Rabbit Postman von Diminuel ================================================================================ Kapitel 1: Part I ----------------- Ceiling Stars Der klare Nachthimmel war von funkelnden Sternen durchzogen. Der Wind zog durch den Bambushain welcher auf dem Hügel wuchs, der das Dorf überschaute. Nur zwei Figuren waren zu solch später Stunde noch ausserhalb der Stadt. Die kleinere Figur stand zwischen den Bambusstangen, ihr brauner Mantel wehte im leichten Windhauch; es handelte sich um einen älteren Mann, der sich gerade gelassen eine Pfeife anzündete. Die andere Figur, ein junger Mann, stand neben ihm und liess seine grünen Augen über das Dorf schweifen. „Es ist an der Zeit...“, sprach der Alte schliesslich und bliess den Rauch in die kühle Luft. Der junge Mann drehte sich zum Älteren um, die roten Haare hingen ihm lose ins Gesicht. Er trug ebenfalls einen braunen Mantel, doch diesen zog er jetzt unaufgefordert aus und gab ihn dem alten Mann. Unter dem Mantel trug er braune Hosen, ein weisses Hemd, eine braune Weste und darüber einen Mantel, der hinten bis zu seinen Kniekehlen reichte. Der Alte nahm eine braune Umhängetasche aus Leder nach vorne und reichte sie dem Rotschopf. „Hiermit übertrage ich dir die Aufgabe des Postman . Von nun an wird es deine Aufgabe sein durch die Länder zu reisen und Geschichten zu sammeln und diese auch an die richtigen Personen weiterzuleiten“. Der junge Mann nickte und liess sich die Tasche vom Alten umhängen. „Es obliegt dir Schicksalsbriefe zu verteilen. Nimm deine Aufgabe ernst und du kannst das Leben vieler Menschen zum Guten wenden“. „Ich werde die Aufgabe gewissenhaft erledigen“, sagte der junge Mann und der Alte klopfte ihm auf den Oberarm. „Nun denn, Rabi. Zieh fort, es gibt hier Lebensgeschichten zu sammeln!“. Der Rothaarige nickte und verbeugte sich. „Ich werde dich nicht enttäuschen, Grossväterchen“ Er hob seinen Fuss und machte einen grossen Schritt, aber hoch in die Luft. Leichtfüssig schritt er durch das Nichts als gäbe es einen unsichtbaren Pfad, den nur er sehen und betreten konnte. Der Alte nickte zufrieden, als er seinen Zögling davonziehen sah, dann zog er sich zurück und verschwand im Schatten des Bambushains. Rabi ging mit grossen Schritten voran, bis er gerade über einem Haus stand. Er schaute interessiert nach unten, eine Hand fest um seine neue Ledertasche gelegt und beugte sich leicht nach vorne. Seine grünen Augen glühten als er das Haus betrachtete und er spürte es genau in sich: in diesem Gebäude wartete eine Geschichte darauf niedergeschrieben zu werden. Er konnte sehen wie zahllose ungeschriebene Buchstaben sich um das Haus wanden wie schwarze Efeuranken. Ein Lächeln stahl sich auf Rabis Gesicht, Jahrzehnte hatte er seinem Meister und den anderen Postmen dabei zugesehen wie sie Geschichten niederschrieben und wie die Menschen aufatmeten wenn erst mal das Gewicht der unausgesprochen Worte von ihnen gelöst wurde. Es war ein wundervoller Anblick. Rabi liess sich nach unten gleiten und stand schliesslich auf der Strasse vor einem Fenster, in dem er das Licht einer Kerze flackern sah. Er öffnete seine Tasche und zog einen kleinen Hammer heraus. Er klopfte dreimal sachte gegen die Mauer und eine Türe erschien, an der ein Namenschild hing: Linali Li . Er packte den Hammer wieder weg und klopfte an die Türe. Sie ging nach einigen Augenblicken auch auf und ein kleines Mädchen schaute verstört zu ihm hoch. Sie hatte schwarze Haare und wundervolle, grosse violette Augen. „Guten Abend. Ich bin Rabi, ich bin hier um deine Geschichte anzuhören. Wirst du mich rein lassen?