Days in Shibuya von abgemeldet ================================================================================ Kaoru ----- Die Welt verändern? Unsinn. Erst mit fünfzehn begriff ich, dass das nicht stimmte. Ich war immer davon überzeugt gewesen, dass es nicht möglich war, und es dauert fünfzehn Jahre, bis ich diese Meinung endlich änderte. Von dieser Veränderung will ich erzählen und am besten fange ich ganz am Anfang an. Als ich im April ’92 zum ersten Mal die öffentliche Oberschule von Shibuya betrat, lag mein fünfzehnter Geburtstag gerade mal eine Woche zurück. Als ich über den Schulhof lief, starrten mich knapp dreihundert Augenpaare neugierig und dümmlich zugleich an, lechzten danach zu erfahren, wer ich war, woher ich kam und was ich auf ihrem Schulhof zu suchen hatte. Bis vor einer Woche hatte ich mit meinen Eltern noch in Nagano gelebt, aber nun hatte mein Vater einen besser bezahlten Job hier in Shibuya angenommen und wir mussten umziehen. Umzüge standen damals auf meiner Hassliste ganz oben. Auf Platz zwei stand Mathematik und auf Platz drei Brokkoli. Wegen des Umzugs wurde ich eine Woche später als die anderen Neuen eingeschult. Die Schüler schienen bereits zu wittern, dass irgendetwas an mir anders war als an ihnen, als ich den Schulhof zum ersten Mal überquerte. Ich wusste, was sie tun würden. Sie würden sich auf mich stürzen wie eine Horde Hunde auf einen Knochen. Und mir Fragen stellen, warum ich jetzt erst kam, wo ich früher gewohnt hatte, warum wir jetzt nicht mehr dort wohnten und so weiter. Ich reckte das Kinn hoch. Niemand sollte auch nur eine Sekunde lang denken, er könne mit mir umspringen, wie es ihm gerade passte. So wie gewisse minderbemittelte Vollidioten in Nagano es getan hatten. Aber konnte ich vielleicht was dafür, dass meine Mutter einen Bügeltick hatte und meine Schuluniform jeden Tag bügelte? Dass ich nie dreckige Schuhe hatte? Dass meine Bücher an den Ecken keine Knicke aufwiesen? Leider waren all das Dinge, die die anderen dazu reizten, mir stilvolle Namen wie Streber und Schleimer zu geben. Was ich übrigens nicht war. Weder das Eine noch das Andere traf zu. Wenn ich lernte, tat ich es meistens, weil meine Eltern mir sonst nicht erlaubten, meinem größten Hobby nachzugehen: Musik. Mit acht Jahren habe ich angefangen. Damals sah ich die Band des großen Bruders von einem Freund von mir spielen und war begeistert. Danach lief ich zu meinen Eltern und bat sie, ein Instrument lernen zu dürfen, egal welches. Zuerst schlug ich Schlagzeug vor, weil man da so schön mit Krach machen konnte. Sie meinten aber, ein Schlagzeug sei ihnen zu teuer und empfahlen mir Blockflöte. Ich weigerte mich eine Blockflöte auch nur anzufassen. Dann einigten wir uns auf Gitarre und mein Vater fuhr mit mir in die Stadt, um mir eine Gitarre zu kaufen. Im Musikgeschäft sah ich dann zum ersten Mal in meinem Leben einen E-Bass und überredete meinen Vater einen solchen statt der Gitarre zu kaufen, da ich glaubte, er sei einfacher zu spielen, da er zwei Saiten weniger hatte. Ich merkte zwar schnell, dass ich mich geirrt hatte, aber auch, dass ich für die Musik geschaffen war. Meine Eltern erlaubten mir Unterricht an der Musikschule, aber nur unter der Bedingung, dass ich auch für die Schule lernte. Sollten sie sehen, dass meine Noten schlechter wurden, würden sie die Musikstunden abbrechen. Ich denke, man kann schon ein bisschen Verständnis aufbringen, oder? Ich war fest entschlossen jedem, der mir dumme Fragen stellen würde, genau das zu erzählen. Ich hasste es der so genannte Neue zu sein. Zwei hatte die Schule erst vor einer Woche begonnen, aber eine Woche reicht aus um Cliquen zu bilden. Meiner Meinung nach ist Clique nur ein anderes Wort für Mauer. Die Blicke der Schüler verfolgten mich weiter, als ich die große Glastür am Eingang aufstieß und das Gebäude betrat. Ich glaubte, dass sie mich sogar durch das Glas hindurch beobachteten. Auf den großen und langen Korridoren der Schule fühlte ich mich ziemlich verloren. Die Wände waren in schlichtem weiß gehalten und sahen sehr neu und ordentlich aus. Keine Risse, keine Farbblasen, keine Staubfetzen in den Ecken. Wie oft die hier wohl Staub wischten? Die Türen waren aus hellem Eichenholz, ebenso die Fensterrahmen. Alles passte zusammen. Ich wunderte mich fast, dass die Flure nicht mit Teppich ausgelegt waren. Verglichen mit meiner alten Schule war das hier ein Palast… Nachdem ich eine Weile die Korridore rauf und runter geirrt war, ahnte ich, dass ich mich verlaufen hatte. Woher sollte ich auch wissen, wo das Büro des Direktors war? In dem Brief, den sie mir geschickt hatten, hatte nur gestanden: Melde dich im Büro des Direktors, dort wirst du erfahren in welche Klasse du kommst. Keine Wegbeschreibung. Nicht mal ein Anhaltspunkt. Ich schaute auf meine Uhr: Noch hatte der Unterricht nicht begonnen. In wenigen Minuten würden die Flure sich mit Schülern füllen, die alle wussten, in welcher Klasse sie waren und wo der zugehörige Klassenraum war. Klar, ich könnte einen von ihnen fragen… Aber dann würden sie doch bestimmt denken Wie dumm, der weiß nicht mal wo der Direx sein Büro hat! Nein, darauf konnte ich auch verzichten. Ich schaute auf die Schilder an den Türen, in der Hoffnung, die Richtige durch Zufall zu finden. Ich fand heraus, dass ich bei den Chemieräumen war. Wie groß war diese Schule? Jeder Korridor sah gleich aus. Und hier sollte ich es die nächsten drei Jahre aushalten? Halleluja, was für eine Aussicht. Ich steuerte die nächste Treppe an und ging nach unten, mit einem schrecklichen Gefühl von Unsicherheit und Leere im Kopf. Unten angekommen blieb ich stehen und schaute mich um. Links und rechts zweigten sich zwei vollkommen identische Flure ab, vor mir lag die Eingangshalle. Ich spielte schon mit dem Gedanken, einfach wieder zu gehen und dieser verfluchten Schule den Rücken zu kehren, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte. Ich fuhr herum. Hinter mir stand ein Typ und grinste mich schief an. Er war ein bisschen größer als ich. Die Ärmel seines Hemds waren ausgefranst, die beiden obersten Knöpfe geöffnet und auf sein rechtes Hosenbein war irgendwas mit schwarzem Filzstift geschrieben. Seine schulterlangen Haare sahen aus als hätten sie noch nie eine Bürste gesehen und standen wild vom Kopf ab, aber das wirklich auffallende an ihnen waren die violetten Strähnen. Meine Mutter hätte mich umgebracht, wenn ich es gewagt hätte, so in die Schule zu kommen. Er war von der Sorte Mensch, die ich im Stillen immer bewundert hatte, weil sie so unabhängig waren. In Nagano hatte es auch eine Gruppe solcher Typen gegeben. Ich bezeichnete sie gern als Rebellen, die meisten nannten sie Freaks. „Wir dürfen vor Unterrichtsbeginn nicht rein“, sagte er und grinste immer noch. „Dann solltest du lieber rausgehen“, erwiderte ich und grinste ebenfalls. Seine Mundwinkel zuckten. Aber er lachte nicht. „Darf ich fragen, was du hier verloren hast?“ „Ich hab das Büro vom Direktor gesucht“, erklärte ich und meine Gelassenheit verschwand wieder. Bestimmt hielt er mich jetzt für einen totalen Volltrottel. „Ahh, verstehe“, meinte er gedehnt und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, „du bist neu hier, grad mal ne Woche auf der Schule und schon ein Privatgespräch mit dem Direx!“ Er lachte. „Alle Achtung, das hab nicht mal ich geschafft.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab nichts verbrochen“, sagte ich, „ich soll mich da melden, damit ich weiß, in welche Klasse ich muss.“ „Achso…“, murmelte mein Gegenüber und hörte auf zu grinsen. „Treppe hoch, erster Gang links, dritte Tür rechts.“ Er klang etwas enttäuscht. Ich bedankte mich, drehte mich um und ging die Treppe hoch. „Hey, Kleiner!“, rief der Typ mich plötzlich zurück. „Ja?“ Er stand immer noch am Fuß der Treppe. „Sag ihm ruhig, dass Kaoru Niikura dir geholfen hat. Macht sich gut in meiner Akte. Bye!“ Er hob die Hand und ging dann in Richtung Ausgang. Was für ein seltsamer Typ, dachte ich, während ich die Treppe hoch eilte. Aber irgendwie… interessant. Ich fand das Büro vom Direktor jetzt auf Anhieb und nachdem ich geklopft hatte, machte mir eine ältere Frau mit Nickelbrille, Klunkerohrringen und Haarknoten auf. „Warte hier“, befahl sie und deutete auf einen Stuhl. Ihre Stimme erinnerte mich an das schrille und laute Kläffen eines Chihuahuas. Ich nahm vorsichtig Platz und wartete. Nach einer Weile hörte ich einen Gong - der Unterricht hatte begonnen. Der Direktor ließ sich Zeit. Als er kam sprang ich auf, verbeugte mich kurz und nannte meinen Namen. „Ah, ja“, sagte er, „Hara Toshimasa. Hast du dich gut zu Recht gefunden?“ „Ja“, log ich und merkte, wie ich nervös wurde. Gleich würde ich zum ersten Mal meine neue Klasse sehen. Ich war ziemlich nervös. „Folge mir“, sagte der Direktor und wir liefen durch die halbe Schule, wie es mir vorkam, Treppe hoch, Treppe runter, Korridor links, Korridor rechts… Endlich blieben wir vor einer Tür stehen, hinter der sich mein zukünftiges Klassenzimmer befand. Mein Herz klopfte wie blöd. Der Direktor klopfte an und kurz darauf öffnete sich die Tür. Ich stand jetzt einer knapp vierzigjährigen Frau gegenüber, die mich leicht abwertend musterte. Alles an ihr war ordentlich. Auf der Nase hatte sie eine Lesebrille und hinter dem rechten Ohr ein Stück Kreide. „Hara Toshimasa“, stellte der Direktor mich vor und wandte sich dann an mich. „Deine zukünftige Lehrerin, Frau Nakashima.“ „Hallo“, sagte ich schnell. „Du bist spät“, antwortete sie spitz, dann bedankte sie sich beim Direktor und zog mich in die Klasse. Wieder wurde ich angestarrt. Ich ließ schnell den Blick durch den Raum schweifen. Die Schüler hatten jeweils ein Heft vor sich liegen und waren anscheinend dabei gewesen, etwas zu schreiben. Einige hatten den Stift noch in der Hand. „Euer neuer Mitschüler“, sagte die Lehrerin. „Hara Toshimasa.“ Ein Raunen ging durch die Klasse, was wohl Hallo bedeuten sollte. „Hallo“, sagte ich. Das Interesse der Klasse legte sich wieder auf die Aufgabe. „Na gut“, sagte Frau Nakashima. „Setz dich da hinten neben Sasaki Hizuki. Wir wollen dann weiter machen.“ Ich setzte mich auf den einzigen freien Platz und kaum dass ich saß, sprach mein neuer Tischnachbar mich an. „Hey“, sagte er vertraulich. „Woher kommst du? Warum kommst du erst jetzt?“ „Umzug“, murmelte ich, während ich mein Heft und das Mathebuch aus meiner Tasche angelte. „Echt? Wo hast du früher gewohnt? Hast du schon alle Bücher? Wenn nicht, kannst du gern in meins mit reinschauen“, plapperte Sasaki in atemberaubendem Tempo. Ich ahnte, warum der einzige freie Platz neben ihm gewesen war. „Ah gut, du hast schon ein Buch“, sagte er sofort, als ich mein Mathebuch auf den Tisch legte. „Wie gefällt dir die Schule? Kennst du hier schon jemanden? Man, es wär schrecklich für mich, auf ne neue Schule zu kommen und keinen zu kennen. Soll ich dich nachher rumführen? Hast du schon die Auszeichnungslisten gesehen? Ich will unbedingt drauf kommen, du auch? Warst du schon mal auf einer Liste?“ „Äh…“, murmelte ich und fragte mich, wie jemand so schnell so viele Fragen stellen konnte. „Also nicht“, schlussfolgerte Sasaki. „Na ja macht nichts, kann ja nicht jeder schaffen. Was ist denn dein Lieblingsfach? Macht’s dir was aus wenn ich dich beim Vornamen nenne?“ „Ja“, sagte ich gereizt und schlug mein Buch auf. Sasaki sah aus, als hätte ich ihm eine rein gehauen. „Ruhe dahinten!“, rief Frau Nakashima in diesem Moment. „Oder ihr schreibt beide eine Zusatzaufgabe!“ Ich war noch nie so dankbar gewesen, ermahnt zu werden. Als es zur großen Pause läutete, beeilte ich mich aus der Klasse zu kommen, damit Sasaki nicht auf die Idee kommen konnte, ich würde die Pause mit ihm verbringen wollen. Ich suchte mir einen einsamen Platz auf dem Schulhof und überlegte, was ich tun sollte. Früher hatte ich meine feste Gruppe gehabt, mit der ich in der Pause zusammen gewesen war, aber hier hatte ich niemanden. Ich hätte ein Buch nehmen und lesen können, aber dann wäre ich sofort wieder der Streber gewesen. Ich schlenderte also alleine über den Schulhof und hielt Ausschau nach den anderen aus meiner Klasse, aber dummerweise konnte ich mich nur an Hizuki wirklich gut erinnern. Ich blieb stehen, lehnte mich an einen Baum und tat so, als würde ich auf jemanden warten, damit niemand auf die Idee kam, ich wäre allein. „Hey!“, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir. Sie kam mir bekannt vor. Ich drehte mich um und hinter mir stand Kaoru Niikura, der mir vorhin den Weg zum Direktor gezeigt hatte. Neben ihm standen zwei weitere Gestalten, beide wiesen jeweils ähnliche Auffälligkeiten wie Kaoru auf. Der Eine war etwa so groß wie ich und hatte blond gefärbte Haare, seine Hose war an den Knien eingerissen und die Kappen seiner Schuhe waren schwarz bemalt. Der Andere hatte sich die Haare rot gefärbt und trug über der Uniform eine schwarze Jacke mit Buttons. Ich betrachtete sie. Einige zeigten Sprüche, aber die Meisten waren mit Bandlogos bedruckt. Ich erkannte unter anderem Buck-Tick und X, genau die Musik, die ich auch hörte. „Hey“, sagte ich lässig. Warum sprachen sie jemanden wie mich an? „Wieso stehst du hier alleine rum?“, fragte der Rothaarige. „Er kennt hier noch keinen“, erklärte Kaoru, bevor ich antworten konnte. „Hast du dem Direx eigentlich vorhin gesteckt, dass ich dir geholfen hab?“ Ich schüttelte den Kopf und Kaoru seufzte. „Schade“, murmelte er. „Na was soll’s.“ Ich antwortete nicht und überlegte, was sie wohl für einen Grund hatten, mich anzusprechen. Ich war das komplette Gegenteil von ihnen. Vielleicht brauchten sie Geld und wollten mich erpressen?! „Erzähl doch mal“, meinte Kaoru vertraulich, legte mir einen Arm um die Schulter und drängte mich sanft aber bestimmt mit ihm mitzugehen. „Wo hast du früher gewohnt?“, fragte er. „Nagano“, erwiderte ich und versuchte mich zu befreien. Natürlich vergebens. Er war viel stärker als ich. Wir liefen quer über den Schulhof. Was für ein Start. Gerade mal einen Tag hier und ich geriet ausgerechnet an die rebellische Clique. Immer wieder sah ich, wie einzelne Schüler uns hinterher starrten, die Nase rümpften oder die Köpfe schüttelten. Wir waren in der Mitte des Hofs angekommen, als ein Lehrer Kaoru rief. „Niikura!!“, dröhnte eine scharfe Stimme über das Gelände. Kaoru ließ mich los, ging zu dem Lehrer und lächelte. „Herr Reiko“, sagte er höflich und verbeugte sich übertrieben. „Sie wollen mich sprechen?“ „Allerdings“, sagte der Lehrer. „Ich musste erfahren, dass Sie sich vor Schulbeginn erneut im Schulgebäude aufgehalten haben!“ „Richtig“, sagte Kaoru ohne mit der Wimper zu zucken. „Aber schauen Sie… Ich habe diesem neuen Schüler…“, er nahm mich am Arm und zerrte mich neben sich, „nur gezeigt, wo das Büro von Dr. Yatsumi ist. Es tut mir aufrichtig Leid, wenn ich damit gegen unsere Schulordnung verstoßen habe.“ „Das sollte es auch“, knurrte Herr Reiko. „Es wäre nämlich nicht das erste Mal!“ Dann wandte er sich an mich. „Stimmt das?“, schnarrte er. „Hat er dir den Weg gezeigt?“ Ich nickte hastig. „Schön“, er machte eine abweisende Geste. „Haut ab. Aber ich hab ein Auge auf Sie, Niikura.“ Kaoru verbeugte sich wieder viel zu übertrieben. „War mir eine Ehre…“, säuselte er und als Herr Reiko ein paar Meter weit weg war fügte er „Du kleinkarierter Pisser“, hinzu. Ich musste lachen und Kaoru lächelte selbstzufrieden. Wir gingen zu den anderen zurück, die ebenfalls breit grinsten. „Nur das Übliche“, meinte Kaoru abwehrend. „Kommt, die Pause geht nicht ewig.“ Wir setzten unsere Tour über den Schulhof fort, bogen um eine Ecke und befanden uns jetzt hinter dem Schulgebäude. Kaoru lehnte sich an die Backsteinmauer und krempelte die Ärmel seines Hemds hoch. Er hatte ziemlich kräftige Unterarme. „Hast du was dabei?“, fragte der Blonde und ich peilte überhaupt nichts mehr. „Klar“, Kaoru grinste in die Runde. Dann holte er eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche, warf den beiden Anderen jeweils eine zu und steckte sich zuletzt selbst eine an. „Rauchst du?“, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. Kaoru zuckte mit den Schultern und steckte die Kippen wieder ein. Ich fühlte mich schrecklich fehl am Platz und dachte die ganze Zeit, was wohl passieren würde, wenn ein Lehrer kam und uns hier rauchen sah. „Hey, Kleiner“, sagte der Rothaarige plötzlich. „Bleib cool, die Lehrer kommen nicht hierher.“ Ich nickte. „Wir wollten dich um nen Gefallen bitten“, ergänzte Kaoru und stieß den Rauch in Form von kleinen Ringen aus. Ich machte große Augen. „Was denn?“, stammelte ich total verdattert. „Du gehst doch in die Klasse von Sasaki Hizuki, oder?“ fragte Kaoru und ich nickte. Der Blonde zog einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Jackentasche. „Gib ihm das, ja?“, sagte er und gab mir den Zettel. „Wieso macht ihr das nicht selbst?“, fragte ich. Der Rothaarige lachte trocken. „Weil Hizu die angenehme Angewohnheit hat, die Pause im Sekretariat zu verbringen und dieser verstaubten Sekretärin ihre Akten zu sortieren und so“, erklärte er und schnippte die Asche seiner Zigarette in die Richtung des Blonden. „Pass doch auf!“, rief dieser und der Rothaarige lachte. „OK“, sagte ich. „Ich kann’s ihm geben.“ „Danke Kleiner“, sagte Kaoru, trat seine Kippe aus und wandte sich zum Gehen. „Ach ja“, sagte er. „Erzähl uns morgen bitte wie er reagiert hat, ja?“ Ich nickte. „Und noch was“, Kaoru grinste mich wieder schief an. „Ich muss doch wissen, wer mir so brav geholfen hat. Wie heißt du?“ „ Hara Toshimasa.“ „Wir hörn voneinander“, sagte Kaoru und winkte dann seinen Freunden. Sie gingen auf den Schulhof zurück. Ich blieb stehen und wartete, bis sie weg waren, dann erst ging ich hinterher. Plötzlich wollte ich nicht, dass jemand mich noch mal mit ihnen sah. Als ich auf den Schulhof kam, konnte ich sie nirgends mehr entdecken, deshalb machte ich mir keine weiteren Gedanken über sie und ging mit den anderen Schülern rein. Zu Beginn der nächsten Stunde gab ich Hizuki den Brief. Als er ihn öffnete, ärgerte ich mich plötzlich, dass ich ihn vorher nicht gelesen hatte. Hizuki las den Brief, dann knüllte er das Papier zusammen und stopfte es in seine Hosentasche. „Was ist?“, fragte ich. Er machte sich nicht die Mühe mich anzusehen, als er anfing zu reden. „Wie kommst du an diesen Zettel?“ Es klang vorwurfsvoll. „Kaoru meinte ich soll ihn dir geben…“ „Super“, zischte er und knallte den Zettel vor mir auf den Tisch. „Dieser verdammte Arsch! Er nutzt Leute immer aus.“ „Wieso sollte er?“ „Weil das seine Art ist“, Hizuki seufzte und faltete den Zettel wieder zusammen. „Er will dich vielleicht gegen uns aufspielen, weil du neu bist. Hast du den Zettel gelesen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Gut“, murmelte Hizuki. „Dann brauchen wir nicht mehr drüber reden.“ Er drehte mir den Rücken zu. Während der Stunde hörte ich kaum zu. Ob das wohl ein guter Start gewesen war… Kurz bevor es zum Schulschluss läutete, sah ich, wie Hizuki den Brief noch einmal verknitterte und dann in den Papierkorb warf. Er verfehlte sein Ziel und blieb neben dem Papierkorb liegen. Ich tat so, als würde ich noch in meiner Tasche herumkramen, wartete bis er weg war, dann schnappte ich mir den Zettel und steckte ihn ein. Auf dem Nachhauseweg holte ich ihn wieder hervor, strich ihn etwas glatt und fing an zu lesen. Der Brief lautete: Huhu, Hizu-chan! Wie geht’s? Wir hoffen, dass du vom Akten sortieren keine Staublunge bekommen hast! Erinnerst du dich noch an uns? Wir haben uns aus den Augen verloren, als wir damals auf die Mittelschule kamen… Weißt du noch, was wir früher in der Grundschule immer gespielt haben? Wir haben dafür gesorgt, dass die großen, bösen Jungs dich in Ruhe lassen und du hast unsere Matheaufgaben gemacht. Uns hat das damals viel Spaß gemacht, dir nicht auch? Aber nun mal zum wirklichen Anlass, weshalb wir dir schreiben. Wir haben da von einem etwas unschönen Vorfall gehört, in den du dich hast verwickeln lassen, wirklich dumm, mein Freund, wirklich dumm! Und du wirst doch sicher nicht wollen, dass der liebe Herr Direktor davon erfährt, oder? Wir wollen dir einen Deal vorschlagen: Wir verlieren kein Wort über dich und du bist uns mal wieder in Mathe behilflich. Wenn du ablehnst, kannst du mit deinem ersten Tadel rechnen… Liebe Grüße, deine Freunde K. D. K. Ich faltete den Brief wieder zusammen, ohne richtig zu wissen, was ich jetzt davon halten sollte. Anscheinend kannte Kaoru Hizuki von der Grundschule und hatte ihn damals gezwungen, ihm die Hausaufgaben zu machen. Aber was war das für ein Vorfall, in den Hizuki verwickelt worden war? Er sah eigentlich nicht aus, wie der Typ der irgendeinen Unsinn anrichtete. Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner Mutter nur kurz, dass die neue Schule ganz in Ordnung sei und zum Glück stellte sie keine Fragen. Dann ging ich in mein Zimmer um nachzudenken. Eigentlich wollte ich wieder mit Kaoru und den beiden anderen in der Pause zusammen stehen. Andererseits glaubte ich nicht, dass ich es auf Dauer aushalten würde, denn ich tickte vollkommen anders als sie. Ich nahm meinen E-Bass, schloss den Verstärker an und fing an zu spielen. Aber nur fünf Minuten später riss meine Mutter die Tür auf und ich musste aufhören. Eine Nachbarin hatte sich beschwert. In unserem Haus in Nagano hatte ich im Keller immer ungestört spielen können und kein Nachbar hatte sich beschwert. „Mach deine Hausaufgaben“, sagte meine Mutter streng. „Du hast doch welche auf, oder?“ Ich nickte, seufzte und fing mit den Aufgaben an, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Diese Stadt machte mir einen gewaltigen Strich durch die Rechung… Ich hatte meine alten Freunde nicht mehr in meiner Nähe, ich wusste nicht, was ich mit wem unternehmen könnte und nicht mal in Ruhe spielen konnte ich, ohne dass die Nachbarn mir dazwischen funkten. Ich ahnte, dass mein Leben sich hier in Shibuya komplett verändern würde. Ob positiv oder negativ wusste ich nicht, aber das würde ich schon noch herausfinden. Hizuki ------ Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah ich dem Tag mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits war ich aufgeregt, weil ich wissen wollte, was es mit Hizuki und dem Brief auf sich hatte. Und um ganz ehrlich zu sein hoffte ich auch, wieder mit Kaoru und den beiden anderen die Pause zu verbringen. Als ich den Schulhof betrat, wurde ich nicht mehr angestarrt, als hätte ich Antennen auf dem Kopf. Die Schüler hatten sich damit abgefunden, dass ich da war. Ich war weder positiv noch negativ aufgefallen und im Stillen ärgerte mich das. Negativ auffallen bedeutete, sich gleich am ersten Tag lächerlich machen, egal wie. Positiv auffallen konnten die, die sich durch irgendwas von den anderen abhoben, und das war es, was ich eigentlich auch wollte. Zum Beispiel die, die für die Schulmannschaft Fußball spielten, die Theater-AG besuchten oder sonst was machten, fielen positiv auf. Ich vermutete, dass auch Kaoru und seine Gruppe eher positiv auffielen, denn die meisten aller hier anwesenden Schüler wünschten sich doch insgeheim den Mut zu besitzen, ihr eigenes Ding durchzuziehen, sich nicht von den Eltern alles gefallen zu lassen und auch noch den Lehrern gegenüber nicht klein beizugeben. Ich leugne nicht, dass es mir damals so ging. Als ich vor der Klasse ankam, begrüßten mich ein paar aus meiner Klasse sofort. Ich konnte mich nur schwach an sie erinnern, aber dass sie in meine Klasse gingen, wusste ich wenigstens. „Wir haben gestern gesehen, wie du mit Kaoru Niikura weg gegangen bist“, sagte ein Mädchen. Es klang fast wie ein Vorwurf, als wäre das etwas ganz Außergewöhnliches. „Äh. Ja. Und?“, fragte ich und wusste nicht recht, was ich antworten sollte. „Nichts“, sagte sie spitz. „Woher kennst du ihn?“ „Ich kenne ihn nicht… Nicht wirklich“, stammelte ich. „Er hat mir den Weg zum Direktor gezeigt.“ „Und?“, fragte sie neugierig. „Was habt ihr gemacht?“ Ich hatte wohl Recht gehabt: Kaoru war ziemlich bekannt. „Wie, was haben wir gemacht?“ „Habt ihr etwa nur geredet?“ „Ja… Kann man so sagen“, erwiderte ich. Ich hatte keine Lust ihr von dem Brief für Hizuki zu erzählen oder davon, dass Kaoru in der Pause rauchte. Ich wusste nicht einmal, ob ich das selber alles wissen wollte. Rauchen war auf dem Schulgelände streng verboten und darin musste für sie der Reiz liegen. „Ach so…“, sagte sie enttäuscht, dann ging sie zu ihren Freundinnen zurück. Sie sagte etwas und kurz darauf fingen alle an wie blöd zu kichern. Ich wusste nicht, was ich von dem Gespräch halten sollte. War Kaoru eine Art Star auf dem Schulhof? Während der Japanischstunde schweiften meine Gedanken immer wieder weg. Hizuki saß neben mir und kritzelte eifrig in sein Heft, es hatte den Anschein, als würde er jedes Wort das Frau Nakashima aussprach, schriftlich festhalten wollen. Ich achtete nicht allzu sehr auf den Unterricht, ich wartete nur darauf, dass es zur Pause läutete. Wieso ich so aufgeregt war, weiß ich heute gar nicht mehr genau, aber ich glaube, es war für mich ein unglaublicher Durchbruch dass Kaoru mit mir zu tun haben wollte. An meiner alten Schule wäre er es gewesen, der mich wegen meinem Ordnungssinn so schön fertig gemacht hätte. Oder mich gezwungen hätte Matheaufgaben für ihn zu machen (denkt nicht, dass sie das in Nagano gemacht haben, ja?). Und jetzt? Ich konnte einfach nicht verstehen, wieso gerade er mich gleich aufgenommen hatte und nicht jemand anders, und ging richtig mit einer Art Lampenfieber in die Pause. Ich verließ das Gebäude und sah sie sofort. Kaoru und seine Begleiter standen unweit von mir entfernt und schienen zu warten. Kaoru winkte mir und ich ging auf sie zu. „Hey“, sagte er. „Kommst du?“ Diesmal zog er mich nicht hinter sich her und ich ging freiwillig. Wieder spürte ich die Blicke der anderen auf uns. Vielleicht wunderten sie sich genauso wie ich, dass diese Gruppe sich mit jemandem wie mir abgab. Wir kamen an demselben Platz hinter dem Gebäude an wie gestern. Kaoru hielt mir wieder die Zigaretten unter die Nase, ich lehnte aber ab. Die Vorstellung, freiwillig Rauch einzuatmen, kam mir schrecklich widerlich vor, ich konnte einfach nicht verstehen, warum sie das freiwillig machten. „Und? Was hat Hizu zu dem Brief gesagt?“, fragte Kaoru neugierig, nachdem er ein paar Mal an der Kippe gezogen hatte. „Er war sauer“, sagte ich. „Und hat gesagt, der Brief geht mich nichts an.“ Kaoru tauschte einen Blick mit dem Rothaarigen, beide grinsten zufrieden. „Sonst noch was?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Hat er den Brief seiner Lehrerin gezeigt? Ihn zerrissen? Oder beides?“, fragte der Blonde hoffnungsvoll. Ich schüttelte den Kopf. „Er hat ihn nur verknittert und weggeworfen.“ Ich zögerte. „Von was für einem Vorfall habt ihr geredet? Was ist da passiert?“ Kaoru schaute mich einen Moment lang verwirrt an, dann lachte er. „Hast du noch nie was von Briefgeheimnis gehört, Kleiner?“, fragte er sichtbar amüsiert. „Na ja, es ist an der Schule hier längst kein Geheimnis mehr, deshalb kann ich’s dir sagen. Du weißt doch, da vorne bei den Fahrradständern, hat jemand ein wunderschönes Gemälde an die Wand gesprayt, nicht?“ Ich nickte. Mir war jenes Gemälde schon aufgefallen, es zeigte eine ziemlich schlechte Karikatur vom Direktor mit den Worten Ich hab nen Kleinen, halte mich aber für den Größten darunter. „Ja und?“, fragte ich. Kaoru grinste und ich begann es zu ahnen. „Du meinst, das war…“ „Hizuki Sasaki“, ergänzte er. „Seht mal, wir haben einen zweiten Einstein unter uns!“ „Woher weißt du das?“, fragte ich. „Er ist nicht gerade der Typ für so was.“ „Eben, deshalb wurde er auch nicht verdächtigt“, sagte der Blonde. „Aber zufällig haben wir gesehen, wie nachmittags auf den Schulhof gegangen ist und später haben wir die Spraydosen in seinem Spind gefunden.“ „Wenn wir ihn verpfeifen würden, hätte das gute Auswirkungen auf unsere Akten“, fuhr Kaoru sachlich fort. „Aber wir verpfeifen grundsätzlich niemanden. Es ist mies. Allerdings wollen wir eine kleine Gegenleistung in Form von Matheaufgaben von ihm, dafür dass wir dicht halten.“ Ich musste gegen meinen Willen lachen. Eine Nervensäge wie Hizuki, ein Sprayer? „Warum hat er das gemacht?“, fragte ich. „Wollte wohl zeigen, dass er nicht der Streber vom Dienst ist“, Kaoru zuckte mit den Schultern. „Und dachte sich, jetzt kriegt er die Bewunderung, die er gerne hätte, weil er was Verbotenes gemacht hat.“ „Ein hoffnungsloser Idiot“, warf der Rothaarige ein. Ich nickte und eine Weile sagte keiner mehr was. Plötzlich stieß Kaoru sich von der Mauer ab, trat seine Zigarette aus und stellte sich vor mich. „Wir haben schon viel zu viel von deiner Zeit in Anspruch genommen“, meinte er. „Kannst abhauen, wir lassen dich ab jetzt in Ruhe. Und danke noch mal.“ Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Hatten sie mich wirklich nur dafür gebraucht, Hizuki diesen Brief zu geben? Und hatte ich echt geglaubt, sie würden sich freiwillig öfter mit mir abgeben…? Ich spürte eine Mischung von Ärger und Enttäuschung in mir aufsteigen. Aber was sollte ich schon sagen? Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich sie immer noch bewunderte und viel lieber zu ihnen gehören würde, als in einer der Gruppen zu landen, in die alle kamen, die nirgendwo sonst hineinpassten. So war es immer gewesen. Ich war nicht besonders sportlich, war in keiner der AGs, hatte keine besonderen Fähigkeiten und war stilmäßig immer gleich geblieben. Die Leute, mit denen ich früher zu tun gehabt hatte waren, um es mal so zu sagen, langweilig und ich war es auch. „Wartet mal!“, hörte ich mich plötzlich sagen. Kaoru blieb stehen, drehte sich langsam wieder in meine Richtung. „Ja?“ „War das jetzt alles? Was hab ich davon?“, fragte ich. Er zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Such dir was aus“, sagte er. „Jemandem einen Gefallen tun, dazu beigetragen haben, dass wir in Mathe nicht durchfallen, was du willst.“ „Kao“, drängte der Blonde. „Komm schon!“ Kaoru hob kurz die Hand, wie um zu sagen Ich weiß schon, was ich tue. „Damit kann ich nichts anfangen“, sagte ich. Kaorus Mundwinkel zuckten verdächtig. „Du lässt nicht locker, was?“ Er grinste. „Nicht schlecht, Kleiner.“ Ich machte mir nicht die Mühe, mich über das Kleiner zu ärgern und wartete. Kaoru verdrehte die Augen. „Was erwartest du? Das wir dir den Nobelpreis verleihen, für diese aufopfernde Tat?“ Er klang genervt. „Kao, was ist denn jetzt?“, rief der Rothaarige. „Ich komm gleich nach“, wehrte Kaoru die Frage ab. „Was wäre zum Beispiel, wenn ich dem Direktor alles erzähle?“, überlegte ich laut. Kaoru stöhnte. „OK“, sagte er. „OK Kleiner, hör zu. Ein Deal. Wir sagen Hizuki, dass er dir deine Matheaufgaben gleich mit erledigt und die Sache ist aus der Welt.“ Ich tat so, als würde ich darüber nachdenken. „Ein anderer Deal“, sagte ich dann. „Ich sag keinem dass ihr hier raucht und du nennst mich nie wieder Kleiner.“ Kaoru lachte laut auf. „Hört euch das an“, sagte er. „Aber gefällt mir.“ Er zwirbelte eine seiner violetten Haarsträhnen um den Zeigefinger, starrte mich unverwandt an. „Gut“, sagte er plötzlich. „Gibt’s noch irgendwelche Lücken im Vertrag?“ Ich antwortete nicht. Kaoru drehte sich schwungvoll auf dem Absatz um. „Dann sehen wir uns… Vielleicht.“ Er hob die Hand, ehe er ging. Wieder blieb ich allein an der Mauer stehen und fragte mich, was ich von dem, was passiert war, halten sollte. Als es wenig später zum Unterricht läutete, ging ich allein ins Schulgebäude und stellte mich vor der Klasse zu keiner der kleinen Gruppen, sondern blieb etwas außerhalb. Leider nicht allzu lange. „Hey! Alles klar? Wo warst du in der Pause? Hast du schon Freunde gefunden?“ Ich zuckte zusammen. Hizuki. Ich hätte ihm sagen können, dass ich bei Kaoru gewesen war, aber dann zuckte ich nur mit den Schultern und tat so, als sei mir das ganz gleich. „Kann sein“, murmelte ich. „Ach so… Sag mal, findest du Chemie auch so schwer? Ich weiß gar nicht wie das gehen soll, Ionen und Protonen und Atome… Aber ich krieg da Nachhilfe, deshalb kein Problem. Hattest du schon mal Nachhilfe?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich nur in Chemie“, sagte Hizuki und erklärte mir dann sehr ausführlich den Aufbau eines Atoms. Ich tat so, als würde ich interessiert zuhören und sagte zwischendurch Aha oder Hm oder gab ähnlich geistreiche Kommentare ab. Ich ahnte, dass er sich eine neue Chance erhoffte, da ich neu war und der Rest der Klasse ihn schon als Nervensäge abgetan hatte. Wenn er hören würde, und das würde er sicher bald, dass ich bei Kaorus Plan mitgewirkt hatte und als Gegenleistung Matheaufgaben verlangte, würde er sich garantiert von mir abwenden. Bis jetzt hatte ich außer mit ihm mit keinem aus der Klasse direkt Kontakt gehabt. Ich hätte natürlich versuchen können, Anschluss zu finden, aber aus irgendeinem Grund hatte ich keine Lust darauf. Zwar erkannten sie mich jetzt und begrüßten mich jeden Morgen, aber die Aussicht, dass diese Leute meine Freunde werden sollten, erschien mir auf eine unerklärliche Art vollkommen abwegig. Noch abwegiger war nur der Gedanke, dass ich dadurch, dass ich Hizuki den Brief gebracht hatte und von Kaoru erfahren hatte, dass er der Sprayer war, in gewisser Weise die Kontrolle über ihn hatte. Den ganzen Tag überlegte ich hin und her inwieweit die ganze Sache fair gegenüber Hizuki war. Er hatte das Graffiti ans Schulgebäude gesprayt und Kaoru hatte es herausbekommen. Eine Sache die wirklich nicht ohne war, denn die Reinigung war sehr aufwendig und der Direktor hatte sich in seiner Würde äußerst verletzt gefühlt. Dafür dass Kaoru dicht hielt, wollte er von Hizuki eine Gegenleistung. Im Großen und Ganzen konnte ich nichts Kriminelles an der Sache finden, deshalb entschied ich, mir einfach keine Gedanken mehr darüber zu machen. Es würde sich schon ganz von selbst alles ergeben. Am nächsten Tag verbrachte ich die Pause mit Leuten aus meiner Klasse. Sie wollten wissen, wie es mir hier gefiel und ob ich meine alte Schule sehr vermissen würde, ob ich die Lehrer mochte und so weiter. Ich beantwortete alle Fragen und war dann doch ganz glücklich darüber, so schnell in die Klasse aufgenommen worden zu sein. Zwar dachte ich immer wieder daran, dass ich dabei war, auch hier nur ein Mitglied der Masse zu werden, aber vielleicht war es das, was ich sein musste. Ich hätte natürlich auch losgehen und Kaoru suchen können, aber dazu fehlte mir der Mut. Obwohl ich sie bewunderte, dafür, dass sie den Regeln der Lehrer trotzten und ihr Ding durchzogen, ganz egal was andere von ihnen hielten, hätte ich allein nie die Kraft aufbringen können, so zu werden, wie sie. Ich hatte außerdem viel zu viel Angst vor den Reaktionen der anderen, wenn ich mir zum Beispiel die Haare blau färben würde. Blau war meine Lieblingsfarbe und ich hatte schon oft darüber nachgedacht, mir blaue Strähnen machen zu lassen. Aber natürlich war meine Mutter dagegen, sie meinte, es würde die Haare kaputt machen. Wenn ich mich so verunstalten wollte, sollte ich gefälligst warten, bis ich zwanzig und volljährig war. Meine erste Woche an der Schule näherte sich ihrem Ende. Ich hörte nichts mehr von Kaoru, aber auch Hizuki verhielt sich nicht anders als sonst. Sobald ich meinen Platz neben ihm einnahm, begann er mich zuzureden, ohne einmal Luft zu holen. Er erwähnte weder den Brief, noch Kaoru, noch Mathehausaufgaben, nicht mal in einem Nebensatz. Es sah so aus, als hätte Kaoru mich entweder vergessen oder zurzeit nur anderes im Kopf. Ich wusste es nicht, zerbrach mir aber auch nicht weiter den Kopf darüber. Immerhin hatte ich auch noch andere Sachen zu tun. Ich war zwar etwas enttäuscht, aber ich versuchte es einfach als gleichgültig abzustempeln und mir keine Gedanken mehr darüber zu machen. Als die Woche endlich zu Ende war, war ich ziemlich erleichtert. Zwei ganze Tage musste ich weder Hizuki noch die Schule sehen und konnte so auch nicht an den Brief erinnert werden. Am Wochenende besuchte ich einen Freund von mir in Nagano. Er hieß Makoto und hatte früher gleich neben mir gewohnt. Ich war zuerst etwas unschlüssig, aber dann erzählte ich ihm von dem Brief und von Kaoru. „Wie krass“, meinte er, nachdem ich alles erzählt hatte. „Und er macht dir echt die Hausaufgaben?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Er hat mich nicht drauf angesprochen.“ „Dann haben diese Punks dich wohl abgezogen“, sagte Makoto. „Man, du bist echt zu nett für diese Welt.“ Er war leider nicht der Erste, dem diese Tatsache auffiel. „Und?“, fragte er. „Was machst du jetzt?“ „Spätestens Ende nächster Woche werd ich Kaoru mal suchen und ihn fragen“, erwiderte ich. „Mal sehen. Eigentlich wär es mir am Liebsten, wenn die Sache nie passiert wäre.“ Makoto sah mich groß an. „Spinnst du? Du hast hier die vielleicht einmalige Chance auf Gratis-Hausaufgaben! Wenn du die nicht ergreifst, muss ich leider ganz Nagano erzählen, dass mein Ex-Nachbar ein Vollidiot ist.“ Ich bedankte mich für diesen Titel. Unsere Diskussion half mir leider nur gering, denn ich wusste jetzt immer noch nicht, wie ich der Situation gegenüber treten sollte. Zwar kannte ich jetzt Makotos Meinung dazu, aber wirklich hilfreich war diese nicht. Er sah die Sache eher wie Kaoru, als ein Spiel, bei dem natürlich er den Sieg davon tragen würde. Und wenn er mal ein Spiel verlor? Hatte ich verloren, wenn ich es so auf mir sitzen ließ und das verdammte Graffiti ein Graffiti sein ließ? Ich kam leider nicht mehr dazu, Makoto zu fragen, was er dazu meinte, denn ich musste zeitlich weg, um meinen Zug nach Tokyo zu bekommen. „Dann grüß deine Punks mal von mir“, feixte Makoto, als ich mich verabschiedete. „Machs gut.“ Ich winkte ihm noch einmal zu, ehe der Zug anfuhr. Ich kam erst Sonntagabend zu Hause an. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nicht weiter über die Schule nachzudenken, aber kaum dass ich zu Hause war, dachte ich an nichts anderes. Ich hatte beschlossen, zu Kaoru zu gehen, wenn er nicht innerhalb der nächsten zwei Tage auf mich zukam. Normalerweise wäre es mir egal gewesen, aber diesmal war es was anderes. Allein aus prinzipiellen Gründen konnte ich es nicht auf mir sitzen lassen, die Sache so enden zu lassen. Aber soweit kam es nie. Am Montagmorgen schien noch alles wie immer, bis Hizuki kam. Er kam fünf Minuten zu spät. Ein Raunen ging durch die Klasse. Hizuki kam nie zu spät, normalerweise stand er sogar schon zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn vor dem Klassenzimmer. Frau Nakashima warf ihm über den Rand ihrer Brille einen kritischen Blick zu. „Willst du uns vielleicht etwas sagen?“, fragte sie spitz. „Ich musste noch was mit Herrn Dr. Yatsumi besprechen“, sagte Hizuki und ließ sich neben mir auf seinen Platz fallen. „Hey“, flüsterte ich, als Frau Nakashima sich wieder zur Tafel drehte. „Was hast du…“ „Hör mal zu“, zischte Hizuki zurück. Ich erschrak richtig. „Ich lass so was nicht mehr mit mir machen. Ich werde niemandem die Hausaufgaben machen und dir schon gar nicht. Du und deine komischen asozialen Freunde könnt sehen, wie ihr durchs Schuljahr kommt.“ Er kniff die Augen zusammen. „Das Spiel ist aus, Hara!“ Ich machte große Augen. Es war klar, dass Kaoru ihn an seine Gegenleistung erinnert und mich dabei auch erwähnt hatte. Aber was hatte Hizuki gemacht? War er zum Direktor gegangen und hatte ihm seine Tat gebeichtet? Oder hatte er Kaorus Clique, einschließlich mir, verpfiffen? Wohl eher letzteres. Er war nicht dumm. Verdammt, dachte ich. Jetzt steckst du in der Tinte. Und damit hatte ich Recht. Während des Unterrichts sprach Hizuki kein Wort mehr mit mir. Ich vermutete, dass er das auch in Zukunft nicht mehr tun würde und wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Je nachdem, welchen Preis es mich kosten würde, sicherlich schlecht. Jeden Moment konnte der Direktor kommen und mich in sein Büro befehlen. Wer weiß, was er mit uns vorhatte? Vielleicht ein Tadel. Oder eine Strafarbeit. Wieso hatte ich mich darauf eingelassen? Die ganze Sache war eine Schnapsidee gewesen! Kurz vor Beginn der Pause klopfte es an die Tür. Ich bekam einen heißen Kopf, sah zu, wie Frau Nakashima zur Tür schlurfte und sie öffnete. Niemand kam. Sie ging in den Flur hinaus und kam nach fünf Minuten mit wütender Miene zurück. „Hara Toshimasa“, sagte sie zwischen den Zähnen hindurch. „Bitte melde dich umgehend im Büro des Direktors.“ Die ganze Klasse starrte mich an und fing wie auf Knopfdruck angeregt an zu tuscheln. Ich stand auf, mit hoch erhobenem Kopf schritt ich durchs Klassenzimmer und kam mir einen Moment lang vor wie Jeanne d’Arc auf dem Weg zum Scheiterhaufen. Draußen im Gang wartete die Sekretärin des Direktors bereits auf mich. Mit einem vernichtenden Blick nahm sie mich in Empfang und lief dann schnellen Schrittes voraus. Ich hatte etwas Mühe mitzuhalten. Als wir auf dem Korridor angelangt waren, in dem das Büro lag, musste ich mir das Lachen verkneifen: Neben der Tür standen Kaoru und seine ewigen Begleiter locker gegen die Wand gelehnt. Als Kaoru mich sah, blitzte es in seinen Augen. Die Mundwinkel zuckten. „Hey“, sagte er keck und zu der Sekretärin: „Ah, schön Sie auch wieder zu sehen!