Mosaik von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 22: Klar ---------------- Hallo Allerseits :-)! Wahnsinn, hier ist es, das neue Kapitel OO! Ihr kennt meine Entschuldigungen ja schon zu diesem Thema, trotzdem werde ich es nochmal wiederholen^^: Es tut mir Leid, dass es mal wieder so lange gedauert hat. Ich denke, ich habe einen neuen Rekord aufgestellt. Sorry...^^ Tatsächlich hat mir dieses Kapitel viel abverlangt, ich habe L A N G E gekämpft und ich hoffe, das Ergebnis sagt Euch einigermaßen zu^^. Ich finde, dass das Kapitelende fast das Storyende sein könnte. Aber keine Sorge...^^...jetzt geht's erst richtig los ;-). So, lange Rede, kurzer Sinn: Viel Spaß beim Lesen :-)! Liebe Grüße, BlueMoon _________________________________________________________________ David und Sascha fuhren zusammen. „Was zum–,“ keuchte David aufgeschreckt und starrte fassungslos den Ursprung allen Unheils an, der zwischen Tellern und Töpfen am Boden stand und sein schrilles Geschrei ausstieß. „Das...kann doch nicht wahr sein...,“ flüsterte Dings ebenso entgeistert und rieb sich energisch die Augen, wie es die Leute in Filmen immer tun, wenn sie nicht glauben, was sie sehen. Währenddessen bemühte David sich, alle seligen Schmetterlinge, die noch immer in seinem Bauch umher flatterten, soweit zu beruhigen, dass er gegen diesen erbarmungslosen Weckruf der Realität vorgehen konnte. Schließlich schaffte er es, den Wecker zu packen und ihn mit einem scharfen Klaps zum Schweigen zu bringen. Stille trat ein und gemeinsam mit Sascha beugte er sich über das Zifferblatt des Weckers. Dessen Urteil war...niederschmetternd. „Oh Scheiße...,“ hauchte Sascha bestürzt, „Ich kann’s nicht glauben... Gerade eben war es doch erst zwei...,“ Er nahm David den Wecker aus der Hand und schüttelte ihn grob, als wolle er eine Fehlfunktion feststellen. David gluckste tonlos und rieb sich ebenfalls über die Augen. Nun, da die Nacht offenbar zu Ende und der neue Tag angebrochen war, spürte er erstmals eine dumpfe, schmerzhafte Müdigkeit gegen seine Schläfen pochen. Aber jetzt war es Mittwoch. Halb sieben Uhr morgens und er hatte...urg...Nachtschicht. „Dann...,“ sagte er langsam, kratzte sich am Kopf und sah Mr. Ich-Kann’s-Nicht-Glauben verblüfft an, „Dann...werd ich mal arbeiten gehen, was...?“ „So eine Scheiße...,“ erwiderte Sascha nur. Sie sahen sich an und mussten ein bisschen kichern. Aber es hatte mehr was von einem Todesröcheln, als von dem ehrlichen Lachen, das sie in den vergangenen Stunden so oft miteinander geteilt hatten, und erstarb rasch wieder. Anschließend stöhnte Dings wie ein gequälter Kriegsgefangener. „Maaan... Wie kann eine Nacht nur so schnell vorbei gehen...?“ „Keine Ahnung...,“ antwortete David matt und schaffte es nach zwei Versuchen tatsächlich aufzustehen und in seinem Zimmer umher zu wanken. Er fühlte sich noch etwas groggy und wacklig auf den Beinen. „Du kannst dich ja noch mal hinlegen... Für ne Stunde...,“ „Oh, nee...!