“, fragte er. Das Mädchen schaute immer noch mit grossen Augen zu ihm hoch, doch dann liess sie ihn in das Zimmer. Es war eigentlich mehr als eine kleine Kammer mit einem Fenster, in der nichts mehr war als ein Futon am Boden und ein kleiner Nachttisch mit einer brennenden Kerze. „Wie hast du das gemacht? Die Türe kam einfach so aus dem Nichts“, sagte das Mädchen und setzte sich auf ihren Futon. „Ich bin kein normaler Mensch, kleine Linali, ich bin ein Bote des Schicksals“, antworte Rabi und grinste sie an. Das Mädchen war skeptisch, doch Rabi zog ein Pergamentblatt aus seiner Ledertasche, dazu noch eine kleine Ledertasche, die mit einem Band verschlossen war. Er öffnete es unter dem neugierigen Blick des Mädchens und zum Vorschein kamen vielerlei Schreibutensilien, doch dem Mädchen fiel die weisse Feder ins Auge, die aussah als hätte sie gold glitzernden Staub an sich haften. „Es ist ein wenig dunkel hier“, meinte Rabi, „magst du die Sterne?“, fragte er und Linali nickte eifrig. Der junge Postman brachte seine Hände zusammen, als hielte er darin etwas versteckt. Das schwarzhaarige Mädchen rutschte etwas näher und beugte sich über Rabis Hand. Der junge Mann öffnete seine Hand einen kleinen Spalt und silberne Lichtfunken stoben hoch zur Decke. Linali schaute erstaunt nach oben wo die zwei kleinen Lichter an der Decke hafteten. Rabi lächelte und öffnete seine Hände, worauf helles, blaues Licht über seinen Handflächen strahlte und weitere Funken nach oben an die Decke schossen, bis alle Wände voll von silbernen Lichtchen waren und es wirklich ausschaute als schauten die beiden hoch in ein Sternenmeer. Rabi bliess auf seine Handfläche und eine Wolke von blausilbernem Licht schwebte hoch und strahlte sanft auf die beiden hinab. „So, kleine Linali. Möchtest du mir deine Geschichte erzählen?“ „Meine Geschichte?“, fragte sie, als sie endlich ihren Blick von den Lichtern reissen konnte. Rabi nickte. „Ja, wer du bist, woher du kamst, was du tun willst. Alles was dir in den Sinn kommt“. Das Mädchen dachte einige Zeit nach, doch dann nickte sie. Rabi nahm ein leeres Tintenfässchen und stellte es vor sich auf den Boden, gleich neben dem Pergamentblatt. Dann hob er die weisse Feder hoch, die im silbernen Licht noch mehr glänzte als zuvor. „Also... Ich heisse Linali und bin 10 Jahre alt. Meine Eltern starben vor kurzer Zeit und ich hatte nur noch meinen Bruder. Doch sie haben mich von ihm getrennt und nun bin ich in diesem Waisenhaus. Es gefällt mir hier nicht. Ich wünschte mein Bruder würde mich holen kommen... Doch er will wahrscheinlich nicht... Ich war traurig als meine Eltern starben, doch ich bin noch viel trauriger, dass mein Bruder mich nicht bei sich haben will... Und hier bin ich so einsam... Ich darf nicht mit den anderen Kindern spielen, weil ich krank bin. Meine Eltern sind auch an einer Krankheit gestorben... Vielleicht werde ich auch sterben... Ich würde aber gerne noch einmal mein Brüderchen sehen. Er hat immer so lieb gelächelt und mich getröstet... Deswegen will ich leben, bis ich ihn wieder sehe...“, sagte sie. Rabi schwieg und Linali sah wie schwarze Zeichen von der Decke hinabschwebten und sich im kleinen Glas sammelten. Rabi tauchte die Spitze seiner Feder hinein und legte sie danach auf das Pergament. Als er anfing zu schreiben rieselte goldener Staub von der Feder, welcher sich mit der schwarzen Tinte vermischte und sie glänzen liess. Die kleine Linali war sprachlos und schaute Rabi gebannt zu. Der junge Mann vollendete den Brief und legte die Feder wieder in die kleine Ledertasche. Er schraube das Tintenfässchen zu und gab es dem Mädchen. Rabi faltete den Brief und steckte ihn in einen Briefumschlag. Er stand auf und ging mit dem Brief und Siegellack zum Schreibtisch, auf der die Kerze brannte. Linali beobachtete wie er flüssigen Lack auf den Brief tropfen liess und dann ein Siegel aus goldenem Metall draufdrückte. „So...“, verkündete er und zeigte den Brief dem kleinen Mädchen, „das hier ist dein Brief. Ich werde ihn bei mir behalten, bis ich die Person gefunden habe, an die dieser gehen soll“. Er räumte seine Sachen zusammen, während Linali nachdenklich zu ihm schaute. „Und was ist damit?