“ „Spar die Bemerkungen, Niikura“, erwiderte sie kühl, sichtlich wütend darüber, dass sie Kaoru für seine gespielte Höflichkeit nicht tadeln konnte. Sie bedachte jeden von uns mit einem säuerlichen Blick, dann öffnete sie die Tür vom Büro. „Wartet hier“, bellte sie. „Der Direktor wird euch hereinrufen.“ Sie knallte die Tür hinter sich zu. Kaum war sie weg, fing Kaoru an zu lachen. „Der Direktor wird euch hereinrufen“, äffte er sie nach. „Die Frau ist so ziemlich das Geilste, was diese Schule zu bieten hat.“ Er stieß den Rothaarigen an und beide lachten. „Was ist eigentlich passiert?“, fragte ich. „Was hat Sa… Hizuki dem Direktor erzählt?“ „Scheiße hat er erzählt“, Kaoru hörte auf zu lachen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er meint, dass wir ihn erpressen und zwingen würden, jeden Tag seine Hausaufgaben zu machen. Herrgott noch mal, eher würde ich meine Hausaufgaben selbst machen, bevor ich ihn dazu zwingen würde!“ Der Blonde nickte. „Vielleicht hat er sogar behauptet, das Graffiti ist von uns!“ „Na super“, murmelte ich. Wahrscheinlich würde meine Mutter über kurz oder lang davon erfahren und mir dann den Kopf abreißen. In Nagano hatte ich nie etwas angestellt, was in meine Akte kam und jetzt? Eine Woche auf der Schule und schon ein Gespräch mit dem Direktor. Ich wunderte mich, dass es mir gar nichts ausmachte. Wir warteten. Nach einer Weile ertönte der Pausengong und das Gebäude wurde von aufgeregtem Reden und Lachen geflutet. Der Direktor ließ sich Zeit. „Hör mal“, sagte Kaoru plötzlich ernst. „Du bist jetzt mit in der Sache drin. Ist dir das klar?“ Ich nickte und verspürte immer noch nicht das kleinste Anzeichen von Angst. „Wir werden natürlich versuchen, uns irgendwie heil aus der Sache zu ziehen, sonst heißt es bald noch Kaoru Niikura erpresst kleine, nervige Kinder… Nichts gegen dich“, fügte er schnell hinzu. „Das wäre außerdem ein Gerücht. Ich wollte sagen, dass wir kein Wort darüber verlieren, ob einer von uns mehr oder weniger beteiligt war. Wir sind alle an der Sache beteiligt und versuchen alle da raus zu kommen, aber wenn wir bestraft werden, dann wir alle. Du bist jetzt genauso schuldig wie wir.“ „Klar“, sagte ich. „Klar zum Gefecht“, sagte Kaoru sarkastisch und da ging endlich die Tür wieder auf. „Bitte“, sagte Dr. Yatsumi und trat zur Seite. „Rein mit euch.“ Wir betraten das Büro und blieben dann mit weit aufgerissenen Augen stehen: Neben dem Schreibtisch stand, zufrieden grinsend, Hizuki. „Diese verdammte Made ist durchs Sekretariat rein gekrochen“, raunte der Blonde mir zu. Hizuki starrte mich feindselig an. Ich starrte zurück. Er musste zu Beginn der Pause her gekommen und einen anderen Weg gegangen sein, nur um unsere Verurteilung live mitzuerleben. Er mochte zwar harmlos wirken, mit seinem Ruf als Nervensäge, aber er hatte es faustdick hinter den Ohren. Wir warteten, bis der Direktor wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte und sagten kein Wort. „So“, sagte er. „Bitte Niikura, fangen Sie an.“ „Sehr gern“, begann Kaoru. „Was Ihnen dieser Schüler erzählt hat, hat er sich warum auch immer zusammen gesponnen. Wir haben nie jemanden erpresst, weder ihn noch sonst wen und auch niemanden gezwungen, unsere Sachen zu erledigen, das haben wir überhaupt nicht nötig.“ Die letzten Worte waren an Hizuki gerichtet, der sich seiner Sache anscheinend mehr als sicher war. Er stand mit verschränkten Armen neben dem Schreibtisch und bedachte uns ab und an mit einem triumphierenden Blick. „Eure letzten Zeugnisse lassen auf anderes schließen“, sagte der Direktor mit einer Spur Sarkasmus. „Aber lassen wir das mal außen vor. Hizuki hat mir erzählt, dass ihr regelmäßig verlangt habt, dass er euch die Hausaufgaben macht und auch, dass ihr ihm Schläge angedroht habt, sofern er sich weigern sollte.“ Kaoru ballte die Hand zur Faust und ich ahnte, dass er sich zusammenreißen musste, um weder Hizuki noch den Direktor anzuschreien. „Das ist gelogen!“, sagte er erregt. „Mal ganz davon abgesehen, dass wir niemals jemandem Schläge androhen würden: Er ist erst seit einer Woche auf dieser Schule, wieso sollten wir ausgerechnet ihn zwingen uns irgendwelche Hausaufgaben zu machen, würden wir so was machen, dann ganz sicher nicht bei einem der noch grün hinter den Ohren ist.“ Hizuki schnappte nach Luft. „Pass auf was du sagst, Niikura!“, zischte er. „Wieso gebt ihr eure miesen Machenschaften nicht einfach zu?“ „Weil es gelogen ist und du ein mieser, kleiner Verräter bist!“, zischte der Blonde. „Nishimura, ich verbitte mir das!“, fuhr Yatsumi ihn an. Hizuki holte tief Luft. „Warum sollte ich den Direktor belügen…?“, fragte er mit unschuldigem Seitenblick auf selbigen. Kaoru verengte seine Augen zu kleinen Schlitzen. „Warum sollte ich es tun?“ Dr. Yatsumi stand auf. „Ich habe langsam die Nase gestrichen voll“, verkündete er. „Wer mir was zu sagen hat, soll verdammt noch mal den Mund aufmachen, ansonsten könnt ihr auch alle einen Tadel bekommen.“ „Aber ich hab doch nichts getan!“, rief Hizuki sofort. Der Rothaarige machte einen Schritt in seine Richtung. „Das glaubst du doch selbst nicht!“, sagte er und seine Augen blitzten angriffslustig. Dr. Yatsumi sah ihn streng an. „Andou, wieso erklären Sie mir Ihre Unterstellung nicht etwas genauer?“ Der Rothaarige, der wohl Andou mit Nachnamen hieß, zuckte mit den Schultern und tat auf unwissend. „Ich meine mich zu erinnern, etwas gehört zu haben, was womöglich einen schwarzen Schatten auf die tadellose Akte von Hizuki-kun werfen würde…“ Sein Blick und Hizukis trafen sich. „Woher willst du das wissen?“, fragte Hizuki. Es klang nicht sehr überzeugt. „Das hat ein Vögelchen mir gezwitschert“, sagte Andou mit falschem Lächeln. Jegliche Selbstsicherheit war aus Hizukis Gesicht gewichen. Andou tauschte einen kurzen Blick mit Kaoru und es schien irgendwas zwischen ihnen abzulaufen, eine geheime Message, die keiner außer ihnen verstand. Dann wandte Kaoru sich ab und musterte die Bilder an der Wand. Sie zeigten die früheren Direktoren der Schule. „Ich höre“, sagte Dr. Yatsumi gelangweilt. „Ich muss mich getäuscht haben“, sagte Andou und sah Hizuki fest in die Augen. „War wohl nur ein Missverständnis oder so was.“ Hizuki sah aus wie ein begossener Pudel. Er hatte wohl mental schon sein Testament gemacht. Kaoru lächelte abwesend. „Und ich denke, unser Freund Hizuki hat sich auch getäuscht“, sagte er, den Blick auf den Direktor von 1964 gerichtet. „Wir würden nie jemanden erpressen, nicht?“ Einstimmiges Nicken. Dr. Yatsumi stöhnte. „Ist das euer Ernst?“ „Ja“, murmelte Hizuki kaum hörbar. Der Direktor fuhr sich mit der Hand über die Stirn, schüttelte den Kopf und atmete langsam ein und aus. „Ich will nichts mehr von dir hören, Niikura“, sagte er mit vor Wut triefender Stimme. „Das ganze Semester lang nicht, haben wir uns verstanden?“ „Selbstverständlich“, sagte Kaoru mit einer leichten Verbeugung. „Und Sie, Sasaki, überlegen sich in Zukunft zweimal, womit Sie meine kostbare Zeit verschwenden.“ Hizuki nickte ergeben und verbeugte sich ebenfalls. „Macht den Rest unter euch aus“, fuhr Dr. Yatsumi fort und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Und jetzt verschwindet, oder ihr werdet lebenslänglich die Pausen hier verbringen.“ Er scheuchte uns mit einer simplen Handbewegung weg. Schweigend verließen wir das Gebäude. Ohne es richtig zu merken, liefen wir zu den Fahrradständern, bis wir genau neben Hizukis Karikatur standen. Beinahe andächtig betrachteten wir sie. Sie war wirklich grottenschlecht. „Ihr hättet mich verraten können“, sagte Hizuki. „Danke, dass ihr’s nicht gemacht hat.“ „Hör auf“, stöhnte der Blonde. „Wenn du dich noch einmal bei mir bedankst, muss ich kotzen.“ „Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, dass du nie jemanden anzeigen solltest, der was gegen dich in der Hand hat?“, fragte Kaoru grinsend. „Du brauchst uns nicht dankbar sein. Aber ich finde, dafür, dass wir dich haben laufen lassen, verdienen wir einen kleinen Ausgleich. Die nächste Woche Mathe dürfte reichen. Danach legen wir die Sache für immer aus Eis.“ Hizuki starrte Kaoru an. „Wir könnten natürlich auch zum Direktor gehen und ihm sagen, dass er sich doch nicht getäuscht hat“, sagte ich und nickte in Richtung des Rothaarigen. Hizuki seufzte. „Schon gut“, sagte er. „OK.“ „Dann haben wir einen Deal“, sagte der Blonde. „Und jetzt kannst du uns noch einen riesigen Gefallen tun, indem du dich verpisst.“ Hizuki nickte nur noch mal, dann rannte er in Richtung Eingang. „Gehen wir auch zurück?“, fragte ich. Der Blonde sah auf seine Uhr. „Für anderthalb Stunden? Also ich nicht.“ Er grinste. Kaoru wandte sich an mich. „Daisuke hat noch ne Flasche Sake zu Hause. Kommst du mit?“ Ich war, um ganz ehrlich zu sein, ziemlich angetan von dem Gedanken die letzte Stunde zu schwänzen, aber so ganz traute ich mich doch nicht. Die Vorstellung mit den dreien und einer Flasche Alkohol allein zu sein, war mir nicht ganz geheuer. „Die wundern sich doch bestimmt, wenn Hizuki zurück kommt und ich nicht“, sagte ich. „Wie du meinst“, sagte Kaoru und er und die anderen gingen langsam in Richtung Ausgang. Plötzlich drehte Kaoru sich noch mal um. „Du hast was an dir“, sagte er, „das mag ich.“ Er grinste. „Wir sehn uns.“ Ich ging langsam zum Klassenraum zurück. Was hatte ich an mir? Als ich mich neben Hizuki setzte, sah er nicht mal auf. Ich versuchte das schlechte Gewissen zu verdrängen und mir einzureden, dass wir eigentlich nichts unrechtes getan hatten. Und immerhin war ich Hizuki los. First Class Shibuya ------------------- Es gibt im Leben Dinge, die zusammen schweißen. Für uns gehörte damals wohl die Sache mit Hizuki dazu. Es machte mich irgendwie zu einem von ihnen, zwar nicht sofort, aber nach und nach. Wir waren zusammen in die Sache hineingeraten und zusammen auch herausgekommen. Später habe ich gedacht, dass wir es vielleicht ihm verdanken, dass alles so kam, wie es schließlich der Fall war. Sonst hätte ich vielleicht nie wieder auch nur ein Wort mit Kaoru gewechselt. Aber so kam es zu jenem Tag, der unser aller Leben verändern sollte. Seit dem Vorfall mit Hizuki waren etwa drei Tage vergangen. Ich hatte es in dieser Zeit vorgezogen, die Pausen mit den Leuten aus meiner Klasse zu verbringen, und obwohl die meisten ganz nett waren, knüpfte ich keine richtigen Freundschaften mit ihnen. Sie hatten nichts Interessantes an sich und es missfiel mir immer mehr, dass ich genauso war wie die anderen Schüler an der Schule. Genauso normal. Die Zeit, die ich schon mit Kaoru verbracht hatte, hatte mir irgendwie erst klar gemacht, dass es möglich war, sich von anderen hervorzuheben und genau das wollte ich tun. Ich kam an jenem Tag wie immer aus der Schule und überquerte den leeren Schulhof, als ich am anderen Ende Kaoru und seine Begleiter, deren Vornamen ich immer noch nicht wusste, sah. Er und der Rothaarige trugen Gitarrenkoffer bei sich. Als sie mich sahen, blieben sie stehen, winkten und ich ging zu ihnen. „Was habt ihr vor?“, fragte ich mit einem Blick auf die Instrumente. Sie hatten mir nie erzählt, dass sie Gitarre spielten. Andererseits hatte ich auch nicht gefragt. „Wir haben gleich Bandprobe“, erklärte Kaoru. „Das heißt, wenn man es so nennen kann…“ „Ihr habt eine Band?“, unterbrach ich ihn aufgeregt. Ich hatte Leute die in Bands spielten schon immer bewundert und auch gehofft, dass ich es auch irgendwann so weit bringen würde, aber nie wirklich daran geglaubt. Hätte ich mehr Selbstvertrauen gehabt, hätte ich mich vielleicht mal zu einem Vorspiel getraut. „Ja…“, sagte der Blonde ausweichend. „Aber im Moment mehr Schlecht als Recht, seit einer Woche ist unser Drummer krank und uns fehlt ein Bassist. – Was ist?“ Ich muss etwas komisch geschaut haben, als er das sagte. „Du siehst aus als wär dir was auf den Kopf gefallen“, stellte Kaoru fest. So fühlte ich mich auch. „Kann ich… also, ich meine, darf ich…“ Ich verhaspelte mich. Aber ich hatte das Gefühl, dass das hier meine Chance war. „Kann ich es mal versuchen? Ich spiel seit acht Jahren!“ Jetzt sah Kaoru aus, als sei ihm was auf den Kopf gefallen. „Du?“ Ich nickte. Er stellte seine Tasche neben sich ab. „Ich rede von Spielen“, sagte er langsam und betonte dabei jedes Wort einzeln. „Von Beherrschen. Nicht von ein bisschen sinnlosem Rumgezupfe. Solche Leute findet man leider wie Sand am Meer.“ Ich versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben. „Davon red ich auch“, sagte ich und meine Stimme klang ziemlich kratzig. „Warum hast du nie was gesagt?“, fragte der Blonde. „Ihr habt nicht gefragt“, erwiderte ich. Kaoru grinste und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Weißt du, ich glaube, wir sollten uns endlich mal etwas besser kennen lernen. Oder?“ Einstimmiges Nicken. „Hast du morgen schon was vor?“ Ich verneinte und Kaoru grinste zufrieden. „Was hältst du davon, wenn wir dir mal die Stadt zeigen? Nicht wie irgendein dahergelaufener Touristenführer, wir zeigen dir die Stadt so, wie man sie nur kennt, wenn man uns kennt. Das ist ne einmalige Chance, sozusagen ein Erste-Klasse-Ticket quer durch Shibuya.“ „Gerne!“, sagte ich sofort. „Gut“, Kaoru lachte und nahm seine Tasche wieder auf. „Dann sehen wir uns morgen.“ „Ciao!“, rief der Rothaarige über die Schulter, dann lief er hinter Kaoru und dem anderen her. Ich starrte hinterher und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Eine Band. Und sie brauchten einen Bassist. Und sie wollten mich morgen treffen. Vielleicht war ich gut genug, dass sie mich aufnahmen… Und ich glaube, ich war damals schon ziemlich gut. Wie in Trance ging ich nach Hause und nahm dabei nichts mehr richtig wahr. Zu Hause schnappte ich mir den Bass und fing an zu spielen, bis meine Fingerkuppen sich ganz taub anfühlten. Ich konnte den nächsten Tag kaum abwarten. Während des Unterrichts hatte ich die ganze Zeit nur die Musik im Kopf. Ich malte mir aus, wie ich auf der Bühne stehen und spielen würde, wie das Publikum uns zujubelte und wir unsere erste CD erschien. Natürlich glaubte ich nicht daran, es war nur Wunschträumerei. Ich habe meine Erwartungen nie zu hoch gesetzt, damit ich keine Enttäuschungen erleben musste. Aber an diesem Tag fiel es mir besonders schwer, diesem Prinzip treu zu bleiben. Immer wieder redete ich mir ein, dass Kaoru mich heute nur ein bisschen besser kennen lernen wollte, als Mensch, einfach so. Trotzdem war ich nervös und ich denke, jeder andere an meiner Stelle wäre es auch gewesen. Als ich nach dem Unterricht aus dem Gebäude kam, erwarteten die drei mich bereits. „Hallo“, sagte ich und Kaoru grinste mich herausfordernd an. „Bereit?“, fragte er und ich nickte. Dabei fragte ich mich, wie bereit man wohl für eine Stadtführung sein musste. „Sag mal… Was trägst du so außer deiner Schuluniform?“, fragte der Blonde mich. „Äh… Ganz normale Sachen, aber ich hab jetzt nichts anderes dabei.“ „Dann kriegst du was von uns“, sagte Kaoru. „Weil… So kannst du leider nicht durch Tokyo laufen!“ Ich wusste zwar nicht, warum das so unmöglich war, aber ich war einverstanden und wir gingen los. Nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren, drehte Kaoru sich plötzlich um und fasste sich an die Stirn. „Wo hab ich nur meine Manieren“, stöhnte er. „Wir wollen dir unsere Stadt zeigen und du kennst unsere Namen nicht.“ Er deutete auf den Rothaarigen. „Daisuke Andou“, sagte er. „Aber wir sagen meistens nur Die. Er ist unser zweiter Gitarrist, der Erste bin ich.“ „So ganz nebenbei ist er auch der Leader und die eingebildetste Person von ganz Asien “, grinste Die. Kaoru schlug ihm neckisch auf den Arm. „Hör nicht auf ihn, er redet nur Müll. So, und das…“, er deutete auf den Blonden, „ist Tooru Nishimura. Ihn nennen wir Kyo. Er behauptet unser Sänger zu sein, aber wenn das Singen ist, ist meine Gitarre eine Geige.“ Ich lachte. „Warum Kyo?“, fragte ich. Kyo zuckte mit den Schultern und grinste. „Warum nicht?“, sagte er und wandte sich dann an Kaoru. „Warum hast du mir nie gesagt, dass es eine Geige ist? Jetzt weiß ich endlich, warum es so bescheuert klingt.“ Kaoru grinste. „Er denkt er sei witzig“, raunte er mir zu und bekam darauf hin von Kyo einen Schlag auf den Hinterkopf. „Wenn ihr fertig seid, euch zu vermöbeln, können wir ja vielleicht mal los“, sagte Die. „Hast du auch einen Spitznamen?“, fragte ich Kaoru. „Kao, wenn du willst“, entgegnete er. Anscheinend machten sie sich nicht die Mühe zu warten, bis man sich besser kannte und sprachen sich von Anfang an mit Vornamen an. Ich war etwas verwundert darüber, aber es störte mich auch nicht weiter. Wir liefen wir die lange Hauptstraße entlang, an deren Ende die Schule lag. Ich hatte erwartet, dass wir ins Zentrum gehen würden, aber das taten wir nicht. Von der Hauptstraße bogen wir in eine kleinere Straße ein, die in einem ruhigen Wohngebiet mündete. Vor einem Haus blieben wir stehen und Kyo fischte einen Schlüssel aus seiner Tasche. „Keiner von uns behält seine Uniform länger an als nötig“, erklärte er während er aufschloss. „Und das solltest du dir auch angewöhnen.“ Drinnen war es dunkel und still. „Sind arbeiten“, kommentierte Kyo die Leere und führte uns die Treppe hoch. Ich schaute mich neugierig um, als wir in seinem Zimmer standen. Die Wände waren mit Postern diverser Bands tapeziert, überall lagen Klamotten, Schallplatten und anderer Kram herum, das Bett war ziemlich unordentlich und auf der Fensterbank trocknete eine Rose in einer leeren Sakeflasche vor sich hin. Die, Kaoru und Kyo schmissen ihre Schultaschen auf den Boden, einfach da wo Platz war und fingen an sich umzuziehen. Ich beobachtete sie verstohlen. Sie waren alle recht kräftig gebaut und sahen sehr viel stärker aus als ich. Wahrscheinlich waren sie es auch. Ich war nie besonders sportlich gewesen und gerade damals war ich ziemlich schmächtig. Ich kam mir dumm vor, wie ich nur da stand und ihnen zuguckte. Als sie fertig waren, schienen sie sich gleich viel wohler zu fühlen. Kaoru jetzt trug eine zerrissene Jeans und ein offenes, schwarzes Hemd, Die ein Bandshirt von X und eine ähnlich zugerichtete Hose und Kyo einen rotschwarz karierten Blazer voller Buttons und Aufnäher. Die nahm seine schwarze Jacke und reichte sie mir. „Zieh deine Jacke aus“, sagte er. „Und nimm die hier.“ Ich zögerte erst etwas, aber dann tat ich es. Zuerst dachte ich, dass ich mein Hemd falten müsste, aber dann stopfte ich es wie die anderen achtlos in meine Schultasche. Früher wäre mir so was nicht egal gewesen, aber heute schon. Ich zog die Jacke über. Die Ärmel waren viel zu lang und ich hatte das Gefühl, zweimal hinzupassen. „Wie angegossen“, kommentierte Die zufrieden im Hinausgehen. „Komm schon!“, Kaoru nahm meine Hand und zog mich hinter den anderen her. Ich ließ mich von Kaoru aus dem Haus ziehen und ging dann eine Weile neben ihm her, aber kurz darauf fand ich mich hinter ihm wieder. Gingen sie wirklich so viel schneller als ich? Oder war ich einfach nur unsicher? Mir fiel eine gewisse Distanz zwischen uns auf, die mich irgendwie ärgerte. Natürlich konnte ich nicht erwarten, innerhalb so kurzer Zeit gleich ihr neuer bester Kumpel zu werden, aber ich wäre gerne so unbeschwert wie sie gewesen. Sie alberten die ganze Zeit herum, stellten sich gegenseitig ein Bein oder lachten über Witze, die ich überhaupt nicht verstand. „Hey Leute“, sagte Kyo, als wir das Wohngebiet hinter uns gelassen hatten und wieder auf der Hauptstraße waren. „Würde mir ein Piercing stehen?“ „Kommt drauf an wo“, sagte Die lachend. Kyo stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite. „Bist ja nur neidisch, weil deiner so klein ist, dass ein Piercing niemals dran passen würde!“ „Na warte!“, schrie Die, schnappte sich Kyo und tat so, als wollte er ihn erwürgen. Kaoru lachte. „Wann willst du das machen lassen?“, fragte er. Kyo zuckte mit den Schultern und rieb sich den Hals. „In den Ferien“, meinte er. „Da sind meine Eltern nicht da und die würden mir das nie erlauben.“ Kaoru grinste. „Also ich bin dabei“, sagte er. „Aber die Ferien sind noch lange hin, bis dahin wirst du wohl so hässlich bleiben müssen, wie du bist.“ „Wäre ich so hässlich wie du, würde ich nur mit ner Plastiktüte auf dem Kopf rumlaufen!