“, wehrte Sascha entschieden ab und fuhr sich durch das Haar, „Wenn ich mich jetzt für eine Stunde hinlege, dann bin ich hinterher tot...,“ ächzend erhob er sich ebenfalls, „Nein, nein... Ich steh jetzt auch auf, räum den Dreck hier weg und mach dir Frühstück...,“ „Nett von dir...,“ murmelte David abwesend und bekam seine Füße mit Müh und Not in seine Gummistiefel gezwängt. „Klar, zu dir bin ich doch immer nett, mein Schätzchen,“ schnurrte Mr. Eine-Stunde-Schlaf-Und-Ich-Bin-Tot auf Kommando, was David sofort vollständig in die Gegenwart katapultierte. Er hob den Kopf, um den – trotz der schlaflosen Nacht – selbstverständlich strahlenden Sascha böse anzufunkeln und unterdrückte dabei mit aller Kraft den Wärmeschauer, der ihn bei diesem Anblick zu durchrieseln drohte. „Falls du jetzt hoffst, dass ich ausraste, muss ich dich leider enttäuschen...,“ sagte er betont kühl und zerrte sich seine Strickmütze über den Lockenkopf, was ihn zwang die Augen von Sascha abzuwenden, „Ich werde deine Unverschämtheiten einfach ignorieren und mir meinen Teil denken!“ „Wie schade...,“ jammerte Dings lächelnd. David antwortete ihm mit einem kurzen Blick voll abgrundtiefer Verachtung. Sascha lachte auf und Davids Herz hüpfte im Takt dazu. Irgendwo in seinem Inneren entstand der bohrende Drang, auf Sascha zu zugehen, ihn rücklings zurück aufs Bett zu werfen und solange zu küssen, bis die Welt unterging. Bei diesem Gedanken drehte er ihm so hastig den Rücken zu, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Am Liebsten hätte er sich an Ort und Stelle in Luft aufgelöst. Verdammt noch mal, was war denn nur los?! So schlimm war dieses...dieses Gefühl noch nie gewesen. Das musste am Schlafmangel liegen. Bestimmt existierte irgendwo eine Studie über die unglaublich krankhaften Nebenwirkungen von akutem Schlafmangel. Grundgütiger, so musste es sein. Es gab keine andere Erklärung. Wieso sollte er sonst mit einem Mal solche Schwierigkeiten damit haben, den Reißverschluss seiner Jacke zu schließen, weil seine Finger so sehr zitterten? Und dieses vermaledeite Herzklopfen... Das war der Schlafmangel. Glasklar. „Wolltest du mir nicht Frühstück machen?“, fragte David fieberhaft und wünschte sich auf den entferntesten Planeten im Universum. „Oh, ja!“, hörte er Sascha hinter sich antworten und kurz darauf Porzellan klappern, „Auf der Stelle, mein Liebling. Ich fliege, ich eile, ich–,“ „Jaja!“, unterbrach David ihn laut und verfehlte beim ersten Greifversuch seinen Schlüsselbund auf dem Tisch, „Ich...geh dann...,“ „Okay, Schatz!“, antwortete Dings glucksend, „Ich ruf dich, sobald das Frühstück fertig ist.“ „Danke...,“ David wandte sich zum Gehen. Seine rechte Hand griff nach der Klinke und öffnete die Zimmertür. Seine Beine machten drei schwerfällige Schritte, die ihn jedoch kaum vorwärts trugen. Sein Herz pochte in seiner Brust. Alles in ihm lauschte auf die Geräusche hinter ihm: Eine leise gesummte Melodie, die David nicht erkannte, und das sanfte Klirren von Besteck auf Geschirr. Sein Magen kribbelte. Er konnte nicht anders – er musste sich einfach ein letztes Mal umdrehen... Großer Fehler. Sascha kniete am Boden, schichtete die benutzten Teller und Schüsseln aufeinander und – sah einfach hinreißend aus. Davids Beine drohten einzuknicken, sodass er sich kurz am Türrahmen festhalten musste. Als Mr. Ich-Bin-Der-Schönste-Weit-Und-Breit bemerkte, dass David den Raum noch immer nicht verlassen hatte, hörte er auf zu summen und blickte auf. „Was vergessen?“, fragte er lächelnd und legte eine handvoll benutztes Besteck auf den Geschirrstapel. David öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. „Was...summst du da?