Mosaik von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 35: Endlich ------------------- Hey Ho! Willkommen zum 35. Kapitel dieser endlosen Geschichte^^. Ich hoffe, es gefällt Euch so gut wie mir und es kann Euch ein wenig mit David aussöhnen :) Ach ja: In diesem, dem nächsten und vermutlich auch im übernächsten Kapitel wird Sascha nicht persönlich vorkommen, da es ja im Moment um David geht und er ein paar Dinge allein mit sich klären muss. Ich hoffe, Ihr seid nicht zu sehr enttäuscht...^^ Kapitelwidmung: Für meine Lieblings-Lisa. Weil sie wundervoll ist und mal wieder Recht behalten hat :) Viel Spaß beim Lesen! Eure Lung ____________________________________________________________________ Als David schließlich im Zug saß, verließ ihn das euphorische Gefühl der Ich-Stärke langsam. Draußen war es so dunkel, dass er kaum etwas von der Landschaft, durch die der Zug ratterte, erkennen konnte. Nur sein eigenes Spiegelbild, vom schmierigen Abteillicht beschienen, blickte ihm blass vor Nervosität entgegen und erinnerte ihn unentwegt daran, was er hier gerade tat und was er im Begriff zu tun war. Grundgütiger Himmel. Wie stellte man so etwas nur an? Gab es irgendwelche Gebote, die man beachten sollte, Worte, die man vermeiden musste? Gab es bestimmte Tricks beim Reden, die einem die Sache erleichterten und die Erfolgsaussichten steigerten? Er wünschte, er hätte einen Spiegel zur Hand, mit dem er üben konnte. So machte man das doch bei dramatischen Ansagen, oder? Man übte vor dem Spiegel, damit man wusste, was für eine Art Gesicht man beim Sprechen zog. David atmete tief und versuchte, sich zu beruhigen. Sein Herz schlug hart gegen seine Rippen und sein Magen verkrampfte sich in regelmäßigen Abständen. Als er die Hände hob, um sich die Haare aus der Stirn zu schieben, bemerkte er, dass sie vor Aufregung zitterten. Und allmählich spürte er auch, dass er seit Stunden nichts gegessen hatte. Seine Beine waren ganz wacklig. Aber vielleicht lag das auch an dem Sprint, den er vom Zentrum zum Bahnhof hingelegt hatte, um den Zug rechtzeitig zu erreichen. Davon tat ihm immer noch alles weh. Er schloss die Augen und versuchte an Sascha zu denken und nicht an das Gebirge, das sich mit jedem Meter, den der Zug zurücklegte, weiter vor ihm auftürmte. An Sascha und seine todtraurige Miene, seine trockenen Schluchzer und seine Hände vor den Augen. An seinen entsetzlichen Schmerz und seine Verzweiflung. Bei der Erinnerung musste David die Zähne zusammen beißen, damit ihm keine Tränen in die Augen schossen. Wie hatte er ihm das nur antun können? All die Zeit, ohne zu registrieren, wie Sascha unter seinem Verhalten litt? Wie hatte er so verblendet und ignorant sein können? Verdammt nochmal! Was war nur sein Problem? Wovor fürchtete er sich so sehr und wieso? War es tatsächlich der Klassiker? Dachte er… Dachte er ernsthaft, dass er…die Menschen, die ihm am wichtigsten waren, verlieren würde, wenn er dazu stand, wer und was er war? Aber das war doch Bullshit! Das wusste er doch ganz genau! Jeder wusste: Denen, die wirklich zählten, war es egal. Und die, denen es nicht egal war, zählten nicht wirklich. Auf Freunde, die etwas gegen seine Sexualität einzuwenden hatten, konnte er getrost verzichten. Und seine Familie… Zischend sog David die Luft ein. Niemals, niemals, niemals würde seine Familie ihn verlassen. Niemals würden seine Eltern aufhören, ihn zu lieben, nur weil er schwul war. Niiieeemals! Aber was wenn doch?, wisperte eine ganz leise Stimme in seinem Kopf, Was wenn doch? Was willst du dann machen? Wo gehörst du dann hin? Willst du dieses Risiko wirklich eingehen? Für Sascha? David ballte die Hände zu Fäusten. Das würde nicht geschehen! Und außerdem…tat er das nicht nur für Sascha. Sondern in erster Linie für sich selbst. Er wollte sich nicht mehr länger selbst verleugnen, verstecken und schämen für etwas, das