“, konterte Kyo lachend. Kaoru fasste sich an den Kopf, blieb stehen und schaute erschrocken in die Runde. „Oh scheiße, hab ich sie etwa vergessen?!“, rief er und hielt sich die Hände vors Gesicht. Ich hätte gerne auch was Lustiges gesagt, aber mir viel nichts ein und so hielt ich mich die ganze Zeit etwas im Hintergrund, wie das fünfte Rad am Wagen. Wir erreichten das Stadtzentrum, liefen ein Stück die Fußgängerzone hoch und bogen dann in eine schmale Seitenstraße ein. Hier waren nicht mehr so viele Menschen unterwegs, dafür gab es eine Menge Kneipen. Am Ende der Straße befand sich ein kleiner Laden in dessen Schaufenster hauptsächliche alte Zeitungen und Plakate mit Zigarettenwerbung standen. „Zu ihrer Linken: Die Goldgrube der Spirituosen und Tabakwaren“, kommentierte Die wie ein Reiseführer. „Hier fragen sie nicht nach dem Ausweis“, flüsterte Kaoru mir kichernd ins Ohr, ehe er mit Die den Laden betrat. Kyo und ich blieben draußen. „Was wollen sie denn?“, fragte ich naiv. Kyo lachte. „Das wirst du gleich sehen“, sagte er. „Hier kriegst du alles was du willst. Wenn du also irgendwas brauchst…“ Ich schüttelte den Kopf. Anscheinend hatten sie schon einiges an Erfahrung von Alkohol betraf, ich hingegen hatte noch nie was getrunken. Ich fühlte mich leicht unwohl. Nach etwa 5 Minuten kamen die Beiden wieder raus. Kaoru reichte Kyo, der als einziger eine Tasche dabei hatte, eine Packung Zigaretten und eine Flasche Sake. „Stecks ein“, sagte er und fuhr an mich gewandt fort: „Das war nur die erste Station!“ Ich hielt mich weiterhin etwas hinter den anderen und fragte mich, was wohl als Nächstes kommen würde. Ganz wohl fühlte ich mich immer noch nicht. Ich ahnte, dass ich mich an das Territorium, in dem ich mich momentan bewegte, erst noch gewöhnen musste. Als wir wieder in der Fußgängerzone waren, fragte Die mich, was ich für Musik hörte. „Meistens X“, sagte ich. „Gut so!“, sagte Die zufrieden. Irgendwie war ich erleichtert. „X ist unsere Lieblingsband. Hast du sie schon mal live gesehen?“ „Leider nicht“, sagte ich. Kyo grinste. „Wenn sie das nächste Mal nach Tokyo kommen, schleichen wir uns in den Backstagebereich“, sagte er und stieß Kaoru an. „Oder?“ „Klar.“ Er klang überzeugt. „Wir werden Yoshiki fesseln und knebeln und ihn zwingen, uns unter Vertrag zu nehmen!“ Ich prustete los. Die Vorstellung, dass Kaoru sich vor Yoshiki aufbaute und ihn zwang ihm einen Plattenvertrag zu verschaffen, war genial. Wir redeten noch ein bisschen weiter über Musik, dann blieb Kaoru plötzlich stehen. „Nächster Halt: Satorus Piercing- und Tattoostudio, Haarfarbe und Second-Hand-Paradies!“ Er legte Kyo einen Arm um die Schulter. „Hier wird Kyo sich in den Ferien löchern lassen.“ „Satoru ist’n Bekannter von uns“, erklärte Die. „Er hat uns die Tattoos verpasst.“ Ich drehte mich zu ihm. „Tattoos?“ „Klar“, grinste Die, dann zog er sein T-Shirt zur Seite, sodass ich seine Schulter sah. Ein schwarzes Zeichen prangte auf seiner Haut. „Wir haben uns alle unsere Namen stechen lassen“, erklärte er. Ich nickte, sagte aber weiter nichts dazu. Die zog sein T-Shirt wieder zurück und musterte mich. „Du kannst wählen: Was willst du?“ Ich verstand nicht. „Wie, was will ich?“ „Tattoo oder Piercing“, erklärte er. Ich wich erschrocken einen Schritt zurück. „Gar nichts!“ „Sicher? Du könntest es sogar gratis kriegen.“ „Ist schon gut“, mischte sich Kaoru ein. „Du musst nicht.“ Er wandte sich an Die. „Hab ich dich vielleicht gleich am Anfang gezwungen, dir das Teil da verpassen zu lassen?“, zischte er. Die nickte ernst. „Haach, Die ist ein Spinner“, sagte Kaoru ausweichend. Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte keine Lust mir Löcher in den Körper machen zu lassen oder mich in ein wandelndes Gemälde zu verwandeln, obwohl ich zugeben musste, dass so ein einzelnes Zeichen mir zum Beispiel am Handgelenk ganz gut gefallen würde. Aber jetzt, so spontan, auf keinen Fall. Wir ließen das Piercingstudio also links liegen und betraten den Second-Hand-Laden. Dann verbrachten wit die ganze nächste Stunde damit, in alten Klamotten und Schallplatten herumzuwühlen. Mir war nie bewusst geworden, was man hier finden konnte: Uralte Alben von lauter alten Bands, richtig coole Klamotten und lauter Krempel, den niemand wirklich brauchte, den aber trotzdem jeder kaufte, weil er glaubte, er könnte ihn vielleicht doch brauchen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir etwas in einem Second-Hand-Shop zu kaufen, aber es war, wie Kaoru sagte, wirklich ein Paradies. Das meiste sah kaum getragen aus und die Preise waren angenehm niedrig. Als wir den Laden verließen, erklärte Kyo, dass sie hier 90% ihrer Klamotten her hatten. Ich beschloss, dass es durchaus sinnvoll sein könnte, mir diesen Geheimtipp zu merken. „Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagte Kaoru. „Und das Beste haben wir noch vor uns. Hast du ein U-Bahn-Ticket?“ Ich bejahte und wir gingen weiter in Richtung Bahnhof. Ich fragte nicht, wo wir hin wollten, aber es würde schon nichts illegales sein. Hoffte ich jedenfalls. Ich muss sagen, dass ich wirklich sehr darauf bedacht war, mir keine Probleme einzuhandeln und hatte schon als wir die Sake gekauft hatten ein etwas schlechtes Gewissen gehabt. Andererseits fand ich es auch spannend. Wir fuhren fünf Stationen mit der U-Bahn, dann stiegen wir aus. „Tokyos Innenstadt“, sagte Kaoru, als sei es ein Heiligtum. „Mindestens einmal in seinem Leben sollte jeder hier gewesen sein. Diese Stadt ist eine Inspirationsquelle. Los!“ Er und Die rannten wieder voraus und die Rolltreppe hoch. „Komm, sonst verlieren wir sie“, sagte Kyo und wir rannten hinterher. Draußen waren schrecklich viele Menschen und wir kamen nur langsam voran. Wir liefen eine lange Straße hoch und bogen schließlich in eine schmale Seitenstraße neben einem kleinen, verdunkelten Lokal ein. Sie endete in einem Innenhof. Er war von Garagen gesäumt und eine Menge Gerümpel stand herum. Die Gebäude, die den Hof umgaben, sahen nicht gerade sehr einladend aus. Von vorne mochten sie hübsch aussehen, aber um die Hinterseiten kümmerte sich niemand. Es waren Häuser mit zwei Gesichtern, auf den ersten Blick sehr hübsch und einladend, aber beim zweiten Blick zeigte sich wie verkommen sie eigentlich waren. Vielleicht war es so auch mit den Menschen, die darin lebten. An vielen Stellen der Mauern bröckelte der Putz ab und auf manchen der kleinen Balkone saßen junge bis mittelalte Frauen oder Männer mit Drei-Tage-Bart und Bierflasche in der Hand, die die meiste Zeit des Tages nichts anderes zu sehen bekamen als die vergammelten Hinterseiten der anderen Häuser. Kaoru fischte einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und schloss eine Tür des Gebäudes auf, auf dessen Vorderseite sich das Lokal befinden musste. Er winkte uns ihm zu folgen. Ich schloss die Tür hinter mir und stieg hinter den anderen eine schmale, feuchte Treppe hinab. Was wollten wir hier? Schnaps brennen? Haschplantagen besichtigen? Ich war etwas nervös. „Der Besitzer von dem Schuppen hat irgendwann mal zugestimmt, dass wir den Raum benutzen“, erklärte Die, während Kaoru am Schloss der nächsten Tür herumwerkelte. Die Glühbirne, die lose an der Decke baumelte, war längst durchgebrannt und es war stockfinster in dem engen Kellergang. „Wir müssen nicht viel dafür tun, nur wenn wir mal weggehen, dann kommen wir halt hier hin und manchmal jobbt einer von uns als Aushilfsbarkeeper.“ Kaoru hatte es derweil geschafft, die Tür zu öffnen. Beinahe ehrfürchtig betrat er den Raum und knipste das Licht an. „Darf ich vorstellen?“, sagte er. „Unsere heiligen Hallen der Musik.“ Ich betrat hinter Kyo den Raum und schaute mich um. Was ich sah, verschlug mir die Sprache: Es war ein Proberaum. An der Wand standen die Einzelteile eines Schlagzeugs, daneben Verstärker in verschiedenen Größen. Neben der Tür lehnte eine Akustikgitarre mit einer gesprungenen Saite, eine zweite Akustik sowie eine schwarze E-Gitarre standen in ihren Ständern in einer Ecke. An den Wänden waren verschiedene Poster aufgehängt und in der Mitte des Raums stand ein Mikrofon. Über den Boden liefen mehrere Kabel und in einer Ecke stand ein altes, halb zerfallenes Regal, in dem drei dicke Ordner vor sich hin staubten. „Na, was sagst du?“, fragte Kyo. „Wahnsinn“, sagte ich. „Probt ihr hier immer?“ Alle nickten. „Heute haben wir unsere Instrumente nicht dabei. Wir wollten dir nur mal den Raum zeigen.“ Kaoru ging langsam an der Wand entlang und strich mit der Hand über das Schlagzeug. „Dass wir dich hierhin mitgenommen haben, ist kein Zufall“, sagte er. „Ich will, dass du uns morgen mal zeigst, was du drauf hast. Und zwar hier. Also vergiss dein Instrument nicht.“ Das war zu viel für mich. „Ihr wollt, dass ich bei euch mitspiele?“, fragte ich fassungslos. Kaoru lachte. „Weißt du wie schwer es ist, einen Bassisten zu finden? Wir brauchen jemanden, der nicht nur ein Jahr oder so spielt, sondern jemanden, der gut ist. Nein, jemanden der besser ist.“ Ich nickte nur. „Kannst du das?“, fragte Kaoru. „Ich… denke schon“, sagte ich leise. „Nicht denken“, verbesserte mich Kaoru sofort. „Wissen. Also. Kannst du das?“ „Ja.“ Kaoru schien zufrieden. „Eine kleine Probe können wir morgen schon machen“, sagte er. „Damit wir sehen, ob sich weitere Proben überhaupt lohnen. Aber richtig zusammen Musik machen können wir erst, wenn Shinya wieder gesund ist.“ „Wer ist Shinya?“, fragte ich. „Unser Drummer“, sagte Kyo. „Er ist der Beste, er könnte es mit Yoshiki aufnehmen.“ Na toll, dachte ich. Wahrscheinlich noch so einer, der aussieht, als könnte er einen Elefanten hochheben und es wahrscheinlich auch kann. Ich musste ja jetzt neben Kaoru und Die schon sehr klein und kindlich wirken, nur Kyo war genauso groß wie ich, vielleicht sogar ein paar Zentimeter kleiner, aber er war weniger zierlich und hatte markantere Gesichtszüge. Und jetzt auch noch jemand der vom Drummen wahrscheinlich Arme wie Baumstämme hatte. „Noch was. Wenn wir beschließen, dich als Bassist dazu zunehmen“, sagte Kaoru plötzlich ernst, „dann musst du die Band über alles andere stellen. Klar?“ Ich nickte vorsichtig. „Das war nicht sehr überzeugend. Kannst du dir vorstellen, wirklich immer für uns Zeit zu haben? Alles andere absagen zu können, es sei denn, es ist wirklich wichtig?“ Die boxte mich leicht in die Rippen. „Los, sei überzeugend! Wenn du es willst, dann sag es auch!“ „Ich wäre bereit dazu“, sagte ich mit fester Stimme. Kaoru holte tief Luft. „Ich hoffe, du meinst es ernst“, sagte er. Wir blieben nicht mehr lange. Mit der U-Bahn fuhren wir nach Shibuya zurück und holten bei Kyo unsere Sachen ab. „Und, hat’s dir gefallen?“, fragte Kaoru mit seinem typischen Grinsen. Ich nickte. „Bye“, sagte er und hob die Hand. „Bis morgen“, sagte ich, dann drehte ich mich um und ging nach Hause. Zu Hause angekommen, hielt meine Mutter mir vor, ich sei doch sonst so zuverlässig und ich könnte mich doch nicht den ganzen Tag herum treiben. „Wo warst du denn?“, fragte sie. „Mit Freunden weg“, antwortete ich nur knapp. Ihre Miene hellte sich ein bisschen auf. „Wie schön“, sagte sie. „Vielleicht stellst du sie uns ja bald mal vor!“ „Vielleicht“, erwiderte ich und ging in mein Zimmer. Wahrscheinlich würde sie einen hysterischen Anfall erleiden, sobald sie nur Kaorus Haare oder, noch schlimmer, Dies Tattoo sah. Bevor ich ins Bett ging, überlegte ich, was ich mit meiner Uniform anstellen könnte, damit sie sich von den anderen unterschied. Dann nahm ich die Schere und schnitt an den Beinen der Hose jeweils einen schmalen Streifen ab. Mit der Spitze der Schere zog ich ein paar Fäden heraus. Dann faltete ich die Hose so, dass meine Mutter es nicht sehen konnte. ~*~*~*~*~*~*~ Sinnfreies Kommentar des Autors Die folgenden Teile sind (bis auf den letzten) unüberarbeitet... Das hole ich noch nach (jaja Ryu, glaubst auch nur du!), aber ich will jetzt endlich den Rest hochladen, den ich schon vor Monaten geschrieben habe XD Ich hoffe es gefällt euch ^^ Fear... ------- Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so aufgeregt, wie an jenem Tag, an dem ich mit Kaoru, Die und Kyo ins Zentrum fuhr, um sie von meinem Können zu überzeugen. Ich malte mir alles Mögliche aus, was passieren konnte: Ich könnte so schwitzige Finger haben, dass mir das Plektrum wegrutschte, ich könnte die Akkorde falsch greifen und keine sauberen Töne hinbekommen, ich könnte vor lauter Nervosität alles vergessen haben und tausend andere Sachen. Ich hatte eine Wahnsinnspanik. Als ich morgens den Schulhof betrat, richteten sich sofort alle Blicke auf mich. Ich umklammerte den Griff der Tasche mit dem Bass und versuchte so selbstbewusst wie möglich den Hof zu überqueren. Plötzlich hob auch ich mich von den anderen ab. Ich hatte etwas, was sie nicht hatten. Ich glaube, dass es zwei Arten von Menschen gibt: Die eine Art bewundert bzw. beneidet heimlich die, die sich von anderen unterscheiden und die andere Art hasst sie. Ich bekam meine Aufmerksamkeit also in Form von flammender Neugier und glühendem Hass. In der Klasse stürzten sich sofort ein paar Mädchen auf mich und wollten wissen, was in der Tasche war. „Eine Gitarre, hä?“, fragte eine. Sie hieß, soweit ich mich erinnere, Sayuri, aber vielleicht hieß sie auch anders. Sie war eines jener Mädchen, die bei jeder Gelegenheit kichern und nur ihre Klamotten und ihre Schminke im Kopf haben. In der Schule bekam sie in Sport die besten Noten und wir vermuteten, dass es an ihrer freizügigen Sportbekleidung lag. Ständig warf sie den Jungen kokette Blicke zu und nutzte jede Gelegenheit, um ein bisschen Haut zu zeigen. Sie war auf eine gewisse Art hübsch, sah aber gleichzeitig aus wie tausend andere Mädchen auch. Sie war nichts Besonderes. Und sie war nicht sonderlich scharfsinnig. Sah man Sayuri direkt in die Augen, konnte man ahnen, dass ihr IQ den einer Gans nur gering überragte. Trotzdem waren viele Jungs scharf auf sie, weil sie gerne feierte und mehr Brust hatte, als die anderen Mädchen der Klasse. Ich mochte sie nicht besonders und war froh, wenn sie mich in Ruhe ließ. „Nein“, sagte ich lässig. „Ein E-Bass.“ „Wow“, tönte sie und klimperte mit den Augen. „Das ist ja voll cool…“ „Ja“, sagte ich gelangweilt. „Unheimlich cool.“ „Und… Bist du gut?“, Sayuri setzte sich auf meinen Tisch, sodass ihr Rock ein Stück hoch rutschte. Ich schaute nicht einmal hin. „Da braucht man doch sicher sehr viel… Fingerfertigkeit…?“ Die Art wie sie das Wort betonte, gefiel mir gar nicht. „Man braucht vor allem Durchhaltevermögen“, erklärte ich genervt. „Und Talent.“ „Ich würd dich unheimlich gerne mal spielen sehen…“, säuselte sie und präsentierte mir ihr bestes Zahnpastalächeln. „Und wann?“, fragte ich. „Vor oder nachdem du die Nachprüfung geschrieben hast?“ Sayuri glotzte mich dumm an. Dann stand sie auf und kehrte zu ihrem Platz zurück, wo sie von ihren kichernden Freundinnen erwartet wurde. Ich schüttelte den Kopf über soviel Dummheit und packte meine Bücher auf den Tisch. Sayuri versuchte während der Stunde mehrmals Blickkontakt mit mir aufzunehmen, aber ich beachtete sie nicht. Für manch einen mochte sie eine heiße Nummer sein, für mich war sie eine Nervensäge mit zu viel Busen und zu wenig Hirn. Ich wunderte mich nicht weiter darüber. So wie ich mich nie darüber gewundert hatte, dass ich noch nie in ein Mädchen verliebt gewesen war. Nach der Schule holten Kaoru, Die und Kyo mich am Haupteingang ab. Kaoru winkte mir bereits von weitem. Mit der U-Bahn fuhren wir ins Zentrum und gingen zu Fuß bis zu dem Hinterhof. Mit jedem Schritt, den ich tat, klopfte mein Herz heftiger. Als wir angekommen waren, glaubte ich, jeden Moment umkippen zu müssen, aber ich hielt mich auf den Füßen. Ich stellte meine Tasche ab und holte vorsichtig mein Instrument hervor. Kaoru musterte den schwarzblauen E-Bass, schien zufrieden und zeigte mir, wo ich ihn an einen der Verstärker anschließen konnte. Er lehnte seine Gitarre, sie war dunkelviolett, an die Wand. „So“, sagte er. „Bevor wir es zusammen versuchen, will ich von dir ein paar Soli hören.“ Mein Magen zog sich zusammen und ich überlegte krampfhaft was ich spielen könnte. Mir fiel absolut nichts ein. „Na los“, forderte Die. In meinem Kopf rauschte es und Schweiß stand auf meiner Stirn. Auch meine Hände schwitzten. Sofort entstand eine neue Befürchtung: Was wenn mir das Instrument entglitt? „Was denn?“, krächzte ich. Mein Hals war total trocken. „Noch nie vor Leuten gespielt, hm?“, grinste Kaoru. „OK, wir drehen uns um.“ Die lachte. Ich wurde mit jeder verstrichenen Sekunde nervöser und als ich die ersten Akkorde anschlug, hatte ich das Gefühl, dass die Vibration die von den Saiten ausging, mich durchflutete und zu Fall brachte. Erst als ich den ersten Schock überlebt hatte, und ich merkte, dass es gar nicht so schlimm war, konnte ich mich voll auf die Musik konzentrieren und vergaß völlig, dass drei Leute mir zuschauten. Ich war in meinem Element. Als ich aufhörte zu spielen, kehrte ich langsam in die Wirklichkeit zurück. Dann entdeckte ich mein Publikum und mir fiel schlagartig wieder ein, wo ich war. Ich fühlte mich seltsam peinlich berührt. Sie waren, außer meinem Musiklehrer und meinen Eltern, die Ersten, die mich spielen hörten. Vielleicht war ich ihnen ja nicht gut genug… „Und?“, fragte ich vorsichtig. Kyo war der Erste, der reagierte. Er kam zu mir und schlug mir auf den Rücken und ich taumelte, obwohl es nicht fest war. „Absolut abgefahren!“, rief er. Ich erwiderte nichts. Ich konnte nur schweigen. Die und Kaoru tauschten einen flüchtigen Blick, nickten einander zu, dann packte Die ebenfalls seine Gitarre aus und Kyo bezog den Platz am Mikro. „OK!“, sagte Kaoru, nahm seine Gitarre und legte sich den Gurt um. „Dann wollen wir mal sehen, ob das auch zusammen klappt. Kannst du… irgendwas von X?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nicht gut“, sagte ich. „Ich kanns versuchen.“ An die Songs von X hatte ich mich nie wirklich heran getraut - Ich hatte viel zu viel Respekt vor denen. „Wir covern meistens“, erklärte Kaoru, bevor wir anfingen. „Aber wenn wir irgendwann mal einen Auftritt kriegen, spielen wir unsere eigenen Songs. Die zeigen wir dir noch. Sind nicht viele.“ Ich nickte und Kaoru schlug den ersten Ton an. „Alles klar? Los!“ Spiel einfach, dachte ich mir. Achte nicht auf die Anderen. Achte nur auf dich. Ich merkte kaum, dass das Lied zu Ende war und konnte mich nur dunkel an Kyos Stimme erinnern. Aber mit der von Toshi hatte sie nicht viel gemeinsam gehabt. „Du hast echt nicht gelogen“, sagte Kaoru langsam und stellte seine Gitarre wieder an die Wand. „Du bist gut…“ Er tauschte einen schnellen Blick mit Die und Kyo. „OK, einen Song noch. Los, wie haben nicht mehr sehr viel Zeit.“ Ich begann wieder zu spielen und diesmal war es mir schon ganz gleich, dass ich nicht wie sonst allein war. Meine Angst, die Musik der anderen könnte mich ablenken, war total unbegründet. Ich achtete darauf, im Takt zu bleiben und bekam von dem, was um mich herum passierte, kaum etwas mit. Als wir endeten, fühlte ich mich wie betäubt. Aber es war eine durchaus angenehme Betäubung, mehr wie eine Trance. Eine Zeit lang war alles still. Alle schienen zu Salzsäulen erstarrt. Endlich räusperte sich Kaoru. „Sehr gut“, sagte er leise. „Wirklich.“ Er blieb noch einen Augenblick in seiner versteinerten Pose, dann kehrte das Leben in ihn zurück und er begann seine Gitarre in der Tasche zu verstauen. So als wäre nie was gewesen. Die tat es ihm nach und Kyo baute den Mikroständer auseinander. „Du solltest auch packen“, sagte Die zu mir. „Es ist schon spät.“ Ich stand wie angewurzelt da. „War das jetzt alles?“, fragte ich vorsichtig. Kaoru sah auf. „Wie, alles?“ „Ihr wolltet mir doch sagen, ob…“ „Wir treffen uns morgen nach der Schule“, wimmelte Kaoru meine Frage ab. „Wir werden keine Entscheidung treffen, bis Shinya gesund ist und er wieder mitspielen kann. Wenn es dann immer noch gut läuft…“ Er unterbrach sich, wickelte das Kabel vom Verstärker ein und klappte seine Gitarrentasche zu. Ich erwiderte darauf nichts. Kaoru ging zu dem Regal, nahm einen der Ordner heraus und heftete einige Blätter aus. „Hier“, sagte er und reichte sie mir. Es waren Noten. „Üb das bis zum nächsten Mal, das wollen wir dann spielen.“ Ich nickte, dann machte ich mich daran, meine Sachen zu packen folgte den anderen die Treppe hoch und die Hauptstraße entlang in Richtung U-Bahn. Wir redeten kaum mehr ein Wort miteinander. Erst als wir an der Kreuzung ankamen, an der wir uns trennen mussten, sagte Kaoru knapp: „Bis morgen.