“, fragte das Mädchen schliesslich und zeigte ihm das Tintenfläschchen. Rabi lächelte und fuhr ihr über das Haar. „Behalt das auf. Ich werde ganz sicher wiederkommen, entweder um dir einen Brief zu bringen oder mehr von deiner Geschichte zu hören“, versprach er, dann stand er auf. Er ging zur Türe. „Du bist ein sehr tapferes Mädchen, Linali. Ich freue mich auf unser nächstes Zusammentreffen“, sagte er, dann öffnete die Türe und verschwand. Linali schaute auf die Wand, an der vorher gerade noch die Holztüre gewesen ist, dann schaute sie nach oben, wo noch immer die Lichtsterne funkelten. Sie drückte das Tintenfässchen gegen ihre Brust und nickte entschlossen „Ich werde tapfer sein!“ Rabi stand wieder in der Luft über dem Dach des Waisenhauses und lächelte. Die Buchstabenranken hatten sich in ihrer Zahl vermindert, doch es waren noch einige da, ein Zeichen, dass er wirklich wieder zurückkehren würde, wann jedoch wusste er nicht. Er schaute sich den Brief an, dann legte er ihn in seine Ledertasche. „Dann werde ich mich jetzt auf den Weg machen“, beschloss er und als er seinen nächsten Schritt tätigte war er verschwunden. Shot from the Sky Jeder Postman musste zuerst eine gewisse Anzahl von Briefen sammeln, bevor er auch einen Empfänger fand. Denn selbst für einen Postman, dem keine räumlichen oder zeitlichen Grenzen gesetzt waren, war die Welt gross – die richtige Person zu finden konnte manchmal lange dauern. Rabi hatte sich entschlossen weiter zu ziehen, sein Gespür für ungesprochene Worte führte ihn. Er hatte schon einige Briefe gesammelt, doch er hatte das Gefühl, das der nächste Absender – ähnlich wie Linali – etwas besonderes sein würde: ein Juwel unter den vielen Briefen. Sein Meister hatte ihm gesagt, dass es unter all den Briefen solche gab, deren Aufsetzen und Übermitteln einen Postman mit grosser Freude erfülle und zwei Menschen grosses Glück bereite. Folglich waren Rabis Schritte durch den Morgenhimmel heiter und ein Lächeln war auf seinem jugendlichen Gesicht. Unter ihm waren weite Reisfelder, durch die sich kleine Strassen wanden. Ein grösseres Dorf war nicht weit entfernt und Rabi konnte schon ein Haus sehen, um das sich die viel versprechenden Wortranken wanden. Doch bevor er es erreichen konnte, schoss plötzlich etwas durch die Luft und streifte seinen Oberarm. Erschrocken schaute Rabi an die schmerzende Stelle und sah einen Riss in seiner Jacke und eine blutende Wunde. Verwirrt schaute er nach unten und sah einen Jungen mit einem Bogen auf einer unbebauten Fläche hinter einem Haus stehen. Bevor der Junge einen zweiten Pfeil abfeuern konnte rauschte Rabi zu Boden und landete vor ihm. Sich seinen Arm haltend schaute er den Schützen an. Der Junge war um die 13 Jahre alt, hatte langes, schwarzes Haar, das er in einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und trug einen blauen Kimono. Seine blauen Augen funkelten argwöhnisch und er richtete seinen Bogen erneut auf Rabi. „Nicht doch! Ich bin ungefährlich!“, rief Rabi und hob beide Hände, eine davon blutverschmiert. „Schweig! Du bist durch den Himmel geschritten! Du musst ein Dämon sein!“, rief er und Rabi konnte gerade noch dem zweiten Pfeil ausweichen, in dem er sich auf den Boden warf. „Das ist ein Missverständnis! Ich bin kein Dämon!“, rief Rabi erschrocken, „Ich bin ein Postman!“ „Ein was? Ist das eine westliche Dämonenart?“, fragte der Junge skeptisch und zog schon einen nächsten Pfeil aus dem Köcher. „Nein! Nein, nein! Ich bin kein Dämon! Ich sammle Lebensgeschichten!“, sagte Rabi hastig und der Junge senkte seinen Bogen ein wenig. „Wozu soll das denn gut sein?“, fragte er, doch liess Rabi gar nicht antworten, „aber ein Mensch bist du nicht. Menschen gehen nicht durch die Luft“. Der Rotschopf erachtete es als sicher genug wieder aufzustehen. „Ich bin kein Mensch, nein. Ich bin ein magisches Wesen, aber kein Dämon!