in dieser Zeit, in dieser Welt, keine Rolle mehr spielen sollte. Wieso sollte er sich noch länger für etwas selbstbemitleiden, das vollkommen in Ordnung ging? Es gab Menschen, die lebten und lachten jeden Tag ohne Arme oder Beine, ohne genug Geld, ohne intakte Familie, mit Hunger, Aids oder Krebs oder irgendeiner anderen Krankheit. Er dagegen war nicht krank. Er hatte auch noch alle seine Gliedmaßen. Sogar seinen Blinddarm hatte er noch. Er war einfach nur…schwul. Und es war an der Zeit, dies endgültig und offen zu akzeptieren und dazu zu stehen. Zu Fuß dauerte der Weg vom Braunschweiger Hauptbahnhof zum Haus der Familie Spandau ungefähr fünfzehn Minuten. Zwanzig, wenn man langsam ging. Und David ging langsam. Während er einen Fuß vor den anderen setzte, arbeitete sein Kopf unentwegt an seinem Vorhaben, versuchte sich eine kluge Strategie und mitreißende Sätze zurechtzulegen, die die ganze Angelegenheit auflockern und entkrampfen würden. Vielleicht sollte er es so ähnlich machen, wie sie es in der Schule für die Kritik eines Referats gelernt hatten. Also, erst etwas Positives, dann etwas Negatives und dann wieder etwas Positives, damit das Negative dazwischen nicht so auffiel. Frei nach dem Motto: Mam, warst du beim Friseur? Steht dir gut. Übrigens, ich bin schwul. Schickes neues Hemd, Paps! Oder er versuchte, das Ganze angenehm humorvoll und witzig zu gestalten. Oder er äußerte sich besonders kompliziert und wissenschaftlich, damit es weniger persönlich klang. Oder aber er drückte kräftig auf die Tränendrüse, um Mitleid zu erregen. David schnaubte, wich einer Coladose auf dem graubraunen Fußweg aus und schüttelte entschieden den Kopf. Nein, so wollte er das nicht. Er wollte keinen Humor, keine Wissenschaft und auch keine falschen Tränen. Er wollte sich nicht verstellen. Er wollte es einfach sagen und dann abwarten, was passierte. Was anderes konnte er doch sowieso nicht tun. Was half es also, sich deswegen verrückt zu machen? Alles, was er tun konnte, war das Beste zu hoffen. Hauptsache, er bekam den Mund überhaupt auf. Ein Bus fuhr rumpelnd an ihm vorbei und seine Scheinwerfer ließen ein Verkehrsschild auf der Straße kurz aufglimmen. Zwei Jugendliche, die sich angeregt unterhielten, kamen ihm entgegen. Über ihm krochen finstere Wolken dahin und ein schneidender Wind trieb feuchtes Laub und Papierfetzen vor sich her. Doch zum Glück regnete es nicht. Das hätte ihm auch gerade noch gefehlt. Es war beinahe halb zehn, als David endlich vor dem hellen, mit Efeu bewachsenen Backsteingebäude stand, in dem er neunzehn Jahre seines Lebens zu Hause gewesen war. Wie es sich wohl anfühlen würde, es auf Nimmerwiedersehen zu verlassen? Schwachsinn! David rief sich selbst zur Ordnung. Doch inzwischen raste sein Herz wieder so sehr, dass ihm das Atmen schwer fiel. Sein ganzer Körper schien vor Angst instabil und schwach zu sein. Er wollte fortrennen und gleichzeitig zu Boden sacken und sich dort zusammen rollen. Ihm war so grauenhaft schlecht, dass er sich vielleicht übergeben hätte, wenn sein Magen nicht völlig leer gewesen wäre. Es fühlte sich an, als wäre er kurz davor, in echte Panik zu verfallen. Großer Gott, war das immer so, wenn man kurz davor war, seiner größten Angst ins Gesicht zu blicken? Würde das vorüber gehen? Reiß dich zusammen!, sagte David zu sich selbst und nahm einen letzten Atemzug, Werd endlich erwachsen und zieh das jetzt durch. Denk an Sascha. Das tat David. Er dachte an Sascha und holte den Schlüssel hervor, um die Haustür aufzuschließen. Im Haus war es herrlich warm. Allein das sanfte Licht, das vom Wohnzimmer her in den Eingangsbereich floss, wirkte schon beruhigend auf Davids Nerven. Und der Geruch war so vertraut und weckte Erinnerungen an die behagliche Geborgenheit, die David seine gesamte Kindheit und Jugend hier empfunden hatte. Er meinte den Fernseher hören zu