“ Dann ging er. „Hat er was?“, fragte ich. Die zuckte mit den Schultern und sah ihm nach. „Ach, mach dir nichts draus“, sagte Kyo aufmunternd. „Er ist manchmal etwas eigenartig.“ „Diese Band ist das, wofür er lebt“, ergänzte Die, immer noch mit dem Blick in Kaorus Richtung. „Er hat sie ins Leben gerufen. Wir spielen jetzt seit über drei Jahren zusammen, aber wir hatten noch nie einen Auftritt. Unsere Musik klingt eigenartig, weil wir keine Basselemente haben. Ich glaube, das war jetzt einfach zu viel für ihn… Verstehst du?“ Ich nickte, war mir aber nicht ganz sicher, ob ich wirklich verstanden hatte, was Die meinte. „Lass dir das irgendwann mal von ihm erklären“, sagte Die. „Ciao, bis morgen!“ Kyo schaute Die eine Weile nach, dann wandte er sich an mich. „Wenn du genommen wirst, kannst du dich auf was gefasst machen“, sagte er grinsend. „Unser Leader-sama ist ein verdammter Sklaventreiber.“ Er lachte. „Dachte, du solltest es wissen.“ Er hob die Hand und ging ebenfalls. Langsam ging auch ich nach Hause. Erst viel später sollte ich erkennen, dass mein Bild eines Bandmitglieds damals noch völlig naiv und frei erfunden war. Es war das einzige, das ich kannte. Man stellte sich auf eine Bühne, hatte ein Publikum das einem zu Füßen lag und kam auf die Titelseiten von Zeitschriften. Stress, Verantwortung oder so kamen mir nicht in den Sinn. Deshalb verstand ich auch nicht, was Die mit Die Band ist das, wofür er lebt meinte. Kaoru hatte zwar gesagt, dass ich die Band über alles andere stellen sollte, aber ich glaube, die Bedeutung dieser Worte begriff ich erst viel später. Als damals alles anfing, war es für mich mehr ein Hobby, Spaß, Zeitvertreib. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, später ernsthaft mein Geld damit zu verdienen. Aber wie ich schon sagte, ich hatte damals von vielem eine andere Meinung. Und ich hatte noch genügend Zeit, meine Meinung zu ändern. Am nächsten Tag in der Pause zögerte ich kaum mehr, ehe ich hinter das Gebäude ging, wo ich Kaoru, Die und Kyo auch tatsächlich auffand. „Hey“, sagte Kaoru. „Lang nicht gesehen.“ Er grinste. Wieder bot er mir die Kippen an und ich zögerte einen Moment, schüttelte dann aber doch den Kopf. „Wir haben gestern mit Shinya gesprochen“, sagte Die. „Wir haben ihm erzählt, dass wir vielleicht endlich einen Bassisten gefunden haben.“ „Oh“, sagte ich leicht überrascht. „Und was sagt er dazu?“ „Nicht viel, seine Stimme ist ganz schön im Arsch“, grinste Kyo. „Aber ich denke, in den nächsten Tagen wirst du ihn mal kennen lernen.“ Einerseits war ich deswegen aufgeregt, aber gleichzeitig wurde ich gleich wieder angespannt und nervös. Ich machte mir wahrscheinlich nur wieder unnötig Sorgen, aber angenommen, er war so ein Kleiderschrank von Kerl der mich in der Luft zerreißen könnte, würde er sich freiwillig mit mir abgeben? Ich hatte ja keine Ahnung, was mich wirklich erwartete. „Du wirst ihn mögen“, meinte Kaoru. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der ihn nicht mag.“ Ich fragte mich, ob das nicht daran lag, dass er die Leute die es sich erlaubten ihn nicht zu mögen, einfach zweiteilte. Himmel, war ich naiv! „Wenn du meinst…“ Wirklich überzeugt war ich nicht. „Wir machen dann noch eine Probe zusammen, und wenn das so gut klappt wie gestern, hast du den Job“, redete Kaoru einfach weiter ohne noch groß auf mich zu achten. „Vielleicht lässt seine Mutter ihn morgen oder übermorgen schon raus, dann können wir uns treffen und ihr könnt euch schon mal ein bisschen… äh, kennen lernen.“ „OK.“ Kaoru kramte in seiner Tasche herum. „Ich red noch mal mit Shinya“, sagte er. „Kann ich dich vielleicht zu Hause anrufen? Heute Abend oder so?“ „Äh, klar“, erwiderte ich und schrieb Kaoru die Nummer auf. „Danke“, sagte er. „Ich werd dir auch mal meine geben, falls irgendwann mal was ist. Könnte vielleicht nützlich sein.“ Ich nickte und steckte den Zettel ein. Als der Unterricht wieder begann, verabschiedeten wir uns und den Rest des Tages bekam ich nichts mehr von ihnen zu sehen. Den ganzen Tag hoffte ich, dass das Telefon klingelte. Ich weiß nicht, wieso ich so darauf wartete, aber ich glaube es lag daran, dass all das was in den letzten Tagen passiert war einfach so unglaubwürdig erschien, dass ich hoffte das Klingeln des Telefons würde noch mal eine Art Bestätigung sein. Diese Typen wollten mich mit ihrer Freundlichkeit weder ärgern noch verarschen oder sonst was, sie meinten es ernst. Ich in der rebellischen Clique. Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet ich, wo doch jeder andere besser hinein gepasst hätte. Schon rein äußerlich. Und charakterlich leider auch. Besonders rebellisch war ich nie gewesen, ich hatte versucht immer mit dem klar zu kommen, mit dem ich wohl oder übel klar kommen musste. Kaoru schien nur mit dem klar zu kommen, mit dem er klar kommen wollte. Am frühen Abend kam meine Mutter in mein Zimmer und sagte, da sei jemand für mich am Telefon. „Ich finde es schön, dass du so schnell Anschluss gefunden hast“, sagte sie lächelnd. „Er war so höflich, vielleicht stellst du mir deine Freunde ja bald mal vor?“ „Vielleicht“, wehrte ich sie ab und ging zum Telefon. „Hallo?“ „Hey, ich bin’s, Kao“, antwortete Kaoru. „War das deine Mutter?“ „Ja.“ „Dachte ich mir. Sie ist bestimmt nett.“ „Ja“, sagte ich noch mal. „Rufst du an um mir das zu sagen?“ „Hey, sei mal nicht gleich so angepisst. Also pass auf, wir treffen uns morgen alle um sechs Uhr in dieser Bar an der Hauptstraße, XYZ*. Kennst du die?“ „Ja, da war ich schon mal“, log ich. Natürlich war ich ein paar Mal daran vorbei gelaufen, aber ich war nie drin gewesen. „Gut. Sei pünktlich!“, sagte Kaoru und legte auf. Ich legte ebenfalls auf und ging in mein Zimmer zurück. Mit gemischten Gefühlen ging ich dem nächsten Tag entgegen. In der Schule lief alles wie immer. Die Pause verbrachte ich mit den Leuten aus meiner Klasse und so bekam ich Kaoru, Die oder Kyo nicht mehr zu Gesicht, bevor ich um kurz vor sechs unser Haus verließ. Ich hatte darauf verzichtet, mir die Haare zu kämmen und ließ ein paar Strähnen über die Augen fallen. In meine Jeans zu schneiden hatte ich mich nicht getraut, da meine Mutter mich umbringen würde. Aber ich ahnte, dass mir das bald auch egal sein würde. Als ich vor der Kneipe ankam, standen Kaoru und Kyo schon davor und warteten. Wir begrüßten uns mit einem Handschlag. „Die und Shin kommen zusammen“, sagte Kyo. „Sie wohnen nebeneinander.“ „Shinya ist übrigens der Jüngste von uns“, fügte Kaoru hinzu. „Er ist im Februar vierzehn geworden.“ Ich muss etwas seltsam geguckt haben. Er war knapp ein Jahr jünger als ich und das hatte ich um ehrlich zu sein nicht erwartet. „Kein Thema“, sagte ich schnell. „Wo bleiben sie denn…“, murmelte Kaoru und schaute immer wieder auf seine Uhr. Ich versuchte mich so wie er gegen die Hauswand zu lehnen, kam mir aber schrecklich ungelenk dabei vor und blieb dann lieber normal stehen. Wir warteten noch ein paar Minuten vor der Kneipe, dann zeigte Kyo in eine Richtung und sagte: „Hey, da sind sie ja!“ Was ich sah, war nicht das, was ich erwartet hatte. Überhaupt nicht. Der Typ der neben Die herging, war einige Zentimeter kleiner als dieser, hatte schulterlanges, stufig geschnittenes dunkles (ungefärbtes) Haar und schon von weitem erkannte man, dass er sehr zierlich war. Die begrüßte uns und wandte sich dann an mich. „Darf ich vorstellen? Shinya Terachi, unser Drummer.“ Shinya lächelte und verbeugte sich. „Und du bist?“, fragte er. Seine Stimme klang ein bisschen heiser und kratzig, aber ich ahnte, dass sie normalerweise hell und sanft war. Ich nannte ihm meinen Namen. Er schien nachzudenken. „Wir nennen uns alle beim Vornamen“, sagte er dann. „Hast du irgendeinen Spitznamen oder so?“ „Noch nicht“, erwiderte ich und musterte ihn vorsichtig. Seine Gesichtszüge wirkten viel weniger markant als die der anderen, überhaupt hatte er ein sehr feminines Gesicht. Ich vermutete, dass nicht wenige Mädchen ihn um seine hohen Wangenknochen beneideten. „OK“, sagte er. „Was dagegen wenn ich dich Toshi nenne?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wenn du willst…“ Shinya lachte. Ein sehr angenehmes Lachen. „Also, gehen wir“, sagte er und schob mich vor sich in die Kneipe. Drinnen war es leicht abgedunkelt, Rauchschwaden hingen in der Luft und es roch nach einer Mischung aus Bier, Zigarettenrauch und billigem Parfum. Es gefiel mir auf Anhieb. Wir setzten uns um einer der runden Tische, die im Raum verteilt waren. Shinya lächelte mir wieder zu, als ich mich neben ihn setzte. Kaoru bestellte für sich, Die und Kyo Sake und für Shinya und mich Wasser. „Trinkst du nicht?“, fragte Shinya. Ich schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht.“ „Ich auch nicht“, sagte er. „Ich hasse es, wenn es im Hals so brennt.“ Ich nickte, obwohl ich das Gefühl nicht kannte. Er trank einen Schluck Wasser, dann lehnte er sich zurück und begann mich von oben bis unten zu betrachten. Es war mir nicht unangenehm, aber ich hoffte trotzdem, dass er bald genug gesehen hatte. „Du wirst also unser neuer Bassist“, stellte er fest. „Wir wollen mal nichts überstürzen“, sagte Die, „aber sagen wir, die Chancen stehen sehr gut.“ „Ich wüsste nichts, was dagegen sprechen sollte“, sagte Shinya lächelnd. Er sah mir immer noch in die Augen. „Ihr habt erzählt, er spielt gut… Er hat also Talent, beherrscht sein Instrument… Und sieht nicht einmal schlecht aus.“ Ich war froh, dass es so dunkel war, denn ich bin ganz sicher rot geworden. „Hey, Shinya!“, lachte Kyo, „Wenn du die Seite wechseln willst, dann geh nach nebenan!“ „Was?“ Die beugte sich zu mir und erklärte, dass neben dem XYZ eine Bar extra für Homosexuelle eröffnet hatte, unter dem Namen Blue Star. „Niemand will hier die Seite wechseln“, sagte Shinya gelassen. „Und es ist doch so.“ Ich sagte nichts darauf und hoffte, dass Shinya diese Kommentare unterließ. Ich hatte zwar eigentlich nichts dagegen, aber… Ein bisschen eigenartig war es schon. „Erzähl was von dir“, sagte Shinya. „Wo kommst du her?“ „Nagano“, sagte ich und griff nach meinem Wasser, da mein Hals sich verdächtig trocken anfühlte. „Und gefällt es dir hier?“ Ich nickte. „Bis jetzt sehr gut.“ „Was natürlich nicht zuletzt an diesen überaus netten und begabten Leuten hier liegt“, ergänzte Kaoru. Shinya lachte wieder, aber diesmal ging das Lachen in einem Hustenanfall unter. „Entschuldige“, sagte er zu mir. „Ich war die letzte Woche erkältet und…“ „Ist doch nicht schlimm“, unterbrach ich ihn. „Kannst du ja nichts für.“ Er fragte mich noch verschiedene Dinge über meine alte Heimat und auch über mein Interesse an der Musik. Anscheinend schien er bereits zugestimmt zu haben, mich in die Band aufzunehmen, ohne mich auch nur einmal spielen gehört zu haben. Ich war ziemlich froh, dass Shinya so offen und unkompliziert war, denn mir wären mit Sicherheit schnell die Themen ausgegangen. Er wirkte weniger rebellisch als die anderen und hatte auch keine Auffälligkeiten an sich, bis auf, wie er mir erzählte, das Tattoo mit seinem Namen. Als wir abends die Kneipe verließen, war ich fast enttäuscht, denn nachdem ich aufgetaut war, hatte es richtig Spaß gemacht mit ihm zu reden. Als wir vor der Bar standen und uns verabschiedeten, erwischte ich mich bei dem Gedanken, dass er gut aussah, besser als die meisten Mädchen, denen ich je begegnet war. Natürlich wischte ich diesen Gedanken sofort wieder weg. Zwar war nichts Schlimmes daran, einen anderen Jungen gut aussehend zu finden, aber besser, man fängt mit so was erst gar nicht an. Wir verabredeten uns fürs Wochenende, um zusammen eine Probe zu machen. Ich freute mich und war ziemlich aufgeregt, weil sich entscheiden würde, ob ich dabei war oder nicht. Ob mein Leben sich änderte oder nicht… Ich ging noch ein Stück mit Die und Shinya mit, weil sie in dieselbe Richtung mussten. Wir schwiegen. Erst als sie abbogen, sagte Die: „Bis morgen.“ Shinya lächelte und berührte kurz meine Schulter. „Hat mich gefreut“, sagte er und ehe ich was erwidern konnte, hatte er sich umgedreht und war mit Die in die nächste Seitenstraße eingebogen. * = XYZ ist in diesem Fall kein Platzhalter, die Bar heißt echt so XD Nur um Missverständnisse zu vermeiden... XD No panic?! ---------- „Hallo!“, sagte Shinya lächelnd. „Kommt rein.“ Kaoru und ich folgten Shinya durch den Flur ins Wohnzimmer, wo Die bereits lang ausgestreckt auf dem Sofa lag und wartete. Das Zimmer sah sehr gemütlich aus. An den Wänden hingen einige farbenfrohe Zeichnungen, durch das große Fenster flutete Sonnenlicht den Raum und auf dem Tisch stand eine Vase mit einigen Kirschzweigen. Ich sah mich interessiert um und Shinya bemerkte es. „Ein Wohnzimmer“, sagte er mit Reiseführer-Stimme. „Beachte bitte besonders die Staubplantagen hinter dem Sofa. Die größten Japans.“ Ich lachte und als unsere Blicke sich trafen, zwinkerte er mir kurz zu. Wir hatten uns bei Shinya verabredet, um gemeinsam zum Proberaum zu fahren. Heute sollte ich ein zweites Mal vorspielen, diesmal zusammen mit Shinya. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich nicht etwa nervös war. Kaoru war nervös. Ich war halbtot vor Angst! Kaoru und Die, besonders ersterer, regten sich derweil über Kyo auf. „Immer kommt er zu spät!“, fauchte Kaoru, „Immer! Er wird auf seine eigene Beerdigung zu spät kommen, falls er sie nicht komplett vergisst. Der Herr Sänger hat ja immer was Besseres vor!!“ Er lief erregt im Zimmer auf und ab. Die schenkte ihm keine große Anteilnahme. „Und Herr Leader macht sich viel zu viele Gedanken“, sagte er. „Er wird schon gleich kommen. Und solange bleiben wir einfach hier und schauen nach, was Frau Terachi so im Kühlschrank hat.“ „Könnte dir so passen“, entgegnete Shinya. „Schauen wir lieber mal, was Herr Andou im Kopf hat… Na so was! Ein Vakuum!“ Die schnaufte verärgert. „Blödmann.“ „Nicht so’n großer wie du.“ „Sie lieben sich“, kommentierte Kaoru trocken den Wortwechsel. „Merkt man“, grinste ich. Die erhob sich träge aus seiner bequemen Lage. „Geh wieder in den Kindergarten, Terachi“, sagte er und warf ein Sofakissen nach Shinya, welcher es geschickt auffing. „Warum? Um dich für morgen krank zu melden?“ Er warf das Kissen zurück. „Hört ihr vielleicht mal auf mit dem Scheiß?“, zischte Kaoru wütend. „Kyo ist schon zehn Minuten zu spät!“ „Lass uns doch“, sagte Die. Ich konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken. Es war einfach zu komisch. Um viertel nach Zwei erschien Kyo endlich auf der Bildfläche. „Kannst du eigentlich einmal pünktlich zu einem Termin kommen?“, fauchte Kaoru. „Los jetzt, ich würd das gerne vor Weihnachten noch regeln!“ Damit stiefelte er an uns vorbei und war schon fast aus der Tür, als Die ihn daran erinnerte, dass er seine Gitarre vergessen hatte. Als wir endlich am U-Bahnhof angekommen waren, war Kaoru mehr oder weniger stinksauer. Ich weiß bis heute nicht genau warum, und jedes Mal, wenn ich ihn darauf angesprochen habe, hat er mir irgendwie zu verstehen gegeben, dass er darüber nicht sprechen will. Ich wusste ja nicht, dass ich seine Stimmungsschwankungen noch über Jahre hinweg ertragen sollte. Shinya versuchte ihn zu beruhigen. „Es ist doch nicht schlimm“, sagte er. „Das Kyo zu spät gekommen ist, ist kein Weltuntergang und in der Hektik hätte jeder was vergessen können.“ „Das ist es nicht“, murmelte Kaoru. „Was denn?“, fragte Shinya. Kaoru stand energisch von der Bank auf, auf der saßen, während wir auf die U-Bahn warteten. „Tu mir einen Gefallen“, sagte er. „Und sprich nicht mit mir!“ Wir hielten uns daran, jedenfalls so lange, bis wir vor der Kellertür standen, die zum Proberaum führte. Meine Angst, die ich in den letzten Minuten komplett vergessen hatte, kehrte mit einem Schlag zurück – ein Schlag der sich anfühlte, wie ein Boxhieb von Vitali Klitschkow. Während ich mein Instrument auspackte und das Kabel ausrollte, spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Ich schaute hoch und sah Shinya. Ich legte das Kabel weg und stand auf. „Ich wollte dir nur viel Glück wünschen“, sagte Shinya lächelnd. Ich bekam weiche Knie. „Ich weiß, dass du’s schaffst.“ „Danke“, sagte ich. Meine Zunge fühlte sich an, als sei sie am Gaumen festgeklebt. Ich schluckte mehrmals, aber das Gefühl blieb. Als jeder seinen Platz eingenommen hatte, wandte Kaoru noch einmal das Wort an uns. „Ich weiß nicht, ob wir diesen Raum nachher als Band verlassen“, sagte er. „Oder ob alles beim Alten bleibt. Ich mache dir keine Hoffnungen…“, hier sah er mich direkt an, „…und mir auch nicht. Also. Gebt euer Bestes.“ Ich hielt den Hals meines Basses fest umklammert. Ich musste mehr als nur mein Bestes geben, das wusste ich. Ich musste wirklich alles geben, was ich hatte. Kurz vor Beginn schaute ich mich noch einmal nach Shinya um. Hinter dem großen Schlagzeug wirkte er noch kleiner, als er sowieso schon war. Als wir begannen, wurde ich allerdings von den Drums fast umgehauen und ich entfernte mich einige Schritte von ihnen. Ich beobachtete Shinya ab und zu. Er spielte mit einer unglaublichen Hingabe, seine dunklen Haare flogen im Rhythmus der Musik auf und ab. Er sah unglaublich aus. Wir spielten einige altbekannte Stücke, die ich aus dem Musikunterricht kannte, dann das Cover von dem Song, den ich geübt hatte. Es lief alles einwandfrei. Glaubte ich jedenfalls. Während wir spielten, hatte ich das erste Mal das Gefühl, meinen Platz gefunden zu haben, meinen Platz in der Welt. Es mag seltsam klingen, aber so war es. Vielleicht können es wenigstens die nachvollziehen, die genauso im Verschwommenen herumgetappt sind wie ich, die ein bisschen hierhin und ein bisschen dorthin gehört haben, bis sie gemerkt haben, was ihre Aufgabe ist und wo sie wirklich hingehören. Immer wenn ein Song zu Ende war, rief Kaoru den Titel des nächsten in den Raum und wir spielten. Wir spielten bestimmt eine Dreiviertelstunde lang ununterbrochen. Dann sagte Kaoru plötzlich: „OK. Genug für heute.“ Er legte seine Gitarre weg und stand einen Moment lang ganz still da, ehe er sich Shinya zuwendete. „Shinya?“ „Was soll ich sagen…“ Shinya kam hinter seinen Drums hervor, er legte mir eine Hand auf die Schulter und seine Mundwinkel zuckten. „Er passt super zu uns.“ Mir wurde heiß. Kaoru tauschte einen Blick mit Die und Kyo, beide nickten ihm kurz zu. „Eine eindeutige Abstimmung“, sagte Kaoru müde lächelnd. Er sah plötzlich sehr geschafft und ausgepowert aus. „Wenn du noch willst und meinst, es mit uns aushalten zu können…“ „Ja!“, unterbrach ich ihn und konnte meine Aufregung kaum noch verstecken. „Ja!“ „Ich hab dir gesagt, worauf es ankommt“, sagte Kaoru jetzt etwas lauter. „Die Band würde an erster Stelle stehen!“ Ich nickte. In diesem Moment fühlte ich mich, als würden in meinem Bauch Silvesterraketen hochgehen. Ich meinte, jeden Moment abheben zu müssen. Ich bekam das Lachen nicht mehr von meinen Lippen. „Dann…“, Kaoru fasste mich an den Schultern und sah schon viel glücklicher aus als zuvor, seine Augen leuchteten richtig. „Herzlich Willkommen!“ Er grinste, dann fing er plötzlich lauthals an zu lachen und umarmte mich sehr stürmisch. Kyo schlug mir auf den Rücken und erklärte, wenn ich noch etwas an meinem Aussehen feilte, würde ich wirklich perfekt zu ihnen passen. Und Shinya umarmte mich, nur nicht so stürmisch wie Kaoru. „Ich wusste, dass du es schaffen würdest“, sagte er. Als er an mir vorbei ging, streifte seine Hand meine Hand. Nur zufällig natürlich. Und trotzdem dachte ich, dass jeder von uns es im Unterbewusstsein darauf angelegt hatte. Kann natürlich sein, dass ich falsch lag. „Wir sollten hochgehen“, sagte Kaoru nachdem die Umarmerei zu Ende war. „Und auf unseren neuen Bassisten anstoßen!“ Am liebsten wäre ich die Wand hoch gerannt. Ich hatte tonnenweise Adrenalin im Blut und das schreckliche Bedürfnis, sofort und auf der Stelle zu schreien, zu rennen oder eben die Wand hoch zu laufen. Da das alles sehr merkwürdig ausgesehen hätte, blieb ich still stehen und hoffte, dass das Adrenalin sich bei Gelegenheit wieder verflüchtigen würde. Es war der bislang geilste Tag meines Lebens. Wir gingen in die Bar, zu der der Keller mit dem Proberaum gehörte. Kaoru war bester Laune und verkündete lautstark, dass er die Drinks bezahlen wollte. „Er ist ein Buch mit sieben Siegeln“, antwortete Shinya nur auf meine Frage, ob er öfter solche Stimmungsschwankungen hatte. Wir nahmen an der Bar Platz. Der Barkeeper war ein knapp fünfzigjähriger, hoch gewachsener Mann, der außer einem Drei-Tage-Bart einen stattlichen Bierbauch aufzuweisen hatte. Er trug eine Schürze und polierte gerade ein Glas, als wir kamen. Die Kneipe war recht leer, nur vereinzelt saßen Leute an den Tischen, rauchten oder tranken. „Hey, Kei!