betont beiläufig, „Dein Freund, meine ich?“ David räusperte sich erneut. „Ja. Nein. Jein…,“ brummte er, „Fast, würd ich sagen…,“ er seufzte und wandte sich dann wieder an seine Mutter, „Du hast bemerkt, wie ich ihn…angesehen habe, oder?“ Elisa schmunzelte. „Ich hab auch bemerkt, wie er dich angesehen hat.“ „Mich?“ „Ja…,“ sie beugte sich vor und berührte lächelnd seine Locken, „Als wärst du ein Engel.“ Felix schnaubte. „Also, was hast du jetzt vor?“, fragte Volker über den Spott seines dritten Sohnes hinweg, „Willst du zurück und…ähm…den Rest…mit ihm abklären?“ David nickte und bei der Vorstellung, dass Sascha eines Tages sein fester Freund sein könnte, beschleunigte sich sein Herzschlag abermals. „Ja. Aber ich…bin hier noch nicht fertig. Schließlich habe ich noch einen zweiten Bruder.“ „Richtig…,“ grinste sein Vater, „Und eine Schwester.“ „Marisa weiß es schon…,“ grummelte David und verdrehte die Augen, „Sie wusste es sofort, als ich Saschas Namen das erste Mal erwähnt habe.“ Seine Eltern wirkten skeptisch, aber Felix nickte mitfühlend und eifrig. „Sie ist verrückt!“, erklärte er Elisa und Volker ernsthaft, „Sie weiß Dinge. Sie spürt sie. Und es nervt unheimlich.“ David musste sich das Lachen verkneifen. „Ach ja, Felix? Erzähl mir, was weiß sie über dich? Sag schon. Ich lache bestimmt nicht.“ „Halt die Klappe, David!“, knurrte Felix, „Sonst denk ich mir doch noch einen Spitznamen für dich aus – Schwuli!“ Mit einem lauten Fauchen machte David einen Hechtsprung und riss Felix fast von den Füßen. Der lachte und schrie wie am Spieß und versuchte sich loszureißen, doch heute war David stärker als er. Er drückte seinen kleinen Bruder an sich, so fest wie er konnte. „Danke…!“, wisperte er ihm ins Ohr und jäh hörte Felix auf, sich zu wehren. „Schon gut…,“ brummelte er, „Laber nicht. Du bist doch mein Bruder…,“ David hätte ihn am Liebsten abgeknutscht. Noch nie in seinem Leben hatte er sich Felix so nahe gefühlt. Er war eigentlich immer vor allem Julians Kumpel gewesen, obwohl die zwei sich praktisch nur stritten. Mit David hatte ihn dagegen kaum etwas verbunden. Doch heute… bemerkte David zum ersten Mal, dass sein jüngerer Bruder kein kleiner Junge mehr war. Bebend vor Dankbarkeit ließ er Felix los und grinste ihn an. Und Felix grinste zurück, mit glühenden Ohren. Und unter den gerührten Augenpaaren ihrer Eltern. Als David schließlich im Bett lag, war es nach Mitternacht. Er war erschöpft und gleichzeitig aufgekratzt, glückselig und weinerlich zur selben Zeit. Niemals würde er jetzt schlafen können, mit all den Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen, die durch seinen Kopf schossen und dort Chaos anrichteten. Er konnte einfach nicht glauben, was heute alles geschehen war. Dieser Tag…sollte in die Geschichtsbücher eingehen. Zum Glück wollte David noch nicht schlafen. Da gab es noch zwei Menschen, mit denen er jetzt unbedingt sprechen wollte. Er hatte das tragbare Telefon aus dem Wohnzimmer zwar mit ins Bett genommen, aber er war sich sicher, dass er seinen ersten Gesprächspartner nicht auf dem Festnetz erreichen würde. Also Handy. Er suchte im Verzeichnis für gespeicherte Nummern nach J. Dann wartete er. „Hey! Yo!“, erklang eine vertraute Stimme, deren Besitzer offensichtlich in einem sehr wütenden Tornado stand, „David, du Bastard! Wie läuft’s?“ „Gut!“, rief David zurück, setzte sich auf und hielt sich ein Ohr zu, um seinen Bruder besser verstehen zu können, „Und bei dir?“ „Was?! Ach so, auch gut! Hee, mach mir bitte auch noch einen, Alter! Danke!“ David schloss die Augen. Er hatte es ja gewusst – Sauftour. „Julian!“, bellte er ins Handy, „Kannst du mal da raus gehen? Ich muss mit dir reden!“ „Was?!“ „Reden!“, brüllte David und hoffte inständig, dass Marisa von dem Krach nicht wach wurde, „Geh! Da! Mal! RAUS!“ „Oh, okay! Warte!“ Es raschelte und knackte eine Weile. „So…,“ sagte Julians Stimme dann deutlich vernehmbar und David seufzte, „Sorry, Mann. Wir sind alle im Trafo und da lässt es nicht so gut telefonieren.“ „Hab ich bemerkt…,“ „Also…,“ es klang, als zündete sich Julian eine Zigarette an, „Was kann ich für dich tun, kleiner Bruder?“ David atmete tief ein und tief aus. Anscheinend hatte Julian gute Laune – ideale Voraussetzungen für einen schweren Schock. „Ähm…,“ machte David und schluckte zum hundertsten Mal an diesen Abend, „Hör zu, ich…hab dir was zu sagen…, Julian…,“ Sein großer Bruder schien zu stutzen. „Ja…?“, fragte er dann und klang beunruhigt, „Was issen los, Alter? Ist doch nix mit Mam oder Paps oder den Kleinen oder?“ „Nee!“, beeilte sich David zu betonen, „Mit denen ist alles in Ordnung, es geht…es geht um mich… Also… Ich hab’s den anderen auch schon gesagt. Und ich wollte…, dass du es auch…noch heute erfährst…,“ „Ja, dann spuck’s doch endlich aus, du Idiot!“ „Okay, ja. Okay. Also…,“ David holte Luft und fragte sich, wieso es beim zweiten Mal immer noch so schwierig war. Aber vielleicht machte auch hier Übung den Meister. „Julian, ich…ich bin…schwul.“ Stille schallte durch die Leitung. „Bist du noch dran?“, erkundigte sich David unsicher. „Äh… Ja…,“ sagte Julian, „Äh. Wow. Ich meine… Wow…,“ er räusperte sich, „Wow, David. Hast du…hast du dir das auch gut überlegt?“ Verständnislos runzelte David die Stirn. „Naja, irgendwie konnte ich mich nicht wirklich entscheiden, weißt du? Ich meine, es ist halt so…, wie es ist. Oder?“ „Mhm… Ja. Stimmt schon…,“ murmelte sein großer Bruder und dann, „Hey, ich weiß! Sascha ist dein Stecher, oder?“ „Ähm…,“ „Ich wusste es! Hee, das ist okay, ehrlich. Ich kann den Mistkerl gut leiden. Aber, Alter, denk immer dran: Verhütung ist das wichtigste!“ Der Impuls, durchs Handy zu kriechen und Julian zu erschlagen, kam ganz schlagartig. „Julian…!“ „Nee, mal ehrlich: Geschlechtskrankheiten! Du kannst zwar nicht schwanger werden, aber Geschlechtskrankheiten lauern heute überall!“ „Halt die Klappe!“, blaffte David und Julian lachte verwegen. „Also…,“ begann David nach einer kleinen Pause von neuem, „Du…du hast also kein Problem damit…?“ „Nö…,“ sagte Julian und schien an seiner Zigarette zu ziehen, „Es ist dein Leben. Solange du mir nix über Saschas Schw–,“ „Keine Sorge!“, unterbrach David ihn mit brennendem Kopf, „Das geht dich auch überhaupt nix an!“ „Stimmt…,“ kicherte sein Bruder, „Aber…David…?“ „Ja?“ „Danke, dass du…extra angerufen hast, um mir das zu sagen.“ „Kein Problem.“ Sie schwiegen ein paar verlegene Momente lang. In freundlicher Geschwisterliebe waren David und Julian nie besonders gut gewesen. Beschimpfungen funktionierten besser. „Okay…,“ sagte Julian dann zum Abschied, „Wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme, bring ich dir Kondome mit, damit du–,“ „Tschüss, Julian!“, brüllte David und legte auf. Dann warf er sich schamrot, aber breit grinsend rücklings aufs Bett. Er meinte, das dreckige Gelächter seines älteren Bruders bis in sein Zimmer hören zu können. Kapitel 36: Verliebt -------------------- Hallo Ihr :)! Willkommen zum 36. Kapitel von Mosaik! Heute werdet Ihr noch jemanden "Neues" genauer kennen lernen. Ich hoffe, Ihr mögt diese entzückende Figur so gern wie ich, sie bekommt auch noch einen Steckbrief :) Ach ja: Falls sich jemand wundert, wieso David unrealistisch viele positive Erfahrungen in Sachen Outing macht, liegt das schlicht daran, dass ich nach all dem Drama keine Lust hatte, noch mehr Drama zu schreiben. Und ein paar Erfolgserlebnisse hat David auf jeden Fall bitter nötig, finde ich ^-^ Kapitelwidmung: Für . Wie du mir, so ich dir ;) Habt viel Spaß beim Lesen und ein schönes Wochenende! Lung ____________________________________________________________________ David verlor keine Zeit. Nachdem er einige Male tief ein und aus geatmet hatte, legte er sein Handy beiseite und hob das schnurlose Telefon vor sein Gesicht. Die folgende Nummer kannte er ebenso auswendig wie die seiner eigenen Familie. Kein Wunder, er hatte sie bestimmt über hundert Mal gewählt. Und gerade deshalb…war es dieses Mal ebenfalls schwierig. Schwierig und bedeutsam. Und wichtig. Verdammt wichtig. Abermals schwang sich Davids armes, gebeuteltes Herz zu Höchstleistungen auf. Erneut füllte Nervosität und Aufregung die Stille im Zimmer. Aber David würde nicht kneifen. Er wollte nicht kneifen. Trotzdem bebten seine Finger ein wenig, als er sechs bestimmte Tasten auf dem Telefon drückte, die mit einem gedämpften Piepsen einrasteten. Bevor er den blauen Knopf betätigte, der die Verbindung herstellte, schloss er noch einmal kurz die Augen. Er erinnerte sich an Stunden und Tage im Kindergarten, in der Grundschule, in der Orientierungsstufe und dem Gymnasium. Immer und ständig waren sie zusammen gewesen. Hatten alles gemeinsam gemacht. Hatten Fußball gespielt, Hausaufgaben erledigt, waren in den Urlaub gefahren und zu ihren ersten Partys gegangen. Hatten sich alles erzählt. Bis David eines Tages beschlossen hatte, das größte Geheimnis seiner Existenz für sich zu behalten. Der größte Fehler seines Lebens. Noch größer als der Fehler, sich überhaupt auf Sven einzulassen. Aber damit war jetzt Schluss. Entschlossen presste David den Daumen auf die blaue Taste und lauschte mit hämmerndem Herzen den leisen Geräuschen, die das Wählen des Telefons begleiteten. Dann erklang das Freizeichen. David wartete. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. Vierund– „Mhm… Hallo?“ Obwohl er dies erwartet hatte, setzte Davids Herz einen Schlag aus. „H…Hey!“, brachte er atemlos hervor und hörte, wie seine Stimme zitterte, „Ich bin’s.“ „David…?“, brummte es am anderen Ende der Leitung. „Ja. Genau…,“ „Weißt du eigentlich, wie spät es ist, Mann?“ „Ähm…,“ David warf einen schuldbewussten Blick auf sein Handy, „Jaah… Es ist gleich halb eins.“ „Richtig. Und ich muss morgen um fünf hoch.“ „Ich weiß, sorry,“ antwortete David zerknirscht und dachte an Kenjis mörderische Frühschichtzeiten im Krankenhaus, „Tut mir echt Leid. Aber ich…ich muss dir dringend was erzählen…,“ „Jetzt?“, jammerte sein bester Kumpel und schien sich im Bett umzudrehen, „Hat das nicht Zeit bis morgen Nachmittag?“ „Nein. Hat es nicht.“ „Okay…,“ sagte Kenji gedehnt und war offenbar ebenso über die Festigkeit in Davids Stimme verwundert wie er selbst, „Dann…fang an. Ich höre zu und versuche, dabei nicht einzuschlafen.“ „Gut… Ähm. Danke…,“ Während David sich sammelte, gähnte Kenji mehrmals. „Also…,“ begann David dann zum dritten Mal an diesem Abend mit verkrampftem Magen, „Da ist etwas…, das du nicht über mich weißt… Also, noch nicht. Ich…hab’s dir nicht erzählt, weil ich…Angst hatte, dass du…,“ Er verstummte. Wie drückte man Weil ich Angst hatte, dass du dann nicht mehr mein Freund sein willst. so aus, dass es nicht schwul klang? Hahaha. Witzig. „…dass du…dann nichts mehr mit mir zu tun haben willst…,“ Davids Stimme erstarb erneut. Am anderen Ende herrschte dramatisches Schweigen. „Bist du noch wach?“, fragte er alarmiert. „Ja!“, sagte Kenji mit Nachdruck, „Natürlich. Ich…warte auf das dicke Ende. Obwohl ich… Nein, vergiss es…,“ „Was?“ „Naja, ich…ich denke, ich…weiß…, was du mir sagen willst…,“ Mit einem Schlag war Davids Kehle schrecklich trocken. „W…?“, machte er und sein Herz pochte unangenehm hart gegen seine Brust, „Wie…? Ich meine…, was…? Was…weißt du…?“ Kenji seufzte tief und erneut hörte David seine Bettdecke rascheln. „Also, ich denke, dass du…,“ Kenji zögerte, „Du…willst mir sagen, dass du…schwul bist, oder?“ Diesmal ging die dröhnende Stille von David aus. Fassungslos schloss er die Augen. Er konnte es nicht glauben. All die Jahre, all die Panik. Und sein bester Kumpel hatte es…wie seine Mutter…gewusst? „Wie lange…weißt du es schon?“, wisperte er schwach. Kenji seufzte abermals. „Schon ziemlich lange, ehrlich gesagt. So seit…vier Jahren oder so?“ „Vier?!“, keuchte David entsetzt, „Das kann unmöglich sein! Ich weiß es ja selbst erst seit zwei Jahren!“ „Ja, aber nur, weil du nicht darüber nachgedacht hast. Oder nicht darüber nachdenken wolltest, Mann!“, insistierte Kenji entschieden. „Ja, aber–,“ „Ich habe dich immer mit irgendwelchen Mädchen vollgetextet und du...hast irgendwie nie von Mädchen geredet und... Ach, ich weiß auch nicht...,“ Kenji machte eine Pause, während David dem tosenden Strudel in seinem Gehirn zusah, „Erst dachte ich, du willst mir nicht erzählen, auf wen du stehst, weil’s dir peinlich ist. Deshalb hab ich immer mehr von Mädchen geredet, damit du siehst, dass daran nix Peinliches ist. Aber dann…dachte ich, vielleicht interessieren dich Mädchen einfach nicht. Und da…blieb irgendwie nur die eine Alternative…,“ „Oh Gott…,“ murmelte David und strich sich mit seiner freien Hand über das Gesicht. „Tut mir echt Leid, dass das jetzt so kacke für dich ist. Aber ich…ich wollte dich nicht darauf ansprechen. Ich…hab gewartet, dass du zu mir kommst. Ich wollte dich nicht stressen. Und als dann das mit Sven passiert ist…,“ Zum zweiten Mal in den letzten paar Minuten erlitt David einen Schlaganfall. „Was?!“, ächzte er in den Hörer, „Du weißt von… Du weißt auch von Sven?!“ „Ähm… Ja, schon…,“ erwiderte Kenji und klang fast ein wenig verlegen, „Und…nicht nur ich…,“ David riss die Augen auf. „Was soll das denn heißen?“, japste er. „Naja… Wir…wir haben es irgendwie alle gewusst…,“ „Alle?!“ „Ja, also… David, wir…wir sind deine Freunde… Wir haben gemerkt, dass zwischen dir und Sven irgendwas…anders war als… Naja, als zwischen uns anderen und Sven. Du weißt schon…,“ David schloss die Augen wieder. Sein Inneres füllte sich mit Scham und Entsetzen und dem Gefühl, der größte Schwachkopf unter der Sonne zu sein. Es war alles vergeblich gewesen. All seine Bemühungen, nichts von dem Verhältnis, das er zu Sven gehabt hatte, nach außen dringen zu lassen. All seine Selbstbeherrschung in der Schule. Seine Freunde hatten es die ganze Zeit geahnt. Weil sie nicht so dumm waren, wie David gehofft hatte. „Oh Gott…,“ wimmerte er erneut, „Oh Gott o Gott…,“ „Blödsinn!“, unterbrach Kenji ihn laut, „Das ist doch überhaupt nicht schlimm. Wir haben dich nicht verurteilt oder so, wir…wir hätten uns nur gewünscht, dass du…mit uns darüber redest. Deshalb haben wir ständig das Thema auf irgendwelche schwulen Promipärchen gebracht, damit du siehst, dass wir…damit kein Problem haben… Erinnerst du dich daran?“ Das tat David. Plötzlich fielen ihm eine Menge peinlicher Gespräche in der Pausenhalle ein, die ihm damals den Magen umgedreht hatten. Seine Freunde hatten versucht, ihm eine Brücke zu bauen. Aber er…hatte geschwiegen. „Ich…fühl mich grad so was von blöd…,“ raunte David schuldbewusst, „Dass ich…ernsthaft geglaubt habe, dass ihr…nicht mehr länger…,“ Seine Stimme bröckelte, als abermals Tränen in seine Augen stiegen. Mit aller Macht hielt er sie zurück und setzte sich auf, um sie mit den Fingern energisch zurückzutreiben. „Tut mir leid…,“ schniefte er leise. „Hey, nicht doch…,“ sagte Kenji sanft und eindeutig besorgt, „Ich meine, ist dir klar, wie glücklich ich gerade bin? Du rufst mitten in der Nacht an, um mir die Wahrheit zu sagen. Zwei Jahre zu spät zwar, aber…das ist echt cool, Mann.“ David musste lachen, während er sich hektisch die Augen mit der Bettdecke abtupfte. So nah am Wasser gebaut war er noch nie gewesen. Langsam reichte es wirklich. Denn dies war kein trauriger Anlass. Es war ein fröhlicher. Und Kenji, sein bester und ältester Kumpel, freute sich wirklich über seinen Anruf. Allein das war der ganze Stress schon fast wert. „Es tat mir nur so leid, als…es mit Sven dann offensichtlich vorbei war,“ fuhr Kenji fort, „Ich meine, drei Monate lachst du ständig und strahlst und dann – einfach so – bist du völlig am Boden. Du hast dich zwar echt bemüht, es nicht zu zeigen, aber wir…haben es trotzdem bemerkt. Wir wollten dir alle helfen, aber du hast den Mund einfach nicht aufgemacht. Das war echt ätzend.“ David stöhnte. Auch das hatten sie mitgekriegt. Natürlich. Wie sollten sie auch nicht, verdammt nochmal? Schließlich hatte er sich wochenlang mit scheußlichem Liebeskummer in die Schule geschleppt. Er hätte wissen müssen, dass seine Freunde das nicht nicht bemerken konnten. Auch wenn er noch so gut geschauspielert hatte. „Immer wenn ich dich so traurig gesehen hab, hab ich gedacht: Los, geh hin. Sag ihm, dass du es weißt und dass du es völlig okay findest. Und dann heitere ihn auf,“ erzählte Kenji weiter und schien sich damit ebenfalls etwas von der Seele zu reden, „Aber ich hab mich nicht getraut. Ich…hatte auch Angst, weißt du? Es hätte ja auch sein können, dass das alles ein Missverständnis war oder so. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Und außerdem…war ich… Also, ich war deprimiert, weil du mir offensichtlich nicht vertraut hast und–,“ „Was?“, schnitt David ihm erschrocken das Wort ab, „Das…das stimmt nicht! Ich hab dir vertraut, ich wollte nur nicht, dass–,“ „Du hast mir nicht vertraut, David,“ stellte Kenji mit bitterer Stimme fest, „Wenn du mir vertraut hättest, hättest du darauf vertraut, dass ich dich so akzeptiere wie du bist. Aber das hast du nicht. Du hast allen Ernstes geglaubt, dass es für mich einen Unterschied machen würde, ob du jetzt schwul bist oder hetero oder was auch immer.“ Er verstummte. Und David begriff, dass er seit zwei Jahren einen Menschen verletzte, der ihm ebenso wichtig war wie Sascha. Niemals hatte er sich in seinem Kummer die Mühe gemacht, sich in die Lage seiner Freunde hinein zu versetzen. Er hatte nur auf sich und seine Angst und seine Trauer geachtet. Und dabei vollkommen übersehen, dass sein bester Kumpel die ganze Zeit mit ihm gemeinsam gelitten hatte. Dieser Gedanke schlug ein weiteres schmerzhaftes Loch in den Panzer, den David sich in den letzten zwei Jahren aufgebaut hatte. „Kenji…,“ wisperte David verzweifelt und schluckte, „Das…das wollte ich nicht. Ehrlich. Es tut mir leid, dass ich…dir nicht vertraut hab…,“ „Schon gut…,“ murrte sein bester Kumpel durch die Telefonleitung, die sie trotz körperlicher Entfernung für den Moment miteinander verband, „Ich…ich bin eigentlich gar nicht wütend auf dich. Nicht mehr, jedenfalls. Ich kann mir vorstellen, wie schwer das alles für dich gewesen ist. Aber damals… Boah, war ich wütend! Ich war wütend auf dich, weil du nicht mit mir geredet hast. Und wütend auf mich, weil ich mich nicht getraut habe, dich einfach darauf anzusprechen. Und ich war so wütend auf Sven, weil der an allem Schuld war und nen Keil zwischen dich und mich getrieben hat. Dieser verdammte Wichser!