“, fragte er schließlich und spürte im selben Moment das Bedürfnis, seine Stirn solange gegen den Türrahmen zu schlagen, bis er diesen Schlafmangel gänzlich aus sich vertrieben hatte. „Ohrwurm von Linda...,“ erwiderte Sascha, „Mamma Mia!,“ er grinste verlegen und begann zu singen: „Don’t go wasting your emotions, lay all your love on me…,” David starrte ihn an. „Ah...,“ brachte er hervor, „Klar... Dann...bis später...,“ Er gab sich einen Ruck, drehte sich um und hastete die Treppe hinunter. Mehr oder weniger heil am Treppenabsatz angekommen, riss David die Badezimmertür auf und stolperte hinein. Kaum hatte er die Tür hinter sich zu geschlagen, wandte er sich mit zornfunkelndem Blick dem Spiegel zu. „Hör mal zu, du Volltrottel!“, fauchte er sein Spiegelbild an, „Ich kann ja verstehen, dass du müde bist und so weiter. Aber das du dich jetzt so benimmst wie ein absoluter...,“ er rang nach Worten, „...Hornochse, ist nicht notwendig. Also...reiß dich gefälligst zusammen!“ Stirnrunzelnd betrachtete er sein erschöpftes, aber wütendes Gesicht im Spiegel und atmete mehrmals tief ein und aus. Draußen hörte er Sascha summend den Flur entlang gehen und eine Ladung Geschirr irgendwo abladen. Davids Herz ziepte sehnsüchtig. „Ich hasse dich...,“ erklärte er seinem Spiegelbild kalt und schloss einen Moment die Augen, „Ich drehe wirklich langsam durch... Jetzt rede ich schon mit meinem eigenen Spiegelbild...,“ Fünf Minuten später in der Futterküche angekommen, stürzte David sich sofort in die Arbeit, um sich von der mühevollen Realität abzulenken. Selbstverständlich klappte dieser Plan genauso reibungslos wie alle seine Pläne... Zu seinem Leidwesen musste David feststellen, dass sich sein Kopf trotz der Aussprache mit seinem Spiegelbild nicht wirklich geklärt hatte. Im Gegenteil. Gemeinsam mit seinem Herz sprang sein Hirn ununterbrochen auf und ab. Es war zum Verrücktwerden. David fluchte leise, während er das Gewicht von einem kleinen, mageren Igel, der erst gestern eingeliefert worden war, in die Tabelle an seiner Box eintrug. Der Neuankömmling hatte schon zugenommen. Sehr gut. Unvermittelt überkam David der unbändige Wunsch, selbst ein Igel zu sein. Dann müsste er nur schlafen und fressen und alle würden ihn für jedes neue Gramm, das er zunahm, bejubeln. Als Igel hatte man bestimmt auch weniger Probleme mit der Liebe und mit hirnlosen Plänen, die man sich in einem Moment geistiger Umnachtung ausdachte und die eh nicht funktionierten! Dieser verdammte Plan... Tatsächlich hatte er nicht nur nicht funktioniert, nein, er war ganz offensichtlich absolut nach hinten losgegangen. Kein Wunder, er hatte ihn ja auch mitten in der Ausführungsphase aufgegeben. Statt sich auf seine Forschung zu konzentrieren und sachlich Antworten auf seine Fragen zu suchen, hatte er sich der Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung hingegeben. Er war so ein Trottel... Er hatte sich Klarheit schaffen wollen, stattdessen stand er jetzt völlig auf dem Schlauch, denn offenbar hatte sich sein...Zustand...verschlimmert. Okay, heute Abend...äh...gestern Abend war dieses...Dings...nein, dieses Gefühl...dieses...Dings-Gefühl auch schon da gewesen und auch davor und so weiter. Aber so schlimm...hatte es sich bisher nicht angefühlt. Was war also passiert? Es war doch gar nix gelaufen, im Gegenteil – sie hatten sich kaum berührt. Er und Sascha hatten doch nur...