“, rief Kaoru, dann zog er mich neben sich auf den Hocker und legte mir den Arm um die Schultern. „Darf ich vorstellen? Kei, unser Manager, Toshimasa Hara, unser Bassist!“ Er strahlte Kei an. Dieser brachte nur ein mühsames Lächeln zustande. „Dann seit ihr ja jetzt komplett“, sagte er mit einer sehr kratzigen, rauen Stimme. Er sprach undeutlich, so als bekäme er den Mund nicht richtig auf. Er stellte das Glas seelenruhig ins Regal, nahm das nächste und polierte es ebenfalls. „Ich geb die Runde aus, Kei!“, rief er dem Barkeeper zu. „Fünfmal… Was immer ihr trinken wollt.“ Er kramte die Zigaretten aus seiner Tasche und reichte sie dann an Die und Kyo weiter. Dass Shinya nicht rauchte, fand ich sehr positiv. Auf Dauer der einzige Nichtraucher zu sein, war irgendwie blöd. „Viel Erfolg“, brummte Kei und stellte fünf Gläser Sake auf den Thresen. Kaoru zückte seinen Geldbeutel, aber Kei winkte ab. „Geht aufs Haus“, sagte er und wir bedankten uns. „Seht zu, dass ihr aus diesem Kellerloch rauskommt“, murmelte Kei in seinen Bart, ehe er sich wieder dem Polieren der Gläser zuwandte. Kaoru nahm sein Glas und ließ es gegen meins klirren. „Auf uns!“, sagte er und wir antworteten alle zusammen. „Auf uns!“ Dann stürzten wir das Zeug runter. Unser ungeschriebener Vertrag war besiegelt. Als ich mein Glas abstellte, verspürte ich ein eigenartiges Brennen im Hals. Ich verzog das Gesicht. „Hast du noch nie Alkohol getrunken?“, lachte Kaoru. Ich schüttelte den Kopf. Kaoru bestellte ein zweites Glas Sake für mich. „Du gewöhnst dich dran!“ Ich trank auch dieses Glas in zwei Zügen leer. „Trink lieber nicht zu viel“, sagte Shinya. „So wie…“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Kaoru. Dieser hatte für sich, Die und Kyo irgendein anderes Zeug in Pinchen bestellt. „OK“, sagte ich. Shinya bestellte für sich und mich Wasser, dann lehnte er sich ein bisschen über den Thresen und sah mich schief an. „Du warst früher nicht mit Leuten wie Kaoru zusammen, nicht?“, fragte er. Ich fühlte mich ertappt. „Woher weißt du das?“ Shinya lachte. „Erstens hab ich Augen im Kopf“, sagte er, „und zweitens ist es bei mir genauso. Ich bin viel jünger als die anderen und komme erst nächstes Jahr auf die Oberschule. Auf meiner Schule gibt es so was wie eine rebellische Clique gar nicht.“ „Und woher kennst du Kaoru?“ Shinya strich sich ein paar Haare aus der Stirn. „Die ist mein Nachbar“, erzählte er. „Und irgendwann hat er mitbekommen, dass ich Schlagzeug spiele. Da hat er mich angesprochen, ob ich nicht bei ihnen in der Band mitmachen will. Als Kaoru mich das erste Mal gesehen hat, hat er mich ausgelacht…“ Shinya lachte. „Ich versteh gut, wenn du dich noch etwas unwohl fühlst.“ „Es ist schon…“, fing ich an, aber Kyo unterbrach uns. Ihn und die anderen hatte ich total vergessen, während ich mit Shinya geredet hatte. „Hey!“, johlte er und man merkte, dass er schon einiges mehr intus hatte, als nur Sake. „Du musst dir noch einen Künstlernamen aussuchen!“ „Wieso?“, fragte ich. Kyo guckte mich an, als hätte ich gefragt, warum der Himmel blau ist. „Weil’s cooler ist“, sagte er. In der Hand hielt er eine Flasche mit durchsichtigem Inhalt. Ich ahnte, dass es kein Wasser war. „Ich hab auch keinen“, mischte Shinya sich ein. „Du bis auch nich cool!“, prustete Kyo, dann wandte er sich um und stolzierte zu Kaoru und Die zurück. „Komm“, sagte Shinya und wir folgten Kyo an den Tisch, den Kaoru und Die umgezogen waren. Als sie uns sahen, stand Kaoru auf und stieß mich auf den Stuhl. Er reichte mir eins von den Pinchen. „Auf dich!“, rief er und hob sein Glas. Ich traute mich nicht abzulehnen und kippte das Zeug, was immer es war, runter. Es schmeckte sehr eigenartig und brannte viel stärker und länger als die Sake. Shinya setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl und sagte nichts mehr. Ich trank noch ein Glas von dem durchsichtigen Zeug. Es verursachte eine angenehme Wärme im ganzen Körper und ein sehr merkwürdiges Gefühl im Kopf, ein bisschen wie Schwindel, aber nicht schlecht. Nach dem dritten Glas jedoch fühlte ich mich plötzlich gar nicht mehr wohl. Hinter meiner Stirn klopfte es und als ich aufstand, taumelte ich gegen Die. Der Raum drehte sich leicht. „Wollen wir nicht bald gehen?“, fragte ich. Keiner hörte es. Sie waren damit beschäftigt, immer mehr zu bestellen und zu trinken. Sie waren längst in ein anderes Universum entschwebt. „Shinya?“, fragte ich und klang ein bisschen verzweifelt. Shinya stand auf und winkte mir, ihm zu folgen. „Ich hab dir doch gesagt, übertreib’s nicht“, sagte er. „Vor allem, wenn du früher nie getrunken hast. Ist dir schlecht?“ „Geht“, sagte ich. Ich wollte auf keinen Fall, dass Shinya dachte, ein bisschen Alkohol würde mich schon umhauen. Leider war es aber so. „Ich bring dich nach Hause“, sagte Shinya. „Die anderen können sehen, wie sie nach Hause kommen.“ Die Tatsache, dass Shinya mich nach Hause bringen wollte, machte meine Lage nicht gerade erträglicher. Was er jetzt wohl von mir dachte? Schweigend liefen wir nebeneinander her. Es war schon recht spät, aber nicht dunkel. „Trink zu Hause viel Wasser“, meinte Shinya nach einer Weile. „So viel wie möglich, das hilft.“ Er musterte mich und schien zu bemerken, wie peinlich mir die ganze Sache war. „Hey!“, lachte er und stieß mich mit dem Ellbogen leicht an. „Das ist doch kein Weltuntergang, ich war auch schon mal betrunken!“ Ich sagte, ich hatte es nicht vermutet, woraufhin Shinya noch mehr lachte. Ich bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich standen wir vor unserem Haus. „Hier ist es“, sagte ich. Shinya betrachtete das Haus anerkennend. „Hübsch“, sagte er. „Also, nicht vergessen: Wasser trinken!“ Ich nickte. „Wir sehen uns dann am Freitag bei der Probe“, sagte er und mir fiel abermals nichts Besseres ein, als zu Nicken. Intelligent, wirklich. „Bis dann“, meinte Shinya noch, dann drehte er sich um. Aber kaum war er zwei Schritte gegangen, kam er wieder zurück und umarmte mich. Ich stolperte einen Schritt zurück, weil ich damit nicht gerechnet hatte. „Ich find’s echt toll, dass du bei uns bist!“, sagte er lächelnd. Dann ging er. Ich blieb noch einen Moment lang draußen stehen und fühlte mich leicht überrumpelt. Dann ging ich rein und ließ mich in meinem Zimmer aufs Bett fallen. Alles um mich herum drehte sich, aber es lag nicht am Alkohol, sondern daran, dass ich von dem ganzen Tag wie berauscht war. Sollte es letzten Endes wirklich mein Schicksal sein, Musik zu machen? Meine Aufgabe? Meine erste Band… Kaum zu glauben. Ich wurde nicht müde, mir die einzelnen Phasen des Tages immer wieder ins Gedächtnis zu rufen und vor meinem inneren Auge ablaufen zu lassen. Damals hatte ich zwar noch keine Ahnung, wie dieser Tag wirklich unser aller Leben beeinflusste, aber für mich war es der größte Schritt, den ich jemals getan hatte. Und Shinya… der war wirklich… nett. Toshiya ------- Die Meisten kennen mich heute unter dem Namen Toshiya. Der Vorschlag kam von Kyo, ein paar Tage nachdem ich in die Band aufgenommen worden war. Ich verbrachte die Pausen jetzt regelmäßig mit ihm, Kaoru und Die und nicht selten fragten meine Klassenkameraden mich darüber aus, was ich mit Kaoru redete, was wir machten und so weiter. Ich bekam heraus, dass die wildesten Gerüchte um ihn und seine Clique kursierten, unter anderem dass er im Biologieunterricht Haschisch züchtete, ein Verhältnis mit der Schulsekretärin gehabt hatte, die Lehrer bestach um bessere Noten zu bekommen und so weiter. Ich habe ihn danach gefragt – nichts davon stimmte. Aber immerhin hatten die Schüler eine blühende Fantasie. Wir standen wieder hinter dem Gebäude, als Kyo wieder von meinem Namen anfing. „Du brauchst irgendein Pseudonym“, sagte er und schnippte seinen Zigarettenstummel in meine Richtung. Er glimmte noch. „Irgendwas Cooles.“ „Schlag was vor“, sagte ich. „Lass mich nachdenken…“ Kyo verschränkte die Arme und schielte zu Kaoru. „Hast du noch ne Kippe?“ „Vergiss es“, sagte Kaoru. „Kauf dir selber welche.“ „Bitte!“, rief Kyo, „dann kann ich besser denken!“ „Zum Denken brauchst du keine Kippen, sondern Hirn“, stellte Kaoru fest. „Und du hast keins von beidem.“ Er lächelte Kyo gespielt mitleidig an. „Wieso willst du eigentlich unbedingt, dass ich meinen Namen ändere?“, fragte ich. Kyo zuckte mit den Schultern. „Irgendwann müssen wir uns alle mal ändern“, sagte er. „Und mit dem Namen anzufangen, ist doch nicht schlecht.“ Er sagte es ziemlich beiläufig, aber ich dachte, dass er gar nicht mal Unrecht hatte. Kyo dachte eine Weile nach, dann schnippte er plötzlich mit den Fingern und grinste. „Ich hab’s“, sagte er. „Toshiya.“ Ich wusste ehrlich nicht, was ich dazu sagen sollte. „Aha“, sagte ich endlich. „Wie kommst du jetzt darauf?“ „Ich bin eben ein Genie was das Erfinden von Namen angeht.“ „Ach, wirklich?“, fragte ich sarkastisch. „Nein“, sagte Kyo. „Aber der Hund meiner Großmutter hieß so. Und es klingt sogar so ähnlich wie dein Vorname. Also, seid ihr einverstanden?“ Die und Kaoru, die etwas abseits von uns standen, zuckten mit den Schultern. „Das ist seine Sache“, sagte Die. „Wenn er unbedingt so wie der Hund deiner Oma heißen will…“ Kyo schaute mich erwartungsvoll an und ich entschloss mich, nachzugeben, obwohl ich noch nicht besonders angetan davon war. Aber ich hatte mit etwas schlimmerem gerechnet. „Meinetwegen“, sagte ich und Kyo strahlte. „Perfekt“, sagte er und wandte sich noch mal an Kaoru und Die. „Also, ab heute nennen wir ihn Toshiya!“ Kaoru lachte. Es klang ein bisschen spöttisch. „Man, leg dir mal ein Hobby zu, bevor du anfängt, alle möglichen Leute umzutaufen!“ „Pah“, machte Kyo schnippisch. „Ich finde, für diesen genialen Geistesblitz hab ich mir noch ne Kippe verdient.“ Kaoru lachte laut auf. „Du machst Witze!“, sagte er. „Wenn du mir nen Nummer-Eins-Hit schreibst, kriegt du eine… Vielleicht.“ „Hey“, sagte Die plötzlich. „Wir haben noch was vergessen…“ Er sah mich stechend an, diabolisch lächelnd. „Was denn…?“, fragte ich vorsichtig. „Du weißt schon…“, sagte Die und tauschte einen schnellen Blick mit Kaoru. Dieser schien auch nicht zu wissen, worauf Die hinaus wollte. „Du weißt doch, was wir alle haben… Und was du nicht hast…“ „Hä?“ Die verdrehte die Augen. „Das Tattoo, man!“, sagte er. „Hab ich dir doch erzählt. Sogar Shinya hat es gemacht, also musst du auch!“ Ich schnappte nach Luft. Ich und ein Tattoo?! NIEMALS! „Nein!“, sagte ich energisch. „Den Namen, gut, gerne, aber ich lass mich nicht tätowieren!“ „Wieso nicht?“, mischte sich Kaoru jetzt ein. „Es tut nicht weh. Und du solltest es echt machen, du gehörst jetzt zu uns… Toshiya.“ Er grinste, als er meinen neuen Namen aussprach. „Aber, ich…“ „Doch!“, rief Kyo. „Mach das, wir kommen alle mit und du kriegst auch Shinya zum Händchenhalten.“ Er prustete los. Mein Gesicht wurde heiß. Nicht zuletzt wegen der Andeutung auf Shinya. „Ich will aber nicht!“ „Es muss ja nicht groß sein“, sagte Kaoru. „Und du kannst dir aussuchen, wo. Du musst es dir ja nicht auf die Stirn schreiben.“ Mir schwante, dass ich überhaupt keine Chance hatte. Je öfter ich nein sagte, desto mehr würden sie darauf bestehen, dass ich es machte. Und vielleicht reichte ja auch ein winziges Tattoo am Fußknöchel, wo niemand (vor allem nicht meine Mutter) es zu Gesicht bekam. Ein Tattoo, von dem niemand außer uns wissen würde, dass es existierte… Vielleicht war es gar nicht so schlimm. Und obwohl ich einen tierischen Horror davor hatte, seufzte ich und sagte: „Gut. Ich mach’s. Aber wenn ich dabei drauf gehe, zahlt ihr die Kosten für die Beerdigung!“ „Lass es dir auf den Arsch tätowieren und ich lass noch Rest with tattoo auf den Grabstein meißeln“, sagte Die. Wir vereinbarten, dass wir uns am nächsten Tag in Satorus Tattoo-Studio treffen würden, ich hatte also noch knapp vierundzwanzig Stunden Zeit um mich sowohl an den neuen Namen als auch an den Gedanken, demnächst tätowiert herumzulaufen zu gewöhnen. Am Abend kam meine Mutter mit dem Telefon in mein Zimmer. Sie hielt eine Hand auf den Hörer. „Für dich“, sagte sie. Dann hielt sie die Hand auf den Hörer und fragte: „Kennst du jemanden, der Terachi heißt?“ „Ja“, sagte ich. „Jetzt gib mir das Telefon.“ „Du hast mir deine neuen Freunde immer noch nicht vorgestellt“, sagte sie vorwurfsvoll. „Mach ich bald“, wehrte ich ab. „Darf ich jetzt bitte den Hörer haben?“ Mit einem Schnauben drückte sie mir den Hörer in die Hand und rauschte aus dem Zimmer. Ich zögerte einen Moment, ehe ich mich meldete. „Hey“, antwortete Shinya sofort. „Ich bin’s.“ Als ich seine Stimme hörte, war ich plötzlich seltsam aufgeregt. „Hey“, sagte ich. „Was gibt’s?“ „Ich hab gehört, du lässt dich wirklich morgen tätowieren“, sagte Shinya. „Ich hab’s den anderen nicht geglaubt.“ „Doch“, erwiderte ich. „Du willst eigentlich nicht, oder?“, fragte Shinya und ich fragte mich, ob er vielleicht Gedanken lesen konnte. „Na ja“, sagte ich. „Ich werd es überleben. Aber sag mal, woher hast du eigentlich meine Nummer?“ „Von Kaoru“, antwortete Shinya. „Ähm, was ich dich eigentlich fragen wollte…“ „Ja?“ Shinya räusperte sich. „Hast du Lust morgen nach dem Tätowieren mit zu mir zu kommen? Ich würd dir gerne was zeigen.“ „Äh, ja!“, sagte ich sofort. „Gerne.“ Es entstand eine kurze Pause. „Gut, dann bis morgen“, sagte Shinya und legte auf. Als ich den Hörer weg legte, fühlte ich mich für einige Sekunden leicht benebelt. Nicht wegen der Aussicht auf die Tätowiernadel. Es war das Gefühl, dass ich in Shinyas Anwesenheit immer hatte, und es gefiel mir nicht. Ganz und gar nicht. Aber das würde ich schon noch in den Griff bekommen. Den ganzen darauf folgenden Tag dachte ich darüber nach, wo ich mir das Tattoo stechen lassen sollte. Am Arm würde meine Mutter es spätestens im Sommer bemerken, genauso am Rücken oder auf der Schulter. Also am Besten doch am Fußgelenk. Der Vormittag verging wie im Flug. Nach der Schule trafen wir uns am Haupteingang und ich muss sagen, ich war echt tierisch aufgeregt. „Nervös?“, fragte Die und stieß mich leicht in die Seite. „Musst du nicht sein. Satoru ist ein Profi.“ „Er macht es übrigens umsonst“, sagte Kaoru. „Also, dieses eine Mal, weil wir seit Jahren befreundet sind und er uns supportet.“ „Wie denn?“, fragte ich. „Na ja, wenn wir irgendwann mal ein Logo haben will er es als Motiv anbieten und er kennt Leute, die T-Shirts und Buttons herstellen könnten… Er hat gesagt, die Namenstattoos kriegen wir geschenkt.“ Ich erwiderte nichts darauf. Der Weg zum Studio schien sich ewig hinzuziehen und als wir endlich da waren, schlug mir das Herz bis zum Hals. Wir betraten den kleinen, halbdunklen Laden. Ich schaute mich um: An den Wänden hingen Bilder mit Motiven, Fotos von tätowierten und gepiercten Leuten, zwei alte Poster von Rockbands. Ein Perlenvorhang versperrte die Sicht zu einem kleinen Hinterraum. Es roch leicht nach Zigarettenrauch. „Hallo!“, rief Kaoru. Der Vorhang raschelte und jemand kam auf uns zu, offenbar dieser Satoru. Bei seinem Anblick staunte ich nicht schlecht: Er hatte die ganzen Arme voller Tattoos, in jedem Ohr fünf Ohrringe und Piercings in Augenbraue und Lippe. Seine Haare waren schulterlang, schwarz und sahen fettig aus. Er umarmte der Reihe nach Kaoru, Die und Kyo, dann wandte er sich an mich und grinste. „Du bist Toshiya?“, fragte er und ich nickte. „Alles klar, dann wollen wir mal“, sagte er und winkte uns, ihm zu folgen. Wir gingen in den Hinterraum und mir fiel die Kinnlade runter: Auf einem Hocker unter einem Bild, das einen Drachen zeigte, der eine blutende Frau im Maul hielt, saß Shinya. Als er mich sah stand er auf und begrüßte uns. „Na endlich“, sagte er. „Ich bin schon eine halbe Stunde hier.“ Shinya passte optisch überhaupt nicht in den Raum. Er wirkte viel zu lieb und ordentlich für so ein Piercingstudio. Aber es war wie so oft: Der Schein trug. „Setz dich“, sagte Satoru und wies auf den Stuhl in der Mitte des Raumes. Ich nahm vorsichtig Platz. Mein Herz schlug immer schneller und ich wollte es nur schnell hinter mir haben. „Wo soll’s denn hin?“ „Ähm, ich dachte… am Fuß“, sagte ich. Satoru sah mich missbilligend an. „Aber da sieht es doch niemand.“ „Schon OK“, sagte Kaoru. „Ist ja nicht so wichtig, ob jeder es sieht oder nicht.“ Satoru seufzte und bat mich Socken und Schuhe auszuziehen und die Hose ein bisschen hochzukrempeln. Das tat ich. Ich versuchte irgendwo anders hinzusehen und mein Blick landete schließlich bei Shinya. Er lächelte mir aufmunternd zu. „Bleibt es dabei dass du gleich mit zu mir kommst?“, fragte er nach einer Weile. „Ja klar, warum auch… Au!!“ Ich zuckte zusammen, als die Nadel meine Haut berührte. Ich klammerte mich an der Armlehne des Stuhls fest und wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass der pieksende Schmerz endlich nachließ, als ich plötzlich Shinyas Hand auf meiner spürte. Ich öffnete halb überrascht, halb erschrocken die Augen und sah, dass er mit dem Daumen sanft über meinen Handrücken strich. Mir blieb die Luft weg. „Tut’s weh?“, fragte Shinya und tat, als wisse er überhaupt nicht, was er gerade tat. „Tut’s weh?“, fragte Shinya. „Ich hab es irgendwie nicht sehr schmerzhaft in Erinnerung…“ „Geht“, sagte ich mit zusammen gebissenen Zähnen. „Nicht so schlimm wie ich dachte.“ Shinya lächelte immer noch und ich merkte, wie mein Herz noch mal schneller zu schlagen begann. Und dann war es plötzlich vorbei und Satoru meinte, ich könne wieder aufstehen. An die ganze Prozedur kann ich mich so gut wie gar nicht erinnern. Es war so schnell vorbei und war einfach nur erleichtert. Vorsichtig lugte ich auf meinen rechten Fuß und was ich sah, gefiel mir sogar: Etwas oberhalb vom Knöchel prangte mein Name, in schlichtem schwarz. „Sieht cool aus“, sagte Shinya. „Ja“, sagte ich. Meine Stimme zitterte leicht. „Danke.“ „Kein Ding“, sagte Satoru. „Du weißt ja, dass du mir in den nächsten Ferien die Lippe durchstechen musst, oder?“, fragte Kyo. Er war plötzlich ganz hibbelig. „Vergiss es.“ „Warum nicht?“ Während Satoru seine Utensilien wegpackte, klebte Kyo wie Kleister an ihm. „Bitte! Meine Eltern sind dann nicht da und können es nicht verbieten!“ „Und wenn sie zurück kommen, machen sie mich dafür verantwortlich“, sagte Satoru. „Nein danke.“ „Komm“, sagte Kaoru und packte Kyo am Handgelenk. „Wir wollen dann gehen.“ Er schleifte den protestierenden Kyo hinter sich her. „Danke noch mal“, sagte ich schnell zu Satoru, ehe ich den Laden verließ. „Und, war es so schlimm?“, fragte Kaoru draußen. Ich schüttelte den Kopf. „Na siehst du“, grinste Die. Shinya lächelte mir zu. Kyo regte sich derweil darüber auf, dass Satoru ihn nicht piercen wollte. „Gib’s auf, du bist eben noch nicht volljährig“, sagte Kaoru. „Ihr werdet’s schon sehen, wenn er’s nicht macht, mach ich es alleine!“, fluchte Kyo. Diese Vorstellung ließ mich erschaudern, aber Kaorus einziger Kommentar dazu war: „Filmen, bitte!“ So kam ich also zu meinem ersten Tattoo und ich war ziemlich stolz auf mich, dass ich das überstanden hatte. Ich spielte schon mit dem Gedanken, mir irgendwann noch eins machen zu lassen, als Shinya plötzlich sagte, wir müssten jetzt links. „Hä? Du wohnst doch ganz woanders“, sagte Kyo. „Er kommt noch zu mir“, erwiderte Shinya. „Achso“, grinste Kyo. „Na dann…“ Er stieß Die in die Seite und beide fingen an zu kichern. „Aber macht keine bösen Sachen!“, prustete Kyo und er und Die bogen sich vor lachen. „Kriegt euch ein“, sagte Kaoru. „Bis morgen.“ Er drehte sich um und zog Die hinter sich her, Kyo blieb stehen und grinste immer noch. „Schönen Abend noch“, säuselte er mit einem unüberhörbar zweideutigen Unterton in der Stimme, ehe er Kaoru und Die hinterher lief. Shinya verdrehte die Augen, dann winkte er mir ihm zu folgen. Schweigend lief ich neben Shinya. Kyos Worte spukten mir im Kopf herum und da ich mir sowieso schon extrem viele Gedanken über die seltsame Nervosität in Shinyas Gegenwart machte, kamen sie mir mehr als ungelegen. „Sag mal… Wieso machen sie diese Andeutungen?“, fragte ich vorsichtig. Shinya zögerte einen Moment, ehe er antwortete. „Ach… Sie denken, nur weil ich… weil ich ein bisschen weniger männlich aussehe als sie, bin ich schwul oder so was.