“ Den letzten Satz sprach sein bester Kumpel mit so einem Abscheu aus, dass David beinahe die Kinnlade auf die Brust sackte. In seinem Kopf klingelte es, als es ihm zu dämmern begann, dass Kenji auch das letzte Puzzleteil seiner Beziehung mit Sven kannte. „Du…du weißt auch, wieso…das mit mir und Sven vorbei ging…?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Und Kenjis Stöhnen räumte den restlichen Zweifel fort. „Ja. Schon. Wir…haben uns Sven gegriffen, als wir bemerkt haben, wie schlecht es dir ging. Und haben ihn ausgequetscht, bis er uns die Wahrheit sagte. Gott, er sprach darüber, als wäre es…als wäre es nix. Ich war auf Hundertachtzig und hab ihm gesagt, dass er sich von dir fern halten soll, wenn er nicht will, dass ich meine Karateübungen an ihm durchführe.“ Fassungslos starrte David auf das Stück Papierkorb, das aus dem finsteren Schatten seines Schreibtisch hervor lugte. Plötzlich verstand er, wieso Sven nie wieder ein Wort mit ihm gesprochen hatte. Mit Kenjis Karatekünsten war nicht zu spaßen. Er hatte die ganze Zeit gedacht, dass Sven nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, weil er, David, einen Fehler gemacht hatte. Er hatte darauf gewartet, dass Sven auf ihn zukam. Aber das war er nicht und nur deshalb hatte David es letztendlich geschafft, sich von ihm abzukapseln und seinen Liebeskummer in Zorn umzuwandeln. Geblieben…war nur der verzweifelte Wunsch, nie wieder von einem anderen Mann verletzt zu werden. Etwas, das ihm nun…ziemliche Probleme bereitete. „Wieso hast du mir das nicht gesagt?“, wollte David wissen. „Was?“, fragte Kenji mit ironischem Unterton zurück, „Dass ich ihm gesagt habe, er solle sich verpissen? Wie denn bitte? Hey, David. Offiziell weiß ich zwar gar nicht, dass zwischen dir und Sven irgendwas war, aber ich hab ihm trotzdem gesagt, er soll dir nie wieder zu nahe kommen. Nur so als Info. So etwa?“ David schnaubte und musste fast ein bisschen lachen. „Nee, hast schon Recht… Entschuldige die idiotische Frage. Es ist nur, dass…,“ „Was?“ „Dass ich…immer noch an ihn denken muss. Was, wenn ich immer noch verliebt in ihn bin?“ „Nein!“, erwiderte Kenji sofort und klang schockiert, „Bestimmt nicht! Oder…meinst du wirklich? Das wär ja grässlich…,“ „Eben!“ „Aber das glaube ich nicht, Mann. Ehrlich nicht,“ betonte Kenji, „Ich denke eher, dass du einfach noch nicht vollständig mit ihm abgeschlossen hast.“ „Aber das muss ich unbedingt!“, entgegnete David sterbenselend, „Denn ich… Ich meine, da ist…,“ „Was?“, erkundigte sich Kenji zum dritten Mal. David seufzte tonnenschwer und fällte dann eine weitere Entscheidung. „Ich vertraue dir. Das tu ich wirklich. Und deshalb…erzähle ich dir jetzt etwas, was bisher nur meine Familie weiß…,“ „Okay…,“ „Da…,“ David räusperte sich und musste gleichzeitig über die aufrichtige Neugier in Kenjis Stimme lächeln, „Da…ist jemand…äh…in meinem Leben, der…ähm… mir…wichtig ist…,“ „Oho!“, machte Kenji interessiert, „Ein Kerl etwa? Natürlich, blöde Frage. Und weiter? Bist du verliebt?“ „Nein!“, erwiderte David sofort und schüttelte den Kopf, „Es ist nur, dass er und ich…,“ „Warte, warte…,“ hörte er Kenji am anderen Ende der Leitung murmeln, „Ich hol mir noch ‘n Kissen. Und dann erzähl mir alles. Von Anfang an. Gut, ich hab eins. Alles klar. Leg los.“ „Von Anfang an…?“, echote David, „O…Okay. Ja, also… Es begann, glaub ich, alles Anfang September… Da ist er als neuer Zivi zu uns gekommen. Er heißt übrigens Sascha.“ „Sascha…?“, wiederholte Kenji und gluckste, „Das ist mit Abstand der schwulste Name, den ich kenne. Abgesehen von Detlef und René.“ „Haha,“ machte David tonlos und peinlich berührt, „Willst du die Geschichte jetzt hören oder nicht?“ „Ja, Entschuldigung. Bitte, mach weiter.“ „Okay…,“ David holte tief Luft und fing an zu erzählen. In den nächsten zwanzig Minuten erlebte er seine und Saschas Geschichte ein zweites Mal: Er wurde von dem frisch eingezogenen Mr. Obercool aus seinem Zimmer ausquartiert und von Dings nackt im Türrahmen begrüßt. Er schmiss Sascha wutentbrannt zur Tür hinaus, nachdem der ihn bedrängt hatte. Er bewarf ihn mit Äpfeln, er beschmierte ihn mit Kükeninnereien und beleidigte ihn fortwährend, weil Sascha ihn so entsetzlich nervte. Er fuhr übers Wochenende nach Hause und vermisste ihn plötzlich. Er war verletzt, als er hörte, dass Sascha mit Jessika geschlafen hatte und versuchte, nicht an Sven zu denken. Sie telefonierten, sie aßen gemeinsam, sie sangen zusammen Stille Nacht, heilige Nacht, sie kifften und knutschten. Sie redeten und lachten eine ganze Nacht lang miteinander, schliefen in einem Bett und küssten sich immer, wenn sich eine unbeobachtete Gelegenheit bot. David nahm Sascha mit nach Hause, ohne seine Familie darüber aufzuklären, was er mit ihm teilte. Sie machten rum, sie verletzten einander, sie versöhnten sich wieder. Und schließlich stritten sie schrecklich und David begriff, dass es so nicht weiter gehen konnte. Kenji machte seine Aufgabe sehr gut. Er hörte zu und fluchte, lachte, seufzte und ächzte an den richtigen Stellen. Als David schließlich mit rauer Stimme endete, schwieg sein bester Kumpel nachdenklich. „Mhm…,“ brummte er und David nickte. Er fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Irgendwie hatte er seine und Saschas Geschichte nicht ganz so aufregend in Erinnerung, wie sie ihm gerade erschienen war. So viele Ups und Downs, so viele anstrengende Gefühle. Wie hatte er das die ganze Zeit nur durchgehalten? Und immer war Sven in seinem Hinterkopf gewesen, vom Anfang bis zum Ende. Allgegenwärtig wie ein Schatten hatte er auf Saschas und seiner Beziehung gelegen und ihr wohlverdientes Happy End verhindert. „Und nach eurem Streit bist du gleich nach Braunschweig gefahren, um dich vor deiner Familie und mir zu outen?“, erkundigte sich Kenji, „Das find ich echt romantisch, Mann.“ „Naja, ich…wollte was ändern, weißt du? Nicht mehr nur rum labern, sondern was machen. Denn ich…ich will ihn wirklich, Kenji.“ „Mhm…,“ machte sein bester Kumpel erneut, „Du…willst ihn, ja?“ „Ja.“ „Und du…bist dir sicher, dass das…alles ist?“ David stutzte. Sein müder Verstand wankte ratlos auf der Stelle. Er verstand nicht, worauf Kenji hinaus wollte. Aber seine Tonlage wies deutlich daraufhin, dass da offensichtlich unbedingt noch mehr war. Etwas, das David mal wieder übersah. „Was…meist du damit?“, fragte David nervös. Kenji stöhnte. „Ach, David!“, blaffte er, „Willst du mich verarschen? Oder bist du wirklich so ein Trottel?“ Der Angesprochene blinzelte gequält. „Hey, sei nicht so streng zu mir,“ jammerte er, „Ich mach das nicht mit Absicht. Außerdem… gewöhn ich mich langsam daran, ein Trottel zu sein…,“ Kenji gluckste belustigt. „Also gut. Wenn du es echt nicht weißt, dann muss ich es dir eben sagen,“ er holte tief Luft und vor Angst schrumpfte Davids Herz auf die Größe einer Haselnuss, „David…,“ sagte Kenji mit bedeutungsschwangerer Stimme, „Du bist total in Sascha verliebt.“ Diesmal sackte David die Kinnlade tatsächlich auf die Brust. „Was…?“, hauchte er, „N… Nein, das…das kann nicht sein…,“ Kenji begann zu lachen. Ausgesprochen spöttisch. „Und ob du in Sascha verliebt bist, Alter! So was von dermaßen, das gibt’s gar nicht. Mein Zimmer ist voller herzförmiger Seifenblasen. Du hättest dich grad mal hören sollen, wie du geschwärmt hast. Wie ein kleines Schulmädchen: Sascha ist sooo toll, Kenji! Und er ist so witzig und nett und er küsst so gut und riecht so gut und überhaupt ist er ein Gott unter den Menschen!“ Alles in Davids Kopf drehte sich. Alles in seinem Inneren drehte sich. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn Kenjis nervigem Monolog Gehör schenken. Sein Herz tanzte und wedelte mit diesen plüschigen Bällen, die die Cheerleader in den amerikanischen Filmen immer benutzten. In goldfarbenen Lettern buchstabierte es ein Wort vor Davids inneres Auge: Verliebt. Grundgütiger Gott… Er hatte es doch kommen sehen. Wie hatte er es dann…vergessen können? Denn dies war die Antwort, nach der er gesucht hatte. Die Antwort auf sein Benehmen und alle seine Handlungen und Fragen. Die Erklärung für all diese Gefühle, die seit Wochen in seinem Bauch und seinem Kopf und seinem Herzen Purzelbäume schlugen. Diese Empfindung hatte einen Namen: Er war verliebt. Verliebt in Sascha. „Oh mein Gott…,“ krächzte er, als ihm die Ausmaße dieser Erkenntnis klar wurden, „Ich…ich bin…in Sascha…verliebt…,“ „Aber hallo!“, rief Kenji begeistert durch den glitzernden Nebel in Davids Kopf, „Du siehst es ein! Großartig! Ich würd ja einen kleinen Tanz aufführen, aber ich hab’s hier grad so schön warm und bequem.“ „Das…das ist eine…Katastrophe…,“ hauchte David panisch. „Wie bitte?!“, meinte sein bester Kumpel empört, „Was soll das denn heißen?“ „Kenji, ich…ich darf nicht in Sascha verliebt sein.“ „Wieso das denn nicht?“ „Weil ich… Weil er…,“ krampfhaft suchte David nach Worten, die ihm die Kehle abzuschnüren drohten, „Weil er…meine Gefühle doch niemals erwidern wird…,“ Während es am anderen Ende schwieg, verlor David fast die Fassung. „Kenji!“, fauchte er, „Sag irgendwas!“ „David…,“ Kenjis Stimme klang eisig, „Das…ist doch wohl nicht dein Ernst…?“ „Was…?“ Sein bester Kumpel seufzte tief. „David. Mann. Beruhige dich. Ich mach’s ganz langsam, okay? Aaalso… Er schläft mit dir in einem Bett. Er knutscht dich, wann immer er kann. Er gibt dir Kosenamen. Er überschüttet dich mit Komplimenten. Er reißt sich das Herz heraus, um mit deiner Familie gut auszukommen. Deine Mutter sagt, er sieht dich an, als wärst du ein Engel. Er verzeiht dir alle deine Macken und erträgt es sogar, wenn du ihn verletzt. Er wird eifersüchtig, wenn dich ein anderer anbaggert. Er flippt aus, weil du in der Öffentlichkeit nicht zu ihm stehst…,“ Kenji schnaubte, „Ich könnte noch ewig weitermachen…,“ Irgendwo in David schluckte es. „Wenn du alles so zusammen sagst, komme ich mir dämlich vor…,“ „Du bist auch dämlich, Mann!“, heulte Kenji, „Wie kannst du nur glauben, dass es ihm nicht genauso geht? Natürlich geht es ihm genauso! Der ist bis über beide Ohren verliebt in dich, Alter. Was meinst du, was er dir Montagnacht sagen wollte? Natürlich wollte er dir seine Gefühle gestehen. Aber wahrscheinlich hat er sich dann doch nicht getraut, weil du deiner Familie nichts von ihm erzählt hast. Und dann all die Dinge, die er bei eurem Streit gesagt hat: Wie glücklich er war, als ihr euch so nahe gekommen seid. Und dass er dachte, das mit euch beiden wäre eigentlich schon längst offiziell. Und dass er jedes Mal, nachdem du ihm wehgetan hast, wieder angekrochen kommt. Und überhaupt, dass du ihn so sehr verletzten konntest. Menschen, die einem schnurzpiepegal sind, können einen nicht so verletzten, wie du Sascha verletzt hast.“ David war schwindelig. Seine Synapsen gingen nahezu in Flammen auf, als sich sämtliche Informationen und Worte und Verhaltensweisen gleichzeitig zusammen setzten und mit einem Mal Sinn ergaben. Ein Glücksgefühl machte sich in David breit. So stark, wie er es nie zuvor empfunden hatte. Es raubte ihm die Luft zum Atmen. Scheiße. Er war wirklich dumm. Dumm und blind. Wie hatte er es nicht bemerken können? Wie hatte er nicht bemerken können, dass er und Sascha schon seit Wochen ineinander verliebt waren? Als er diese Frage mit bebender Stimme an Kenji richtete, seufzte der abermals. „Naja… Ich weiß es natürlich nicht genau, aber ich denke, dass das tatsächlich auf Sven zurückgeführt werden kann. Er hat deine Gefühle nicht erwidert und dich betrogen, wodurch du gelernt hast, dass du es nicht wert bist, geliebt zu werden. Du gehst also automatisch davon aus, dass sich niemand in dich verlieben kann, was selbstverständlich nicht stimmt. Aber um dieser vermeintlichen Wahrheit halt auszuweichen, hast du mit aller Macht vermieden, dich in jemand anders zu verlieben, beziehungsweise einfach zu akzeptieren, dass du’s schon lange Zeit bist. Und ich denke, hier liegt auch der Grund, weshalb du es so eilig hattest, mit Sascha…naja…in die Kiste zu kommen. Du dachtest, dass du den Kerl, den du magst, nur mit Sex halten kannst. Was übrigens ebenfalls Blödsinn ist. Wie Sascha ja auch bewiesen hat. Weil er halt nicht nur Sex von dir will.“ „Mein Gott…,“ wimmerte David. „Das ist Psychologie, Alter.“ „Ich hatte ja keine Ahnung, wie verkorkst ich bin…,“ Kenji kicherte. „Wir sind alle irgendwie verkorkst. Und du hast wirklich die volle Breitseite bekommen.“ „Und jetzt hab ich die volle Breitseite gegeben…,“ murmelte David und in sein Hochgefühl mischte sich wieder die Reue, „Ich war so besessen von dem Gedanken, nicht mehr verletzt zu werden, dass ich selbst verletzt hab. Ich wollte nicht riskieren, dass mir erneut jemand das Herz bricht. Und jetzt…,“ von Grauen gepackt schnappte er nach Luft, „Meinst du, ich habe Sascha das Herz gebrochen?“ „Nein, das denke ich nicht,“ beruhigte Kenji ihn, „Noch nicht, jedenfalls. Wahrscheinlich hast du es nur etwas verbogen. Noch ist es also nicht zu spät.“ „Und was soll ich jetzt tun?“, fragte David hysterisch, „Wie kann ich mir sicher sein, dass ich mich von Svens Einfluss befreit habe? Was, wenn ich trotz allem immer wieder die gleichen Fehler mache und Sascha wegen irgendwelchem Scheiß verletze? Was, wenn er mal mit irgendnem Anderen redet und ich gleich durchdrehe, weil ich denke, dass er mich vielleicht betrügen könnte?“ Kenji schnalzte nachdenklich mit der Zunge. „Ja… Das ist ne gute Frage. Mal abgesehen davon, dass es durchaus okay ist, mal eifersüchtig zu sein, und vorangegangene Beziehungen uns immer irgendwie beeinflussen, solltest du natürlich völlig mit Sven abschließen, bevor du dich an eine neue Beziehung wagst. Mhm… Sag mal… Weißt du noch, was ich damals gemacht habe, um mit Theresa abzuschließen?“ Äh, ja…,“ antwortete David langsam, „Du bist zu ihr nach Magdeburg gefahren und hast mit ihr – Moment mal! Du…du willst mir doch nicht etwa vorschlagen, mit Sven Kontakt aufzunehmen und mit ihm zu reden?!“ „Wieso nicht?“, erkundigte sich Kenji laut über Davids Protestgeräusche hinweg, „Dann könntest du herausfinden, was du tatsächlich für ihn fühlst und–,“ „Und was, wenn ich plötzlich denke, dass Sven meine große Liebe ist und ich ihn zurückhaben will?!“ „Blödsinn!“, rief Kenji entnervt, „Red doch nicht so einen Scheiß, Alter! Du bist nicht mehr in Sven verliebt, glaub mir. Und eigentlich weißt du das auch ganz genau. Das, was dich an ihm festhält, sind nur irgendwelche Erinnerungen. Also musst du vielleicht den Kreis schließen, weißt du?! Ihn ansehen und mit ihm sprechen, damit auch der letzte Teil von dir checkt dass Sven ein Vollidiot ist, mit dem du nie wieder irgendwas zu tun haben willst.“ David verzog das Gesicht und schluckte. Allein die Vorstellung, nach zwei Jahren wieder vor Sven zu stehen und ihm in die Augen zu sehen, drehte ihm vor Entsetzen den Magen um. „Aber ich…ich weiß doch gar nicht, wo er jetzt wohnt…,“ wandte er mit beklommener Stimme ein; im Bestreben, Kenji einen plausiblen Grund zu liefern, wieso er unmöglich mit Sven reden konnte. Zu Davids Schrecken ging der Versuch jedoch nach hinten los. „Na und? Ich weiß auch nicht, wo er wohnt. Aber dafür weiß ich, wo er Praktikum macht. Nämlich in der Autowerkstatt seines Onkels. Und die ist da beim Joker.“ „Woher…weißt du das…?“, quiekte David verzweifelt. „Weil ich letztens mit meinem Vater da war, um unser Auto abzuholen. Und da hab ich ihn zufällig getroffen.“ „Oh mein Gott…,“ „Du sagst es. Wir waren beide nicht erfreut, den anderen zu sehen.“ „Das meine ich nicht…,“ krächzte David, während schreckliche Visionen seinen Kopf füllten, „Kenji, ich…,“ „Was?“ „Ich glaube nicht, dass ich das kann…,“ Kenji stieß einen neuerlichen Seufzer aus, der jedoch eher mitfühlend als verächtlich klang. „Verstehe… Willst du… Ich meine, soll ich vielleicht mitkommen?“ David schluckte trocken, während sich der bohrenden Angst in seinem Magen ein bisschen Hoffnung und Erleichterung hinzu gesellten. „W…Würdest du?“, wisperte er und hasste sich für den piepsigen Tonfall, den seine Stimmbänder – gegen seinen ausdrücklichen Willen! – angeschlagen hatten. „Sicher,“ erwiderte Kenji und David konnte das Schmunzeln in seiner Stimme auch durch die Telefonleitung hören, „Wenn du möchtest, mach ich das gern. Ich arbeite morgen bis 14 Uhr und – soweit ich mich erinnere – hat die Werkstatt bis sieben auf. Wir könnten Sven Feierabend abfangen, dann müssen wir ihn nicht bei der Arbeit stören.“ „Und du könntest dich vorher noch mal hinlegen, weil heute Nacht jemand angerufen und dich um deinen wohlverdienten Schlaf gebracht hat,“ fügte David schuldbewusst hinzu. „Genau!“, antwortete Kenji heiter und raschelte mit seiner Bettwäsche, „Was sagst du also?“ David biss sich fest auf die Unterlippe und seine bereits leicht schmerzenden Finger krampften sich um das Telefon in seiner Hand. Sein Magen rumorte. Sven gegenüber treten. Mit ihm sprechen. Seinem fleischgewordenen Alptraum ins Gesicht sehen. Seinen alten, verkorksten und selbstzerstörerischen Gefühlen die Stirn bieten. Konnte sich David etwas Schlimmeres vorstellen? Nein. Selbst ein T-Shirt mit der Aufschrift Ich bin schwul! in einer Kneipe voller homophober Faschisten zu tragen, erschien ihm erstrebenswerter. Andererseits…er war nun schon so weit gekommen. Dies war der letzte Schritt, der ihn von Sascha trennte. Die Chance, endlich vollständig mit Sven abzuschließen und sein neues Ich zu begrüßen, an der Seite des Mannes, in den er jetzt schon seit Ewigkeiten unwissend verliebt war. Und Kenji würde bei ihm sein. Sein bester Kumpel, den er seit dem Kindergarten kannte, der ihm mitten in der Nacht zugehört und ihn beraten hatte, obwohl er morgen früh um fünf aufstehen musste. Und Kenji hatte Recht. Das, was David an Sven fesselte, waren nur irgendwelche Erinnerungen aus der Vergangenheit. Sascha war die Gegenwart und – mit ein wenig Glück – auch die Zukunft. Also holte David tief Luft, kämpfte seine aufsteigenden Urängste nieder und räusperte die Schwäche in seiner Stimme fort. „Okay,“ sagte er atemlos, „In Ordnung. Wir machen es.“ „Jippieh!“, sagte Kenji enthusiastisch und lachte, „Sehr gut! Ich bin richtig stolz auf dich, mein Junge! Okay. Ich würde sagen…, wir treffen uns…zehn vor sieben an der Bushaltestelle beim Joker. Wie heißt nochmal die Haltestelle?