können, vermischt mit den leisen Stimmen seiner Eltern. Lautlos schlüpfte David aus seinen Turnschuhen und hängte seine Jacke an einen Haken der Garderobe. Erst vor zwei Tagen hatte er mit Dings im Schlepptau hier gestanden und ihn Marisa und Volker vorgestellt. Das schien ihm nun schon Ewigkeiten her zu sein. Wie viel hatte sich seitdem zwischen ihm und Sascha verändert… David schluckte. Los jetzt. Bloß nicht in lähmenden Gedanken versinken. Dies ist der richtige Zeitpunkt, um über dich selbst hinauszuwachsen. Geh! Mit bebenden Knien setzte sich David in Bewegung. Seine Füße trugen ihn langsam, aber sicher durch den Flur und ins Wohnzimmer. Im Türrahmen blieb er stehen. Seine Mutter saß auf der Couch und nippte an einem Glas Rotwein, während sein Vater am Bügelbrett stand und offenbar einen von Felix‘ Pullovern bügelte. Auf dem Bildschirm lief etwas, das wie ein Krimi aussah. Sein Vater machte einen gedämpften Kommentar und seine Mutter kicherte amüsiert. Ein Lächeln huschte unvermittelt über Davids Gesicht. Dann meldete sich sein Herzschlag wieder und mit einem letzten Stoßgebet an die Götter des Mutes räusperte er sich deutlich vernehmbar. Seine Eltern zuckten beide leicht zusammen und wirbelten zu ihm herum. „David!“, sagte sein Vater überrascht, „Was machst du denn hier?“ „Ist was passiert?“, fragte seine Mutter sofort und erhob sich mit erschrockener Miene. „Nein, ich…ich wollte nur…,“ antwortete David mit brechender Stimme und machte ein paar unsichere Schritte ins Wohnzimmer hinein. Er musste fürchterlich aussehen, denn Volker stellte sofort das Bügeleisen zur Seite und eilte auf ihn zu, um ihn in die Arme zu nehmen. Eigentlich wollte David ihn wegschieben, aber es gelang ihm nicht. Irgendwie…war dies genau das, was er im Augenblick am Dringendsten brauchte: Den Schutz und den Trost seines Papas, der stark und mitfühlend war und jede Angst vertreiben konnte. Genau wie früher, wenn er hingefallen war und sich das Knie aufgeschlagen hatte, schlang David die Arme um seinen Vater und vergrub das Gesicht in seinem Pullover. Zornig kämpfte er gegen die Tränen an, während Volker ihn fest hielt. Fast konnte David sehen, wie seine Eltern mit wachsender Besorgnis Blicke austauschten. Ein solches Gebaren hatte David schon ziemlich lange nicht mehr gezeigt. „Was ist los, Schatz?“, fragte Elisa, die sich offenbar zu ihnen gesellt hatte, leise und David spürte, wie sie ihm zärtlich durchs Haar fuhr, „Was ist passiert?“ David schniefte und zwang sich dazu, seinen Vater loszulassen. Komm schon!, blaffte er sich selbst an, Fang an und hör, um Gottes Willen, auf zu flennen! Du hast kein Recht, traurig zu sein. Du bist hier nicht derjenige, der verletzt worden ist! „Nichts…,“ entgegnete David und wischte sich beschämt über die Augen, „Ich... Schon gut… Es geht schon, ich…ich muss mit euch reden… Okay?“ Er hob den Kopf und schaute seine Eltern flehentlich an. Sein Herz vollführte einen Trommelwirbel gegen seine Rippen und mit einem Schlag waren die Anspannung und die Aufregung zurück. Doch das, was er jetzt tun würde, war das Richtige. So oder so. „Könnt ihr euch bitte hinsetzen und mir…mir zuhören?“ Volker und Elisa starrten ihn betroffen an. Aber dann nickten sie, murmelten zustimmend und ließen sich nebeneinander auf dem Sofa nieder. Elisa schaltete den Fernseher ab und Grabesstille machte sich im Wohnzimmer breit. David atmete, um sich und sein bollerndes Herz zu entspannen. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Seine Eltern saßen ihm reglos gegenüber und musterten ihn mit unverhohlener Unruhe. Er versuchte sich an seine bereitgelegten Sätze zu erinnern, aber sie waren alle fort. Er war allein mit sich und der Wahrheit. „Also…,“ begann er atemlos, verschlang die Finger miteinander und lief ein bisschen vor dem schwarzen Fernseher auf und ab, „Es…es gibt da etwas, das… das ich euch sagen will…,“ „Etwas…Schlimmes?