“ Er grinste mich an. „Keine Sorge, ich bin ganz normal. Nimm sie nicht so ernst.“ „Nein, mach ich schon nicht“, sagte ich schnell und bemühte mich auch zu lachen. Zwei Meter weiter blieb Shinya plötzlich stehen. „Glaubst du jetzt etwa auch dass ich schwul bin?“ „Wa… Nein!“, sagte ich irritiert. „Wieso sollte ich?“ Er zuckte mit den Schultern. „Du warst grad so komisch.“ „Tut mir Leid“, sagte ich. „Keine Sorge, ich denk nur das Beste von dir.“ Er grinste. Wir gingen langsam weiter und sagten nichts mehr, bis wir vor Shinyas Haus ankamen. Mit dem Aufzug fuhren wir in den dritten Stock. Als Shinya klingelte, öffnete uns eine recht kleine, freundlich lächelnde Frau mit leicht welligem Haar und einem Topflappen in der Hand. „Meine Mutter“, sagte Shinya grinsend. „Hallo“, sagte ich und verbeugte mich. „Schön Sie kennen zu lernen.“ Sie strahlte mich an. „Kommt rein“, sagte sie. Ich zog meine Schuhe aus und folgte Shinya und seiner Mutter ins Wohnzimmer. „Habt ihr Hunger?“, fragte sie. „Ich mache grade das Essen.“ Shinya sah mich an und ich zuckte mit den Schultern. „Später“, sagte er. „Wir gehen erstmal in mein Zimmer rüber.“ Sein Zimmer gefiel mir auf den ersten Blick: An den Wänden hingen zwei Poster von X, auf Wandregalen standen etliche Manga, Zeitschriften stapelten sich überall auf dem Boden. Unter dem Fenster stand eine Palme in einem roten Keramiktopf, der Teppich war ebenfalls rot. „Setz dich“, sagte Shinya. Ich setzte mich aufs Bett und wusste nicht was ich sagen sollte. Shinya setzte sich mir gegenüber auf den Boden. Er sah ein bisschen verlegen aus. „Ähm…“ Irgendwas musste ich doch sagen! „Ja?“ „Wo hast du eigentlich dein Tattoo?“, fragte ich. Shinya stand auf und setzte sich neben mich. „Hier.“ Er hob sein T-Shirt an und drehte sich ein Stück zur Seite: Etwas oberhalb vom Hüftknochen stand sein Name. Er ließ das T-Shirt wieder fallen und lächelte. Eine Weile saß ich nur da und schaute ihn an, bis mir plötzlich klar wurde, dass ich wirklich nur dasaß und ihn anstarrte. „Äh… Was wolltest du mir eigentlich zeigen?“, fragte ich schnell. Shinya hörte auf zu lächeln. „Warte.“ Er ging zum Schrank und kramte etwas hervor: Eine silberne Box aus Blech. Er öffnete sie und holte ein paar Blätter heraus, sah sie durch und reichte mir dann eins. Es war mit einer sehr zierlichen und gut lesbaren Schrift beschrieben. Ganz oben stand das Wort hotarubi. „Ein Songtext?“, fragte ich und er nickte. „Lies“, forderte er und reichte mir ein Blatt. Ich las den Text durch und als ich fertig war, merkte ich, dass ich beim Lesen eine Gänsehaut bekommen hatte. „Hast du den geschrieben?“, fragte ich und sah wieder auf das Blatt. „Ja“, sagte Shinya. „Wie findest du’s?“ „Schön“, sagte ich leise. „Wirklich, du… kannst toll schreiben.“ „Danke.“ Shinya lachte verlegen. „Ich mein das ernst“, sagte ich. „Na ja…“, murmelte Shinya, „ich hoffe, dass wir es vielleicht irgendwann… spielen können.“ „Bestimmt. Hast du Kaoru den Text mal gezeigt?“ „Nein.“ „Warum nicht?“, fragte ich. „Er könnte sich dazu eine Melodie einfallen lassen und… dann würden wir es spielen.“ „Ich weiß nicht… Ich glaub nicht, dass er es mag. Die bisherigen Texte hat alle Kyo geschrieben. Es sind auch nicht viele, drei oder vier oder so. Aber Kyo schreibt total anders, viel aggressiver.“ „Heb es auf jeden Fall auf“, sagte ich. „Irgendwann solltest du ihm den Text wirklich zeigen.“ Shinya nickte und schwieg. Ich überflog den Text noch einmal und plötzlich wünschte ich mir nichts mehr, als Kyo diese Zeilen singen zu hören und dazu zu spielen. „Sag mal…“ Ich stand auf und setze mich neben ihn. „Warum hast du es ausgerechnet mir gezeigt? Ich meine… Wir kennen uns doch kaum.“ „Na und?“, sagte Shinya. „Ich wollte es dir halt zeigen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass du mich nicht deswegen auslachen würdest. Du bist nicht so wie Kaoru und Die und Kyo. Du bist ruhiger und nicht so abgedreht.“ Er lachte. „Ist doch egal wie lange wir uns kennen, oder? Ich mag dich, Toshi… Toshiya“, fügte er hinzu. „Du musst mich nicht so nennen“, sagte ich. „Ich glaub es wird eine Weile dauern, bis ich mich an den Namen gewöhnt hab.“ „Am Anfang hat Kyo auch versucht mich zu einem Künstlernamen zu zwingen“, sagte Shinya. „Aber… Irgendwann hat er es aufgegeben. Bin ich auch sehr froh drüber.“ Ich nickte. Mir fiel plötzlich auf, dass Shinyas Haare unglaublich weich aussahen. „Wann musst du eigentlich zu Hause sein?“, fragte er plötzlich. Ich schrak richtig zusammen. „Ähm, wie spät ist es denn?“, fragte ich hektisch. „Kurz nach fünf.“ „Dann sollte ich vielleicht besser gehen“, sagte ich im Aufstehen. „Das sollte keine Aufforderung zum Gehen sein“, sagte Shinya. „Nein, ich sollte zu Hause sein bevor es dunkel wird“, sagte ich schnell und war schon auf dem Weg ins Wohnzimmer. Hastig verabschiedete ich mich von Shinyas Mutter, dann eilte ich weiter in den Flur und zog meine Schuhe und Jacke an. Ich weiß wirklich nicht, warum ich plötzlich nur noch weg wollte. Shinya holte mich ein. „Schade, dass du schon gehst.“ Seine Stimme klang kalt. „Tut mir Leid“, sagte ich und richtete mich auf. Wir sahen uns an. Zwischen uns war ein Abstand von vielleicht zehn Zentimetern. Shinya hob die Hand und einen kurzen Moment lang dachte ich, dass er mein Gesicht berühren wollte, aber dann klopfte er mir nur kurz auf die Schulter. „Komm gut nach Hause.“ „Danke“, sagte ich. „Machs gut.“ Und dann ging ich. Im Treppenhaus, im Aufzug, draußen: Überall schien Shinyas Name in der Luft zum schweben und meinen Kopf auszufüllen. Was war mit mir los? Die Nervosität in Shinyas Nähe, die Art wie ich ihn manchmal ansah, wie mir an ihm Dinge auffielen, die mir nie an jemandem aufgefallen waren, etwa wie weich seine Haare aussahen, das Herzklopfen das ich bekam, wenn er lachte… War das noch normal? In meinem Unterbewusstsein wusste ich es natürlich… Ich war weder blind noch dumm. Ich wusste es, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Dazu war es noch zu früh. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass ich Shinya von der ersten Sekunde an geliebt habe. *~*~*~*~*~*~* Das wars fürs Erste... Ich hab im Moment so eine Durchhängerphase und ehrlich gesagt keine Lust zu schreiben. Aber einschlafen wird dieses Geschichte garantiert nicht XD Wird ja immerhin höchste Zeit, dass die ganze Wahrheit auf den Tisch kommt *hust* Ich würde mich sehr über Feedbacks freuen, ich selbst habe teilweise immer noch das beklemmende Gefühl, einfach nicht die richtigen Wörter gefunden zu haben (etwas was mich irgendwann in den Wahnsinn treiben wird!). Hoffentlich hat es euch bis hierhin gefallen, das würde mich freuen!! In den nächsten Teilen wird es auch bei Shin und Totchi endlich ein bisschen heißer hergehen... Aber das werdet ihr dann ja (hoffentlich) lesen^^ Bis dann! Hochachtungsvoll... XD Ryuichi Death Mask ---------- Der April ging zu Ende und ebenso der Mai. Wir trafen uns zu dieser Zeit drei bis viermal die Woche um zu proben. Während der Proben schien es, als würden wir alle zu anderen Menschen werden: Kaoru, sonst eher chaotisch und ein bisschen verrückt wurde ernst, ehrgeizig und nicht müde uns daran zu erinnern, dass die Band für uns immer die Nummer 1 sein musste. Bei Die war es ähnlich. Die war bzw. ist ein Perfektionist, wie ich schnell merkte. Alles musste perfekt sein, fast perfekt gab es nicht, allerdings nur was die Musik betraf. Kyo ging total in seinen Liedern auf, was mich sehr faszinierte. Auch er war sonst eher der Draufgängertyp, einer, der am Liebsten seine harte Seite zeigte. Aber wenn er sang kamen seine Gefühle durch, das sah man an seinen Gesichtsausdrücken. Einmal als wir einen Song von X coverten beobachtete ich, wie er sich zweimal unauffällig mit dem Handrücken über die Augen wischte. Ich habe selten einen so emotionalen Sänger erlebt wie Kyo - und er war damals sechzehn. Und dann Shinya… Ich weiß nicht, ob ihm je aufgefallen ist, wie ich ihn beim Spielen beobachtet habe. Es beeindruckte mich immer wieder, wie dieser zierliche und körperlich kaum stark wirkende Junge solche Töne aus den Drums herausholen konnte. Ich stand immer gerne in seiner Nähe. Manchmal schloss er beim Spielen die Augen und ließ sich völlig von der Musik wegtragen, irgendwohin. Ich habe Shinya nie gefragt, was ihm damals beim Spielen durch den Kopf ging. Er sah immer unglaublich aus. Einmal trafen sich unsere Blicke, er schaute mich an, so durchdringend und mit einem so einzigartigen Gesichtsausdruck, dass ich prompt meinen Einsatz verpasste. Kaoru sah mich böse an und als wir weiter spielten und ich noch einmal vorsichtig in Shinyas Richtung schielte sah ich, dass er lächelte. Die ersten zwei Monate die ich in der Band war, nutzten wir um uns aneinander anzupassen. Als wir dann Anfang Juni der Meinung waren das einigermaßen geschafft zu haben, begannen wir, die nächsten Schritte zu planen. Heute kennt man uns unter dem Namen Dir en grey, aber wir hießen nicht immer so. Unser erster Name entstand an einem verregneten Nachmittag, an dem Kyo kein Geld hatte um sich ein U-Bahn-Ticket zu kaufen und wir keins hatten, das wir ihm leihen konnten. „Fuck“, murmelte Kyo. „Ihr solltet doch ohne mich fahren. Ich kann bis nächsten Mittwoch Geld auftreiben, aber heute geht’s einfach nicht.“ „Nein“, sagte Kaoru. „Wir haben die letzten zwei Tage jeweils vier Stunden geprobt… Wir können heute auch mal abschalten.“ „Mach dir keinen Vorwurf“, sagte Shinya, aber wir sahen Kyo an, dass er es doch tat. Wir saßen bei Die zu Hause im Wohnzimmer, draußen regnete es in Strömen und keiner von uns hatte eine Idee, was wir machen könnten. „Sollen wir pokern?“, fragte Kyo. Da aber niemand von uns pokern konnte, ließen wir es sein. Es herrschte gähnende Langeweile. Die hatte den Fernseher eingeschaltet, aber keiner von uns schaute wirklich hin und mitten in dieser Langeweile erinnerte ich mich plötzlich an die Frage, die ich seit Ewigkeiten hatte stellen wollen. „Kaoru?“ Kaoru murmelte eine unverständliche Antwort. „Sag mal… Was ist eigentlich mit einem Bandnamen?“, fragte ich. Kaoru öffnete die Augen. „Wie?“ „Ein Name“, wiederholte ich. „Wir können doch nicht namenlos bleiben. So werden wir nie berühmt.“ „Wir werden so oder so nicht berühmt werden“, knurrte Kaoru. „Aber irgendwie… hast du Recht.“ Er hüllte sich wieder in Schweigen. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass Kaoru wetterfühlig ist. Wenn es regnet, ist seine Laune im Keller. Wenn die Sonne scheint, ist er total abgedreht. Wir waren oft ziemlich genervt davon. „Hallo, Leader?“ Die stieß Kaoru mit dem Fuß an. „Vielleicht sollten wir wirklich endlich über den Namen nachdenken. Wieso haben wir eigentlich keinen?“ „Weil wir noch nie ernsthaft drüber nachgedacht haben“, erklärte Kaoru gelangweilt. „Und eine Möglichkeit aufzutreten hatten wir auch nicht. Weißt du doch. Also… Meinetwegen, hat jemand Vorschläge?“ „Hm, vielleicht… X 2?“, fragte Kyo. „Das wäre eine Kopie“, sagte Kaoru. Er sah aus dem Fenster, sein Blick war etwa so finster wie der Himmel. „Vielleicht was ausländisches“, sagte Shinya. „Französisch oder Deutsch zum Beispiel.“ „Ein Name sollte eingängig sein, und jeder sollte ihn verstehen“, murmelte Kaoru. „Also… vielleicht hat jemand einen konstruktiven Vorschlag?“ „Wie wär’s mit The Band without a Name?“, fragte Kyo. Wir schüttelten den Kopf. „Hat deine Oma nicht noch irgendeinen Hund mit einem stylischen Namen?“, fragte Die. Kyo schüttelte den Kopf. „Sie hatte aber noch einen Wellensittich, der hieß Paul.“ „Warum Paul?“ Kyo zuckte mit den Schultern. „Mein Großvater war mal in Deutschland, geschäftlich, und da hat er einen kennen gelernt, der Paul hieß. Wollen wir Paul heißen?“ „Nein“, sagte Kaoru entschieden. „Wollen wir nicht.“ Es entstand eine lange Pause. Die griff nach einer Weile nach der Fernbedienung und schaltete um. Er zappte kurz die Kanäle durch und landete schließlich auf einem Musiksender. Eine thailändische Heavy-Metal-Band fetzte über die Bühne. Alle trugen seltsame Masken, die die Musiker tot aussehen ließen. „Interessante Bühnenshow“, kommentierte Kaoru. Shinya sah auf. „Das sind Totenmasken“, sagte er. Kyo betrachtete die Masken eine Weile und sagte dann nachdenklich: „Wär das nicht ein Name? Death Mask?“ Stille. Wir brauchten eine Weile um darüber nachzudenken, aber niemandem fiel ein Argument ein, das dagegen sprach. Es war nicht der außergewöhnlichste Bandname den man je gehört hatte, aber irgendwie gefiel er uns. „OK“, sagte Kaoru. „Ab sofort heißen wir Death Mask.“ Er hörte sich immer noch gelangweilt an. „Weißt du was?“, fragte Die. „Hm?“, machte Kaoru desinteressiert. „Leute die wetterfühlig sind“, erklärte Die, „pissen mich echt total an.“ „Hm“, machte Kaoru noch einmal. So kamen wir zu unserem ersten Namen. Shinya war nicht besonders begeistert davon, da es seiner Meinung nach nichts Besonderes war. „Jede x-beliebige Band kann sich Totenmaske nennen“, sagte er einmal zu mir. „Es klingt nach Metal, nicht nach zweitklassigem Rock mit Ich-reiß-mir-die-Organe-raus-Texten und Coverversionen. Das was wir machen ist kein Metal, der Name beschreibt uns, unsere Musik, einfach nicht.“ Da aber keinem von uns ein annehmbarerer Titel einfiel und Kaoru nicht diskutieren wollte, blieb es vorerst dabei. Kyo hatte damals übrigens tatsächlich einen Text in dem es um einen Typ ging, der besessen war und sich die Organe aus dem Leib riss. Kaoru weigerte sich dazu einen Song zu machen. Kyo hatte den Text geschrieben, nachdem er mit zwölf einen Splatter gesehen hatte, anscheinend um das Gesehene zu verarbeiten. Die anderen Texte von ihm waren besser, aggressiv, aber nicht schlecht. Shinya weigerte sich nach wie vor Kaoru von seinen Texten zu erzählen und ich konnte ihn nicht dazu zwingen. Neunzig Prozent der Songs die wir spielten, waren gecovert, aber wir gaben uns Mühe, einige eigene Stücke zu schreiben. Keine Meilensteine, keine Hits, nicht einmal besonders einfallsreiche Melodien, aber wir gaben unser Bestes. Es dauerte eine ganze Weile, fast den ganzen Sommer um genau zu sein, bis wir unser Repertoire an eigenen Songs auf zwölf erweitert hatten, mit denen wir zufrieden waren. Wir mussten einsehen, dass wir keine zweiten X waren und unsere Ansprüche etwas herunterschrauben mussten. Im Schreiben eigener Songs war keiner von uns geübt und für wirklich großartige Songs fehlte uns schlichtweg die Erfahrung. Dadurch dass wir unsere Ansprüche weniger hoch stellten, schafften wir es immerhin die zwölf Songs zu schreiben, die uns am ehesten akzeptabel und publikumstauglich vorkamen. Als Kaoru das erste Mal von publikumstauglich sprach, waren wir alle mehr oder minder geschockt. Und unsicher. „Bist du sicher, dass wir das Zeug dazu haben?“, fragte Die. Kaoru warf ihm einen giftigen Blick an. „Ich jedenfalls fahre ich nicht dreimal pro Woche in diesen verfluchten Barkeller, nur um dann nicht das Zeug dazu zu haben, vor Publikum zu spielen“, sagte er. Aus seinem Tonfall ging deutlich heraus, dass Widerworte absolut unerwünscht waren. Er war gereizt. „Hast du dich denn mal umgehört, wo es Möglichkeiten gäbe?“, fragte Shinya. Ich sah zu ihm. Er wirkte nervös, drehte die Drumsticks in den Händen und biss sich auf die Unterlippe. „Sicher“, sagte Kaoru. „Aber es hat sich bis jetzt nichts ergeben.“ „Wenn wir Vorband von X werden können, reicht das vollkommen aus“, sagte Kyo sarkastisch. „Haben die vom Tokyo Dome sich immer noch nicht gemeldet? Wenn nicht, sag dem Termin in der Budokan endlich zu.“ Kaoru verdrehte die Augen. „Was soll das?“, zischte er. „Du weißt genau, dass ich die Vorraussetzung stelle, 100% für die Band zu geben, also gib mir bitte das Gefühl, dass du das auch tust!“ Shinya zog scharf die Luft ein. Wir wussten alle, dass das kein gutes Ende nehmen würde, denn Kaoru hatte Kyos wunden Punkt getroffen. „Erzähl mir nicht, wie ich mich zu verhalten habe!“ Kyo, der vorher auf einem alten Barhocker gesessen hatte, war aufgesprungen und funkelte Kaoru wütend an. „Du bist nur unser Bandleader, weil du von Anfang an gesagt hast, den ganzen organisatorischen Kram würdest du übernehmen, und weil du es bist, der sich von uns am Meisten wie ein Diktator aufführt, nicht weil du mehr Einsatz zeigst als wir!“ „Wenn du meinst, dass du es besser kannst, dann mach du es doch!“, warf Kaoru zurück. „Ein Tag mit dir als Leader, und wir können einpacken!“ „Leute, das hat doch keinen Sinn“, sagte Die. „Wir sind alle gerade etwas angespannt, aber…“ „Angespannt?“ Kyo spuckte das Wort regelrecht aus. „Und noch mal, Kao, wenn du meinst ich wäre nicht gut genug hierfür, dann sag es mir sofort und ich gehe!“ „Wenn du gehen willst, hält dich niemand auf!“, schrie Kaoru. „Schön“, Kyo ging zielstrebig auf die Tür zu. „Wenn du dir einbildest, du seiest hier der Einzige, der 100% gibt, dann irrst du dich gewaltig“, sagte er gefährlich leise. „Es würde dir nicht mal reichen, wenn wir 200% geben würden!“ Kaoru explodierte. „Halt verdammt noch mal die Fresse Kyo!“ „Lern du erstmal richtig deinen Job zu machen!“, schrie Kyo zurück und knallte die schwere Tür hinter sich zu. Der Knall war so gewaltig, dass wir dachten, das Gebäude würde einstürzen. Das Echo hallte sekundenlang in unseren Ohren nach, der Raum schien zu zittern. Keiner von uns sagte ein Wort. „Ah… Kao…“ Die machte ein paar Schritte in Kaorus Richtung, aber dieser brachte ihn mit einer Handbewegung zu Stehen. „WEHE“, sagte er langsam und betont, „es spricht mich jetzt einer an.“ Damit verließ er den Raum, knallte die Tür mit noch mehr Kraft zu als Kyo. Wir hörten seine Schritte auf der Treppe. „Ich geh ihm besser nach“, sagte Die. „Sonst macht er noch irgendwas, was er später bereut…“ Er bemerkte meinen verunsicherten Blick. „Mach dir ma keine Sorgen“, er grinste. „Er hat manchmal solche Ausraster. Besser ich rede ich jetzt mit ihm, als dass ich ihn nachher besoffen nach Hause schleifen muss. Hatten wir alles schon.“ Ich nickte nur kurz. Kaorus und Kyos Streit war recht eindrucksvoll gewesen, vor allem da sie beide sehr laute und kraftvolle Stimmen hatten. Ich wünschte mir nur, dass keiner der Beiden mich je so anschrie. Man konnte echt Angst bekommen, wenn man es nicht gewohnt war. Die Tür fiel ein drittes Mal, diesmal leiser, ins Schloss, und plötzlich war ich mit Shinya allein im Proberaum. Shinya lehnte lässig an der Wand, die Hände in die Hosentaschen geschoben und sah mich wartend an. Sein Ausdruck war unergründbar. „Ich hoffe, er kriegt sich bald wieder ein“, sagte ich, um irgendwas zu sagen. Shinya nickte. „Aber es ist wie Die schon sagte, er fängt sich genauso schnell wieder wie er ausrastet. Aber plötzlich haben wir gute Chancen, wirklich einen Auftritt zu bekommen… In den letzten Monaten haben wir uns unheimlich viel weiter entwickelt. Vielleicht ist das einfach zu viel für ihn.“ „Er ist ein seltsamer Typ“, sagte ich. Shinya grinste mich an und sofort bereute ich, das gesagt zu haben. „Also, er ist nicht…“ „Schon gut“, sagte Shinya. „Es stimmt schon, Kaoru ist Exzentriker. Aber er ist vor allem unglaublich ehrgeizig. Er hat sich halt in den Kopf gesetzt, irgendwann mal zu den ganz Großen zu gehören… Und daran hält er fest.“ Ich ging langsam zu Shinya und lehnte mich neben ihm gegen die Wand. „Er spricht nie darüber, warum er es so unbedingt will, oder wieso er überhaupt angefangen hat Musik zu machen. Er war schon in der Grundschule sehr rebellisch, er hat sehr viel Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen und er sagt jedem seine Meinung ins Gesicht. Er hätte Macht über die anderen haben können, aber er wollte keine Macht. Er wollte lediglich Ansehen. Er färbte sich die Haare und kaufte sich schließlich die Gitarre. Als er auf diese Schule hier kam, fing er an, seine Uniform zu bemalen und zu zerschneiden. Privat ist er immer schon etwas abgedreht rumgelaufen.“ Shinya machte eine Pause, holte tief Luft. „Woher weißt du das alles?“, fragte ich. „Du scheinst ihn unheimlich gut zu kennen.“ Shinya zuckte mit den Schultern. „Einiges hat er mir selbst erzählt, den Rest weiß ich von Die und Kyo. Die kennt ihn ja schon fast sein Leben lang, die zwei hingen schon im Kindergarten zusammen. Kyo haben sie erst hier auf der Schule kennen gelernt, er war vorher immer ein Einzelgänger, weil er noch exzentrischer ist als Kao. Er hat einigen wohl manchmal mit seinem Hang zum Makabren Angst gemacht und damit, dass er so auf hart tut… Dabei ist er so ein emotionaler Mensch, wenn man ihn kennt.