“, sagte er hastig, als der Junge schon wieder seinen Bogen hob. „Ich tue den Menschen Gutes“. Der schwarzhaarige Junge rümpfte seine Nase, doch steckte den Pfeil wieder in den Köcher. „Che... Schwachsinn. Komm mit, ich hab irgendwo einen Verband“, sagte der Junge und ging voraus. Rabi seufzte erleichtert und folgte dem Jungen, bis vor das Haus mit den Buchstabenranken. „Du wohnst hier?“, fragte Rabi erstaunt und der Junge nickte. Er ging hinein, doch Rabi folgte ihm nicht. „Schon gut, ich komme nach. Ich werde dieses Haus auf die richtige Weise betreten“. Der Junge hob nur eine Augenbraue, doch dann schnalzte er mit der Zunge und schloss die Schiebetüre wieder hinter sich. Dieser Junge war also sein nächster Verfasser. Rabi schaute etwas unsicher auf seine Wunde am Arm. Das war ja noch keinem Postman passiert; von einem Sterblichen wie ein Vogel vom Himmel geschossen. Das dürfte Grossväterchen unter keinen Umständen erfahren! Rabi seufzte, doch ging dann guten Mutes um das Haus herum, bis ihn sein Gespür an die richtige Wand führte. Er zog wieder seinen Hammer hinaus und klopfte dreimal gegen den Stein, worauf die Türe zum Vorschein kam. „Yu Kanda, also“, sagte Rabi als er sich die Türe angeschaut hatte. Bevor er klopfen konnte wurde die Türe schon aufgestossen und rammte ihm ins Gesicht. Der Postman fiel, sich die Nase haltend, nach hinten zu Boden, während der Junge nur mit erhobener Augenbraue auf ihn hinunterschaute. Mit etwas Mühe sass Rabi wieder auf und lächelte etwas forciert zu Yu hoch. „Eigentlich sollest du erst öffnen wenn ich klopfe...“, meinte er und räusperte sich, „ich bin Rabi, der Postman, ich würde gerne deine Geschichte aufschreiben. Würdest du mich hineinlassen?“. Der Schwarzhaarige verzog nur verstört das Gesicht, doch liess ihn dann rein. „Che. Wie lästig“, meinte er und schmetterte die Türe wieder in die Angel, was Rabi zusammenzucken liess. War der Junge wohl immer so schlecht gelaunt, oder war es wegen den Worten, die ihm auf dem Herzen lagen? Rabi hoffte, dass es Letzteres war. Yus Zimmer war geräumig, mit dunklen Holzdielen und bemalten Wänden. Sein Futon lag auf einer Anhöhe aus Holz, er hatte einen Schrank und ein kleines Tischchen am Boden, auf dem Papierrollen mit den japanischen Schriftzeichen lagen. Yu nahm ein Schwert vom Boden und setzte sich damit auf den Futon, dann warf er Rabi einen Verband zu. Der Postman zog seine Jacke aus und band sich den Stoff halbherzig um den Arm – die Wunde war ja nicht sonderlich schlimm und sie würde sich heilen sobald er die Menschenwelt verliess. „Du brauchst keine Waffe gegen mich, Yu. Ich tu dir nichts“, meinte Rabi und öffnete seine Ledertasche um die üblichen Utensilien hervor zunehmen. „Che. Red nicht so vertraut mit mir!“, zischte der Junge und Rabi konnte ein Augenrollen nicht unterdrücken. Hier brachte es wohl auch nichts seine Magiekünste zur Schau zu stellen, jedenfalls liess sich der Junge sicher nicht wie Linali mit einem Lichtspiel beeindrucken. Rabi hatte jedoch eine andere Idee und nahm eine leere Pergamentrolle aus seiner Ledertasche. Er rollte sie aus, alles unter dem skeptischen Blick Yus, und zog einen Pinsel sowie schwarze Tusche hervor. Er schraubte das Tuschefläschchen auf und tauchte die Pinselspitze hinein, dann tippte er mit dem Pinsel auf das Pergament und schwarze Linien zogen sich von selbst über das weisse Papier, wo sie kleine Menschen mit Waffen und Schilden bildeten. Yu hob beide Augenbrauen und Rabi grinste zu ihm hoch. Er schüttelte die Rolle einmal kräftig und die Figuren begannen sich vom Papier zu lösen und sich in einem Kampf aufeinander zu stürzen. Der Junge konnte sein Erstaunen nun nicht mehr verstecken und seine klaren, blauen Augen beobachteten das Spektakel begeistert. Währenddessen legte sich Rabi alles für das Aufschreiben von Yus Worten bereit. „Willst du mir nicht etwas über dich erzählen?