“ „Cyriaksring, glaub ich…,“ murmelte David nervös und versuchte, nicht an den nächsten Tag, 19 Uhr zu denken. „Gut. Dann da. Um zehn vor sieben. Und mach dich bis dahin nicht verrückt, Alter. Denk immer daran, wofür du dir den ganzen Stress machst.“ David nickte schwach. „Ja…,“ sagte er matt, „Ja, ich versuch’s…,“ Er warf einen Blick auf sein Handy. Inzwischen war es Viertel vor zwei. Kenji gähnte demonstrativ in seinen Telefonhörer hinein. „Du hast Recht,“ schmunzelte David, „Ich sollte dich jetzt schlafen lassen. Sind ja immerhin noch drei Stunden. Vielen Dank…, dass du dir soviel Zeit für mich genommen hast,“ fügte er verlegen hinzu. „Ehrensache, Mann,“ antwortete Kenji, „Wir sehen uns morgen, ne?!“ „Ja. Das tun wir. Bis dann. Schlaf gut.“ „Du auch. Und träum was Schönes.“ David schnaubte angesichts Kenjis obszönen Kicherns. „Danke,“ brummte er, „Du auch. Tschüss.“ „Tschüss, Alter.“ David legte auf. Seine Finger waren verkrampft, seine Handfläche verschwitzt und sowohl sein Arm als auch sein rechtes Ohr schmerzten vom langen Telefonieren. Die plötzliche Stille in seinem Zimmer erschreckte ihn ein wenig. Langsam legte er Telefon und Handy auf seinen Nachttisch, knipste die Lampe aus und rollte sich unter der dunklen, beruhigenden Fittiche der Nacht im Bett zusammen. Gott. Was für ein Tag. Was für Erkenntnisse, was für Wahrheiten und Veränderungen. Es war nicht zu fassen, was er heute für einen Erfolg erzielt hatte. Vielleicht nicht für die Weltbevölkerung, aber definitiv für sich selbst. Er war heute über sich selbst hinaus gewachsen. Er hatte seinen Mount Everest bestiegen. Und das alles nur, weil er in Sascha verliebt war. Daher kam wohl auch dieser Spruch: Liebe kann Berge versetzen. In diesem Fall war er, David, der Berg. Versteinert und unbeweglich. Aber nun… Tja. Wer hätte wohl gedacht, dass sich dieser Tag, der so schlecht begonnen hatte, noch so sehr wandeln würde? Vielleicht sogar zum wichtigsten Tag seines Lebens werden würde? David jedenfalls nicht. Fast war es zu viel für ihn. Eigentlich rechnete er fest damit, nicht einschlafen zu können und unter endlosen Grübeleien und verzehrender Aufregung bis zum Morgen wach zu liegen. Doch stattdessen schlief er beinahe auf der Stelle ein. Und er hatte tatsächlich sehr schöne Träume. Kapitel 37: Mutig ----------------- Hi Ihr Lieben :)! Es geht endlich weiter mit Mosaik und dem lääääängsten Kapitel, das ich je geschrieben habe^^. Ich hoffe, es gefällt Euch und Ihr findet den Tathergang verständlich und nachvollziehbar. Ich tus auf jeden Fall ;) Jetzt viel Spaß beim Lesen und im nächsten Kapitel - das verspreche ich - gibt's endlich auch wieder Sascha für alle und dazu eine ordentliche Portion Friede, Freude und Eierkuchen :) Liebste Grüße und Danke für all die lieben Kommentare zum letzten Kapitel, Lung ____________________________________________________________________ Im Bus war es voll und stickig und auf eine irgendwie klebrige Weise warm. Es roch nach nassem Hund, menschlichem Schweiß und ungewaschenen Klamotten, nach Kälte und Regen. Irgendwo weiter hinten weinte ein Baby. Und vor dem Fenster zog die nasskalte, teilweise erleuchtete Stadt vorbei, die in der Novembernacht deprimierend trist und grau aussah. Als sich der junge Mann neben ihm, der penetrant nach Zigarettenrauch stank und sich unerträglich laute Musik durch seine Ohrstöpsel ins Hirn pumpte, gegen ihn lehnte, um nach seinem MP3-Player zu tasten, erinnerte sich David daran, dass er eigentlich überhaupt nicht gern Bus fuhr. Er mochte es nicht, so eng mit fremden Menschen zusammengepfercht zu sein. Die Enge, der allgegenwärtige Stress, der Geruch und die immer gleiche Frauenstimme, die gefühlskalt und technisch die Haltestellen durchsagte, nervten ihn. Im Zug konnte er sich entspannen. Einen Bus wollte er möglichst schnell wieder verlassen. Heute ganz besonders. Er konnte nicht fassen, wie schnell der Tag vergangen war. Wie im Flug, wie im Schlaf. Obwohl er doch die Zeiger aller Uhren im Haus angefleht hatte, langsamer zu ticken. Doch offenbar waren sie taub für die Gebete eines einzelnen Menschen, der sich davor graute, in das Angesicht seines Ex-Freundes zu blicken. Nachdem ihn sein Vater um zehn Uhr geweckt hatte, hatte David noch neun Stunden vor sich gesehen. Neun herrliche Stunden, die ihn von der Begegnung mit seinem persönlichen Alptraum trennten. Dann war es plötzlich Mittag geworden und seine Mutter kochte und teilte ihm mit, dass sie morgens im Tierschutzzentrum angerufen hatte, um Bettina darüber zu informieren, dass David zu Hause war und nicht zur Arbeit kommen würde. Dann war Marisa von der Schule gekommen und war vor Freude, David so unvermittelt in der Küche vorzufinden, schier ausgeflippt. Sie hatte sich an ihn geworfen, als wäre er ein Kletterbaum, und hatte ihn erst am Nachmittag wieder losgelassen, nachdem er ihr bei den Hausaufgaben geholfen und eine Weile ihren selbstgemachten Weihnachtskalender bestaunt hatte. Natürlich hatte sie auch nach Sascha gefragt und beinahe wäre David vor Sehnsucht, Reue und Angst ins Bett gegangen, um zu weinen. Und dann – gefühlte fünf Minuten später – war er mit wackligen und mutlosen Knien zur nächsten Bushaltestelle gewankt und in diesen Bus eingestiegen, der ihn auf direktem Weg zum Cyriaksring bringen würde. Inzwischen fühlte er sich einfach nur miserabel. Er hatte Angst. Seine Handflächen waren feucht, sein Herz trommelte schmerzhaft gegen seine Rippen, sein Magen rumorte und verkrampfte sich andauernd. Und mit jedem Meter, den der vollgestopfte Bus zurücklegte, stieg Davids Unruhe noch weiter. Der einzige Trost, den er hatte, war der Gedanke daran, dass Kenji an der Haltestelle auf ihn warten würde. Aufgedreht und zuversichtlich und mutig. Und dahinter konnte er Sascha sehen. Seinen Sascha, der im Zentrum auf ihn wartete und der keine Ahnung hatte, was David hier in Braunschweig tat. Für sich, für ihn, für sie beide. David schloss die Augen und versuchte, den stechenden Zigarettengeruch von rechts auszublenden. Er dachte an Sascha. An sein strahlendes Lächeln und seine funkelnden Augen. Er konnte sein Gesicht vor sich sehen, todtraurig und himmelhochjauchzend. Er stellte sich vor, wie er heute Abend ins Zentrum zurückfahren würde. Wie er Sascha umarmen und küssen würde. Wie er ihn die ganze Nacht lang nicht loslassen würde. Alles wird gut, beruhigte er sich immer wieder und begann sich sogar zu glauben, Alles wird gut. Du wirst schon sehen. Alles wird gut. Als der Bus dann jedoch am Cyriaksring hielt, war es mit Davids Glaube auch schon wieder vorbei. Mit zitternden Knien stand er auf und stolperte mehrmals über fremde Füße, die ihm auf dem Weg zu den Bustüren in die Quere kamen. Die kalte, frische Luft draußen war eine Erleichterung für sein hämmerndes Herz und seinen hochroten Kopf. „Yo, yo, yo!“, begrüßte ihn sogleich eine grinsende Gestalt mit Kapuzenpulli und erhob sich von der Sitzbank unter dem Haltestellendach, „Ich war mir bis eben nicht ganz sicher, ob du auftauchen würdest. Aber da bist du.“ „Hey, Kenji…,“ krächzte David, „Mir ist so schlecht…,“ „Ach was!“ Kenji kam strahlend auf ihn zu und umarmte ihn wie einen lange im Krieg verschollenen Sohn. David ließ sich gegen ihn fallen und vergrub sein Gesicht kurz an seiner Schulter. „Das wird ein Kinderspiel, kein Problem,“ sein bester Kumpel tätschelte ihm den Hinterkopf, „Mach dir keine Sorgen.“ David brummte unverständlich und ließ Kenji los. „Bringen wir es hinter uns…,“ murmelte er und schluckte, „Wenn wir zu lange warten, dreh ich bestimmt durch und laufe so schnell ich kann.“ Kenji lachte und während der Bus seinen Fahrplan wieder aufnahm und losrumpelte, wandten sie sich um und machten sich auf den Weg in Richtung Autowerkstatt und Sven. „Hach, ich bin den ganzen Tag schon total aufgeregt,“ erklärte Kenji heiter und stupste David leicht von der Seite an, „Konnte mich kaum auf die Arbeit konzentrieren. Das wird ein Fest, Alter. Hinterher wirst du dich fühlen wie neugeboren.“ „Hoffentlich…,“ zweifelte David und bemühte sich, nicht endgültig in Panik zu verfallen, „Im Moment fühl ich mich noch beschissen.“ „Das wird vorbei sein, sobald du vor ihm stehst und bemerkst, wie klein und hässlich er eigentlich ist. Hier rein.“ Sie bogen in eine Seitenstraße ein. Die paar Bäumchen am Straßenrand raschelten in der winterlichen Brise und sprühten Regentropfen auf sie hinunter. Außer ihren Schritten war nur der rauschende Verkehr von der Hauptstraße zu hören. David atmete angestrengt tief und entspannt. Um seine zitternden Hände zu verbergen, steckte er sie in die Hosentaschen. „Wie läuft‘s eigentlich bei dir?“, fragte er, um sich abzulenken und weil ihm auffiel, dass sie gestern Nacht nur über ihn und seine Wehwehchen gesprochen hatten, „Gibt’s was Neues bei dir?“ „Mhm, nein…,“ antwortete Kenji prompt, „Nichts besonderes jedenfalls. Also… Naja, ich…ich denke, ich verknalle mich grad in eine Krankenschwester im Krankenhaus.“ Überrascht drehte David den Kopf und musterte seinen besten Kumpel, der mit gesenktem Blick neben ihm ging und verlegen zu schmunzeln schien. „Ach ja?“, sagte er interessiert, „Erzähl mal mehr.“ „Also… Naja, wie gesagt… Sie ist Krankenschwester auf der Station, wo ich arbeite. Sie ist nett und klug und wir verstehen uns gut, aber…da gibt es leider ein Problem…,“ „Und das wäre?“ „Sie ist vierundzwanzig. Also fünf Jahre älter als ich und ich glaube, sie hält mich noch für ein Kind. Und deshalb weiß ich nicht, ob sie…ob sie mich so sehen kann, wie ich sie sehe. Verstehst du? Ich versuch schon ne Weile, mir das klar zu machen, aber ich kann irgendwie an nichts anderes denken als an sie. Sie ist so richtig cool, David. Hat Köpfchen und Charakter und lässt sich auch von dem fiesen Oberarzt nicht einschüchtern. Ich steh echt total auf sie…,“ Kenji verstummte. „Mhm…,“ machte David nachdenklich und durchforstete sein Hirn nach einem Rat, den er seinem besten Kumpel geben konnte – das war das Mindeste nach der gestrigen Telefonberatung, „Kannst du…ihr nicht irgendwie beweisen, dass du kein Kind mehr bist? Ich meine, wenn sie lernt, dich anders zu sehen, dann würde sie vielleicht–,“ „Hab ich auch schon überlegt,“ schnitt Kenji ihm das Wort ab und zuckte die Schultern, „Aber bisher ist mir noch keine möglichst männliche Heldentat eingefallen, mit der ich sie beeindrucken könnte. So, da sind wir.“ David blieb stocksteif stehen. Kenjis Erzählungen hatten ihn tatsächlich sehr gut abgelenkt. So gut, dass er die bunten Lichter der Autowerkstatt glatt übersehen hatte. Aber nun lag sie direkt vor ihm: Mehrere graue Gebäude mit flackernden Logos und einem großen Hof, auf dem vier Autos standen. Schlagartig war der drohende Abgrund in Davids Innerem wieder da. Sein Herz stolperte und begann wieder schneller zu pochen. Ihm wurde schlecht. „Scheiße…,“ zischte er, „ Oh, nein… Können wir…können wir vielleicht noch eine Runde drehen und du erzählst mir weiter von deiner Krankenschwester?“ Sein bester Kumpel lachte und griff nach Davids Jackenärmel, um ihn mit sich zu ziehen. „Nix da. Später. Komm schon, gleich ist alles vorbei.“ David verzog das Gesicht. Seine Beine waren schwer wie Blei. Sein ganzer Körper sträubte sich, schien sich mit jedem zögernden Schritt weiter nach hinten zu biegen. „Stell dich nicht so an, Mann!“, schimpfte Kenji leise und zerrte David unerbittlich auf den gepflasterten Hof, der von mehreren Laternen erhellt wurde, „Es ist doch nur Sven. Kein dreiköpfiges Monstrum.“ „Und warum fühlt es sich dann genau so an?“ „Weil du hysterisch bist, darum. Na los, reiß dich zusammen. Sei mutig!“ David schluckte krampfhaft, versuchte es aber. Tapfer machte er einen Schritt vor den anderen, ignorierte die Angst in seinem Bauch und dachte mit aller Kraft daran, wofür er dies alles auf sich nahm. Denn einen besseren Grund dafür gab es schließlich nicht. Alles wird gut, David, alles wird gut! Sie schritten langsam über den Hof und sahen sich um. Außer einem jungen Mann, der sich gegen einen roten VW lehnte und gedankenverloren eine Zigarette rauchte, war niemand zu erkennen. „Komm…,“ raunte Kenji, „Den fragen wir jetzt nach Sven.“ „Muss das sein…?“ „Ja, das muss sein. Komm schon, du Angsthase.“ Sie näherten sich dem Fremden. Er trug eine blaue Jacke und sehr dunkle Haare hingen ihm in die Stirn. Als er ihre näherkommenden Schritte hörte, blickte er auf. Erneut blieb David wie festgefroren stehen. „Mein Gott…!“, keuchte er entsetzt. „Was ist?“, fragte Kenji verdutzt. „Das…das ist er!“ „Wer? Sven? Nein, das–,“ „Nein, nicht Sven!“, reibeiste David mit zugeschnürter Kehle, „Das ist der Kerl, mit dem Sven mich damals betrogen hat!“ Sein bester Kumpel riss die dunklen Augen auf. „Bist du sicher?“ „Ja, hundertprozentig! Den würd ich doch niemals–,“ „Kann ich euch helfen?“ Die auffällig tiefe Stimme des jungen Mannes unterbrach Davids verzweifeltes Gestammel. Neugierig beobachtete er die beiden Neuankömmlinge, die ihren Weg zu ihm so plötzlich unterbrochen hatten. „J…Ja, vielleicht,“ rief Kenji zurück, packte abermals Davids Ärmel und zerrte ihn hinter sich her, „Wir suchen nach Sven.“ „Seid ihr Freunde von ihm?“ „Ex-Freunde sozusagen,“ erwiderte Kenji. „Aha…,“ Die dunklen Augen des jungen Mannes zuckten über Kenjis Gesicht, dann zu David hinüber. Eine Sekunde starrten sie nur, dann saugten sie sich erkennend an den blonden Locken fest, die sich feucht unter Davids Strickmütze hervor ringelten. „Oh…,“ machte er, als ihm offenbar ein Licht aufging, „Oh…,“ „Ja,“ entgegnete Kenji ungeduldig, „Ist Sven da?“ „Ähm, ja…,“ sagte Davids Schreckensvision, ohne den Blick auch nur einen Wimpernschlag von dem Paralysierten zu lösen, „Er ist noch drin, müsste aber gleich rauskommen,“ er nahm die brennende Zigarette in die linke Hand und reichte David die rechte, „Ich bin Thorben. Svens Freund.“ David musste sein Herz neustarten. Aus diesem Grund dauerte es ein paar Augenblicke, bis er Thorben seine eigene Hand reichen konnte. In seinen Ohren blubberte es monoton. Freund? „Hallo,“ sagte er tonlos, „David.“ „Hi, David…,“ Thorben lächelte und schüttelte dann auch Kenji, der sich ebenfalls vorstellte, kurz die Hand, bevor er sich erneut an David wandte, „Ich freu mich wirklich sehr, dich kennenzulernen. Bist du gekommen, um mit Sven zu reden?“ „Ja, ist er,“ antwortete Kenji an Davids Stelle und stieß ihn mit dem Ellenbogen an, „Oder? David?“ David öffnete den Mund. In ihm herrschte eine solche Leere, dass er sich regelrecht konzentrieren musste, um sich daran zu erinnern, wie man sprach. „Ja…,“ meinte er leise, „Das bin ich.“ „Großartig!“, erwiderte Thorben mit Nachdruck und strahlte David buchstäblich an, „Das ist klasse, echt. Wartet kurz hier, ja? Ich geh eben rein und hol ihn raus. Lauft nicht weg!“ Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, trat sie auf dem Boden aus und hastete dann mit einem abschließenden Lächeln in das graue Gebäude hinter ihm, das sich gegen eine große Garage lehnte und das ein kleines Schild als Büro auswies. David ließ die Luft, die er die ganze Zeit unbemerkt angehalten hatte, mit einem Zischen entweichen. Kenji gluckste und klopfte ihm fast schmerzhaft auf den Rücken. „Na, siehst du!“, zischte er grinsend, „Läuft doch super bis jetzt. Thorben scheint okay zu sein, oder? Und er hat dich erkannt. Meinst du, Sven hat ihm von dir erzählt? Oder hat er dich damals noch gesehen, als du geflohen bist?“ „Keine Ahnung…,“ murmelte David matt. Er konnte und wollte nicht darüber nachdenken, ob und woher Thorben von ihm erfahren hatte. Er konnte und wollte überhaupt nicht über Thorben nachdenken. Thorben. Die Tatsache, dass Sven (immer noch) mit dem Typen zusammen war, mit dem er ihn vor zwei Jahren betrogen hatte, verunsicherte ihn mehr als er erwartet hatte. Ob er auch Thorben betrog? Oder hatten sie vielleicht nur eine lockere Affäre? Aber dann hätte Thorben sich doch nicht als `Svens Freund´ vorgestellt. Abgesehen davon würde David gleich seinem verhassten Ex ins Gesicht sehen. Das erste Mal seit Ewigkeiten. Wie würde sich das wohl anfühlen? Was würde passieren? Und was sollte und wollte er ihm eigentlich sagen? Wo konnte man Mut kaufen? „Mach dir keine Sorgen…,“ wisperte Kenji, als hätte er Davids Gedanken gehört, „Es wird schon schief gehen. Du wirst es wissen, wenn es soweit ist.“ „Was wissen?“, flüsterte David alarmiert, „Ich hab absolut keine Ahnung, was ich ihm sagen soll, Kenji!“ Sein bester Kumpel öffnete den Mund, kam aber nicht mehr dazu, zu antworten. Fast blieb David das Herz stehen, als die Tür, durch die Svens neuer Freund soeben verschwunden war, wieder aufgestoßen wurde. Er schnappte nach Luft. Da stand er. Sven. Das Licht, das aus der offenen Tür schien, blendete David ein wenig. Dennoch war es unverkennbar. Es war Sven, Davids Ex-Freund. Er erkannte ihn sofort. Alles an ihm erkannte er sofort. Sogar das abgetragene, graue Sweatshirt, auf dem sich ein paar Ölflecken zeigten. Svens Haare waren ein kleines bisschen länger als in der Schule. Aber sie waren immer noch genauso verwuschelt. Und sein Gesicht… Es hatte sich kaum verändert. Mehrere Momente lang fixierten sich David und Sven einfach nur stumm. Dann boxte Thorben, der hinter Sven stand, ihm in den Rücken und er zuckte heftig zusammen. „H…Hallo… David…,“ brachte er hervor. „Hallo…,“ raunte David scheu und schreckensstarr. „Hi, Sven. Wie geht’s, wie steht’s?“, plauderte Kenji munter drauflos, „Entschuldige unseren unangemeldeten Besuch. David will nur kurz mit dir reden. Ich hoffe, du kannst etwas Zeit erübrigen?“ Kenji ließ seine Frage so verhallen, dass man automatisch ein sonst setzt es was erwartete und im Kopf die Schatten einiger Karatemeister angreifen sah. Sven schluckte. „Ähm…,“ machte er und klang ebenso angsterfüllt wie David sich fühlte. „Klar, kann er das,“ entgegnete Thorben jedoch und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter, „Ich schlage vor, dass ihr zwei kurz ins Büro geht. Kenji und ich warten so lange hier draußen. Alles klar?“ David und Sven konnten sich nicht wehren. Lächelnd schoben Kenji und Thorben sie ins Büro hinein. Als David sich entsetzt über dessen Verrat zu Kenji umdrehte, winkte sein bester Kumpel nur und reckte grinsend beide Daumen gen Himmel. Dann schlug Thorben die Tür zu und David war mit seinem persönlichen Trauma allein. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Knie zitterten, ebenso wie seine Hände. Er fühlte sich entsetzlich wacklig und instabil und überhaupt nicht mutig. Aber gleichzeitig ließ die Aussichtslosigkeit dieser Situation neue Kraft durch seine Glieder strömen. Es gab kein Zurück. Nur das Vorwärts. Wie lange hatte er sich vor diesem Augenblick gefürchtet? Sehr lange. Doch jetzt war der Augenblick da und David würde ihn durchstehen. Denn dies war kein dreiköpfiges Monster, sondern nur Sven. Und er hatte genauso viel Angst wie David selbst. Also holte er tief Luft und drehte sich langsam zu seinem Ex-Freund um, der hinter ihm stand und ihn unverwandt fixierte. Als sich Davids Augen auf ihn richteten, schien er leicht zu erschaudern. „Hey…,“ machte David lahm, vollkommen ratlos nach den richtigen Worten suchend. „Hey…,“ antwortete Sven und schaffte sogar den Anflug eines Lächelns, „Lang ist es her…,“ „Stimmt.“ „Möchtest du…dich vielleicht setzen?“ „Okay.“ Sven wies einladend auf einen der beiden Stühle, die vor dem vollgemüllten Schreibtisch standen. David setzte sich auf die äußerste Stuhlkante und verschlang die Finger ineinander. Obwohl das Büro geheizt war, fror er ein wenig. Aber das war wohl nur das Echo von der Kälte draußen. Er betrachtete Sven, der ihm gegenüber Platz genommen hatte. Sven betrachtete ihn ebenfalls. Schweigend sahen sie sich an. Dann wandten sie beide gleichzeitig den Blick ab und schauten sich in dem kleinen, hell erleuchteten Büro um, das außer dem Schreibtisch, den beiden Stühlen davor und dem einen Stuhl dahinter, nur noch einer Topfpflanze Platz bot und nur mäßig spannend war. David riss sich am Riemen und zwang seine Augen zurück zu Sven. Sven tat es ihm gleich. Wie sonderbar es war, hier mit ihm zu sitzen und ihn anzusehen… Und es war wirklich Sven. Es war kaum zu glauben, doch er war es wirklich. David konnte die beiden Muttermale erkennen, die nebeneinander dicht an seinem rechten Ohr lagen und die er bestimmt hundertmal berührt und geküsst hatte. Er erkannte die Form seiner Nase und den Ausdruck seines Kinns, wenn er angespannt war. Er erkannte den Schwung seiner Augenbrauen und die kleine Narbe an seiner linken Schläfe. Er erkannte Sven, aber…da war nichts mehr. Keine Wärme, keine Zuneigung, keine Sehnsucht. Nur die Erinnerungen an glückliche Zeiten und den Schmerz, den David bis heute nicht vergessen konnte. Sven atmete tief ein und senkte den Kopf. Als er ihn wieder hob, lächelte er matt. „Das…ist komisch, oder?“, fragte er leise. David schmunzelte zurück und nickte. „Als Thorben sagte, dass du mit Kenji draußen stehst und mit mir reden willst, hatte ich fast einen Herzinfarkt…,“ fuhr Sven verlegen grinsend fort und zupfte an seinem zerstrubbelten Pony, wie er es schon in der Schule immer getan hatte, „Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet. Außerdem hab ich Schiss vor Kenji.“ David kicherte. „Weil er dir damals Prügel angedroht hat?“ Sven grinste ihn an und nickte. „Ja, genau. Er war so sauer auf mich, dass ich eine Weile echt Angst hatte, allein zu Hause zu sein. Ich fürchtete, er würde nachts kommen und mich totschlagen.“ Sie mussten beide lachen. Das tat gut und löste den Knoten in Davids Kehle etwas. Leider dauerte der Zauber nicht lange. Nachdem ihr Lachen verstummt war, beäugten sie sich wieder still. Und warteten. David gab sich einen Ruck. „Ich wollte eigentlich gar nicht kommen,“ erzählte er seinem Ex-Freund und spürte, wie sich abermals sein Herzschlag beschleunigte, „Gestern Nacht hat Kenji mich dazu überredet. Er meinte, dass ich…,“ David verstummte und rang nach Worten. Wie sollte er Sven nur begreiflich machen, was er hier wollte? Dass er mit ihm reden wollte, ohne zu wissen, was er mit ihm reden wollte. Er zögerte. Und entschied sich unter Svens geduldigem Blick schließlich für die Wahrheit. Wenn er in Zukunft zu Sascha und zu seinen Gefühlen für ihn stehen wollte, dann konnte er auch direkt bei seinem Ex-Freund damit anfangen. Für den Fall, dass Sven ihn auslachen oder beleidigen würde, stand Kenji ja kampfbereit draußen vor der Tür. „Ich bin verliebt,“ sagte David also und es erneut auszusprechen, machte es so real, dass unvermittelt ein Rudel Schmetterlinge durch seinen Bauch kreiste, „In einen Kerl, der mit mir gemeinsam Zivi macht. Aber ich…konnte mich bisher einfach nicht richtig auf ihn einlassen, weil ich…immer noch an dich denken musste. Deshalb bin ich hier. Ich…ich will endlich mit dir abschließen und vergessen, was zwischen uns passiert ist. Ich will mit ihm zusammen sein, weißt du? Ohne negative…Erwartungen.“ Sven hatte ihm schweigend zugehört. Als David geendet hatte, nickte er. „Ich verstehe, was du meinst,“ entgegnete er sanft, „Und ich finde es unglaublich mutig von dir, dass du deswegen hergekommen bist. Eigentlich wäre das ja mein Job gewesen. Aber ich…hatte nicht den Mumm dazu…,“ Er seufzte und fuhr sich mit beiden schmutzigen, ölverschmierten Händen über das Gesicht, sodass ein paar dunkle Flecken auf seinen Wangen und seiner Stirn zurückblieben. Als er David wieder ansah, wirkte er…traurig. Traurig und ernsthaft und…schuldbewusst. Kein bisschen spöttisch oder ungeduldig oder entnervt. David fiel ein Stein vom Herzen. „Es tut mir leid, David…,“ sagte Sven aufrichtig, „Es tut mir leid, dass ich dich so schlecht behandelt habe. Ich war ein Arschloch damals. Ich hab nur an mich gedacht. Und an Sex. Und es war mir egal, dass ich dich mit meinem Verhalten verletze. Erst durch Thorben hab ich angefangen darüber nachzudenken. Er hat mich ganz schön zusammen gefaltet deswegen.“ David blinzelte. Er konnte nicht glauben, dass sie diese Unterhaltung tatsächlich führten. Dass Sven sich so ehrlich bei ihm entschuldigte und seinen Fehler einsah, obwohl er doch damals ihm, David, die Schuld für sein gebrochenes Herz in die Schuhe geschoben hatte. Konnte ein Mensch sich in zwei Jahren so sehr verändern? Durch den Einfluss…eines anderen Menschen? „Echt…?“, fragte David daher ungläubig, „Thorben…?“ Sven grinste und nickte. „Ja. Nachdem du uns an der Bushaltestelle gesehen hast, hat er mich gefragt, wer du warst, weil du so erschrocken aussahst. Ich hab ihn angelogen und ihm gesagt, dass du nur irgendwer warst und ich dich nicht kennen würde.“ David zog die Augenbrauen hoch und Sven verzerrte schuldbewusst das Gesicht. „Ich weiß, ich weiß. Ich war ein Widerling. Aber damals war es mir wirklich egal. Auch, nachdem du und ich telefoniert hatten. Nur das Gespräch mit deinen Freunden hat mich darauf gebracht, dass ich dich wirklich verletzt hatte. Aber – wie gesagt – es war mir nicht so wichtig. Es tat mir zwar irgendwo leid, weil ich dich wirklich gern hatte, aber ich dachte halt, dass du schon darüber hinweg kommen würdest. Ich wollte mich nur austoben und rummachen. Deshalb haben Thorben und ich uns regelmäßig getroffen. Nur so…,“ „Zum Vögeln?“, half David ihm nach. Sven grinste schief. „Ja, genau. Aber irgendwann trafen wir uns dann immer öfter und so kamen wir dann irgendwie aus Versehen zusammen. Damals hab ich ihm dann doch von dir erzählt und er war total entsetzt. Er sagte, ich sei das Letzte und dass er keine Lust hätte, mit jemandem zusammen zu sein, der seinen Freund so mir nichts, dir nichts betrog, ohne einen Funken Anstand und Reue. Er ließ mich einfach stehen und ich war total außer mir. Ich bin monatelang hinter ihm her gerannt. Er fragte mich, wie ich mich fühlen würde, wenn er mich betrügen würde. Und da stellte ich fest, dass ich den Gedanken schrecklich fand.“ David starrte ihn an. Und er begriff. „Du hast dich in Thorben verliebt,“ sagte er und seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren überrascht. Sven nickte. „Ja…,“ raunte er zärtlich und lächelte dieses ganz bestimmte Lächeln, das verliebte Menschen überall auf der Welt zu lächeln pflegen, „Das hab ich. Ich hab’s nicht kommen sehen. Es ist einfach passiert. Und als ich es gemerkt habe, war es schon zu spät. Ich wollte ihn unbedingt haben. Und ich wollte alles richtig machen und mich für ihn verändern, um ihn halten zu können. Wir haben viel geredet in dieser Zeit. Er sorgte dafür, dass ich mich das erste Mal richtig mit mir und meinem Benehmen auseinander setzte. Er ist schrecklich in diesen Dingen,“ fügte Sven hinzu und grinste, „Er denkt ständig nach, hinterfragt alles und jeden, zweifelt an Fakten und spricht immerzu unangenehme Wahrheiten aus. Manchmal hasse ich ihn dafür.“ David spürte, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Er mochte die Tonlage, mit der Sven über Thorben sprach. Nicht nur liebevoll, sondern…mit Hochachtung. Respektvoll. Das Sven so über jemanden reden konnte… Es war nicht zu fassen. „Jedenfalls machte er mir klar, dass ich mich dir gegenüber…unglaublich ätzend verhalten hab…,“ fuhr Sven bedrückt fort und kratzte an einem Schmutzfleck an seinem Handrücken herum, „Ich sagte ihm, dass ich mich bei dir entschuldigen würde. Und nur deshalb sind wir wieder zusammen gekommen. Und ich wollte mich wirklich entschuldigen, aber ich…hab mich nicht getraut. Ich hatte einfach nicht genug Eier in der Hose. Erst, weil Kenji mir Schläge angedroht hat, wenn ich dir nochmal zu nahe komme. Und dann…einfach so. Ich wusste nicht, was ich dir sagen sollte, wie ich es ausdrücken sollte. Ich war mir sicher, dass du mich hasst und mir nicht glauben würdest.“ Er schaute auf und in Davids Augen. „Denn das hättest du nicht getan. Oder?“ David erwiderte seinen Blick. Dann schüttelte er langsam den Kopf. „Nein…,“ murmelte er, „Geglaubt hätte ich dir vermutlich wirklich nicht. Aber gehasst…habe ich dich eigentlich nie. Und das wird mir jetzt erst klar. Ich…ich…war wütend und…und ich hatte Angst vor dir. Ich wollte mich nie wieder verlieben, nie wieder verletzt werden. Ich wollte vergessen, dass ich schwul bin. Ich hab mich eingeigelt und als mir jemand zu nah kam…, hab ich ihn weggestoßen…,“ „Das…hat deinen Freund bestimmt verletzt, oder?“, fragte Sven behutsam. David biss sich auf die Unterlippe und nickte. „Ja, ziemlich. Ich hab das am Anfang gar nicht begriffen. Aber…gestern hatten wir einen schlimmen Streit und danach…, hab ich beschlossen…,“ „In dir selbst aufzuräumen?“, half diesmal Sven weiter und schmunzelte. Leise schniefend grinste David und nickte erneut. „Ja, genau.“ „Ich kenn das Gefühl. Wenn man sich schuldig fühlt und gar nicht weiß, wo man anfangen soll zu kitten. Und wenn man in sich hinein schaut, sieht man nur Kuddelmuddel, unter dem Ängste versteckt sind, von denen man nichts geahnt hat.“ David schnaubte. „Wem sagst du das…,“ Sie musterten einander und lächelten im gemeinsamen Verständnis. David konnte kaum glauben, dass dies real war. Er und Sven, dieses Büro, dieses Gespräch. Nach so langer Zeit verstanden sie sich zum ersten Mal wirklich. So lange hatte er gelitten. Und die ganze Zeit hatte Sven einfach nur der Mut gefehlt, sich bei ihm zu entschuldigen. Einen Moment stellte David sich vor, wie die letzten zwei Jahre für ihn hätten sein können, wenn sie diese Unterhaltung schon viel früher geführt hätten. Vermutlich anders. Besser. „Ich bin froh, dass ich hergekommen bin…,“ murmelte David und grinste etwas breiter, „Ich bin froh, dass Kenji mir so in den Arsch getreten hat.“ „Ich auch…,“ grinste Sven zurück, „Und ich bin froh, dass Thorben mir so in den Arsch getreten hat. Ich bin irgendwie besser geworden durch seinen Einfluss. Also… Verstehst du, was ich meine? Ich hab mich verändert durch ihn. Und auch wenn es anfangs schwer und unangenehm war, war es doch den ganzen Aufwand wert.“ „Ja…,“ nuschelte David. Und dann spürte er es. Dass etwas von ihm wich, ihn verließ und einer berauschenden Leichtigkeit Platz machte, die er so noch nie zuvor empfunden hatte. Jedenfalls fühlte es sich so an. Als wäre er das erste Mal in seinem Leben ganz…frei. Stoßartig atmete er auf und starrte ins Nichts. „Mein Gott…,“ flüsterte er. Verwirrt runzelte Sven die Stirn. „Was ist?“ David antwortete nicht. Er konnte seine Stimmbänder nicht finden, denn plötzlich schien alles Sinn in seinem Kopf zu machen und sämtlichen Platz in seinem Inneren einzunehmen. Vielleicht ging es eben darum. Ums Verändern. Vielleicht hatte er seiner gescheiterten Beziehung mit Sven doch viel zu viel Bedeutung zugemessen. Vielleicht hatten sie einfach nur nicht zusammen gepasst. Vielleicht war es eben nur ein Versuch gewesen. Ein Versuch, der letztlich nicht funktioniert hatte und deshalb noch lange kein Drama, kein Weltuntergang sein musste. Vielleicht hatte er sich zu wichtig genommen. Vielleicht hatte das einzige Problem darin gelegen, dass er Sven nicht hatte verändern können. Oder wollen. Aber Thorben hatte die Kraft und die Geduld und den Willen dazu gehabt. Svens Gefühle für Thorben hatten Sven verändert. Und eben in diesem Augenblick veränderten Davids Gefühle zu Sascha ihn. Vielleicht war das die Antwort. Vielleicht gingen Liebe und Veränderung Hand in Hand. Vielleicht musste die Liebe verändern, um Liebe zu sein. Und um eine Chance zu haben. Eine Chance, die er mit Sascha unbedingt haben wollte. Jetzt sofort. David sprang so energisch auf die Füße, dass Sven zusammen zuckte. „Ich muss los!“, stieß er hervor. „Was? Jetzt sofort?“, fragte Sven erschrocken und wirkte überrumpelt. „Ja, unbedingt!“, lachte David und zitterte schon wieder vor Aufregung, „Ich muss sofort zu…zu meinem Freund und alles mit ihm klären.“ „Oh ja, sicher,“ Sven erhob sich ebenfalls und gluckste angesichts der Energie, die David auf einmal ausströmte, „Das versteh ich natürlich.“ „Danke! Du bist der Beste, ehrlich! Also, nicht der Allerbeste, aber auf jeden Fall der Drittbeste.“ „Okay…,“ kicherte Sven und grinste über das ganze Gesicht, „Das reicht mir. Dann komm, Kenji und Thorben sind bestimmt schon ganz durchgefroren.“ „Wahrscheinlich.“ Nebeneinander verließen sie das Büro. Die Kälte versetzte David einen kleinen Kinnhaken, den er trotzdem kaum wahrnahm. Er war so hibbelig und glücklich, dass er am Liebsten wie ein Flummi auf LSD auf und ab gesprungen wäre. Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten. Stattdessen sprang er Kenji, der sich auf dem Hof angeregt mit Thorben unterhielt, wie ein tollwütiger Hund an und drückte ihm vor Freude kurz die Luft ab. „Da…Argh!“, machte Kenji krächzend, „Himmel! Alles klar bei dir?“ „Ja!“, jauchzte David und schüttelte seinen besten Kumpel durch, „Ja, ja, ja! Aber wir müssen sofort los, Kenji! Ich muss sofort zu Sascha und ihm alles sagen und–,“ „Waswaswaswas?“, blubberte Kenji einigermaßen überwältigt, „Neinneinneinnein! Du kannst jetzt nicht so einfach zu deinem Hengst verschwinden! Wir beide gehen jetzt erst mal zusammen einen trinken.“ „Nein!“, keuchte David entsetzt. „Oh doch!“, insistierte Kenji streng, „Zumindest das schuldest du mir. Nachdem ich dir meine halbe Nacht und ne Ewigkeit hier draußen in der Kälte gewidmet habe.“ David verzog das Gesicht. Er sehnte sich mit einer solchen Macht nach Sascha, dass ihm fast schwindelig wurde. Es war wie Magenschmerzen und Juckreiz gleichzeitig. Doch Kenji…hatte eindeutig ein überzeugendes Argument auf seiner Seite. Er hatte David in den letzten zwanzig Stunden mehr gegeben als David je von ihm verlangt oder erwartet hätte. Er war für ihn da gewesen, hatte ihm Mut und Optimismus geschenkt und dafür gesorgt, dass David über seinen Schatten sprang. Er hatte ihn verändert. Und als Dank dafür konnte David ihm nun ruhig einen Drink ausgeben. Das war das Mindeste. Also seufzte David und warf Sven und Thorben einen Blick zu, die nebeneinander in der Nähe standen und sie amüsiert beobachteten. Thorben hatte den Arm um Sven gelegt und lächelte. Und Sven…sah glücklicher aus, als David ihn je zuvor gesehen hatte. Dieser Anblick rührte David und ließ die Sehnsucht in ihm erneut schmerzhaft auflodern. Trotzdem. Er würde sich noch etwas gedulden müssen. Dieser Abend gehörte Kenji. Sascha bekam die Nacht. „Du hast Recht,“ lächelte David seinen besten Kumpel an, „Gehen wir einen saufen. Aber nicht so lange…,“ „Sowieso nicht!“, betonte Kenji, „Rate mal, wer morgen wieder um fünf aufstehen muss.“ Sie verabschiedeten sich von Sven und Thorben, was ein bisschen viel herzlicher ausfiel als noch die Begrüßung. Dann warfen sie die Arme umeinander und schlenderten aufgekratzt plappernd und giggelnd vom Hof der Autowerkstatt. Sie nahmen die erste Kneipe, die ihnen auf dem Weg Richtung Innenstadt begegnete. Dort, in der typisch spärlichen Kneipenbeleuchtung, setzten sie sich an einen bekleckerten Ecktisch. Außer ihnen waren nur noch vier andere Gäste anwesend, die sich an der Bar lümmelten und sich grunzend unterhielten. Sie achteten nicht auf David und Kenji und die hielten es ebenso. Sie übersprangen den obligatorischen Es-Gibt-Was-Zu-Feiern-Champagner und bestellten gleich, nachdem sie dem dicklichen Barmann grummelnd ihre Ausweise gezeigt hatten, zwei Schnäpse. Sie stießen an, kippten sie und bestellten gleich zwei weitere. Kenji wollte alles über Davids Gespräch mit Sven wissen und David erzählte es ihm. Er ließ nichts aus, beschrieb jede Gefühlswandlung und gestikulierte vor Begeisterung wie eine Windmühle, während Kenji sich vor Mitfieberung die Fingernägel abkaute. Sie tranken, sie lachten, sie redeten. Über Sven und Thorben, über Sascha und Kenjis Krankenschwester, über alte und neue Zeiten, über Freiheit, über Ängste und Hoffnungen und den Mut, etwas zu verändern. Es war genauso wie früher. Nur noch besser. „Ich bin so stolz auf dich!“, erklärte Kenji strahlend, „Weil du so mutig warst, ehrlich.“ „Danke!“, jauchzte David und verschüttete etwas Schnaps, „Ich auch, das kannst du mir glauben. Ich hätte nie gedacht, dass ich das bringe.“ „Also ich schon,“ behauptete Kenji und hob sein Glas, „Ich wusste die ganze Zeit, wie mutig du in Wirklichkeit bist. Also, auf den Mut! Prost!“ „Cheers!“, grinste David und fühlte sich groß und stark und mutig. „Weißt du, was mich beschäftigt…?“, nuschelte David zwei Stunden später, als er schon ziemlich angetrunken und Kenji, dank seiner japanischen Abstammung, sternhagelvoll war. „M-m… Was?