“, erkundigte sich seine Mutter vorsorglich. David holte tief Luft. „Nein…,“ sagte er dann, „Nein, eigentlich nicht, aber… Es ist…wichtig und… ich… ich hab heute – oder, besser gesagt, in der ganzen letzten Zeit – einige…Fehler gemacht, die schon…schlimm waren…,“ er verstummte und bemühte sich, nicht an Saschas Trauer zu denken, „Und deshalb, will ich jetzt endlich…mit der Sprache rausrücken…,“ „Was heißt denn endlich…?“, fragte Volker mit aufgerissenen Augen. „Das heißt, dass…ich es schon eine ganze Weile weiß…,“ murmelte David und biss sich auf die Lippe, als die Furcht, die er schon so lange in sich trug, nach seinem Inneren griff, „Schon seit zwei Jahren, um genau zu sein. Aber ich…,“ er stockte und spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. „Aber ich…hatte Angst…, euch davon zu erzählen, weil ich…Angst hatte, dass…,“ instinktiv presste David sich die Handballen auf die Augen, um die aufsteigenden Tränen zurück zu drängen, „…dass ihr mich rausschmeißt oder so…,“ Ein kleines Schluchzen entrang sich seinen zusammen gepressten Lippen. Er atmete schwer und als er die Arme sinken ließ, sahen seine Eltern bestürzter aus, als David sie je zuvor gesehen hatte. Seine Mutter hatte sich die Hände über Mund und Nase gelegt und ihre Augen glitzerten auf eine sehr kritische Art und Weise. Sein Vater war ganz bleich geworden. „David…,“ brachte er mühsam hervor, „Wir würden doch niemals–,“ „Ich weiß!“, unterbrach David ihn hastig und riss sich am Riemen, um nicht auf den letzten Metern den Antrieb zu verlieren, „Ich weiß, das war dumm. Ich weiß, dass ihr mir das nicht antun würdet, aber ich…ich hab mich so geschämt und…,“ „Was ist es denn, zur Hölle?“, brauste sein Vater auf und mit einem Mal wurde David klar, woher er womöglich sein Temperament hatte, „Hast du was gestohlen oder–,“ „Nein!“, fiel David ihm erneut ins Wort und kramte den letzten Rest Tapferkeit aus seinem überreizten Rückgrat hervor, „Nein, das ist es nicht. Es ist…es ist so, dass ich…,“ Er öffnete den Mund, aber kein Ton kam hervor. Na looos!, heulte alles in ihm, Du hast es doch fast geschafft! Es fehlt nur noch das eine Wort! Sprich es schon aus! Sprich es endlich aus! „…dass ich...ich… schwul bin!“ Das schlagartige Schweigen war beinahe greifbar. David bemerkte kaum, dass er die letzten beiden Worte fast schon gebrüllt hatte. Das Tosen seines Herzens übertönte alle Gedanken, die durch sein Hirn flirrten. Er hatte das Gefühl, dass seine Knie jede Sekunde nachgeben würden. „Das…ist alles…?“, ächzte plötzlich eine Stimme von der offenen Wohnzimmertür her und David zuckte so heftig zusammen, dass er für einige Momente das Gleichgewicht verlor, „Und ich dachte schon, du hättest jemanden umgebracht!“ „Felix!“, keuchte David, fassungslos vor Entsetzen und starrte seinen Bruder an, „Wie…wie lange stehst du da schon…?“ „Keine Ahnung… Zwei Minuten oder so…?“ David wurde schwindelig. Er konnte sich nicht erklären, wie er Felix‘ Ankunft hatte übersehen können. Schließlich war die Tür genau in seinem Blickfeld. Seufzend stützte er sich am Fernseher ab. Nun ja. Jedenfalls hatte er so gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Marisa, die glücklicherweise schon im Bett war, wusste es ja sowieso schon seit Monaten – auch wenn sie wahrscheinlich nicht genau erfasste, was es bedeutete – und was Julian anging... Naja. Der besaß ein Handy und war mit großer Wahrscheinlichkeit die halbe Nacht auf Sauftour. Die Frage war erst mal nur, was…jetzt geschehen würde. Wie würden seine Eltern reagieren? Und wie würde sein fünfzehnjähriger Bruder reagieren? Mit hüpfendem Magen richtete David den Blick wieder zur Couch. Sein Vater hatte sich zurückgelehnt und schien für den Augenblick versteinert zu sein. Doch seine Mutter tupfte sich das Gesicht mit ihrem Ärmel ab, stand auf und David war überrascht, dass sie