“, schlug Rabi vor und Yu drehte seinen Kopf zu ihm hin. „Wieso sollte ich? Es geht dich gar nichts an“, meinte der Junge und schaute weiter zu wie sich die schwarzen Männchen gegenseitig niederschlugen. „Ich kann dir helfen, dafür bin ich da. Sicher hast du etwas auf dem Herzen und irgendwo auf der Welt gibt es jemanden, dem dein Schicksal wichtig ist“. Darauf schnaubte der Junge ungehalten. „Glaub es mir ruhig. Dies ist nicht umsonst meine Berufung“. „Na schön... Was willst du wissen?“, fragte er genervt und Rabi grinste. „Etwas über dich und alles was du auf dem Herzen hast“, antwortete er ihm und sah es Yu an, dass ihm so was unglaublich lästig war. „Che. Ich bin der älteste Sohn dieser Familie, ich bin 12... Mein Vater ist ein Samurai und wir waren mal sehr reich und angesehen, doch heute nicht mehr. Um seine Ehre zu wahren hat mein Vater vor mich wegzuschicken, damit wenigstens ich den Familiennamen aufrechterhalten kann. Doch ich will gar nicht weg von hier, immerhin ist seine Last auch meine Last. Vater hat uns immer gelehrt alles mit der Familie zu teilen, auch die Schmach der Verarmung. Doch Vater will nicht auf mich hören. Er hat schon mit Europäern gesprochen, die mich mitnehmen sollen, sobald sie ihre Reise nach Hause antreten. Doch ich habe nicht vor das zu tun. Ich habe keinen Grund mein Zuhause zu verlassen, ich werde meinem Vater helfen“, sagte der Junge stur und Rabi bewunderte seine Entschlossenheit. Er tauchte seine Feder in das nun gefüllte Tintenglas und fing an zu schreiben. Yu war bei weitem nicht so begeistert von dem Goldstaub der Feder, doch er beobachtete ihn dennoch aufmerksam. Rabi versiegelte den Brief und gab auch Kanda das Tintenfläschchen. „Was soll ich damit?“, fragte er grimmig und Rabi lächelte ihn an. „Ich werde wieder kommen, behalte es bis dann für mich auf“, versprach Rabi und ging an die Türe. „Dein Brief wird seinen Empfänger sicher bald finden, das spüre ich jetzt schon!“, verkündete er und Yu stand auf. „Oh, die Pergamentrolle darfst du behalten“, sagte er noch und Yu drehte sich wieder zu den noch immer kämpfenden Tuschemännchen. Als er jedoch antworten wollte, waren Rabi und die Türe schon wieder verschwunden. Der Junge schnaubte genervt. „So ein Blödsinn“, murrte er noch, dann rollte er die Pergamentrolle zusammen, wobei sich die Figuren wieder auf das Papier zurücklegten. Rabi stand noch ausserhalb des Hauses und schaute sich den Brief zufrieden an. Er pulsierte leicht in seinen Händen – ein Zeichen, dass der Empfänger bereit war den Brief jetzt schon von ihm zu erhalten. Die Buchstabenranken hatten das Haus beinahe verlassen, nur noch einzelne Buchstaben glitten über die weisse Wand. „Dir werde ich schon noch ein glückliches Lächeln auf dein Gesicht zaubern, Yu“, sagte Rabi und steckte den Brief in seine Ledertasche, „dann wollen wir mal!“. Er ging los und verschwand im Nichts. White Canvas Als Rabi das Reich der magischen Geschöpfe verliess befand er sich im Himmel über einer grossen Stadt. Unter sich sah er gerade das grosse Gebäude, welches von Buchstabenketten umgeben war. Er schaute über die grosse Stadt. „London also“, meinte er, dann glitt er weiter nach unten. Das Gebäude schien eine Anstallt zu sein, welches viele kleine Fenster hatte, die jedoch mit Eisenstangen verschlossen waren. Hier war der Empfänger von Yu Kanda’s Brief und gleichzeitig hatte jene Person wohl auch etwas zu erzählen. Eine glückliche Fügung für Rabi. Er lokalisierte das richtige Fenster, dann klopfte er mit seinem Hammer gegen die Wand des dritten Stockwerks. Eine Tür erschien und der Name auf dem Schild stimmte mit der Adresse auf dem Brief überein: Ellen Walker . Er klopfte und schliesslich öffnete sich die Türe. Ein junges Mädchen schaute ihn an, der Wind von draussen riss gleichsam an ihren Kleidern und Haaren. Rabi erschrak wohl mehr als das Mädchen, das plötzlich eine weitere Türe aus dem Nichts im Zimmer hatte: Sie sah aus wie ein kleiner Geist. Ihre Haut war bleich, ihr loser Rock klinisch weiss und ihre langen Haare wehten wie weisse Seidenfäden um sie. „Ich bin Rabi, der Postman. Ich bin hier um dir einen Brief zu überreichen und deine Geschichte aufzuschreiben. Lässt du mich in dein Zimmer?