– oh, nein! Nicht an Sascha denken, nicht an... Mist...! Zu spät. Da war er schon wieder. Der Schlafmangel. Kaum befassten sich seine Gedanken auch nur ansatzweise mit Dings, kamen die Symptome zurück: Herzrasen, Nebelblick, Magenkribbeln und, um alles noch schlimmer zu machen, setzte jetzt anscheinend auch dieses entsetzliche Dauergrinsen wieder ein. Scheiße, scheiße, scheiße! David stöhnte und rieb sich die Schläfen. Er war so ein verdammter Vollidiot. Er hätte sich doch schon gestern Mittag aus dem Fenster stürzen sollen. Das hatte er nun von seinem Überlebenswillen: Eine tödliche Krankheit. Scheiße! Mit einem gefauchten Seufzen lehnte sich David kurz gegen die Anrichte und sah sich mit müden Augen in der Futterküche um. Er war erst zwanzig Minuten hier und ohne es zu bemerken, hatte er schon vier von den insgesamt neun Igelwannen fertig. Offenbar arbeitete er schneller, wenn er müde war und dabei auch noch an Dings dachte. Hahaha, was für eine Ironie. Gott, es war nicht zum Aushalten. Dieser Mistkerl machte ihn fertig. Er laugte ihn aus. Er war anstrengend und nervenaufreibend und absolut ganz und gar ungesund für ihn. Genauso wie Sven. Verdammt, Sven... Wieso musste ihm immer ausgerechnet dieser Name einfallen, wenn er an Sascha dachte? Es war, als ob die beiden durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft wären und das waren sie ja auch irgendwie. Schließlich hatte er sich diesen dämlichen Plan nur aus diesem Grund ausgedacht. Er hatte herausfinden wollen, was die beiden voneinander unterschied. Er hatte herausfinden wollen, ob Sascha es wirklich ernst mit ihm meinte. Er hatte herausfinden wollen, ob...er es wagen und sich auf eine neue Liebe einlassen sollte. Doch der Plan war fehlgeschlagen, weil er ihn nicht zu Ende befolgt hatte. Statt einer Lösung hatte er nun ein noch größeres Problem. Großartig. Toll gemacht, David. Herzlichen Glückwunsch. Niedergeschlagen warf David ein zusammen geknülltes und feuchtes Blatt Küchenpapier, mit dem er gerade eine weitere Igelbox trocken gerieben hatte, Richtung Mülleimer und verfehlte ihn knapp. Er fluchte und – erstarrte plötzlich. Einen Moment...hatte er da nicht etwas übersehen...? War...das nicht ein Widerspruch? Wenn der Plan tatsächlich misslungen war, wieso waren seine verkorksten Gefühle gegenüber Sascha dann nicht weniger geworden? Eigentlich – rein der Logik nach – hätten sie sich doch verringern müssen. Doch das hatten sie nicht. Nein, sie hatten sich sogar ein bisschen verstärkt. Was hatte das zu bedeuten? Sascha...machte ihn fertig. Sascha machte ihn krank. Sascha machte ihm das Leben zur Hölle. Und in diesem Moment machte er ihm Frühstück. Wer, außer seiner Mutter, hatte ihm jemals Frühstück gemacht? Niemand. Am allerwenigsten Sven. Das...war ein Unterschied. Vielleicht nur ein kleiner, aber immerhin ein Unterschied. David kniff die Augen zusammen. Mit pochendem Herzen stand er vom Boden auf und begann fieberhaft in der Futterküche auf und ab zu gehen. Diese letzte Nacht... Was war denn nun passiert? Abgesehen von der Tatsache, dass er und Dings NICHTS miteinander gehabt hatten? Was hatten sie getan? Sie hatten geredet. Mehr nicht. Geredet und gelacht. Das war alles. Mehr war nicht passiert. Und dann wurde es David mit einem Schlag klar. Wie hatte er das solange übersehen können? Er musste vollkommen blind sein. Der Unterschied hatte doch schon die ganze Zeit vor ihm gelegen. Der Plan, er war nicht fehlgeschlagen – im Gegenteil, er hatte blendend funktioniert. Und er, David, hatte es vor lauter Müdigkeit nicht bemerkt. Oder...hatte er es nicht bemerken wollen? Um sich die Schmerzen zu ersparen? Um eine Lüge zu schützen, die ihn jahrelang belastet hatte? Es tat weh, aber es war die Wahrheit und es war an der Zeit, sie sich einzugestehen: Im Gegensatz zu David, war Sven wohl niemals wirklich verliebt gewesen. Darum war es ihm auch so leicht gefallen, ihn zu betrügen. Darum