strahlte. Mit drei Schritten war sie bei ihm und schloss ihn in die Arme. „Mein Armer…,“ flüsterte sie, „Mein Schatz, es tut mir so leid, dass du das zwei Jahre allein mir dir ausmachen musstest und dich dafür geschämt hast. Das musst du doch nicht. Das ist nichts, wofür du dich schämen musst…,“ David schniefte erneut, umarmte seine Mutter und wünschte, Felix würde das nötige Taktgefühl besitzen, um den Raum zu verlassen. Doch Taktgefühl…war noch nie eine große Stärke seiner Geschwister gewesen. In der Hinsicht waren sie alle drei gleich. „Wirklich nicht…,“ erklang auch die Stimme seines Vaters auf einmal ganz in der Nähe und ein weiteres Paar Arme legten sich um ihn, „Wir wollen, dass du glücklich bist, David. Und zwar genau so, wie du bist. Es tut mir nur um deine schönen Haare leid. Wer vererbt die jetzt weiter?“ „Ach, Haare!“, zischte seine Mutter ihrem Mann zu, „Red keinen Unsinn, du Blödmann.“ Sein Vater gluckste und streichelte den Lockenkopf seines Sohnes. Der wollte inzwischen erneut weinen. Schwere, sehr alte Steine fielen ihm vom Herzen und machten einem wundervoll weichen Gefühl der Erleichterung Platz, das ihm abermals die Tränen in die Augen trieb. Wie hatte auch nur der kleinste Teil von ihm an seinen Eltern zweifeln können? Er kannte sie doch schon so lange. Er hätte doch ganz, ganz, ganz genau wissen müssen, dass sein Geheimnis ihre Gefühle für ihn nicht im Mindesten ändern würde. „Muss die Gruppenkuschelei sein?“, meldete sich Felix schließlich aus der Ferne, „Jetzt seid doch nicht so melodramatisch. Das ist ja anstrengend!“ Irgendwo in David begann es zu lachen und er schaffte es, sich von seinen Eltern zu lösen. „Du hast Recht. Entschuldige, Felix…,“ „Ja, setzen wir uns erst mal hin,“ stimmte Volker zu und fuhr sich fahrig durch das ergraute Haar, „Komm, David, du zitterst ja. Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?“ „Heute Morgen…,“ „Ach, du liebes Bisschen!“, rief Elisa aus, die immer noch ganz glückselig wirkte, „Kein Wunder, dass du so blass bist. Setz dich hin, ich mach dir was zu essen.“ „Du musst nicht–,“ protestierte David schwach, während sein Vater ihn zur Couch drängte, aber seine Mutter schnitt ihm sofort das Wort ab. „Ruhe! Das mach ich doch gern, keine Widerrede.“ David gab sich geschlagen und ließ sich auf die Couch fallen. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so frei und leicht gefühlt zu haben. Es war als würde er fliegen können, wenn er nur hoch genug sprang. Und er konnte nicht glauben, dass er es tatsächlich getan hatte! Er hatte es gesagt, er hatte das Wort, das ihn jahrelang gequält hatte, endlich offen ausgesprochen. Und damit hatte es einen gewaltigen Teil seines Schreckens verloren. Und seine Eltern liebten ihn noch immer und Felix hatte ihm noch nicht ins Gesicht gespukt. Es war…fast wie ein Traum... Und er war noch nicht vorbei. Elisa holte ihm Brot, Käse, Salat und kaltes Huhn vom Mittagessen. Und Volker hörte zu bügeln auf und lief stattdessen in den Keller, um noch eine Flasche Wein zu besorgen. Und dann, während er seinen Magen mit Nährstoffen und Alkohol füllte, sollte David erzählen. Alles und ganz von Anfang an. Also tat er es. Nun ja. Er erzählte nicht alles, also nicht alle Details – schon gar nicht die schlüpfrigen. Er fasste sich einigermaßen kurz, als er das zweite Mal in seinem Leben von seiner und Svens Geschichte erzählte. Und es kostete ihn eine Menge Überwindung die Worte miteinander schlafen überhaupt in Gegenwart seiner Eltern auszusprechen. Eigentlich hatte er erwartet, dass Felix, der inzwischen schon bei seinem dritten Weinglas war, bereits zu Beginn des Gesprächs das Weite suchen würde. Doch tatsächlich blieb er. Und er ereiferte sich ganz außerordentlich, als David beim dramatischen Ende der Geschichte angekommen war. „Was issen das fürn Scheißverhalten, ey?!