“, machte Kenji und blinzelte David an, als sähe er ihn nur noch verschwommen. „Ich glaube…, ich hab die Sache mit Sven letztendlich echt viel zu ernst genomm…,“ philosophierte David träge über die Hintergrundgespräche der inzwischen gewachsenen Gästeschar hinweg, „Ich…kann mir…ähm… nich mehr vorstelln, dass er echt an allem schuld sein soll, weist du. Ich meine, all der Müll in mir… Kann das echt nur von…äh… einem Typen kommen, der mich betrogen hat…? Das wär doch krank…!“ „Mhm…ja…,“ lallte Kenji zurück, „Vleicht… Vleicht hatst du einfach…nur Bindungs… Bindungsängste, Alder… So wie wir alle…,“ „Ja…,“ wisperte David nachdenklich, „Vielleicht. Du könntest Recht ham.“ „Ich…hab imma Recht…,“ nuschelte Kenji. „Ach ja…?“, gluckste David und musterte seinen schwankenden Kumpel belustigt. „Ja… Ich hab imma Recht und weiß…äh… weiß imma alles…,“ „Echt? Dann sag mir, was der Sinn des Lebens is, bitte.“ „Der Sinn des Lebns…?“, echote Kenji und wedelte formvollendet mit seinem Zeigefinger, „Der Sinn des Lebns, mein lieba Freund, is es, …ähm… deinem Leben ein Sinn zu gebn.“ Beeindruckt stutzte David. „Ja…,“ flüsterte er erneut und starrte in das neugeborene Universum, das sich vor seinem inneren Auge auftat, „Ja… Das kann sein…,“ „Sach ich doch…,“ betonte Kenji und rülpste, „Oh… Schulligung…,“ David grinste, benebelt und trotzdem sehr zärtlich. „Weist du was…?“, murmelte er und rutschte auf der gepolsterten Eckbank entlang, bis er direkt neben Kenji saß und die Arme um ihn legen konnte, „Ich dachte immer, wir zwei wärn nur beste Kumpels. Aber…du bist mein bester Freund. Echt. Du bist mein allerbester Freund aufer Welt und ich danke dir für alles und ich hab dich sooo lieb!“ David drückte seinen besten Freund auf der Welt an sich und der quiekte und kicherte und umarmte ihn zurück. Kurz darauf, nachdem sie ihre Schnäpse bezahlt hatten, verließen sie die Kneipe. David konnte und wollte nicht mehr warten. Er war betrunken, verliebt und voller Verlangen. Er wollte endlich in Saschas Arme. Er wollte ihn küssen und anfassen und seinen nackten Herzschlag an seinem fühlen. Er wollte endlich die Belohnung für seine Anstrengungen haben und sofort ins Tierschutzzentrum zurück. Also setzte er den kobaltblauen Kenji in ein Taxi, schärfte ihm ein, Bescheid zu sagen, sobald er gut zu Hause angekommen war, und knuddelte ihn noch einige Male zum Abschied durch. Kenji grinste verklärt, wünschte ihm Glück und winkte ihm, als das Taxi den Motor startete und in die Novembernacht davon brauste. Dann machte sich David ebenfalls auf den Nachhauseweg und mit jedem Schritt, den er durch den kalten Wind hastete, wurde er aufgeregter, bis er beinahe wieder nüchtern war. Als er endlich zu Hause ankam, war es nach elf Uhr. Er bebte am ganzen Leib und in seiner Brust trommelte sein erwartungsvolles Herz. „Papa?“, bellte er durch den Flur, sobald er die Haustür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte, „Mam? Seid ihr noch wach?“ „Pscht!“, machte sein Vater mit einem Anflug von Ärger und steckte seinen Kopf aus der Küche, „Was brüllst du denn so rum? Deine Mutter ist schon schlafen gegangen. Was–,“ „Papa!“, keuchte David und eilte auf ihn zu, ohne sich die Mühe zu machen, Jacke und Schuhe auszuziehen, „Papa, du musst mich sofort ins Zentrum fahren!“ „Wie bitte?“, fragte Volker schockiert, „Jetzt?!“, er schnupperte, „Hast du getrunken?“ „Ja, hab ich. Und ja, jetzt sofort!“ „Aber es ist bald Mitternacht und ich–,“ „Jaja, ich weiß!“, unterbrach David ihn und winkte energisch ab, „Und deshalb kann ich auch nicht mehr Zug fahren, es fährt vor morgen keiner mehr. Aber ich muss jetzt sofort ins Zentrum zurück, Paps! Ich will zu Sascha, ich…ich will…,“ Er verstummte, legte die Handflächen aneinander und fixierte seinen Vater so flehentlich wie niemals zuvor in seinem Leben. „Bitte, Papa. Bitte, bitte.“ Volker wirkte arg unzufrieden. „David…,“ jammerte er und stellte den benutzten Becher, den er wohl eben noch gemeinsam mit dem restlichen Geschirr vom Abendessen in die offene Spülmaschine stellen wollte, auf der Küchenanrichte ab, „Ich muss morgen arbeiten. Wieso schläfst du nicht erst mal deinen Rausch aus und fährst morgen Vormittag in Ruhe zurück?“ „Weil ich nicht mehr warten kann!“, heulte David theatralisch und schniefte angesichts all der Ungerechtigkeit auf der Welt, „Ich kann nicht mehr warten, Papa. Ich hab mich heute Abend mit Sven ausgesprochen und jetzt will ich mich auch endlich mit Sascha aussprechen. Ich vermisse ihn so sehr und ich…ich will endlich mit ihm zusammen sein…!“ Volker starrte ihn an. Und David starrte zurück und versuchte, all die beschwipste Verzweiflung, die er so überdeutlich empfand, in seinen Blick zu legen. Sein Vater seufzte laut und verdrehte die Augen. Doch David wusste, dass er gewonnen hatte, und die Freude darüber machte ihn ganz schwach. „Also gut…,“ ächzte Volker, „Also gut. Ich mach mich fertig und dann fahre ich dich.“ „Danke, Paps!“, jubelte David und sprang seinen Vater an, um ihn zu herzen, „Danke, danke, danke! Du bist der Beste! Der Viertbeste! Ich hab dich so lieb!“ „Sag das nicht mir, sag das deinem Sascha,“ brachte Volker hervor, sobald sein Kehlkopf wieder frei war, „Und jetzt lass mich los, damit ich mir Schuhe anziehen kann.“ Sechs Minuten später waren sie auf dem Weg. Mit gleißenden Scheinwerfern bahnte sich das weiße Familienauto schnurrend einen Weg durch die nächtliche Stadt und auf die Landstraßen Richtung Rötgesbüttel. David konnte kaum still sitzen. Er las Kenjis Sms (Bi da alles gut viel glück. Nacht), er knetete seine Hände, schaltete das Radio an und hopste im Takt zu Wannabe von den Spice Girls auf dem Beifahrersitz herum. Volker gähnte und warf ihm in regelmäßigen Abständen skeptische Blicke zu, beschwerte sich jedoch nicht. Aber David hätte es vermutlich sowieso nicht gehört. Alles in ihm hüpfte. Er war so aufgeregt, so voller Vorfreude und Furcht, dass er gleichzeitig lachen, schreien und weinen wollte. In seinem beduselten Kopf tanzten die Gedanken Cha-Cha-Cha. Denn jetzt war es endlich fast soweit! Jetzt war er keine zehn Kilometer mehr davon entfernt, mit seinem Angebeteten in den Sonnenuntergang (bzw. Sonnenaufgang) zu reiten. Er würde Sascha alles sagen. Auch, wenn er die Reihenfolge noch nicht wusste. Doch er würde ihm alles sagen. Und dann…würde endlich, endlich alles gut werden. Es sei denn… Es sei denn – und diese Vorstellung versetzte David in Angst und Schrecken – Sascha wollte ihn nicht mehr. Nach allem, was geschehen war, nach all den Verletzungen, die David ihm zugefügt hatte. Nach all dem Schmerz und dem Hin und Her, dem Auf und Ab, dem ständigen Ranlassen und Wegstoßen. David könnte es ihm nicht einmal verübeln. Doch was sollte er dann tun? Was würde dann werden? Er wusste es nicht. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, ob und wie er damit umgehen könnte. Ob er es hinnehmen und ertragen könnte oder ob er dann in ein neues Loch fallen würde, das ihn für die nächsten zwei Jahre verschlang. Allein der Gedanke… David erschauderte. Und kannte die Antwort: Nein. Er würde das so nicht akzeptieren können. Er würde Sascha nicht gehen lassen. Nicht nach all dem Stress, den er sich gemacht hatte. Nicht nach der aufreibenden Aufarbeitung all seiner Ängste, dem Outing vor seiner Familie und seinem besten Freund, der Aussprache mit Sven. Nein, so einfach würde Dings nicht davon kommen. Auf keinen Fall. „Hast du Angst?“, erkundigte sich sein Vater in dieser Sekunde und David schreckte aus seinen hysterischen Gedanken. „Ja!“, stieß er hervor und hob die Arme, um seine zitternden Hände zu begutachten. Volker lächelte. „Ich glaube, das musst du nicht.“ „Bist du sicher?“, klagte David. „Ja, ziemlich.“ „Und wieso?“ „Väterliche Intuition,“ grinste Volker und, bevor David protestieren und genauer nachfragen konnte, lenkte er den Wagen auf den ausgestorbenen Hof des Zentrums. Der Abschied von seinem Vater zog sich ein wenig länger hin, da David ihn vor lauter Panik und Dankbarkeit kaum loslassen konnte. Doch schließlich gelang es Volker, sich freizustrampeln, seinem zweitältesten Sohn viel Erfolg zu wünschen und den Wagen zu wenden, um sich auf den Heimweg nach Braunschweig zu machen. Mit weichen Knien schaute David ihm ein paar Sekunden lang nach. Sein Herz schlug schnell und schmerzhaft gegen seine Rippen und die Schnäpse wirbelten gemeinsam mit dem Adrenalin durch sein Blut. Ihm war schwindelig und eigentlich nach sitzen zumute. Doch jetzt war es an der Zeit. An der Zeit, ein letztes Mal seine Ängste beiseite zu schieben und mutig zu sein. Den letzten Sprung zu wagen. Go, David, go! David nickte, atmete tief die Novemberluft ein und packte das letzte Körnchen Tapferkeit, was er in den letzten eineinhalb Tagen noch nicht aufgebraucht hatte. Dann lief er über den Hof, an der Eiche vorbei und auf die dunkle Betreten verboten-Tür zu. Kapitel 38: Sein ---------------- Guten Vormittag :)! Das geht jetzt vielleicht etwas schnell, aber heute präsentiere ich Euch schon das vorletzte Kapitel von Mosaik! Wir sind am Ende angekommen und das nächste, das 39. Kapitel, das hoffentlich nicht mehr allzu lange braucht, wird keine neuen Aspekte mehr einbringen. Stattdessen wird es sich bemühen, einen passenden Bogen zu schlagen, um die Story dann endgültig abzuschließen. Also offene Fragen klären, an den Anfang anknüpfen etc. Aber erstmal hoffe ich, dass Euch das 38. Kapitel gefällt und Euch etwas schmachten lässt. Außer der langersehnten Aussprache von David und Sascha enthält es außerdem einen ersten, klitzekleinen Crossover zu einer Geschichte von - mal schauen, wer ihn erkennt^^. Ach ja: Wer sich das erste Mal zwischen David und Sascha herbeigesehnt hat, kann sich freuen OO! Viel Spaß beim Lesen und (ein letztes Mal) bis zum nächsten Kapitel, Eure Lung :) ____________________________________________________________________ Im Zentrum war es dunkel, um nicht zu sagen stockfinster. Keine einzige Lampe brannte noch irgendwo und auch unter Saschas Zimmertür leuchtete kein Licht auf den schwarzen Flur hinaus. Vielleicht schlief er schon. Oder aber er war nach Hamburg zurück gefahren, hatte sich eine neue Handynummer besorgt und war niemals wieder für David zu erreichen. Der Gedanke ließ ihn schwer schlucken. In seinem Magen kreiselte die Nervosität vor sich hin und seine Finger bebten immer noch. Mit angehaltenem Atem stand David vor Saschas schweigender Zimmertür und starrte auf den Schatten, der die Türklinke war und ihn aufmerksam zu beobachten schien. Er würde es drauf ankommen lassen müssen. Er würde nie erfahren, wo Sascha war und ob sie eine gemeinsame Zukunft hatten, wenn er sich nicht traute, die Tür zu öffnen. Auch wenn die Bedingungen für ein klärendes Gespräch besser hätten sein können, da es kurz vor Mitternacht war und er nach Alkohol und Rauch stank und angetrunken und unzurechnungsfähig war und immer noch Mütze, Jacke und Schuhe trug. Er atmete tief ein und schloss kurz die Augen. Sein Kopf schwirrte und sein Herz schmerzte von all der Verliebtheit und der Begierde nach Sascha. Auf diesen Moment hatte er den ganzen Tag gewartet. Und jetzt war er da. Es war an der Zeit seinen Fast-Freund zu seinem Freund zu machen. An der Zeit, Sascha endlich zu seinem Sascha zu machen. Mut, David, Mut. Er räusperte sich. Er atmete. Er leckte sich über die Lippen. Er schluckte. Und er streckte die zitternde Hand aus, legte sie auf die Türklinke und…öffnete die Tür. In Saschas Zimmer war es genauso dunkel wie auf dem Flur und im Rest des Zentrums. Aber es war angenehm warm und die Luft duftete so stark nach Sascha, dass Davids Knie puddingartig wurden. Und aus der Ecke, in der das Bett stand, kam ein leises Rascheln. „H…Hallo?“, kam es unsicher aus der nächtlichen Schwärze, „Wer ist da?“ Davids Herz stockte. Er konnte Saschas Silhouette aufrecht im Bett erkennen. Und er klang erschrocken, fast ein wenig ängstlich. Um David herum wurde die Welt ganz weich. „I…Ich bin’s!“, stieß er lächelnd hervor und machte ein paar wacklige Schritte in den Raum hinein. Sascha atmete zischend. „David?“, flüsterte er und die hoffnungsvolle Erleichterung in seiner Stimme machte David ganz schwach und warm und glücklich. Er war da und nicht mehr wütend. Er war da! „Ja…,“ schniefte David strahlend und schaffte es irgendwie, die Tür hinter sich zu schließen, „Ich bin’s.“ „Oh, Gott sei Dank!“, wisperte Sascha fast schon verzweifelt, „Ich hab mir Sorgen gemacht, weil du einfach verschwunden bist. I… Ich dachte… Geht…geht es dir gut? Wo warst du denn nur? Ich dacht–,“ David hielt es nicht mehr aus. Wie ein ferngesteuertes Auto rollte er zum Bett, setzte sich auf die Matratze und ergriff Saschas Gesicht, um ihn zu küssen. Als sich ihre Lippen trafen, ächzte Sascha auf und in Davids Innerem explodierten die Gefühle. Sie schäumten über und füllten seinen Kopf, seine Hände, seinen Bauch. Sein Herz begann zu schlagen, seine Haut begann zu glühen, seine Lunge begann sich auszudehnen, als hätte David den vergangenen Tag im Koma verbracht und erst Saschas Anwesenheit, erst sein Kuss, würde nun das Leben in ihn zurückhauchen. Fast verlor David den Verstand. Er küsste seinen Fast-Freund so intensiv er konnte. Als ob er die vergangenen Stunden der Trennung so schnell wie möglich aufholen müsste. Seine Zunge öffnete gierig Saschas Mund, seine Hände strichen ruhelos über Saschas Gesicht, seine Wangenknochen und Schläfen. Sie strichen durch Saschas Haar, griffen in seinen Nacken und fuhren über seinen nackten Rücken. Und Sascha zitterte in seinen Armen. Er seufzte und zog David so fest wie möglich an sich, presste sich an ihn und küsste ihn so voller Hingabe zurück, dass Davids gesamter Körper unbändig zu prickeln begann. „Ich…hab dich…so vermisst…,“ nuschelte David atemlos und ganz kraftlos vor Glück gegen Saschas feuchte Lippen und verkrallte sich in seinen Haaren, „Es tut…mir alles…so schrecklich Leid…,“ „Schon gut…,“ murmelte Sascha hingerissen zurück, zog ihm die Mütze vom Kopf und öffnete fahrig den Reißverschluss an Davids Jacke, „Schon gut… Komm her, küss mich…,“ David konnte kaum mehr denken. Der Alkohol und die Endorphine in seinem Blut ließen seine Gedanken wirbeln. Er spürte nur noch Saschas süße Küsse, seine kühlen Finger unter seinem T-Shirt, auf seinem nackten Bauch, an seinen Brustwarzen. Er war so glücklich. Und er hatte solche Lust auf Sascha. Er wollte vergessen, sich einfach hingeben, in Saschas Nähe versinken, ihn anfassen, fühlen… Doch da war noch etwas. Ein Vorhaben, ein Ziel, ein Grund. Etwas, das er noch nicht abgeschlossen, noch nicht geklärt hatte. Und mit einem Schlag erinnerte sich David. „Sch… Stopp!“, brachte er mühsam hervor und versuchte, sich aus Saschas Umarmung zu befreien, „Stopp! Hör…auf, Sascha…!“ Entschieden drückte er den entsetzten Mr. Komm-Her-Küss-Mich von sich weg, rang nach Atem und nach der Kontrolle über seinen Kopf und seinen Körper. „Was…? Was ist…?“, fragte Sascha heiser und klammerte sich an Davids Pullover fest. „Lass mich los!“, verlangte David energisch über das Poltern seines Herzens hinweg, „W…Wir können jetzt nicht einfach rummachen. Sei nicht so inkonsequent! Ich muss dringend mir dir reden.“ „Inkonsequent?“, wiederholte Sascha überrumpelt, „Reden? Aber…,“ „Halt den Mund!“, blaffte David, schlug Saschas Hände weg und schüttelte den Kopf, um den rosaroten Liebesnebel zu vertreiben, „Setz dich hin und hör mir zu!“ In der Dunkelheit konnte er sehen, wie Sascha seine Hände in den Schoß fallen und die Schultern hängen ließ. Er konnte ihn schlucken hören und meinte, trotz der Finsternis, an die sich seine Augen jedoch langsam gewöhnten, Enttäuschung, Sorge und Schmerz in seiner Miene zu erkennen. Davids Herz quittierte diese Vorstellung mit einem quälenden Stich und einem leisen Knirschen. Eigentlich können wir das Gespräch auch auf später verschieben, schlug es vor und der größte Teil von Davids Körper – sein Unterleib allen voran – stimmte ihm mit einem salbungsvollen Nicken zu, Ich meine, das läuft uns ja nicht weg, oder? David wäre seinem Herzen gern gefolgt. Doch es gab Dinge, die man klären sollte, bevor man das Gehirn ausschaltete. Und dem anderen seine Gefühle zu gestehen, gehörte eindeutig dazu. Außerdem haben wir viel zu sehr dafür geackert, um es jetzt zu verschieben!, brummelte sein Großhirn und schüttelte den letzten Rest Lähmung ab, Volle Kraft voraus also. Sagen wir es ihm. Sagen wir ihm alles. „Ich muss dir was erzählen…,“ begann David im Flüsterton und sein Magen hüpfte zurück in den Panik-Modus, „Und ich… Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll…,“ Sascha antwortete nicht sofort. „Okay…,“ flüsterte er dann und in seiner Stimme vibrierte eine grässliche Resignation, die David kurzzeitig die Kehle zuschnürte, „Okay. Soll ich…das Licht anmachen?“ „Nein!“, erwiderte David entschlossen, „Nein. Wenn ich…dich jetzt richtig sehe, halte ich das bestimmt nicht durch…,“ Sascha stutzte und runzelte die Stirn. „O…kay…,“ wisperte er dann erneut und klang jetzt leicht fragend. David holte tief Luft. Seine Augen bohrten sich durch die Schwärze und fanden Saschas Gesicht, das von innen blass zu leuchten schien. Jetzt war es soweit. Er stand vorm Ziel. Er musste es nur noch durchschreiten. „Ich…war zu Hause…,“ berichtete David leise und musterte Sascha durch die Schatten der Nacht, sein Herz klopfte bestärkend, „Nach…unserem Streit hab ich…hab ich beschlossen, dass ich etwas ändern muss… Sofort. Deshalb bin ich noch am gleichen Abend losgefahren…,“ „Ehrlich?“, hauchte Sascha. David nickte und kämpfte die abermals aufsteigende Verliebtheit nieder, bevor sie ihn von den weiteren Erklärungen abhielt und Sascha anspringen ließ. „Ich… Ich bin also nach Hause gefahren und…und habe es meiner Familie gesagt. Meinen Eltern und Felix und dann hab ich Julian noch angerufen und dann Ken–,“ „Was?“, keuchte Sascha auf, „Was… Was hast du ihnen gesagt?“ „Na, alles!“, zischte David ungeduldig, „Dass ich schwul bin. Und dass–,“ „Du hast dich geoutet?“, quietschte Sascha, „Im Ernst?“ „Ja!“, insistierte David und wedelte wegwerfend mit den Händen, „Hab ich doch gesagt. Aber das ist nicht alles, ich habe–,“ „Vor deinen Eltern und deinen Brüdern? Und Kenji?“ „Ja, doch! Und dann–,“ „Was hast du ihnen gesagt? Wie hast du es ihnen genau gesagt? Erzähl mir alles!