“, fragte Rabi nachdem er sich wieder gefasst hatte. Das Mädchen schaute Rabi, der im Nichts stand, noch einige Momente wortlos an, dann liess sie ihn hinein. Doch anstatt die Türe wieder zu schliessen trat das Mädchen an den Abgrund und schaute hinunter. Der Postman hob seine Hände und zog Ellen weg, die Türe schliessend. „Pass auf, da geht es runter“, sagte er ihr und sie kletterte auf ihr Bett. Der Raum war kahl, ähnlich wie bei Linali. Das Bett hatte Pfosten aus Metall und weisse Bettwäsche und mehr gab es im Raum auch nicht. Rabi setzte sich auf den Boden vor ihr und bereitete wie gewohnt seine Schreibwaren aus. „Was tust du da?“, hörte er die Stimme des Mädchens und schaute hoch. Sie baumelte ihre Füsse unschuldig vom Bett hinab. „Es ist meine Aufgabe die Geschichten von Menschen aufzuschreiben, Ellen“, antwortete er. Das Mädchen schaute auf ihn hinab, ohne sich zu regen, was Rabi etwas verunsicherte. „Meine Geschichte ist langweilig“, meinte sie, worauf Rabi lachte. „Nein, ganz sicher nicht. Mein Gespür sagt mir zu wem ich muss um eine passende Geschichte zu finden“, sagte er, dann hob er seine Hände und legte sie zusammen. „Magst du Schmetterlinge?“ „Ich habe lange keine mehr gesehen“, antwortete das Mädchen, was Rabi recht traurig fand. Er öffnete seine Hände und unzählige Farbkleckser in der Form von Schmetterlingen strömten aus seinen Händen durch das kahle Zimmer. Ellens Augen weiteten sich, denn als die Schmetterlinge eine Oberfläche berührten wurden sie zu einem farbigen Fleck auf weiss. Selbst Ellens Kleider bekam so einige farbige Schmetterlinge ab. Das Mädchen schaute erstaunt um sich und fasste mit den Händen nach dem Stoff ihres Rockes. „Bist du ein Zauberer, Herr Postman?“, fragte sie und Rabi lachte. „Etwas solches auf der Art. Ich bin hier um Menschen glücklich zu machen“, sagte er und Ellen’s graue Augen begannen zu leuchten. „Wie ein Clown?“, wollte sie wissen und Rabi lächelte. „Willst du mir nun deine Geschichte erzählen?“, worauf Ellen leicht nickte. „Ich heisse Ellen Walker und bin 9 Jahre alt... Eigentlich wohne ich in einem grossen Haus zusammen mit meiner Mutter... Doch als mein Vater starb haben sie mich hier in dieses komische Haus gebracht...“, sagte sie und zupfte an ihren weissen Haare, „sie sagen ich bin krank und das hat auch meine Haare weiss gemacht... Mama will mich wohl nicht mehr bei sich haben, sie hat gesagt, so hat sie Angst vor mir. Doch sie hat auch gesagt, dass man mir hier helfen wird... Meine Haare sind aber nicht wieder braun geworden und Papa lebt auch nicht wieder...“, erzählte sie und wischte sich über die Augen, „ich habe diesen Ort gar nicht gern, alle Türen sind abgeschlossen und die Fenster mit Gitterstäben versperrt. Ich darf nie nach Draussen und Mama kommt mich auch nie besuchen... Ich wünschte ich hätte jemanden mit dem ich spielen kann und der mich lieb hat...“. Rabi hob seine Hand und legte sie auf die des kleinen Mädchens. Sie schniefte leicht, doch lächelte ihn an. „Wenn ich wieder gesund bin würde ich gerne ganz viele Bücher lesen und wieder in den Zirkus gehen...“, sagte sie und Rabi liess ihre Hände wieder los um ihre Geschichte aufzuschreiben. Das Mädchen schaute ihm mit einem Lächeln zu, ein Zeichen, dass das Gewicht der Worte von ihr genommen wurde. „Du schreibst sehr schön, Herr Postman“, sagte sie und Rabi lachte. „Danke“, antwortete er und versiegelte den Brief. Ja, diesen müsste er gleich weiterschicken, es erschien schon Yus Name auf der Vorderseite. Er steckte den Brief weg, nahm aber den vom japanischen Jungen nach vorne und gab ihn Ellen. „Hier, der ist für dich“, sagte er und Ellen nahm ihn mit erstauntem Blick an sich. Sie öffnete ihn und zog das Pergamentblatt nach vorne. Rabi beobachtete wie sie den Brief aufmerksam las. „Das ist aber traurig, der arme Yu“, sagte Ellen schliesslich und schaute hoch zu Rabi, „Was ist das für eine Geschichte?