“, rief er außer sich und sprang empört vom Teppich auf, „Wie kann’n der so was abziehen, Alter?! Das is ja wohl voll daneben, so ein verfickter Flachwichser!“ „Felix!“, machte seine Mutter schockiert. „Nee, mal ehrlich! So kann der doch nich mit meinem Bruder umgehen, ey! Was fürn dreckiges Arschloch!“, unter den alarmierten Blicken seiner Eltern leerte Felix sein Weinglas und stellte es übertrieben energisch auf dem Couchtisch ab, „So. Gib mir seine Adresse, David, ich fahr hin und box ihn weg!“ „Ähm…,“ mischte sich David, dessen Herz vor neuentdeckter Liebe zu seinem kleinen Bruder gerade überzuschäumen drohte, lächelnd ein, „Ich glaub nicht, dass Sven noch zu Hause wohnt, Felix. Er ist bestimmt schon ausgezogen und seine neue Adresse kenne ich nicht. Außerdem ist er noch ein Jahr älter als ich und–,“ „Is mir egal!“, tönte Felix und stellte sich in Kampfstellung, „Der soll mich kennen lernen!“ „Mir aber nicht,“ entgegnete Volker schmunzelnd und erhob sich vom Sofa, „Außerdem kannst du nicht boxen. Was soll denn diese lächerliche Faustbewegung, he? Soll das ein Schlag sein?“ „Hee, was willst du denn jetzt, Alter? Komm her, wenn du Ärger willst!“ „Alter? Hast du mich gerade Alter genannt? Na, warte!“ Vater und Sohn begannen auf eine unglaublich alberne und peinliche Art umeinander herum zu springen und lachend und schimpfend Fausthiebe gegeneinander auszuteilen. David konnte nicht hinschauen, ohne sich entsetzlich fremdzuschämen. Also wandte er den Blick ab und betrachtete lieber seine Mutter. Sie saß neben ihm und lächelte ihn an. „Es tut mir leid, dass deine erste Liebe für dich so unschön gelaufen ist…,“ sagte sie dann, „Ich wünschte, ich hätte dich damals trösten können. Aber das haben bestimmt deine Freunde übernommen, oder?“ Irgendwie schuldbewusst räusperte sich David. „Nein…,“ gab er zu, „Mit ihnen habe ich auch nicht darüber gesprochen.“ „Noch nicht einmal mit Kenji?“, fragte sie betroffen. David schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hab ja noch nicht mal mit mir darüber gesprochen. Ich wollte es…einfach nur vergessen…,“ Elisa seufzte. Dann legte sie ihm den Arm um die Schultern, streichelte sein Gesicht und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Ich finde, du solltest Svens Adresse für Felix rauskriegen…,“ flüsterte sie. David musste lachen. Er sah seiner Mutter liebevoll in die von Lachfältchen umgebenen blaugrünen Augen, die seinen so ähnlich waren. Und plötzlich begriff er etwas. „Du wusstest es, oder?“, wisperte er, „Du wusstest es die ganze Zeit.“ Elisa sah ihn an. Dann ließ sie ihn los und strich sich verlegen eine ihrer blonden Locken hinters Ohr. David kannte die Antwort, bevor sie den Mund geöffnet hatte. „Nicht die ganze Zeit…,“ antwortete sie, „Ich…habe es mir irgendwann gedacht…und als du dann am Montag mit Sascha hier warst…,“ David schluckte. Sascha. Selbstverständlich musste der noch zur Sprache kommen. Aber er war ja auch…der Grund und der Auslöser für dies alles. Ihn nicht zu erwähnen, wäre bescheuert. Und unfair. Er gehörte dazu und er war wichtig und deshalb sollte er…ebenso ans Licht kommen. Schließlich schämte David sich wirklich nicht für ihn. Wie sollte er auch? Sascha war wunderbar. Das hatte seine Mutter auch schon vorhin am Telefon gesagt. „Ja…,“ raunte er also und nickte, „Du hast Recht gehabt… Er ist…mein Sascha. Jedenfalls…so gut wie. Wir…müssen da nur noch etwas klären…,“ Während Felix von Volker in die ersten Mysterien des Boxens eingeweiht wurde, erzählte David seiner Mutter mit stockender Stimme von dem schrecklichen Streit in der Mittagspause. Ein paar Dinge ließ er weg, aber die wichtigsten Einzelheiten wurden deutlich. Und er fühlte sich immer noch so grauenhaft schuldig, dass er beinahe befürchtete, Elisa würde ihn nachträglich doch noch aus dem Haus werfen. „Als ich heute Abend begriffen hab, was ich…ihm die letzten Monate angetan hab, da…hab ich beschlossen, jetzt sofort etwas zu verändern und euch die Wahrheit zu sagen. Denn ich…ich will ihn nicht verlieren, Mam. Er ist…,“ David verstummte, aber seine Mutter schien ihn auch so zu verstehen. Sie nickte und lächelte. „Ja, das ist er. Das ist er wirklich.