“ David stöhnte auf. Doch dann tat er Sascha den Gefallen und beschrieb sein erstes Outing mit mehr Details. Aus den Augenwinkeln konnte er Dings‘ Miene sehen, die vor Zärtlichkeit und Verzückung beinahe zu platzen schien. Diese Tatsache machte David das Erzählen nicht unbedingt leichter. In der Mitte seines Telefonats mit Julian hielt es Sascha dann nicht mehr länger aus. „Oh, David!“, schnitt er ihm mit vor Begeisterung brechender Stimme das Wort ab und griff nach Davids Oberarmen, „Du hast dich wirklich geoutet? Einfach so? Und du hast ihnen von mir erzählt? Ich… Ich kann’s nicht glauben! Du bist so gro–,“ „Hör auf damit!“, fauchte David mit sirrenden Ohren und hüpfendem Herzen und schüttelte Dings‘ Hände ab, „Ich bin noch nicht fertig!“ „Aber ich will dich jetzt sofort küssen!“ „Nein, nicht jetzt!“, schimpfte David verzweifelt, „Ich muss dir noch mehr sagen. Hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen und hör mir gefälligst zu, okay?!“ „Okay…,“ gluckste Sascha und David konnte sein Atomstrahlen aufblitzen sehen. Sein Herz verbog sich vor Sehnsucht. Verdammt nochmal! Wieso machte es ihm dieser Depp nur so schwer? Konnte er nicht einfach den Mund halten und warten, bis er fertig war? Wie sollte David das Gespräch nur durchhalten, wenn Sascha so gar nicht nachtragend war, sondern stattdessen lächelte und sich freute und noch dazu vom Küssen sprach? Das war ja fast schlimmer als ein neuerlicher Streit! David grummelte in sich hinein, seufzte tief und schloss für einen Moment die Augen, um seine Gedanken zu klären. Dann öffnete er sie wieder, damit Mr. Ich-Kann-Nicht- Glauben-Dass-Du-Dich-Einfach-So-Geoutet-Hast seine vorübergehende Blindheit nicht für seine eigenen Zwecke ausnutzte. „Also…,“ fuhr er fort und versuchte, sich von seiner eigenen Freude und Erleichterung, die in seinem Bauch umher schwappten, nicht die Tour vermasseln zu lassen, „Nachdem ich es meiner Familie gesagt habe, habe ich – wie gesagt – Kenji angerufen und es ihm gesagt. Ich… Ich hab ihm alles erzählt, von Sven, von dir und von unserem Streit. Und dann hat er mich überredet, mit Sven Kontakt aufzunehmen und mit ihm zu sprech–,“ Die vollständige Regungslosigkeit, die Sascha bei der Erwähnung von Svens Namen erfasst hatte, dauerte nur eine Sekunde an. „Du hast was?!“, krächzte er, „Du hast mit Sven geredet?“ „Jaah!“, entgegnete David genervt, „Kenji und ich sind heute Abend zu der Autowerkstatt gefahren, wo er grad Praktikum macht, und da–,“ „Du hast wirklich mit Sven geredet? Was ist passiert? Hat er–,“ „Sascha! Hör endlich auf, mich ständig zu unterbrechen!“ „Entschuldige, aber ich–,“ „Umso eher du mich fertig erzählen lässt, desto eher können wir uns küssen!“ Bei dieser Ansage stockte Sascha einen Augenblick. Das Lächeln, das sein Gesicht kurz darauf erhellte, war ein bisschen scheu. „Heißt das, du…willst mich wirklich immer noch küssen…?“ David hätte ihm am Liebsten eine Kopfnuss verpasst. „Was für ne blöde Frage!“, zürnte er und der Alkohol beflügelte seine Zunge, „Natürlich will ich dich noch küssen, du dummer Hornochse! Ich hab Sven nur aufgesucht, um endgültig mit ihm abzuschließen, damit ich endlich mit dir zusammen sein kann! Ohne mich die ganze Zeit wie ein Esel zu verhalten. Verflucht, ich denke seit Stunden nur daran, endlich zu dir zurückzufahren und mich mit dir auszusprechen, um dich dann endlich zu küssen. Und deshalb ist es echt schwer für mich, so vor dir zu sitzen und dich nicht zu küssen, weil ich nämlich vor Sehnsucht nach dir fast vergangen bin. Also wäre ich dir wirklich sehr dankbar, wenn du mich einfach mal erzählen lassen könntest, damit ich endlich alles gesagt habe, was ich dir so dringend sagen muss, und dich dann endlich küssen kann. Mann, ey! Dass du immer so anstrengend sein musst.“ David schnappte nach Luft. Sascha fixierte ihn sprachlos. Dann schniefte er leise. „David…,“ „Nein, nein!“, wehrte David ab und packte Saschas Hände, die der abermals nach ihm ausgestreckt hatte, „Nix da! Du hörst mir jetzt bis zum Ende zu, klar?!“ „Ich glaub, ich fang gleich an zu heulen vor Freude.“ „Nein!“, rief David entsetzt, „Reiß dich zusammen!“ „Aber du hast dich vor deiner Familie geoutet,“ schluchzte Sascha durch die Novembernacht und seine Hände bebten in Davids Fingern, „Und vor Kenji. Du warst bei Sven, um mit ihm abzuschließen. Und das… Das alles…für… für mich…?“ Seine Stimme verwandelte sich in ein Hauchen. Auf einmal war Davids Kehle furchtbar trocken und sein Herz zuckte. Sein Magen pumpte sich auf und eine Million Schmetterlinge rauschten durch seine Speiseröhre hinauf, direkt in seinen Mund. „Ja…,“ wisperte er, „Natürlich. Ich… Ich bin verliebt in dich…,“ Die Stille, die diesen Worten folgte, war so vollkommen wie nie zuvor in Davids Leben. Es hörte sich so an, als wären selbst der Nieselregen und der Wind verstummt und würden nun ihre Ohren an die Fensterscheibe pressen, um zu lauschen. „Oh mein Gott…,“ flüsterte Sascha, „Oh mein Gott…,“ „Nein, nicht!“, ächzte David hastig, „Ich bin noch nicht fertig mit Reden! Ich meine… Doch schon, das war das Wichtigste, was ich dir sagen wollte, aber ich wollte dir doch noch sagen, wie entsetzlich Leid es mir tut, dass ich dich so verletzt habe!“ Seine Stimme versagte beim Blick in Saschas dunkle, geweitete Augen, doch er zwang sich mit aller Macht dazu, weiterzusprechen. „Ich war so unfair, so blind und ignorant! Ich hab nicht bemerkt, wie sehr ich dich verletzt habe mit meinem Scheiß. Ich… Ich hab noch nicht mal bemerkt, dass ich schon seit Wochen verliebt in dich bin. Erst Kenji hat mich darauf gebracht. Ist das nicht bescheuert? Aber ich hab’s wirklich nicht bemerkt, ich war so verkorkst und hinüber, dass ich es einfach nicht wahrhaben wollte. Und ich kann gut verstehen, wenn du mir nicht verzeihen kannst und mich nicht mehr willst, aber ich sag dir: Ich werde nicht einfach aufgeben! Ich werde dich nicht hergeben! Du hast mich so lange genervt, bis du mich hattest. Und genau das werde ich auch machen! Ich werde dich nerven und bedrängen, bis du meine Gefühle erwiderst und selbst wenn du–,“ Weiter kam David nicht. Sascha hatte sich endlich aus seinem Griff befreit. Wie Tentakel schlang er seine Arme um sein redseliges Gegenüber und küsste ihn. Küsste ihn so sehnsüchtig und verlangend und kraftvoll, dass Davids Augen sofort zuklappten und jedes weitere Wort, jeder weitere Gedanke im Keim erstickt wurde. Als sich ihre Zungen berührten, erschlaffte Davids Körper und wurde von einer wundervollen Kraftlosigkeit erfasst, die sein ganzes Inneres füllte und alles andere auf der Welt herrlich unwichtig machte. Nur sein Herz pochte weiter und weiter und weiter und er hob die Arme, um Sascha zu umarmen, sich an ihm festzuhalten und ihn bloß nie wieder loszulassen. „Du Dummkopf…,“ hauchte Sascha irgendwann ganz nah an Davids Gesicht und strich ihm eine Haarlocke aus der Stirn, „Selbstverständlich will ich dich noch… Ich wollte dich die ganze Zeit. Und ich hab dir schon verziehen, als du mein Zimmer betreten hast. Weil ich mir nämlich Sorgen um dich gemacht und dich schrecklich vermisst habe und fürchtete, du würdest nie wieder kommen und vielleicht mit irgendnem anderen Kerl abhauen, nachdem ich dich so angebrüllte habe. Und weil ich inkonsequent und idiotisch bin. Und noch dazu…total verliebt in dich…,“ Davids Herz setzte einen Schlag aus. Er konnte kaum denken, geschweige denn sprechen. „Echt…?“, reibeiste er so leise, dass es der gebannt lauschende Wind draußen bestimmt nicht gehört hatte. Aber dessen Enttäuschung interessierte grad niemanden. „Na klar!“, gluckste Sascha, drückte David an sich und strahlte ihn an, als wäre er das schönste, klügste, liebste, netteste, witzigste, schlicht beste Wesen, das je auf Erden gewandelt war, „Schon seit Ewigkeiten, du Blindfisch. Hals über Kopf und bis zu den Zehen und den Haarspitzen.“ „So…weit…?“, nuschelte David und grinste verschwommen. „Ja, so weit…,“ lächelte Mr. Inkonsequent-Und-Idiotisch-Und-Total-Verliebt und hauchte einen warmen Kuss auf seine Lippen. „Das ist ziemlich cool…,“ murmelte David dumpf und fuhr mit den Fingerspitzen durch die weichen Haare in Saschas Nacken. Ihm war schwindelig. Das war alles zu viel für ihn. Sascha war viel zu nah und zu wunderbar und zu verliebt. Und er, David, war viel zu erschöpft und zu verliebt und zu angetrunken und zu glücklich, als dass es real und gesund sein konnte. Beinahe erwartete er, dass er gleich aufwachte und feststellte, dass er alles nur geträumt hatte, es Freitagmorgen war und er die Begegnung mit Sven noch vor sich hatte. „Sascha…?“, wisperte er in die Dunkelheit und schnupperte an dem Hals seines Fast-Freundes, „Heißt das…, dass wir jetzt zusammen sind? Dass du jetzt mein Sascha bist?“ Dings schnaubte und schob ihn weit genug von sich weg, um ihn anfunkeln zu können. „Und ob es das heißt!“, verkündete Sascha mit Nachdruck und so aufgeregt, dass vor Davids innerem Auge Herzchen erschienen, „Welcher Tag ist heute? Der sechzehnte, ach nein, der siebzehnte November. Wir haben ja schon nach Mitternacht. Das müssen wir uns merken, hörst du? Damit wir jeden Monat feiern können, denn ab jetzt bist du mein fester Freund, mein David. Und wenn dich irgendein anderer Kerl anbaggert, dann darf ich ihm ganz legal und offiziell den Kopf abreißen.“ David hob die Augenbrauen und öffnete den Mund, um Sascha die Grundzüge des deutschen Rechtssystems – für das auch ein Verbrechen aus Leidenschaft ein Verbrechen war – begreiflich zu machen, aber sein fester Freund plapperte schon weiter. „Und ich muss unbedingt Kolja anrufen – der wird ausflippen! Obwohl…er wird es bestimmt schon wissen. Kolja kann nämlich meine Gedanken lesen, musst du wissen. Und du musst mir Kenjis Handynummer geben, damit ich ihm danken kann. Und am Besten auch die von Sven. Und dann musst du mir alles, alles, alles von deinen letzten Tagen erzählen. Ich will alles wissen! Jedes Wort, das du gesagt hast. Und jedes Wort der anderen, aber zuerst…,“ er verstummte, zog David die Jacke von den Schultern und brachte Davids Mund mit einem rauen Schnurren wieder ganz nah an sich heran, „…zuerst…will ich dich ausziehen…!“ Eigentlich wollte David Dings noch mitteilen, dass er Svens Handynummer nicht hatte. Außerdem hätte er gern erfahren, wer dieser gedankenlesende Kolja war. Doch Sascha ließ nicht zu, dass David eine Frage formulierte, ließ nicht einmal zu, dass er irgendeinen Mucks machte. Stattdessen vergrub er die Hände fest in seinen Locken und küsste ihn abermals auf den Mund, küsste ihn stürmisch und besitzergreifend, voller Gefühl und ohne sich mit behutsamem Tasten aufzuhalten – und Davids Synapsen schmorten durch. In einer leidenschaftlichen Umarmung sanken sie auf die Matratze. Saschas sanfte Hände, seine feuchten Lippen waren überall. Sie waren an Davids Gesicht, seinem Hals, seinem Oberkörper, zwischen seinen Beinen. David stöhnte, seine Lenden brannten. Nur am Rande bekam er mit, wie seine Schuhe und all seine Kleidungsstücke von ihm abfielen, wie die Herbstblätter der verdorrten Eiche auf dem Hof. In seinem Kopf drehte sich alles vor Lust und Wonne. Gott… Dies war irgendwie ganz anders als sonst. Diese Hitze… Fühlte es sich so an, mit Sascha zusammen zu sein? Wieso hatte ihn niemand gewarnt? Oder lag es nur an dem Alkohol? Oder an ihrer Trennung? An der Euphorie? David wusste es nicht. Doch eigentlich…war es ihm auch vollkommen egal, denn dies war genau das, was er im Moment am meisten wollte. „Sascha…,“ keuchte er heiser und mit geschlossenen Augen, während fremde Finger und die angenehm kühle Zimmerluft seine glühende Haut streichelten, „Sascha…,“ „David…,“ kam die Antwort irgendwo von unten und einen Augenblick später spürte David Saschas Lippen auf seinen. Schwer atmend, mit fiebrig klopfendem Herzen erwiderte David den Kuss und schlang seine Arme um Saschas breite Schultern, ließ seine Hände über die anmutigen Muskeln seines Freundes gleiten. Ihm war schwindelig und so unerträglich heiß, als würde Lava durch seine Adern fließen. Er legte seine Hand in Saschas Nacken und zog ihn zurück in ihren innigen Kuss, als der versuchte, sich von ihm zu lösen. Sascha gluckste. Er küsste David ungestüm zurück, ließ seine linke Hand über Davids Brust zu seinem Kinn streichen und schob sich gleichzeitig zwischen seine geöffneten Beine. Als David Saschas Erregung an seiner fühlte, ließ ihn ein prickelnder Schauer sekundenlang erbeben und nach Luft schnappen. „David…?“, flüsterte Sascha rau an seinem Ohr. „J… Ja?“, wisperte David zurück und zitterte angesichts ihrer Berührung. „Willst du… Willst du immer noch mit mir schlafen?“ David riss die Augen auf und starrte an die schwarze Decke. Sein Herz machte einen Sprung vor Schreck und Begehren. Er drehte den Kopf, um Sascha anzusehen. „W…,“ machte er, sein Atem ging schwer, „Hei… Heißt das, du…du willst…?“ Sascha schmunzelte durch die Finsternis, streichelte durch Davids Locken und schmiegte sich aufreizend an ihn, sodass der gedämpft japste. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich schon ewig will…,“ „Ja, aber du…du hast auch gesagt, dass du dir Zeit lassen willst…,“ „Stimmt, aber…das war nicht der wirkliche Grund, wieso ich…noch nicht mit dir schlafen wollte…,“ gab Sascha leise zu und nahm Davids Hand, um sie zu küssen. David runzelte die Stirn und starrte Sascha an. „Was war der wirklich Grund…?“ Dings senkte einen Moment lang verlegen den Kopf. Als er den Kopf wieder hob, glaubte David ihn lächeln zu sehen. „Ich wollte erst mit dir schlafen, wenn du…mein Freund bist. Das hab ich mir geschworen.“ Sprachlos schluckte David, um seine trockene Kehle zu befeuchten. Sein Herz schlug hektisch und im gleichen Takt gegen das Saschas. „Echt…?“, hauchte er. „Ja…,“ murmelte Sascha, „Echt…,“ „Mhm…,“ machte David mit einem Anflug gesunden Menschenverstands, das sein Temperament aus seinem gelähmten Hirn kitzelte, „Und du meinst, jetzt, wo wir offiziell zusammen sind–,“ „–können wir loslegen,“ beendete Sascha seinen Satz und nickte, „Genau.“ Als Antwort zwickte David ihn empört in die Seite. „Au!“, stieß Sascha hervor und kicherte. „Du Schwein,“ brummte David. „Tut mir Leid…,“ entgegnete Sascha glucksend und ungemein reumütig, „Aber ja, das ist tatsächlich genau das, was in meinem Kopf vorging.“ David atmete tief ein. In seinem Magen begann es nervös und etwas ängstlich zu pochen. „Hör zu, mein Schatz…,“ sagte Sascha dann sanft und ernsthaft, „Wenn dir das jetzt zu schnell geht und du heute Nacht lieber nur kuscheln und reden willst, ist das völlig okay. In Ordnung? Ich passe mich deinem Tempo an. Wir machen nichts, was du nicht willst. Ich bin so verliebt in dich und ich…will einfach nur mit dir zusammen sein. Auch ganz ohne Körperkontakt, wenn du möchtest.“ Sascha lächelte so voller Liebe auf ihn hinab, dass Davids Inneres ganz schaumig wurde. Er atmete schwach, betrachtete seinen Sascha und hob die Hände, um dessen warmes und so vertrautes Gesicht zu betasten. „Aber ich will Körperkontakt mir dir…,“ erwiderte er leise, „Und ich…ich will mit dir schlafen. Nur mit dir und mit niemandem sonst. Und zwar…heute Nacht.“ Eine Sekunde schien Sascha zu versteinern. „Bist du… Bist du sicher?“, zischte er dann durch die Dunkelheit und David konnte die hoffnungsvolle Erregung in seiner Stimme hören. Amüsiert nickte David und fuhr durch Saschas seidige Haare. „Ja, ich bin mir sicher…,“ Und David war sich ganz sicher, dass er sich sicher war. Denn er war verliebt in Sascha. Er vertraute ihm, fühlte sich geborgen bei ihm. Und er wollte ihn bis zur Ekstase. Und sein Sascha…war verliebt in ihn. Er wollte ihn schon lange und hatte massenhaft Erfahrung und trotzdem… drängte er ihn zu nichts. Er überließ ihm die Entscheidung. Weil er in ihn verliebt war. Und aus irgendeinem Grund war dies für David das stärkste Aphrodisiakum von allen. Mit vor Sehnsucht, Verlangen und Aufregung flatterndem Herzen schob David seine Arme um Saschas Hals und zog ihn zu sich hinunter, um erneut diesen wundervollen Mund zu küssen, der jetzt ihm allein gehörte. Sein Magen schlug etliche Saltos hintereinander. „Schlaf mit mir, Sascha…,“ raunte David heiser gegen Saschas Lippen und verzehrende Flammen züngelten an seinen Eingeweiden entlang, „Bitte…,“ Dings versuchte zu antworten, doch seiner Kehle entkam lediglich ein erstickter Krächzlaut, in dem eine solche Gier mitschwang, dass David vorübergehend grau vor Augen wurde. Sein Herz drohte seinen Brustkorb zu sprengen und sein Unterleib zuckte. Und dass Sascha ihn einen Wimpernschlag später abermals heftig zu küssen begann, machte es nicht besser. Im Gegenteil. Sascha war langsam und vorsichtig, ganz vorsichtig. Behutsam und geduldig nahm er David den letzten Rest Angst und Sorge, erfüllte ihn von Kopf bis Fuß mit brennender Lust. Er küsste, streichelte und erregte David, bis der kaum mehr wusste, wo oben und unten war. Alles in ihm verzehrte sich nach Saschas nackter Haut, seinen warmen Händen, seinen weichen Lippen, seiner unmittelbaren, vollkommenen Nähe. Alles in ihm wartete auf die Erlösung. Und dann…war es soweit und David vergaß die Existenz des übrigen Sonnensystems. Noch nie zuvor hatte er so etwas Starkes und Ursprüngliches empfunden. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, bestand nur noch aus dem berauschenden Gefühl, ganz und gar eins mit Sascha zu sein, ihn zu spüren, in ihm aufzugehen. Das Zimmer war erfüllt von ihren flüsternden Stimmen, ihrem Seufzen und Keuchen. Sie schwitzten, sodass die beiden Fenster beschlugen. Gemeinsam bewegten sie sich auf und ab, im Einklang, wie die Wellen des Meeres. Das filmreife Quietschen des Bettes brachte sie kurzzeitig zum Lachen, bevor die nächste Woge Davids Gelächter davon spülte und durch ein unkontrolliertes Stöhnen ersetzte. Seine Wahrnehmung war wie betrunken, alle seine Sinne konzentrierten sich auf Sascha. Wie im Rausch küsste er ihn und betastete jeden Zentimeter seines heißen Körpers. Er hielt sich an ihm fest und saugte wie ein Verdurstender jeden Aspekt von Saschas Nähe hungrig in sich ein. Die Welt um David herum schwankte. Und David schwankte mit ihr. Immer schneller, immer wilder. Bis er nichts mehr sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen konnte und alle seine Sinne in einem gewaltigen Sternenschauer explodierten. Es riss ihn mit sich. Ihn und seinen Sascha. Kapitel 39: Lebendig -------------------- Meine Lieben :)! Ich freue mich und trauere gleichzeitig, denn hier ist es: Das letzte Kapitel von Mosaik, mit dem die Geschichte nach über 3 Jahren endlich abschließt. Es ist zum Abschied mal wieder etwas länger geworden, was Euch hoffentlich nicht stört^^. Ich danke Euch allen von ganzem Herzen für Eure jahrelange Begleitung, Eure Kommentare, Eure Motivation, Eure Treue, Eure Begeisterung, Eure Kritik und Eure unendliche Geduld. Ohne Eure Unterstützung hätte ich diese Geschichte wohl niemals beendet. Deshalb: Kapitelwidmung: Für Euch alle! Vielen Dank :)! Ich hoffe, wir lesen/schreiben uns bei der nächsten Geschichte wieder! Euch allen eine gute Zeit, fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr :)! Liebste Grüße, Eure Lung P.S. Wer Kolja noch nicht kennt und ihn gerne kennen lernen will, kann das in der Geschichte Papierherz von tun. ___________________________________________________________________ Mehrere Minuten lagen sie schweigend nebeneinander und rangen nach Luft. Auf seiner Stirn konnte David winzige Schweißperlen fühlen, sein Herz hämmerte gegen seine Rippen und kam nur ganz allmählich zur Ruhe. Dagegen war sein Gehirn um einiges eher wieder betriebsbereit. Oh Gott!, schrie es ungläubig, Wir haben es getan! Habt ihr das alle mitgekriegt? Wir haben es wirklich getan! Mit Sascha! Wir haben mit Sascha geschlafen! Wir hatten unser erstes Mal! Und – Grundgütiger Himmel! – es war PHANTASTISCH! Obwohl sein Körper sich unheimlich matt und schläfrig anfühlte, ließ diese Erkenntnis David wiederholt kurz schwindelig werden. Ein spontaner Impuls ließ in ihm den Wunsch entstehen, eins der Fenster aufzureißen und diese welterschütternde Neuigkeit in die Nacht hinaus zu brüllen. Dann fiel ihm ein, dass dies wohl weitestgehend uninteressant für die tierischen Bewohner des Zentrums wäre. Und außerdem irre peinlich. Träge, aber glückselig, drehte David den Kopf, um zu Sascha hinüber zu sehen. Der hatte die Augen geschlossen und atmete ebenfalls noch ein bisschen schwer. David wollte etwas sagen, wusste aber beim besten Willen nicht, was das sein sollte. Was sagte man nach dem ersten Mal? Stand darüber etwas im Knigge? Vielleicht Wow, das war geil.? Oder Können wir das bitte bald wiederholen? oder eher Haha, hat kaum weh getan.? Oder sollte man eventuell doch den Klassiker War es für dich so gut wie für mich? wählen? David konnte sich nicht entscheiden. In seinen Ohren klang irgendwie alles gleich dämlich. Trotzdem öffnete er den Mund. „Is mir warm…,“ nuschelte er. Dings klappte die Augen auf und erwiderte Davids Blick. Er lächelte verschwommen. „Mir auch…,“ wisperte er zurück, „Soll ich eins der Fenster öffnen?“ David nickte kraftlos und sah Sascha dabei zu, wie der sich ächzend aus dem Bett hievte und das rechte Fenster öffnete. Die Tatsache, dass die Scheibe beschlagen war, entlockte ihm ein anzügliches Kichern, was David die Augen verdrehen ließ. „Sag es nicht!“, befahl sein inzwischen hochgefahrenes Temperament, bevor Mr. Goodfuck einen seiner schmutzigen Kommentare abgeben konnte, „Sag mir lieber, ob du hier was zu trinken hast. Ich hab furchtbaren Durst.“ „Neben dem Bett müsste ne Flasche Wasser stehen,“ gluckste Sascha. „Danke…,“ Während David die Flasche suchte und fand, schob er die Tube Gleitgel und die Packung Kondome aus seinem Sichtfeld, da ihm dieser Anblick erneut Herzklopfen bescherte. Er trank und beobachtete, wie Sascha strahlend in die Mitte des Zimmers hüpfte. „Was wird das denn?“, erkundigte er sich, nachdem er die Flasche wieder abgesetzt hatte. „Nix!“, kiekste Sascha, „Ich bin nur so glücklich, dass ich jetzt unbedingt tanzen muss.“ „Tanzen?“, echote David verblüfft. „Ja! Schau her, ich tanze meinen Liebestanz für dich!“ „Deinen Lie–,“ Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken. Sascha begann zu tanzen. Doch eigentlich war es weniger ein Tanz, als vielmehr die beschämendste Bewegungsabfolge, die ein nackter Mann zu Stande bringen konnte. David musste sich die Hände vor den Mund schlagen, um nicht laut loszuprusten. „Das soll ein Tanz sein?“, lachte er, „Das sieht aus wie ein spastischer Anfall!“ „Wie bitte?“, entrüstete sich Dings grinsend, „Dann sieh dir mal das an!“ David konnte nicht mehr. Er musste sich die Augen zuhalten, während er sich vor fremdschämendem Lachen bog. Die Vorstellung, dass dies der gleiche Kerl war, in den er schon seit Wochen verliebt war, und mit dem er gerade zum ersten Mal geschlafen hatte, brachte ihn beinahe zum Weinen. „Hör auf!“, flehte er inständig, „Das ist ja fürchterlich!“ „David, guck mal! Schau dir an, was ich mit meiner Taille machen kann!“ „Nein, nein! Ich will‘s nicht sehen. Bitte nicht!“ „Und jetzt in die andere Richtung!“ „Wolltest du nicht Kolja anrufen?“, rief David vor lauter Verzweiflung. „Oh ja!“, jauchzte Mr. Scheußlichster-Liebestanztänzer-Ever begeistert und hörte zu Davids Erleichterung sogleich zu tanzen auf, „Gut, dass du mich daran erinnerst. Kannst du mir bitte mal mein Handy geben?“ David kramte es unter Saschas Kopfkissen hervor und reichte es ihm. Aufmerksam musterte er Dings beim Wählen und Warten. Er wollte gerade einwenden, dass es mitten in der Nacht war und der geheimnisvolle Kolja wahrscheinlich schon schlief, da ging ein solches Leuchten über Saschas Gesicht, dass David die Kinnlade auf die Brust sank. „Baby!“, jubilierte Sascha inbrünstig ins Telefon, „Hab ich dich geweckt? Tut mir Leid, aber ich muss dir was erzählen!“ Unter Davids alarmiertem Blick schlenderte Sascha strahlend im Zimmer auf und ab. Er schien andächtig zu lauschen. Dann blieb er stehen und lachte. „Du bist unglaublich! Ich wusste, dass du es schon weißt! Hab ich’s dir nicht gesagt, David? Er kann meine Gedanken lesen!“ Breit grinsend sah Sascha ihn an und gestikulierte Richtung Handy. David zog jedoch nur die Augenbrauen hoch. Dings‘ Begeisterung versetzte ihm einen unerwarteten Stich. Jeder kann deine Gedanken lesen, du Idiot!, schoss es ihm missmutig durch den Kopf, Die drehen sich nämlich fast nur um Sex. So toll kann dein Baby also nicht sein. „Ja, wieso?“, fragte Sascha ins Handy und schaute David an, der seinen Blick wie ein lauerndes Raubtier erwiderte, „Oh. Daran…,“ Dings runzelte zerknirscht die Stirn, „Du hast Recht, daran habe ich gar nicht gedacht…,“ er biss sich kurz auf die Lippe, dann strahlte er wieder, „Werde ich gleich machen, versprochen. Ich wollte dir nur kurz die famosen Neuigkeiten erzählen, damit du dich für mich freust,“ er grinste und senkte den Blick auf seine bloßen Zehen, „Danke. Und gibt es bei dir…?“ Entnervt und verärgert verdrehte David erneut die Augen und ließ sich zurück in die Federn sinken. Sascha konnte ihn mal und Kolja – was für ein Name sollte das überhaupt sein? – konnte ihn gleich mit. Vielleicht sollte er sich in sein eigenes Bett verziehen und Mr. Kolja-Ist-Ja-So-Unglaublich in Ruhe telefonieren lassen. Doch bevor er sich tatsächlich dazu entschließen konnte, sprach Sascha schon weiter. „Okay,“ sagte er und lächelte, „In Ordnung, morgen. Mach ich. Dann schlaf schön, Engelchen. Ich liebe diiich!“ Zum Abschied und zu Davids Abscheu knutschte Dings noch ein paar Luftküsse in sein Handy, dann klappte er es geräuschvoll zu und wandte sich mit der Miene eines verliebten Dorftrottels wieder David zu. „Liebe Grüße von Kolja,“ sagte er. „Danke…,“ knurrte David und wünschte besagtes Engelchen zum Teufel. „Er hat mir gesagt, dass es sehr unhöflich ist, mit ihm zu telefonieren, wenn mein frischgebackener Freund noch bei mir im Bett liegt.“ „Da hat er verdammt Recht!“, grollte David, warf die Beine über den Bettrand und haschte nach seiner Boxershorts, „Ich glaub, ich geh rüber und–,“ „Nein!“, schnitt Sascha ihm entsetzt das Wort ab und war mit zwei Schritten bei ihm, „Bitte nicht gehen! Es tut mir Leid, ich bin schlecht erzogen. Ich mach’s nie wieder, ehrlich.“ David schnaubte, ließ es aber zu, dass Sascha ihn zurück ins Bett bugsierte, sorgfältig zudeckte und sich dann zu ihm unter die Decke legte. „Wieso hast du ihm gesagt, dass du ihn liebst?“, wollte David wissen, was viel trübsinniger herauskam, als er geplant hatte. „Weil ich das tue,“ erwiderte Dings unbekümmert, „Kolja und ich ke– Hey, wo willst du hin?“ „In mein Zimmer!“, giftete David. „Nein, bleib hier!“, zeterte Sascha verzweifelt und klammerte sich so fest an ihn, dass David das Bett partout nicht verlassen konnte, „Sei nicht böse, komm her! Ich erklär’s dir, ja?“ Mit knirschenden Zähnen kam David der Aufforderung nach. Sein Herz kollerte, zerrissen zwischen dem Wunsch, sich eng an Saschas warmen Körper zu kuscheln und ihn mit einem glühenden Schürhaken zu verdreschen. Zu allem Überfluss bemerkte er nun auch noch das verhaltene Schmunzeln in Dings‘ Gesicht. „Was grinst du so?“, zischte David erbost. „Och, ich find’s nur entzückend, wie eifersüchtig du bist.“ „Ich bin nicht eifersüchtig!“, fauchte David und konnte das unangenehme Gefühl in seinem Bauch auf der Stelle identifizieren. „Das musst du auch nicht sein!“, entgegnete Mr. Taktlos-Ohne-Ende vergnügt und wehrte Davids Faust mit seinen Händen ab, „Koljas und meine Liebe ist rein platonisch, echt.“ David schnaubte. „Ich bezweifle ernsthaft, dass du dazu fähig bist, eine rein platonische Liebe zu führen.“ „Aber das bin ich!“, insistierte Sascha mit geweiteten Augen, „Hör zu… David. Kolja und ich sind nur Freunde. Ganz ehrlich. Er ist mein bester schwuler Freund. Aber wir waren nie verliebt ineinander und ich hab nie mit ihm geschlafen. Also… Okay, wir haben mal rumgemacht, aberdasistschonlangeher – nicht weggehen! Das war bei unserer allerersten Begegnung. Danach ist nie wieder etwas gelaufen, versprochen. Wir verstehen uns einfach nur sehr gut. Er wohnt nicht in Hamburg, also sehen wir uns leider nicht so oft. Aber wir telefonieren regelmäßig und Kolja kennt mich besser, als viele andere meiner Freunde. Du würdest ihn mögen, er ist wirklich super. Er ist total nett. Und klug und er wusste schon, dass ich in dich verliebt bin, als ich es selbst noch nicht wusste.“ „Ach ja…?“, fragte David misstrauisch, inzwischen aber ruhiger. Sascha nickte, zufrieden und offenbar erleichtert. „Ja. Wir haben telefoniert. Das war irgendwann im Oktober. Ungefähr…fünfundvierzig Minuten oder so. Und davon habe ich vierundvierzig Minuten lang nur über dich geredet. Und dann hat er mich gefragt: Sag mal, verliebst du dich etwa gerade in den, Sascha? Und ich so: Was? Pfff… Quatsch! Ich doch nicht! Aber zwei Tage später habe ich ihn wieder angerufen und gesagt: Du hattest Recht, Kolja. Ich verliebe mich in David.…,“ „Echt?“, flüsterte David und spürte sein Herz freudig sirren. Sascha nickte abermals und streichelte seine Locken. „Ja, echt…,“ lächelte er und musterte David voller Wärme und Zärtlichkeit, „Wenn wir in den letzten Wochen telefoniert haben, habe ich ihn immer endlos mit dir vollgesülzt. Und er hat sich alles klaglos angehört: Wie umwerfend du bist und wie verrückt ich nach dir bin und wie sehr ich es genieße, mit dir zusammen zu sein. Und deshalb, mein Liebling, kann überhaupt nix zwischen mir und Kolja sein. Weil ich nämlich nur dich will. Und außerdem ist Kolja auch grad verknallt.“ „Ach…?“, murmelte David, dem der Kopf immer noch von Saschas Liebesbekundungen schwirrte, mit geröteten Wangen. „Ja…,“ brummte Sascha und klang eindeutig grimmig, „In Jannis. Einen misanthropischen Bücherwurm. Ich weiß echt nicht, was er an dem findet. Aber Kolja ist ganz vernarrt in ihn. Obwohl er letztens ganz geknickt wegen ihm war.“ „Tut mir Leid für Kolja,“ erwiderte David leise und stellte verdutzt fest, dass er das tatsächlich ernst meinte, „Aber wenn er wirklich so cool ist, wie du sagst, dann kriegt er diesen Jannis bestimmt noch rum.“ „Ja, bestimmt,“ antwortete Sascha und David konnte sein Strahlen durch die Nacht strahlen sehen, „Du bist so süß…,“ schnurrte er dann und zog David an sich, um ihn zu küssen. David ließ es geschehen und genoss das warme, glückliche Kribbeln, das Dings‘ Nähe in ihm auslöste. „Mein Herzchen…,“ wisperte Sascha hingerissen, „Mein hübsches Goldlöckchen… Mein sexy Marzipantörtchen, mein–,“ „Bitte hör auf…,“ unterbrach David ihn entgeistert, „Das ist ja schaurig! Von diesen Namen wird mir ganz schlecht.“ „Daran wirst du dich gewöhnen müssen…,“ kicherte Mr. Ich-Kenne-Die-Schaurigsten- Kosenamen-Der-Welt, „Jetzt wo du mein Freund bist, hab ich alles Recht der Welt, dir solche Namen zu geben.“ „Das wüsste ich aber!“, protestierte David entschieden, „Da schau ich mir lieber nochmal deinen bescheuerten Liebestanz an.“ Dings lachte. „Der ist nicht bescheuert…,“ behauptete er, „Und – nur damit du’s weißt – Kolja fand meinen Liebestanz toll!“ „Dann tanz ihn doch für Kolja.“ „Mach ich auch. Nackt. Nur so wirkt er richtig.“ „Ich warne dich…!“ „Wovor denn?“ „Wenn du ihn nackt für Kolja tanzt, dann schlage ich dich. Denn jetzt, wo du mein Freund bist, habe ich alles Recht der Welt dazu.“ „Das würdest du nie tun.“ „Wollen wir wetten?“ „Nein.“ Schadenfroh begann David zu giggeln. „Hör auf zu lachen!“, brüskierte sich Sascha, jedoch eindeutig ebenfalls kichernd, „Seinen Freund zu schlagen, ist eine böse Sache.“ „Seinen Freund zu betrügen auch,“ konterte David. „Mhm,“ machte Dings leise, „Da hast du Recht. Und da fällt mir ein, dass du mir noch alles über deine Begegnung mit Sven erzählen musst. Und all deine Outings.“ „Ach ja…,“ gähnte David und schmiegte seinen Kopf ins Kissen. „Und dann…,“ fuhr Sascha fort, „Muss ich dir auch noch was erzählen.“ „Was Schlimmes?“, erkundigte sich David beunruhigt und zu seiner Betroffenheit zuckte Sascha resigniert die Schultern und schniefte fast lautlos. „Geht so…,“ „Oh Gott!“, brachte David hervor und starrte Sascha mit bestürzt klopfendem Herzen an, „Was ist passiert?“ Mr. Ich-Mach‘s-Spannend seufzte und fuhr sich kurz über die Stirn. „Meine Mutter hat heute Abend angerufen.“ David riss Mund und Augen auf. „Echt?“, keuchte er entsetzt, „Heute Abend? W… Was wollte sie? Was hat sie gesagt?“ Sascha erwiderte seinen aufgebrachten Blick und befeuchtete sich die Lippen. „Sie will morgen kommen und mich zurück nach Hamburg holen.“ Davids Atem stockte. Mit einem Mal saß er aufrecht im Bett. „Wie bitte?!“, bellte er und seine zornige Stimme ließ Sascha zusammenfahren, „Und das sagst du mir erst jetzt?!“ „T… Tut mir Leid!“, stammelte Sascha schuldbewusst und richtete sich ebenfalls auf, „Ich hab’s völlig vergessen, als du in mein Zimmer gekommen bist. Ehrlich. Es ist mir vorhin erst wieder eingefallen.“ „Was hast du ihr geantwortet?“, fragte David verzweifelt, „Doch hoffentlich, dass sie sich das in die Haare schmieren kann, oder?!“ „David, das…das kann ich nicht…,“ flüsterte Sascha und sein plötzlicher Kummer tat David körperlich weh, „Ich hab’s versucht, ich...ich schwöre. Ich bin beinahe ausgerastet, ich hab ihr gesagt, dass ich bleiben will, aber ich…ich komme einfach nicht gegen sie an. Hinterher war ich so wütend auf mich selbst, aber ich…,“ Er verstummte und ließ den Kopf hängen. Hinter Davids Stirn drehte es sich. Er konnte die Bedeutung von Saschas Worten noch nicht ganz begreifen. Sollte das heißen, dass Sascha… dass er morgen zurück nach Hamburg gehen würde? Das Zentrum verlassen würde? Ihn verlassen würde? Ausgerechnet jetzt? Das durfte einfach nicht wahr sein! „Nein…,“ wisperte David entschieden und ballte die Fäuste, „Nein. Das werde ich nicht zulassen. Ich… Ich werde dich nicht gehen lassen. Du bleibst hier. Das wär ja noch schöner, dass diese Schreckschraube dich hier einfach wegholt.“ Bei seinen Worten hatte Dings den Kopf langsam wieder gehoben. Jetzt beäugte er David, als hätte er einen just erschienenen Engel vor sich. „David…,“ hauchte er. „Hör zu, Dings,“ begann David geschäftig und in einer Tonlage, die keinen Widerspruch zuließ, „Wenn sie morgen kommt, dann wirst du ihr ganz ruhig sagen, dass du nicht gehen wirst und dass sie dich auch nicht dazu zwingen kann. Und du wirst ihr sagen, dass du Sozialpädagogik studieren willst und nicht ihr Eigentum bist und sie endlich aufhören soll, dein Leben kontrollieren zu wollen. Hast du verstanden?“ Sascha glotzte ihn mit sprachlos geöffnetem Mund an. „D… Das schaff ich niemals…,“ krächzte er dann, „Niemals…,“ „Doch, das wirst du,“ erwiderte David und nahm Saschas Hand in seine, „Das wirst du. Denk an deinen Alptraum. Darum geht es dabei doch. Dass du dich von ihrem Einfluss befreist und deine eigenen Entscheidungen triffst und nie wieder Alpträume haben musst. Und das wirst du schaffen! Denn ich werde neben dir stehen. Wenn du…möchtest. Ich werde neben dir stehen und dir helfen. Und dann…wirst du es einfach schaffen müssen. Weil ich sonst nämlich…,“ er musste nur einen Moment über eine angemessene und wirkungsvolle Drohung nachdenken, „…nie wieder mit dir schlafen werde.“ Trotz seiner Panik entkam Saschas Lippen ein kleines Glucksen. „Das wär schrecklich…,“ raunte er ernsthaft und zu Davids kopfschüttelnder Belustigung. Dann drückte er Davids Hand und musterte ihn. „Und das…würdest du wirklich für mich tun…?“, fragte er hoffnungsvoll. „Ja doch!“, antwortete David scharf, „Natürlich. Ich…will nicht, dass du gehst…,“ Sascha lächelte ihn an. Erst sanft und glücklich, dann…anders. „Wieso nicht?“, hauchte er rau und mit einem unmissverständlichen Wunsch. David verdrehte die Augen. „Das weißt du doch…,“ murrte er. „Sag’s mir nochmal…,“ „Weil ich…in dich verliebt bin…,“ gab David nach und senkte verlegen den Blick. Einen Herzschlag später lag Saschas Mund auf seinem. David seufzte und hob sein Kinn dem Kuss entgegen. Saschas Zunge drängte verlangend zwischen seine Lippen und seine Hände strichen so warm und intensiv über Davids nackte Haut, dass dessen Knie auch im Sitzen noch weich wurden. Leise brummend ließ er sich von Sascha zurück auf die Matratze drücken. „David…,“ schnurrte Sascha in Davids Ohr und die Tonlage, mit der Dings seinen Namen aussprach, reichte völlig aus, um dem Angesprochenem zu verraten, bei welchem Thema sie jetzt angekommen waren. Davids Blutdruck stieg aufs Stichwort. „Ich werde meiner Mutter morgen alles sagen…,“ versprach Sascha heiser und streichelte David, sodass der sich ein gedämpftes Stöhnen verkneifen musste, „Nur damit du deine Drohung nicht wahr machen kannst. Denn… Mein Gott! – der Sex!“ Automatisch schnellte Davids Hand vor, um ihm den Mund zu zuhalten. „Kein Wort!“, befahl er mit glühenden Ohren und rasendem Herzen, „Ich will’s nicht hören!