war es ihm so leicht gefallen, ihm auch noch die Schuld daran zu geben. Darum war es ihm so leicht gefallen, ihm halbherzige Entschuldigungen vorzulügen. Darum...war es ihm so verdammt leicht gefallen, ihn zu vergessen. Denn schließlich war es nicht sein Herz gewesen, das Schaden genommen hatte. David schluckte. Unbeweglich stand er in der Mitte der Futterküche. Links raschelte ein Igel in seiner Box herum und hustete keuchend. Der Regen klopfte leise gegen das Klappfenster an der Decke. David nahm es nicht wahr. Fast zwei Jahre lang hatte er Sven jeden Tag vermisst. Fast zwei Jahre lang war er davon überzeugt gewesen, dass seine Beziehung zu Sven Zukunft gehabt hätte, wenn der ihn nicht betrogen hätte. Fast zwei Jahre lang hatte er geglaubt, dass ihre Beziehung glücklich gewesen war. Doch die Wahrheit sah anders aus, das wurde ihm jetzt klar. Hand aufs Herz: Das zwischen ihm und Sven...war niemals eine echte Beziehung gewesen. Das, was sie miteinander geteilt hatten, war von Beginn an rein körperlich gewesen. Das, was sie zusammen gebracht hatte, war keine beidseitige Zuneigung gewesen, sondern gegenseitige Anziehung. Sie hatten geknutscht, ein wenig rumgemacht und dann hatte Sven ihn betrogen, weil David noch keinen Sex gewollt hatte. Sicher, sie hatten sich gut verstanden. Sicher, sie hatten miteinander gelacht. Doch ihre Nähe hatte sich immer nur auf körperliche Nähe beschränkt. Niemals – in drei Monaten Beziehung – war David Sven so nahe gewesen, wie er Sascha in der letzten Nacht nah gewesen war. Denn niemals hätte er Sven seine Träume, Ängste und Geheimnisse anvertraut. Aber Sascha hatte er sie erzählt. Ohne zu zögern. Und Sascha hatte ihm zugehört. Er hatte ihn verstanden. Er hatte mit ihm mitgefühlt. Sven...hätte das niemals getan. Und er hätte David niemals sein Herz ausgeschüttet. Sascha...hatte das getan. Er hatte ihm von seiner Mutter erzählt und ihm den Kummer gezeigt, den er in sich trug. Er hatte allein ihm erzählt, dass er Sozialpädagogik und nicht BWL studieren wollte. Er hatte ihm offenbart, dass er Angst vor Gewitter hatte. Sascha...hatte ihm seine Seele geöffnet und war damit ein enormes Risiko eingegangen. Denn auch er – ebenso wie David – konnte sich in dieser Verletzlichkeit niemals sicher sein, nicht verletzt zu werden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte David in die Untiefen des Universums. Die Wahrheit, die Antwort, der Unterschied lag so klar und deutlich vor ihm, wie der Pappkarton mit dem sauberen Zeitungspapier: Sven hatte nur einen Teil von ihm gewollt. Sascha dagegen...wollte ihn ganz. Er wollte ihn nicht nur mit Haut und Haaren, er wollte ihn mit jeder Facette seines Charakters. Er wollte ihn mit seinen Stärken und Schwächen, mit all seinen Gemütsregungen und Wutausbrüchen. Er wollte ihn trotz seines größten Fehlers. Oder...nein, das war nicht ganz richtig: Sascha wollte ihn nicht trotz seines größten Fehlers, er wollte ihn deswegen. Wie viele Beweise brauchte er noch? David schluckte erneut und spürte plötzlich, wie sein Herz sich vor Freude wieder aufzupumpen begann. Sein Magen begann wieder zu kribbeln und zu schwirren als würde er Achterbahn fahren. Sein Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln. Dies konnte nicht der Schlafmangel sein. Denn in diesem Moment fühlte er sich so wach wie nie zuvor. Wie hatte er jemals müde sein können? Es war ihm ein Rätsel. Mit einem Mal konnte er es nicht erwarten, in die Zivi-Küche zu kommen, um Sascha zu sehen