“ „Wer?“, fragte Felix, der schwer atmete und sich an Davids Weinglas vergriff. David befeuchtete sich kurz die Lippen. „Sascha,“ erwiderte er dann. „Ahhh, natürlich…,“ sagte Volker und schlug sich leicht gegen die Stirn, „Darauf hätte ich auch von selbst kommen können.“ „Also mir war das schon die ganze Zeit klar,“ behauptete Felix prompt, „Wieso solltest du sonst nen Kollegen von dir mitbringen? Doch wohl nur, wenn er auch dein Lover ist.“ Hitze stieg in Davids Gesicht auf. Lover. Also wirklich… „Und ist er das…?“, erkundigte sich sein Vater betont beiläufig, „Dein Freund, meine ich?“ David räusperte sich erneut. „Ja. Nein. Jein…,“ brummte er, „Fast, würd ich sagen…,“ er seufzte und wandte sich dann wieder an seine Mutter, „Du hast bemerkt, wie ich ihn…angesehen habe, oder?“ Elisa schmunzelte. „Ich hab auch bemerkt, wie er dich angesehen hat.“ „Mich?“ „Ja…,“ sie beugte sich vor und berührte lächelnd seine Locken, „Als wärst du ein Engel.“ Felix schnaubte. „Also, was hast du jetzt vor?“, fragte Volker über den Spott seines dritten Sohnes hinweg, „Willst du zurück und…ähm…den Rest…mit ihm abklären?“ David nickte und bei der Vorstellung, dass Sascha eines Tages sein fester Freund sein könnte, beschleunigte sich sein Herzschlag abermals. „Ja. Aber ich…bin hier noch nicht fertig. Schließlich habe ich noch einen zweiten Bruder.“ „Richtig…,“ grinste sein Vater, „Und eine Schwester.“ „Marisa weiß es schon…,“ grummelte David und verdrehte die Augen, „Sie wusste es sofort, als ich Saschas Namen das erste Mal erwähnt habe.“ Seine Eltern wirkten skeptisch, aber Felix nickte mitfühlend und eifrig. „Sie ist verrückt!“, erklärte er Elisa und Volker ernsthaft, „Sie weiß Dinge. Sie spürt sie. Und es nervt unheimlich.“ David musste sich das Lachen verkneifen. „Ach ja, Felix? Erzähl mir, was weiß sie über dich? Sag schon. Ich lache bestimmt nicht.“ „Halt die Klappe, David!“, knurrte Felix, „Sonst denk ich mir doch noch einen Spitznamen für dich aus – Schwuli!“ Mit einem lauten Fauchen machte David einen Hechtsprung und riss Felix fast von den Füßen. Der lachte und schrie wie am Spieß und versuchte sich loszureißen, doch heute war David stärker als er. Er drückte seinen kleinen Bruder an sich, so fest wie er konnte. „Danke…!“, wisperte er ihm ins Ohr und jäh hörte Felix auf, sich zu wehren. „Schon gut…,“ brummelte er, „Laber nicht. Du bist doch mein Bruder…,“ David hätte ihn am Liebsten abgeknutscht. Noch nie in seinem Leben hatte er sich Felix so nahe gefühlt. Er war eigentlich immer vor allem Julians Kumpel gewesen, obwohl die zwei sich praktisch nur stritten. Mit David hatte ihn dagegen kaum etwas verbunden. Doch heute… bemerkte David zum ersten Mal, dass sein jüngerer Bruder kein kleiner Junge mehr war. Bebend vor Dankbarkeit ließ er Felix los und grinste ihn an. Und Felix grinste zurück, mit glühenden Ohren. Und unter den gerührten Augenpaaren ihrer Eltern. Als David schließlich im Bett lag, war es nach Mitternacht. Er war erschöpft und gleichzeitig aufgekratzt, glückselig und weinerlich zur selben Zeit. Niemals würde er jetzt schlafen können, mit all den Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen, die durch seinen Kopf schossen und dort Chaos anrichteten. Er konnte einfach nicht glauben, was heute alles geschehen war. Dieser Tag…sollte in die Geschichtsbücher eingehen. Zum Glück wollte David noch nicht schlafen. Da gab es noch zwei Menschen, mit denen er jetzt unbedingt sprechen wollte. Er hatte das tragbare Telefon aus dem Wohnzimmer zwar mit ins Bett genommen, aber er war sich sicher, dass er seinen ersten Gesprächspartner nicht auf dem Festnetz erreichen würde. Also Handy. Er suchte im Verzeichnis für gespeicherte Nummern nach J. Dann wartete er. „Hey! Yo!