“ „Das ist nicht irgendeine normale Geschichte, kleine Ellen, das ist eine Geschichte, die ich gerade kürzlich von einem Jungen in Japan erzählt bekommen habe, so wie du mir vorher deine Geschichte erzählt hast“, erklärte Rabi, „und der Brief ist an dich adressiert“. Ellen schaute auf die Vorderseite des Briefumschlages, „genauso wie der Brief, den ich mit deiner Hilfe geschrieben habe, an Yu adressiert ist“. Ellen schaute ihn verwirrt an. „Aber wieso? Wir kennen uns doch gar nicht...“, meinte sie und Rabi lächelte sanft. „Das ist egal. Das Schicksal wollte, dass ihr voneinander hört, ihr werdet etwas füreinander tun können“, versprach er und ging zur Türe. „Herr Postman?“, hörte Rabi Ellen fragen und drehte sich nochmals zu ihr m, eine Hand schon an der Türfalle. Ellens schaute zu ihm hoch und lächelte. „Danke!“ „Ich danke dir, dass du mich deine Geschichte hast aufschreiben lassen“, antwortete Rabi mit einem strahlenden Lächeln, dann verliess er die Anstallt, die Türe verschwand mit ihm. Vom Himmel über dem grossen Gebäude aus sah Rabi, dass die Wortranken sich gelichtet haben, genau wie er es angenommen hatte. Rabi hatte es geschafft das Lächeln zurück auf Ellens Gesicht zu bringen und das war die grösste Belohnung und Freude für einen Postman. Destiny is paving paths Der zweite Besuch bei Yu Kanda war mit weniger Verletzungen verbunden als sein letzter, dennoch hatte er das Holzschwert des Jungen in den Bauch gerammt bekommen. „Tch. Pass doch auf wo du hinläufst, du Trottel“, meinte Yu genervt als er Rabi, sich am Boden von Schmerzen windend, sah. „Du hast ganz schön Kraft in deinen Armen, Yu“, meinte Rabi schliesslich und stand auf. Der Junge hob das Bambusschwert gegen Rabis Nase und funkelte ihn gehässig an. „Sei nicht so vertraut mit mir, Briefträger !“. Rabi trat einen Schritt zurück, die Hände beschwichtigend gehoben, bis der Junge das Übungsschwert über die Schulter nahm. „Was willst du?“. Rabi atmete erleichtert aus und schaute auf den Kleineren hinunter. „Lass uns zu dir nach Hause gehen“, schlug Rabi vor und Yu schnaubte, drehte sich aber um und führte sie beider zur Türe. Jedoch schmetterte er sie dieses Mal hinter sich zu, worauf es Rabi fröstelte; der Junge schien noch schlechter gelaunt zu sein als letztes Mal. Der Postman liess sich aber nicht die gute Laune nehmen und ging zur Wand von Yus Zimmer, wo er auch die Türe erscheinen liess. Er klopfte und sprang einen Schritt zurück als sie kraftvoll aufgestossen wurde. „Hallo Yu, l-", fing Rabi an, doch Yu schnitt ihm das Wort ab. „Wenn du mich noch einmal Yu nennst, kannst du was erleben!“, zischte er und Rabi nahm erneut einen Schritt zurück. „Uhm. Ich habe einen Brief für dich, würdest du mich ins Zimmer lassen? Uh...“ „Junger Herr oder Kanda“, warf Yu ein und Rabi zwang sich zu einem Lächeln. „Kanda... Würdest du mich bitte in dein Zimmer lassen?“. Yu schnaubte, doch liess Rabi eintreten. Rabi sah, wie sich gar nichts im Raum verändert hat, ausser dass auf dem kleinen Tisch am Boden nicht mehr Pergamentrollen, sondern Bücher mit dem römischen Alphabet lagen. „Vater zwingt mich zu lernen“, erklärte Yu, als er Rabis fragenden Blick sah. Der Postman lachte leise, dann zog er einen Brief aus der Ledertasche, „an meiner Einstellung hat sich aber nichts geändert. Ich werde dieses Land nicht verlassen“, sagte der Junge bestimmt. „Hier, lies diesen Brief“, meinte Rabi ruhig und reichte dem Jungen den Umschlag. Yu nahm ihn argwöhnisch an, dann hob er seinen Blick um Rabi skeptisch anzuschauen. „Von wem ist er?“, wollte er wissen. „Von einem Mädchen, ihr Name ist Ellen Walker“, antwortete der Rotschopf, was Yu zum schnauben brachte. „Ich kenne niemanden mit diesem Namen“, bemerkte er, doch riss den Brief auf und zog das Pergament nach vorne. Ruhig lass er den Inhalt des Briefes, bis er ihn dann auf den Boden neben sich legte. „Was soll ich damit?