und mit ihm zu frühstücken. Er war bereit. Er wollte dieses Gefühl, er wollte Sascha. Und er wollte nicht nur mit ihm reden und mit ihm lachen. Er wollte mehr. Er wollte ihn küssen und seine Wärme spüren. Er wollte ihn riechen und schmecken. Aber er würde behutsam vorgehen, Schritt für Schritt. Er wollte nichts überstürzen. Er wollte nicht riskieren, dass etwas schief ging, dass sich dieser Schlafmangel in...Schlafüberfluss verwandelte. Dann würde er sich doch noch aus dem Fenster stürzen müssen. Oder eben Sascha umbringen. Wie ein Berserker stürzte David sich in die Arbeit. Zehn vor halb acht war die Futterküche fertig: Der Boden war gefegt, die alten Näpfe abgewaschen und alle Tiere – die neun Igel, die zwei Tauben, die junge Schleiereule und der Spatz – saßen in sauberen Wannen und Käfigen und hatten frisches Futter und Wasser. David stand am Waschbecken und wusch sich pfeifend die Hände. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so glänzende Laune gehabt hatte. Abgesehen natürlich von letzter Nacht und Dienstagvormittag und Sonntagabend... Die Müdigkeit, die ihm vorhin noch so unerträglich erschienen war, hatte sich restlos aufgelöst. Sein Herz sirrte friedlich in seiner Brust umher, sein Magen fuhr Fahrstuhl und seine Lippen lächelten so unentwegt, dass er fürchtete, bald Kiefersperre zu kriegen. Das war doch echt bekloppt. Jetzt stand er hier und grinste den Seifenspender dümmlich an, nur wegen diesem dahergelaufenen Mistkerl, der ihm ununterbrochen Schwierigkeiten machte. Ganz offensichtlich litt er nicht nur unter Schlafmangel, sondern auch unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Möglicherweise war es auch das Stockholm-Syndrom. Sonnenklar. Gerade in diesem Moment, da David begriffen hatte, wie ernst sein Zustand wirklich war, hörte er Schlüsselgeräusche am Eingang zur vorderen Scheune und Schritte an der Tierannahme. Schlagartig erfasste ihn ein neuer psychotischer Schub. Sein Herz, das sich in der letzten halben Stunde in einem sanften Zustand der seligen Verträumtheit befunden hatte, schreckte hoch und sprang in einen wilden Herzinfarkt-Modus zurück. Sein Magen überschlug sich. Sein Lächeln erstarrte für einen Augenblick. Eine Nanosekunde lang überlegte er stumpfsinnigerweise, ob er sich vielleicht irgendwo verstecken sollte. In einer Igelwanne vielleicht oder hinter der Tür. Doch es war bereits zu spät: Besagte Tür schwang auf und Mr. Davids-Tod-Wird-Meinen-Namen-Tragen steckte seinen hübschen Kopf in die Futterküche. „Hi...!“, begrüßte Sascha ihn schmunzelnd. „Hi...,“ erwiderte David matt und unterdrückte den Wunsch, sich etwas Luft zu zufächeln. „Wie sieht’s aus?“, fragte Dings und sah sich in der Futterküche um, „Bist du fertig?“ „Ja, bin ich. Du kommst...gerade richtig...,“ antwortete David und lächelte sanft. Einen Moment blinzelte Sascha. Dann breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, das nicht nur sein Gesicht, sondern auch die ganze Futterküche beschien. „Perfekt...!“, sagte er strahlend und in seinen Augen leuchtete die Freude so hell, dass sie David beinahe blendete, „Möchtest du dann rüber kommen und mit mir frühstücken?“ Davids Herz schien förmlich zu explodieren. Seine Knie wurden weich, sein Magen drehte ein paar Saltos hintereinander und er spürte, wie sein eigenes Lächeln die Intensität einer mittelmäßigen Atomexplosion erreichte. Posttraumatisches Stresssyndrom. „Ja...!“, sagte er dann, „Klar!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)