“, erklang eine vertraute Stimme, deren Besitzer offensichtlich in einem sehr wütenden Tornado stand, „David, du Bastard! Wie läuft’s?“ „Gut!“, rief David zurück, setzte sich auf und hielt sich ein Ohr zu, um seinen Bruder besser verstehen zu können, „Und bei dir?“ „Was?! Ach so, auch gut! Hee, mach mir bitte auch noch einen, Alter! Danke!“ David schloss die Augen. Er hatte es ja gewusst – Sauftour. „Julian!“, bellte er ins Handy, „Kannst du mal da raus gehen? Ich muss mit dir reden!“ „Was?!“ „Reden!“, brüllte David und hoffte inständig, dass Marisa von dem Krach nicht wach wurde, „Geh! Da! Mal! RAUS!“ „Oh, okay! Warte!“ Es raschelte und knackte eine Weile. „So…,“ sagte Julians Stimme dann deutlich vernehmbar und David seufzte, „Sorry, Mann. Wir sind alle im Trafo und da lässt es nicht so gut telefonieren.“ „Hab ich bemerkt…,“ „Also…,“ es klang, als zündete sich Julian eine Zigarette an, „Was kann ich für dich tun, kleiner Bruder?“ David atmete tief ein und tief aus. Anscheinend hatte Julian gute Laune – ideale Voraussetzungen für einen schweren Schock. „Ähm…,“ machte David und schluckte zum hundertsten Mal an diesen Abend, „Hör zu, ich…hab dir was zu sagen…, Julian…,“ Sein großer Bruder schien zu stutzen. „Ja…?“, fragte er dann und klang beunruhigt, „Was issen los, Alter? Ist doch nix mit Mam oder Paps oder den Kleinen oder?“ „Nee!“, beeilte sich David zu betonen, „Mit denen ist alles in Ordnung, es geht…es geht um mich… Also… Ich hab’s den anderen auch schon gesagt. Und ich wollte…, dass du es auch…noch heute erfährst…,“ „Ja, dann spuck’s doch endlich aus, du Idiot!“ „Okay, ja. Okay. Also…,“ David holte Luft und fragte sich, wieso es beim zweiten Mal immer noch so schwierig war. Aber vielleicht machte auch hier Übung den Meister. „Julian, ich…ich bin…schwul.“ Stille schallte durch die Leitung. „Bist du noch dran?“, erkundigte sich David unsicher. „Äh… Ja…,“ sagte Julian, „Äh. Wow. Ich meine… Wow…,“ er räusperte sich, „Wow, David. Hast du…hast du dir das auch gut überlegt?“ Verständnislos runzelte David die Stirn. „Naja, irgendwie konnte ich mich nicht wirklich entscheiden, weißt du? Ich meine, es ist halt so…, wie es ist. Oder?“ „Mhm… Ja. Stimmt schon…,“ murmelte sein großer Bruder und dann, „Hey, ich weiß! Sascha ist dein Stecher, oder?“ „Ähm…,“ „Ich wusste es! Hee, das ist okay, ehrlich. Ich kann den Mistkerl gut leiden. Aber, Alter, denk immer dran: Verhütung ist das wichtigste!“ Der Impuls, durchs Handy zu kriechen und Julian zu erschlagen, kam ganz schlagartig. „Julian…!“ „Nee, mal ehrlich: Geschlechtskrankheiten! Du kannst zwar nicht schwanger werden, aber Geschlechtskrankheiten lauern heute überall!“ „Halt die Klappe!“, blaffte David und Julian lachte verwegen. „Also…,“ begann David nach einer kleinen Pause von neuem, „Du…du hast also kein Problem damit…?“ „Nö…,“ sagte Julian und schien an seiner Zigarette zu ziehen, „Es ist dein Leben. Solange du mir nix über Saschas Schw–,“ „Keine Sorge!“, unterbrach David ihn mit brennendem Kopf, „Das geht dich auch überhaupt nix an!“ „Stimmt…,“ kicherte sein Bruder, „Aber…David…?“ „Ja?“ „Danke, dass du…extra angerufen hast, um mir das zu sagen.“ „Kein Problem.“ Sie schwiegen ein paar verlegene Momente lang. In freundlicher Geschwisterliebe waren David und Julian nie besonders gut gewesen. Beschimpfungen funktionierten besser. „Okay…,“ sagte Julian dann zum Abschied, „Wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme, bring ich dir Kondome mit, damit du–,“ „Tschüss, Julian!“, brüllte David und legte auf. Dann warf er sich schamrot, aber breit grinsend rücklings aufs Bett. Er meinte, das dreckige Gelächter seines älteren Bruders bis in sein Zimmer hören zu können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)