“, wollte er wissen, worauf Rabi lächelte. „Ich habe ihr deinen Brief gegeben und dir ihren. Das Schicksal wollte es so. Was du aus dieser Bekanntschaft machst, musst du selbst wissen“. Yu schwieg und Rabi lächelte ihn wartend an. „Ist sie denn ganz alleine?“, wollte er schliesslich wissen und Rabi nickte, „wo?“ „In London“, antworte der Postman, noch immer lächelnd, und Yu rieb sich gedankenverloren den Nacken. „London also...“, murmelte er und Rabi setzte sich zu Boden. Er zog seine Schreibsachen aus der Tasche und breitete sie vor sich aus, alles unter Yus skeptischem Blick. „Was soll das werden?“ „Es liegen dir noch unausgesprochene Worte auf der Brust. Wenn du es mir erlaubst werde ich sie aufschreiben“, antwortete Rabi und Yu schnaubte. „Gibst du mir das Tintenfässchen?“. Yu stecke seine Hand unter sein Kissen und zog das Glas hervor, dann gab er es Rabi. „Der Mann, der angeboten hat mich mit sich zu nehmen, ist ein Priester, der nach Japan kam um die Landschaft zu malen. Er ist komisch und nervig, mit dicken Brillengläsern. Doch mein Vater scheint ihm zu vertrauen, genug um mich mit ihm mitgehen zu lassen. Er erzählte mir von Europa und seiner Heimat. Und was er mich alles lehren könnte...“. Yu ballte die Hände auf seinen Knien und schien mit sich zu ringen. „Japan ist mein Zuhause, ich habe nie einen anderen Ort gesehen als mein Dorf. Ich wollte nicht weg, doch mein Vater will auch nicht, dass ich hier bleibe...“. Er atmete tief ein, dann hob er seinen Blick und Rabi sah die Entschlossenheit in den blauen Augen glänzen, „Gut. Ich werde nach Europa gehen“. Rabi nickte zufrieden und schrieb seinen Brief, während Yu nochmals das Schreiben von Ellen las. Der Postman legte den Brief zu all den anderen, dann stand er auf. „Ich denke, du machst die richtige Entscheidung. Vergiss nicht, ich versuche die Menschen glücklich zu machen“, meinte Rabi und ging zur Türe, „Ich bin mir sicher, dass du glücklich kannst werden, wenn du diesen Ort verlässt“. „Hm... Wir werden sehen...“, meinte Yu leise. Rabi lächelte, dann verliess er das Haus. Die Buchstaben waren alle verschwunden, er hatte seine Aufgabe erfüllt, doch er war sich sicher, dass er Yu Kanda nochmals treffen würde, denn er schuldete ihm noch immer ein Lächeln. Ellen öffnete Rabi diesmal mit einem Lächeln die Türe. „Hallo, kleine Ellen. Ich bin hier um dir einen Brief zu geben“, sagte er und Ellen liess ihn ins Zimmer eintreten. Rabi zog den Brief aus der Ledertasche und überreichte ihm dem Mädchen, das den Umschlag eifrig öffnete. „Von Yu?“, wollte sie wissen und schaute erwartungsvoll zu Rabi hoch. Dieser nickte und Ellen richtete ihren Blick strahlend auf das Schreiben. Sie las wortlos, dann drückte sie sich das Pergament gegen die Brust. Rabi nahm zur Kenntnis, dass die Farbschmetterlinge noch immer an ihrem Kleid hafteten. „Er kommt nach Europa! Ich freue mich! Vielleicht werde ich ihn ja sehen!“ „Oh, ich bin mir ganz sicher, dass du ihn sehen wirst“, meinte Rabi und Ellen nickte glücklich, „gut, ich muss jetzt weiter“. „Werden wir uns wieder sehen, Herr Postman?“, fragte das Mädchen als Rabi schon in der Luft vor der Türe stand. „Irgendwann vielleicht“, gab er zur Antwort und zwinkerte ihr zu, „bis dann: werde glücklich, kleine Ellen Walker!“ „Du auch Herr Postman!“, antwortete sie und winkte, bevor die Türe mit Rabi verschwand. Der junge Postman ging mit langen Schritten zum Dach hoch, wo er sich hinsetzte. Ein weiterer, glücklicher Mensch. „Werde glücklich hat sie gesagt...“, meinte Rabi und lachte, „für uns Postman gibt es nichts Schöneres als ein erfolgreicher Botengang... Wir machen so viele Menschen glücklich...“. Er schaute hoch in den blauen Himmel, wo die Sterne glänzten. „Doch werde ich wohl je mein Glück mit einem Menschen teilen können?“ End of Part I Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)