“ „Wieso nicht?“, fragte Sascha, nachdem er Davids Hand von seinen Lippen gezogen hatte, mit – zum Glück – wieder einigermaßen normaler Stimme, „Hinterher redet man darüber, das ist wichtig. Man nennt das Pillow Talk.“ „Ach ja?“, knurrte David. „Ja. Aber gut, ich halte mich zurück. Fang du an. Aber sei ehrlich. Also… Wie fandst du es?“ Davids Magen schlingerte. Irgendwie war es ihm ziemlich peinlich, darüber zu reden. Wie sollte er in Worte fassen, was er empfunden hatte? Wie sollte er beschreiben, wie schön, wie perfekt es gewesen war? Was war aus Der Gentleman genießt und schweigt. geworden? Und wie sollte er darüber sprechen, solange Sascha noch halb auf ihm drauf lag? „Geh runter von mir!“, wies er ihn also an, „Dann sag ich es dir. Vielleicht...,“ Mr. Pillow-Talk schnaubte, als würde er diesen Deal für äußerst unfair halten, kam Davids Aufforderung aber trotzdem nach und legte sich wieder brav neben ihn. „Okay,“ sagte er dann mit vor Neugier vibrierender Stimme, „Bin unten. Also?“ David verdrehte einmal mehr die Augen. Sein Herz versteckte sich beschämt hinter einem seiner Lungenflügel. „Ich fand‘s…,“ zwang er sich dennoch zu antworten, „Gut.“ „Gut?“, wiederholte Sascha sogleich schockiert, „Das ist alles? Gut?! Das war ja wohl viel mehr! Noch viel besser, als ich es mir erträumt habe. Es war großartig! Atemberaubend, phänomenal! Absoluter Hammer!“ Davids Kopf wurde so heiß, dass er zu explodieren drohte. Er kroch unter die Bettdecke. Doch Saschas munteres Gelächter drang trotzdem zu ihm durch. „Was machst du denn da?“, gluckste her, „Komm wieder hoch. Ist dir das so unangenehm?“ „Ja…,“ jammerte David und lugte über den Bettdeckenrand, „Irgendwie schon…,“ „Aber warum denn?“, grinste Sascha und zog ihn weiter an die frische Luft, „Das ist doch klasse, dass es für uns beide gleich beim ersten Mal so gut war. Oder nicht?“ „Ich weiß…,“ winselte David, „Aber trotzdem…,“ „Quatsch!“, meinte Sascha energisch, „Du solltest dich freuen, anstatt dich zu verstecken. Ich wünschte, mein erstes Mal mit einem Mann wär damals so gut gewesen. Ach, ich bin einfach eine Granate im Bett. Ich wusste es schon immer.“ David schenkte dem vor Selbstzufriedenheit tropfenden Sascha einen langen, ungläubigen Blick. Und diesen Kerl hatte er sich für sein erstes Mal ausgesucht. Es war zu traurig. „Ich werde jetzt schlafen,“ erklärte er kühl und schloss die Augen, „Gute Nacht.“ „Schlafen?!“, empörte sich Dings, „Wie kannst du jetzt an schlafen denken? Jetzt, wo wir gerade eben erst zusammen gekommen sind und ich dich endlich entjungfern durfte?“ David schlug ihn. „Auaaa!“, jaulte Sascha lachend und hielt sich den Oberarm, „Aua, das hat weh getan…,“ „Gut so!“, knurrte David streng, „Sprich da gefälligst nicht so drüber, als wäre das nur…keine Ahnung…nur ein Geschäft oder so gewesen! Für mich war das viel, viel mehr.“ „Aber für mich doch auch…,“ flüsterte Dings mit großen Augen, „Du machst dir keine Vorstellungen darüber, wie glücklich es mich macht, dir so nah zu sein. Zu fühlen, wie sehr du mich willst, wie du mir vertraust und dich einfach fallen lässt. Wie ein…Geschenk. Ich meine, was für ein Riesenschritt… Im Vergleich dazu, wie sehr du mich mal verabscheut hast…,“ seine Stimme erstarb ein paar Herzschlage lang, währenddessen David gebannt an seinen Lippen hing, „Manchmal dachte ich, ich würde nie an dich herankommen. Du warst manchmal so abweisend und…kalt. Und jetzt… Sieh uns an. Hier liegen wir und du…hast es angenommen. Du lässt es zu, lässt mich zu. Das macht mich absolut glücklich, weißt du…?“ David starrte ihn an. Sein Herz bebte und zitterte von all den Freudenfeuern in seinem Inneren. Wie ein Ballon stieg die Wärme in seinen Kopf und die Verliebtheit in seinen Bauch. „Okay…,“ hauchte er, „Okay… Wenn du es so sagst…,“ Verlegen knabberte er an seinem kleinen Finger. „So geht es mir ja auch…,“ fuhr er leise fort, „Ich glaube, ich…ich kann nicht verliebter in irgendwen sein, als ich grad in dich verliebt bin. So…mit allem…,“ Als David dem Echo seiner Worte lauschte, schloss er stöhnend die Augen und verfiel in beschämtes Schweigen. Dümmer und unbeholfener konnte man seine Gefühle jawohl nicht ausdrücken. Wahrscheinlich würde Mr. Eloquent ihn gleich auslachen. Doch stattdessen stieß Sascha natürlich ein glückseliges Quietschen aus und herzte ihn stürmisch. „Oh David!“, flötete er und bedeckte jeden Millimeter von seinem Gesicht mit Küssen, „Du bist sooo süß! Mein Schätzchen! Mein Schätzchen…,“ Dings unterbrach seine Küsse, um ein überwältigtes Seufzen auszustoßen und ihn dann richtig zu küssen. Einmal mehr öffnete seine Zunge nachdrücklich Davids Mund und seine Hände schoben sich begierig über Davids nackte Seiten, zu seinem Hintern. Vor Schreck und plötzlich hochsprudelnder Erregung verkrampften sich Davids Lenden. „David…,“ wisperte Sascha rau, „Lass es uns gleich noch einmal tun…,“ „Mhm?“, brachte der Angesprochene geschockt hervor. „Ja, jetzt sofort…,“ antwortete Sascha heiser und David konnte Dings‘ Sexgrinsen so deutlich an seinen Lippen spüren, dass sein Herz einen Schlag lang aussetzte. Seine Gedanken verblassten im Nebel und sein Blut begann zu kochen. Doch noch war er Herr seiner Sinne. Trotz der Tatsache, dass Sascha seine Hände nun – Himmel! – tiefer und fester zufassen ließ. „N…Nein!“, stieß David hervor und presste den lodernden Sascha von sich weg, „Nicht jetzt! Reiß dich zusammen, Mann!“ „Wieso nicht?“, fragte Sascha beleidigt. „Sei nicht so unsensibel!“, schimpfte David und schüttelte Saschas Hände und seine eigene Lust von sich ab, „Ich hab dir schließlich gerade nochmal meine Gefühle gestanden.“ „Eben!“, insistierte Sascha, „Ich werde spitz, wenn du mir sagst, wie verliebt du in mich bist.“ „Reizend…,“ knurrte David frotzelnd, „Mir hätte klar sein sollen, was für ein Fass ich da geöffnet habe. Vermutlich wirst du jetzt alle zehn Minuten ankommen, was?“ „Worauf du dich verlassen kannst…,“ schnurrte Dings und versuchte sich wieder näher an David zu schmiegen, „Ab jetzt will ich dich jede Nacht: morgen, übermorgen, überübermorgen… Mehr noch, ich will dich immer und überall: In meinem Bett, in deinem Bett, unter der Dusche, in der Zivi-Küche und natürlich überall im Tierbetrieb! In der Futterküche, der Quarantäne, dem Rep.-Raum, der Nord, dem–,“ „Doch nicht in der Nord, du notgeiler Bock!“, blaffte David und verachtete sich selbst ein bisschen dafür, wie sehr ihn Saschas obszönes Gebrabbel anmachte, „Da ist es viel zu kalt um diese Jahreszeit.“ „Okay…,“ Mr. Notgeiler-Bock lachte, „Dann eben nicht in der Nord.“ „Du bist echt unmöglich…,“ zischte David und hielt vorsorglich Saschas gefährliche Hände fest, „Wir sollten jetzt wirklich schlafen. Es ist bestimmt schon total spät und morgen müssen wir beide arbeiten.“ „Ich kann jetzt aber noch nicht schlafen,“ protestierte Dings gedämpft, „Ich bin viel zu glücklich zum Schlafen.“ David verdrehte die Augen und seufzte schwer. „Dann schlafen wir eben nicht, sondern–,“ „Vögeln?“ David schlug erneut zu, Dings entwich ein überraschtes Japsen. „Reden!“, schnappte David ärgerlich. „Aber worüber willst du denn reden?“, winselte Sascha und rieb sich den hoffentlich heftig schmerzenden Bauch. „Ich dachte, ich soll dir alles von meinem Outing erzählen?“ „Ach ja!“, mit einem Schlag war Dings wieder bei Trost und der Inbegriff von strahlendem Interesse, „Bitte! Erzähl mir alles. Fang ganz von vorne an, ja?“ „Okay…,“ erwiderte David besänftigt, „Also. Ich b–,“ „Einen Moment,“ unterbrach ihn Sascha und dann – sehr unterwürfig, „Darf ich dich beim Erzählen wenigstens in den Arm nehmen?“ „Na gut…,“ brummte David und ließ bereitwillig zu, dass Dings ihn umarmte, „Aber lass deine Hände bei dir, sonst fessle ich dich.“ „Das finde ich sehr sexy,“ gurrte Sascha und quiekte, als David ihn zum zweiten Mal kniff, „Au, au, au… Tut mir Leid, bin schon still. Bitte erzähl.“ David erzählte. Und…grundgütiger Gott! Wie hatte er das nur alles durchgehalten? Es war sooo viel geschehen, so viel hatte sich innerhalb kürzester Zeit in seinem Leben bewegt: Sein Verhältnis zu seinen Eltern, sein Verhältnis zu seinen Brüdern, sein Verhältnis zu Kenji, sein Verhältnis zu Sven und Thorben. Und natürlich sein Verhältnis zu Sascha und zu sich selbst. Er hatte sich seinen größten Ängsten gestellt und offen über seine Gefühle gesprochen. Er hatte gehandelt und war gewachsen. Er hatte sich verändert. Und – hahaha! – obendrein das erste Mal mit einem Mann geschlafen. Es war kaum zu glauben. Und apropos Mann. Während er erzählte, stellte David überdies fest, dass Sascha nicht immer ein so tadelloser Zuhörer war wie in der Vergangenheit. In dieser Nacht unterbrach er David ständig, um schmachtende Geräusche von sich zu geben oder ihn mit zärtlichen Kosenamen und begeisterten Knuddeleinheiten zu überschütten. Irgendwann sah sich David tatsächlich dazu gezwungen, ihm mit einer seiner Socken die Hände zusammen zu binden und ihm obendrein den Mund zu zuhalten, damit er seine Geschichte überhaupt abschließen konnte. Aber eigentlich hatte er erwartet, dass Mr. Unaufhaltsam sich noch vor seinem letzten Satz von diesen Fesseln befreien würde, um sich auf ihn zu stürzen und abzuknutschen. Doch stattdessen…schwieg Dings auch nachdem David vollständig geendet hatte. Vorsichtig zog David die Hand von Saschas Mund. Keine Reaktion. „Hee…,“ zischte er und starrte angestrengt durch die Finsternis, „Schläfst du mit offenen Augen?“ Dings erwachte mit einem Atemzug. „Nein,“ flüsterte er, „Ich hab nur nachgedacht.“ „Worüber?“, erkundigte sich David und tastete argwöhnisch nach der Socke an Saschas Handgelenken – bei diesem Typen musste man immer damit rechnen, dass gespielte Harmlosigkeit eine gefährliche Finte verdeckte. Doch offenbar schwelgte Sascha tatsächlich in Gedanken, denn er bewegte sich auch dann nicht, als David seinen Sockenknoten bereits gelöst hatte. „Über uns und das Team…,“ antwortete Dings schließlich und David horchte auf, „Meinst du, wir…wir sollten es ihnen sagen? Oder es besser noch eine Weile geheim halten? Bis wir sicher sein können, dass sie…kein Problem damit haben.“ David betrachtete die verschlossene Miene seines Freundes. Er schluckte. Irgendetwas sagte ihm, dass Sascha die Frage nicht so meinte, wie er sie stellte. Er fühlte, dass Sascha schon wusste, was er wollte und für richtig hielt. Er stellte diese Frage für ihn, um ihm einen Ausweg zu gewähren, falls er…noch nicht bereit war, seinen Kollegen im Zentrum die Wahrheit über sich zu sagen. Über sich und Sascha. Aber David war lange genug weggelaufen. Er hatte sich lange genug versteckt. Er war schon so weit gekommen. Da würde er nicht auf den letzten Metern schwächeln. „Nein…,“ wisperte er leise, „Wir werden es nicht geheim halten. Wir werden es ihnen morgen sagen. Bei der Arbeitsverteilung, wenn alle da sind. Ich werde ihnen sagen, dass ich schwul bin. Und ich werde ihnen auch sagen, dass wir zusammen sind,“ er nickte sich selbst zu und fuhr fort, „Sie werden es ganz bestimmt akzeptieren. Wenn sie echte Freunde sind, dann werden sie es tun. Miri und Linda werden auf keinen Fall etwas dagegen haben. Und Bettina auch nicht, denke ich. Wenn, dann würde sie es nicht zeigen. Und Mark und Heiko…werden es auch okay finden. Wenn Heiko es nicht sowieso schon weiß. Und ich glaube, Freddy, Sebastian und Eric werden es ebenfalls akzeptieren. Die Einzigen, die vielleicht Schwierigkeiten machen, sind Jessika und Ben. Aber Jessika…kann mich mal. Die ist doch nur eifersüchtig, weil ich dich gekriegt hab und nicht sie. Und Ben… Ach, wen interessiert eigentlich Ben? Wenn der ein Problem mit mir hat, dann ist das ein Armutszeugnis für ihn, nicht für mich. Und wenn mich das nächste Mal irgendein Gast fragt, dann werde ich ihm ebenfalls die Wahrheit sagen. Ich werd mich nicht mehr verstellen. Und ich werde dich nicht mehr verleugnen. Nicht für meine Familie, nicht für meine Freunde und erst recht nicht für irgendwelche Leute, deren Meinung mir komplett gleichgültig sein kann.“ David atmete aus und wartete. Als Sascha nach wie vor stumm blieb, hob er den Kopf und betrachtete ihn. Dings bewegte keinen Muskel, starrte ihn nur unverwandt an. „Was ist?“, fragte David alarmiert, „Sag doch was!“ „Ich kann nicht…,“ hauchte Sascha, „Wenn ich meinen Gefühlen jetzt freien Lauf lasse, muss ich sofort wieder den Liebestanz tanzen.“ David entspannte sich auf der Stelle. Er grinste und schloss die Augen. „Dann unterdrück sie besser weiter. Das bedeutet, dass ich jetzt endlich schlafen kann.“ Er wäre wohl tatsächlich eingeschlafen, hätte Saschas Beherrschung angehalten. Doch selbstverständlich tat sie das nicht und das nächste, was David wahrnahm, war ein Gefühlsausbruch á la Sascha vom Feinsten. „Oh, David!“, kreischte er wie eine Alarmanlage los und sprang auf die Füße, um wie ein durchgedrehtes Känguru auf dem Bett umher zu springen, „Scheiße, scheiße, scheiße! Ich kann’s nicht fassen! Oh Gott! Ich flippe aus!“ Fassungslos starrte David ihn an und bemühte sich hektisch, alle seine Gliedmaßen in Sicherheit zu bringen. Mehrere Sekunden lang fragte er sich, ob er angesichts dieses Ausbruchs lachen oder Schluss machen sollte. Dann warf Sascha sich auf ihn, küsste alles, was er von David erreichen konnte, und vertrieb damit jegliche Bedenken aus seinem Geist. „David, du bist so toll, so wunderbar, so cool und mutig und einmalig! Ich bin so wahnsinnig verliebt in dich! Mein kleiner Liebling, mein süßes Schätzchen, mein Baby!“ „Stopp!“, blaffte David entrüstet und versuchte vergeblich, sich diesen Psychopathen vom Hals zu halten, „Kein Baby!“ „Hasimausi, Schnuckibärchen, Purzelchen!“ „Oh Gott! Das wird ja immer schlimmer!“ Dings lachte sich halb kaputt, sodass David ihm einfach eins der Kissen ins Gesicht drücken musste, um sein unverschämtes Gelächter damit abzuwürgen. Sascha wehrte sich. Sie rangen miteinander um Kissen und Bettdecke und während sich Mr. Kreativ immer mehr, immer grauenerregendere Kosenamen für David einfallen ließ, versuchte der ihn verzweifelt schimpfend zum Schweigen zu bringen. Sie lachten beide so sehr, dass sie kaum mehr sprechen konnten. „Ruhe!“, krächzte David irgendwann, schon ganz schwach vor Lachen, „Halt endlich das Maul, du…P…Penis…kopf!“ Sascha konnte nicht mehr. Tränen benetzten seine Wangen, während er lachte und sich schüttelte und das eben erbeutete Kissen wieder an David verlor. „P…eniskopf…,“ brachte Dings mühsam hervor und hielt sich den Bauch, „Penis…,“ „Du bist schrecklich!“, schluchzte David und begann ihn mit dem Kissen zu verprügeln, „Schrecklich, schrecklich, schrecklich!“ Ja, das war er: Schrecklich und…dreist und absurd und pervers und durchgedreht und krank und überhaupt! Er war unmöglich und machte David wahnsinnig! Aber er machte ihn auch grenzenlos glücklich. Denn er war ehrlich und warm und fröhlich und niedlich und liebevoll und einfach…göttlich. Und David war ohne Ende süchtig nach ihm. Selbst wenn er ihn nervte, selbst wenn er so merkwürdig und verrückt wie eben war oder so kompliziert wie ein antikes Mosaik, wollte David ihn genau so, wie er war. Er wollte alles von ihm. Besonders jetzt, da er seinen Sascha endlich hatte. Denn er war verliebt. Und ganz high vor Glück. Und auch wenn er eigentlich entsetzlich erschöpft, beinahe tot, von dem vergangenen Tag war und er am kommenden Tag arbeiten musste und daher keine schlaflose Nacht gebrauchen konnte, hatte er sich noch nie zuvor so klar, so…lebendig gefühlt. David unterbrach seine Züchtigung und durch die Schwärze der Nacht betrachtete er den jungen Mann, der ihm gegenüber lag. Sein dunkles Haar war verstrubbelt, die Arme hatte er gehoben, um sein Gesicht vor den Kissenschlägen zu schützen. Er lachte immer noch. Und seine Stimme verband sich mit dem Rascheln der Blätter draußen und den leisen, fernen Rufen von Franziska, der Uhudame. Als er feststellte, dass er nicht mehr geschlagen wurde, hörte Sascha zu lachen auf und spähte vorsichtig zwischen seinen Armen hindurch. „Was ist…?“, gluckste er, „Hast du Mitleid bekommen?“ „Nein…,“ wisperte David und warf das Kissen zur Seite, „Nicht die Spur.“ Mit beiden Händen griff er in Saschas Nacken, drückte seinen Mund auf dessen Lippen und küsste ihn tief und sehnsüchtig und auf der Stelle reagierte sein Herz mit unbändigem Pochen. David seufzte. Seine Haut kribbelte und als Sascha die Arme um ihn schlang, verkrampfte sich sein Magen vor Lust. „Mhm…,“ flüsterte Sascha und rieb seinen muskulösen Körper so sinnlich gegen Davids, dass es diesem schier den Atem nahm, „Ist das deine Art, mir mitzuteilen, dass wir genug geredet haben...?“ „Möglich…,“ reibeiste David zurück, atmete den Duft von Saschas Haut ein und genoss den Geschmack seiner Lippen auf der Zunge. „Das gefällt mir…,“ raunte Mr. Wahrscheinlich-Sexsüchtig und tupfte heiße Küsse auf Davids Hals und sein Schlüsselbein, „Warte nur ab, ich sorge dafür, dass du morgen nicht mehr laufen kannst…,“ Davids sexuelle Erregung verflog so schnell wie sie gekommen war. „Wie bitte?!“, ächzte er entgeistert und stieß Sascha von sich, „Kann das passieren?“ „Äh…,“ „Oh Gott! Das will ich nicht! Geh weg!“ „Neinneinnein!“, verzweifelte Mr. Ich-Bin-Wohl-Übers-Ziel-Hinaus-Geschossen sogleich, „Keine Sorge, das passiert nicht. Ich passe auf, okay? Komm wieder her, bitte.“ „Nein!“, blaffte David biestig, zog die Bettdecke über seine Schultern, drehte Dings den Rücken zu und schloss die Augen, „Ich schlafe jetzt. Weil ich morgen nämlich früh aufstehen und arbeiten muss und dazu laufen können will.“ „Das kannst du doch!“, versicherte Sascha eifrig und händeringend, „Ich schwöre, du kannst morgen noch laufen! Auf jeden Fall, hundertprozentig!“ „Halt den Mund, ich will schlafen.“ „D… Das kannst du mir nicht antun! Du kannst jetzt nicht schlafen.“ „Und ob ich das kann.“ „Aber ich bin total scharf auf dich!“ „Dann geh aufs Klo und mach’s dir selbst,“ fauchte David genervt – nicht mehr laufen können, der Kerl hatte sie doch nicht mehr alle, „Dadrin hast du doch ne Menge Übung.“ Sascha schnappte nach Luft und schniefte. „Du bist gemein!“ „Und du bist blöd.“ „Pah, du bist blöd!“ „Nein, du bist blöd!“ „Du bist blöd!“ „Nein, DU bist blöd!“ „DU bist blöd. Aber ich…bin trotzdem verliebt in dich…,“ „Und du bist trotzdem blöd.“ ~ The End ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)