“ „Ich weiß“, sagte ich, „ich hab ihn beim Singen beobachtet.“ „Viele haben vielleicht ein falsches Bild von ihm“, sagte Shinya nachdenklich. Er betrachtete seine Schuhspitzen, als gäbe es nichts Spannenderes. „Er, Die und Kaoru sind alle sehr emotionale Persönlichkeiten“, fuhr Shinya fort. „Auch wenn sie es nicht gerne zeigen. Ich denke, dass sie deshalb Musik machen, um einfach die überspielten Gefühle raus zu lassen.“ Es hörte sich wie ein Monolog an und ich fragte mich, ob Shinya vergessen hatte, dass ich noch neben ihm stand. „Und du?“, fragte ich nach einer Weile. „Warum hast du angefangen?“ Shinya sah auf und es hatte wirklich den Anschein, als sei er innerhalb der letzten Minuten in ein völlig anderes Universum entwichen. Dann lächelte er. „Um ein paar angestaute Aggressionen loszuwerden“, grinste er. „Unter anderem. Das Schlagzeug hat mich immer schon fasziniert, weil es so aussagekräftig ist… Es kann gefühlvoll sein und leise, es kann Spannung innerhalb der Stücke erzeugen und es kann laut sein wie Donner… Viele Stücke würden sich ohne Schlagzeug ganz seltsam anhören. Es ist sehr ausschlaggebend für den Charakter eines Stücks.“ Shinyas Worte hatten meine Knie in Wackelpudding verwandelt. Seine Augen funkelten und ich wünschte mir, dass er weiter redete, meinetwegen noch Stunden. „Wie war es bei dir?“, fragte er stattdessen. „Ich hab eine Live-Band gesehen… Und ich wusste irgendwie Das ist es, was du auch machen willst. Eigentlich wollte ich Gitarre lernen, aber dann dachte ich Bass sei leichter, weil er nur vier Saiten hat.“ Shinya lachte sein perlendes Lachen. „Ein bisschen Bass spielen kann ich auch“, sagte er. „Aber nicht so gut wie du.“ Ich lachte nervös. „Ähm, willst du mal?“, fragte ich. „Klar“, sagte Shinya sofort, „wenn ich darf.“ Ich holte meinen Bass aus der Tasche und reichte ihn an Shinya. Er legte sich den Gurt um und setzte sich auf den Barhocker. „Halt ich das Teil richtig?“, fragte er und ich nickte. „Warte mal… Mein Cousin hat mir mal den Anfang von kurenai gezeigt…“ Unsicher suchte Shinya auf dem Griffbrett herum, schlug ein paar Töne an. „Geht das so?“, er lachte. „Ja“, sagte ich anerkennend. Er spielte noch ein bisschen weiter, dann hörte er auf. „Weiter komm ich nicht“, lachte er. „Warte“, sagte ich. „Ich kann kurenai eigentlich auch, nur… ich kann die einzelnen Töne nicht benennen. Ich spiel das ohne nachzudenken.“ Ohne zu wissen was ich tat trat ich hinter Shinya und nahm ihm das Plek aus der Hand. Ich zögerte einen Moment, dann fing ich da an, wo er aufgehört hatte und spielte das Stück weiter. „OK, ich versuchs mal…“, murmelte Shinya. Die Tatsache, dass ich so dicht hinter ihm stand, dass ich die Härchen auf seinem Nacken hätte zählen können, schien ihn nicht zu interessieren. „So?“ Seine Hand ruhte auf dem Griffbrett. „Du bist auf der B-Seite“, sagte ich. „Und dann musst du ziemlich schnell wechseln… Ein Bund höher.“ Ich legte meine Hand auf Shinyas. Sie war ganz weich. Vorsichtig schob ich sie in den richtigen Bund, brachte seine Finger in Position. „Hier“, sagte ich leise. Shinya strich mit dem Plek über die Seiten ohne hinzusehen, seine Finger verrutschten wieder, aber das machte nichts. Ich hielt seine Hand immer noch fest. Keiner von uns sagte was. Hätte Shinya den Kopf gedreht und mich angesehen, hätten unsere Gesichter sich berührt, aber er schaute fest auf den Boden. Ein Schauer rieselte meinen Rücken runter. Die Situation war mit nichts vergleichbar, was ich je erlebt hatte. „Toshi?“ Er hob den Kopf etwas und stieß mit der Stirn gegen meine Nase. Sah mir unendlich lang tief in die Augen. Ich glaubte wirklich, dass er mich jeden Moment küssen würde, aber dazu kam es nicht. Auf der Treppe waren Schritte zu hören und ich machte erschrocken einen Satz zurück. Shinya blieb etwas verdattert mit meinem Bass auf dem Schoß auf dem Barhocker sitzen. Sekunden später erschien Die auf der Bildfläche. „Kaoru hat sich eingekriegt“, sagte er. Er sah erschöpft aus. „Kyo ist nach Hause und da will ich jetzt auch hin, also raus hier oder ich schließ euch ein. Was macht ihr hier eigentlich?“ Er wedelte ungeduldig mit dem Schlüsselbund. „Los jetzt, zu Hause warten Sake und ein paar Kippen auf mich.“ Ich beeilte mich, mein Instrument einzupacken, darauf achtend, Shinyas Blicken zu entgehen. Es war zwar nichts gewesen, aber es hatte spürbar geknistert. Das hätte ein Blinder gesehen. Nachdem Die sich von uns verabschiedet hatte, liefen wir schweigend nebeneinander her. Als wir an die Kreuzung kamen, wo auch wir uns trennen mussten, umarmte Shinya mich ziemlich lange. Als er mich losließ, lächelte er. „Ciao“, sagte er leise, dann drehte er sich um und ging. Ich sah ihm nach, bis er außer Sichtweite war. Den Rest des Weges schlich ich nach Hause, verschwand dort sofort in meinem Zimmer und wollte nicht gestört werden. Vor meinem inneren Auge ließ ich die Situation noch mal ablaufen, und noch mal, und jedes Mal ein bisschen weiter, bis ich mir schließlich vorstellte, wie Shinya mich küsste. Völlig absurd. Er hatte mir nach den komischen Andeutungen von Kyo und Die noch gesagt, er sei ganz normal und absolut nicht homosexuell. Und ich war es auch nicht. Shinya war ein toller Mensch, aber verliebt? Niemals. Und es war ja nichts gewesen. Die reine Vorstellung hieß nicht, dass ich wirklich schwul war. Es war nichts passiert, worüber ich mir den Kopf zerbrechen musste. Am Wochenende und am Montag hörte ich nichts von Shinya. Als wir uns Dienstag vor dem Proberaum trafen, begrüßte er mich wie immer, auch wenn ich mir einbildete, dass irgendwas Neues in seinem Ausdruck war. Irgendwas unergründliches, ein seltsames Leuchten in den Augen, ein minimales Zucken der Mundwinkel, ich kann es nicht erklären. Kaoru erschien an diesem Tag zu spät zur Probe. Niemand, nicht mal Die, wusste, wo er steckte. Wir warteten geschlagene dreißig Minuten, ehe wir polternde Schritte auf der Kellertreppe hörten. Kurz darauf riss Kaoru die Tür auf. Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Haare waren zerzaust, sein offenes Hemd schien ihm am Körper zu kleben. „Hört zu Jungs“, keuchte er. „Wir haben einen Auftritt.“ Kisaki ------ „Willst du uns jetzt verarschen?“ Die starrte Kaoru an als hätte dieser soeben seine Gitarre zertrümmert. „Wieso sollte ich“, grinste Kaoru. Er stand in der Tür, öffnete und schloss die Hände immer wieder in einem unregelmäßigen Rhythmus. Einen Moment lang standen wir nur da, ziemlich überrumpelt. „W-wie denn? Wo denn?“, stammelte Die endlich. „In knapp drei Wochen“, sagte Kaoru und man merkte ihm an, dass er sich zusammen reißen musste, um nicht auszuflippen, „bei mir in der Nähe wird ne neue Kneipe eingeweiht und na ja… Wir sind der Live-Act!“ Einen Moment herrschte Stille. Dann stießen Die und Kyo gleichzeitg einen schrillen Schrei aus und umarmten sich, wobei es mehr aussah, als würden sie sich anspringen. Dann ließ Die Kyo los und fiel Kaoru um den Hals. „Verfluchte Scheiße!“, schrie er. „Alter, ich liebe dich.“ „Ich weiß“, sagte Kaoru, ehe sie wieder in lautes Lachen ausbrachen. Shinya schaute zu mir rüber und lächelte. Er schien wie immer ganz gelassen. „Irre!“, schrie Kyo und schlug Kaoru so fest auf die Schulter, dass dieser nach vorne taumelte. „Du taugst ja doch was als Leader!“ Normalerweise hätte Kaoru ihn dafür vorläufig gehasst, aber heute nicht. „Kannst du mal sehen“, sagte er und der Stolz war nicht zu überhören. Shinya saß immer noch hinter den Drums und ich stand einfach nur da und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Ein Auftritt vor Publikum. Ich konnte es nicht fassen. Irgendwas in mir weigerte sich strikt, es zu glauben. Shinya stand auf, immer noch lächelnd. „Wie hast du das so schnell hinbekommen?“, fragte er Kaoru. „Tja… Connections“, sagte Kaoru. Shinya grinste. „Wahnsinn“, sagte er und versetzte Kaoru einen leichten Stoß in die Rippen. „Du hast es echt geschafft.“ „Nein, wir haben es geschafft“, sagte Kaoru. „Jeder einzelne hat gleichviel dazu beigetragen…“ „Gehen wir hoch in die Bar“, sagte Die. „Das müssen wir doch feiern! Das ist so irre, ich… ich…“ Er verhaspelte sich vor lauter Aufregung. „Ich weiß überhaupt nicht was ich sagen soll…“ Die nahm Kaorus Hände und strahlte ihn an. „Ich warte ewig auf diesen Tag“, grinste er. Kaoru lachte. Dann sagte er, dass wir jetzt wirklich hochgehen und die Probe heute ausfallen lassen sollten. Es war ungefähr vier Uhr nachmittags, als wir den Proberaum verließen und hoch in Keis Bar gingen. Ich lief neben Shinya die Stufen hoch und konnte regelrecht fühlen, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss. War das die Erfüllung meines Traums? Ein Auftritt? Ein Schritt in die Richtung zur Berühmtheit, dem umjubelten Star? War das jetzt das, wofür ich lebte…? Ich fühlte mich, als würde ich schweben. In den letzten vier Monaten hatte mein Leben sich so unglaublich schnell verändert… Ich hatte Kaoru, Die, Kyo und Shinya kennen gelernt und ihnen vier wirklich gute, wunderbare Freunde gefunden. Ich habe in meinem Leben keine besseren mehr gefunden als sie. Dann war ich in der Band. Konnte das ausleben, was ich am Liebsten tat: Musik machen. Ich war kein Mitglied der Masse mehr, ich hob mich von den anderen ab. Und jetzt würden wir also das, was wir uns mühsam erarbeitet hatten, an ein Publikum weitergeben… Die Texte, die wir mit Schweiß und Blut geschrieben hatten und die Melodien, die, wie Kaoru es manchmal betonte, die Stimmen unserer Seelen waren. Ich war gleichzeitig unglaublich aufgeregt und einfach nur glücklich. Kaoru riss die Tür der Bar auf und schrie durch den ganzen Raum: „Kei! Hol den Champagner raus, wir haben einen Auftritt!!“ Außer dem Barkeeper waren zwei ältere Männer da, die an einem Einzeltisch saßen und Bier tranken, ein Mann und eine Frau sowie zwei weitere jüngere Männer und ein Mädchen an der Bar. Alle drehten sich zu uns um und starrten uns einen Moment lang an, dann sahen sie wieder weg, als hätten sie nichts gehört. Als wir an der Bar ankamen, schenkte Kei uns ein Lächeln, was bei ihm nur alle Jubeljahre mal vorkam. „Na dann herzlichen Glückwunsch“, brummte er in seinen Bart und stellte uns eine Flasche Sake hin mit fünf Gläsern. „Bedient euch.“ Kaoru bedankte sich überschwänglich, dann stellte er die Gläser eng zusammen und schüttete die Sake ein, ohne die Flasche abzusetzen. Dass die Hälfte daneben ging, störte ihn nicht. „Auf den Auftritt“, sagte er. „Auf Death Mask“, sagte Die. „Und auf unseren Leader“, sagte Kyo. Wir prosteten uns zu und tranken die Gläser in einem Zug leer. Als ich das Glas absetzte, fühlte ich mich leicht benebelt, aber gut. Ich hatte mich ehrlich nie besser gefühlt. Ich tauschte einen kurzen Blick mit Shinya und als er mich zulächelte, fühlte ich erneut Adrenalin durch meinen Körper strömen. Kaoru bestellte eine zweite Runde. „Kei, es tut mir Leid dir das sagen zu müssen, aber wir werden bald einen sehr viel geileren Proberaum haben!“, schrie er. „Cheers mein Freund!“ Kei schenkte uns keine Bewunderung, aber die Art wie er Kaoru ab und zu ansah zeigte, dass er sich insgeheim für uns freute. „Willst du eine?“ Kyo hielt mir die Kippen unter die Nase. Ich fiel aus allen Wolken. „Danke“, sagte ich und schüttelte den Kopf. „Komm schon!“, beharrte Kyo. „Du hast es doch noch nie ausprobiert, oder?“ „Ich will nicht“, sagte ich. „Machs doch einmal und dann nie wieder“, schaltete sich Die ein. Ich verdrehte die Augen. „Lasst’s gut sein“, sagte Shinya. „An mir habt ihr euch auch die Zähne ausgebissen.“ „Bitte“, sagte Kyo ohne Shinya zu beachten. „Nur wenn du’s probierst kannst du sicher sagen, dass du es nicht magst.“ Leider war da was dran und… irgendwie reizte es mich schon. Irgendwas musste daran sein, sonst würden Kyo, Die und Kaoru es ja nicht ständig machen. Mit spitzen Fingern fischte ich eine Zigarette aus der Schachtel. Begeistert hielt Kyo mir sein Feuerzeug hin. „Du musst sofort dran ziehen, wenn sie an ist“, sagte er fachmännisch. Ich schielte kurz zur Seite und sah, wie Shinya neben mir den Kopf schüttelte. Ich fühlte mich nicht besonders gut dabei, aber jetzt einen Rückzieher machen wäre auch nicht der beste Weg gewesen. Also nahm ich das Ding zwischen die Lippen und hielt das Feuerzeug ans andere Ende, bis die Kippe anfing zu glimmen. Ich atmete ein und fühlte einen seltsamen Geschmack im Mund. „Nochmal“, sagte Kyo. „Schnell, sie geht aus!“ Ich zog noch mal, atmete ein und dachte im selben Moment, dass meine Lungen platzten. Ich fing an zu Husten, bekam mich gar nicht mehr ein. Meine Lungen schmerzten, mein Hals kratzte und mir war übel. „Verflucht“, keuchte ich. „Das ist ja…“ Ich konnte nur phasenweise sprechen, da ich immer stärker hustete. „Das ist ja widerlich…!“ Kyo bog sich vor Lachen. „Das geht jedem am Anfang so“, grinste er. „Aber… mein Gott, jetzt kannst du wirklich mal langsam aufhören mit dem Husten!“ „Nein“, hustete ich, ich hatte immer noch das Gefühl, dass jede Menge Rauch in meinen Lungen zurückgeblieben war. „Verflucht… Das mach ich nie wieder!“ Kyo sah sehr zufrieden aus. „Sag einfach Bescheid, wenn du eine willst“, sagte er und nahm mir die Kippe aus der Hand, um sie selbst zu Ende zu rauchen. Ich beruhigte mich wieder, aber das Gefühl und der Geschmack im Mund waren einfach zu widerlich. Und Shinyas missbilligender Blick ging mir auch nicht mehr aus dem Kopf. Viele, viele Gläser Alkohol und eine Schachtel Zigaretten später, erklärte Shinya, dass er gehen musste. „Ich ähm… Ich komm mit“, sagte ich schnell. „Ich soll um neun zu Hause sein.“ Es war kurz nach acht. „Hey, ihr könnt jetzt nicht gehen!“, protestierte Die. „Wir fangen doch grad erst an zu feiern!“ „Anfangen?“, fragte Shinya, während er seine Jacke anzog. „Ihr habt doch bestimmt schon zwei Flaschen leer getrunken, vom Tequila ganz zu schweigen.“ Die zuckte mit den Schultern. „Wenn schon“, meinte er nur. Ich glaube, Kaoru und Kyo merkten gar nicht, dass wir gingen. Sie waren damit beschäftigt herauszufinden, wer ein volles Bierglas schneller exen konnte. Ich folgte Shinya nach draußen. „Ich hasse es“, murmelte er. „Wieso müssen sie sich immer so zu saufen? Ich würd vielleicht sogar mitmachen, aber… Himmel, ich bin vierzehn!“ Er sah ziemlich abgenervt aus. „Du hättest ruhig bleiben können“, fuhr er fort. „Nein, ich… ich wollte sowieso bald zu Hause sein“, log ich. Ich hätte nichts dagegen gehabt zu bleiben, aber nicht ohne Shinya und außerdem hatte ich absolut keine Ahnung, wie ich mit Betrunkenen umgehen musste. Und selber trinken wollte ich auch nicht. Nicht so viel jedenfalls. „Ehrlich“, sagte ich noch mal. Shinya nickte nur. Schweigend liefen wir zur U-Bahnstation und auch während der Fahrt sagten wir kein Wort mehr zueinander. Erst als wir uns trennen mussten, brach Shinya das Schweigen. „Ich…“, fing Shinya an und stockte. „Was denn?“ Er winkte ab. „Ach nichts“, murmelte er. „Bis morgen.“ Wir umarmten uns und Shinya streichelte mir dabei sanft über den Rücken. Dann ließ er mich los, drehte sich um verschwand wortlos. Und ich blieb etwas verwirrt zurück, mal wieder ohne Ahnung, was ich denken sollte. Die ersten Tage nachdem wir erfahren hatten, dass wir einen Auftritt hatten, verbrachte ich größtenteils in einem Zustand angenehmer Betäubung. Meiner Mutter verschwieg ich, dass wir zur Eröffnung einer Kneipe auftreten sollten, denn sie hätte garantiert ein Problem damit gehabt. Ich hatte einige meiner alten Freunde aus Nagano angerufen, aber ihre Reaktionen waren nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Anstelle wenigstens so zu tun, als würden sie sich richtig für mich freuen oder zu zeigen, dass sie es gut fanden, dass wir so weit gekommen waren, bekam ich Sachen wie Oh, das ist echt cool. Hast du diesen einen Film letzten Sonntag gesehen von dem alle reden? zu hören. Mir verging die Lust daran, es den Leuten zu erzählen. Trotzdem ließ ich mir selbst die Freude und den Stolz nicht verderben, denn ich wusste, dass wir stolz auf uns sein konnten, dass es für uns eine wichtige Sache werden würde, auch wenn nur dreißig Leute kommen sollten. Ich ließ mir meine Vorfreude durch nichts und niemanden verderben. Dann aber geschah etwas, was alles kräftig durcheinander brachte: Wir bekamen abermals einen neuen Schüler in die Klasse. Kisaki. Er stolzierte erhobenen Hauptes und mit einem Blick wie ein Pfau in die Klasse und als ich ihn sah, wusste ich sofort: Dieser Typ hat sich nicht gleich am ersten Tag verlaufen. Hizuki erbleichte förmlich bei seinem Anblick. Er versuchte nicht, sich sofort an ihn ranzuschmeißen, dazu hatte er vom ersten Moment an zu viel Respekt vor ihm. Und nicht nur er. Innerhalb kürzester Zeit war Kisaki unglaublich beliebt. Die Jungen der Klasse wollten ihn als besten Kumpel, denn weil er älter aussah, konnte er Alkohol beschaffen. Er war aufgeschlossen, hatte massig Selbstbewusstsein und wirkte auf die meisten einfach cool. Natürlich war er gleich nach einem Tag alleiniger Mädchenschwarm geworden. Die Mädchen redeten über nichts anderes, es gab richtige Wettbewerbe, wer zuerst ein Date mit ihm ergatterte. Und er war sehr intelligent. Er war die Sorte Mensch, die ich hasste. Ich gab mir die größte Mühe ihn zu ignorieren und ich glaube genau das war der Grund, weshalb Kisaki mich genauso hasste wie ich ihn. Später erfuhr ich, dass es dafür auch andere Gründe gab, aber dadurch, dass er von mir als fast Einzigem keine Bewunderung bekam, sah er in mir sofort einen Feind. „Wer ist dieser neue Typ?“, fragte Kaoru mich gleich am ersten Tag, den Kisaki an unserer Schule verbrachte. „Ich weiß nicht“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Er heißt Kisaki. Er scheint sehr… intelligent zu sein. Und alle Mädchen finden ihn total umwerfend.“ „Oh mein Gott“, Kyo stöhnte und tat als müsste er sich übergeben. „Find ihn jetzt schon unsympathisch. Klingt nach einem totalen Durchschnittsmädchenschwarm. Widerlich!“ „Du musst dich ja nicht mit ihm abgeben“, sagte Die. „Am besten tut das keiner von uns“, sagte Kaoru. „Er ist für uns uninteressant. Er wird zu klug sein um sich erpressen zu lassen und zu gut aussehend um ihn wegen seinem Aussehen fertig zu machen. Aber wir haben sowieso Besseres zu tun… Kyo, hast du den Text geschrieben?“ Kaoru drängte Kyo seit Wochen einen Text auf eine Melodie zu schreiben, die ihm eingefallen war und die er unbedingt in einen Song einbauen wollte. „Ja, eigentlich schon“, sagte Kyo. „Aber ich weiß nicht ob es das ist, was dir vorschwebt…“ „Hast du’s dabei?“ „Klar“, Kyo reichte Kaoru einen zusammen gefalteten Zettel. Kaoru las eine Weile, dann sah er Kyo ernst an. „Angenommen, ein Kritiker würde dich fragen, was es bedeutet“, sagte er langsam, „was würdest du antworten?“ Kyo machte große Augen. „Woher soll ich das wissen? Mir ist das eingefallen, als im Fernsehen die Wiederholung von irgend so einem Wrestlingkampf lief.“ „Das ist sinnfrei“, sagte Kaoru. „Tut mir Leid, aber…“ „Dann schreib deine verfluchten Texte doch selber!“, zischte Kyo und riss den Zettel wieder an sich. „Hast du’s mal versucht?“, fragte ich. „Sicher“, erwiderte Kaoru. „Aber ich mach es nicht gerne. Ich mag meine eigenen Texte nicht… Ich schreibe lieber Melodien. Ich mag Kyos Texte, aber… Na ja. Jedenfalls meistens.“ Er räusperte sich umständlich. Ich nahm Kyo den Zettel aus der Hand und überflog den Text und plötzlich kam mir eine Idee. „Spiel die Melodie mal bei der nächsten Probe vor“, sagte ich. „Bis jetzt hast du sie ja nur Kyo gezeigt. Vielleicht… fällt einem von uns dann ein Text ein.“ Zum Beispiel Shinya, fügte ich im Geist hinzu. „Ja“, murmelte Kaoru. Es klang nicht sehr überzeugt. „Vielleicht.“ Am Abend rief ich Shinya an um ihm davon zu erzählen. „Na großartig“, sagte Shinya. Er klang sehr müde. „Ich hab doch gesagt, ich will ihm meine Texte im Moment nicht geben.“ „Musst du ja nicht“, erwiderte ich. „Aber vielleicht fällt dir ja spontan was ein. Kyo hat wohl so was wie ne Blockade.“ „Ja“, sagte Shinya. Wir schwiegen uns eine Weile an. Ich war kurz davor vorzuschlagen, endlich aufzulegen, als Shinya plötzlich sagte: „Komm nach der Probe mit zu mir, OK?“ „Ja!“, sagte ich sofort. „Gerne!“ „OK“, sagte Shinya und wir legten auf. Ich atmete einmal tief durch. Shinya benahm sich seltsam. Er wirkte gleichzeitig abweisend und auch wieder nicht, denn immer wenn wir uns sahen, dauerte unsere Umarmung zur Begrüßung deutlich länger als die mit den übrigen. Wir hatten die Probe am Freitag so gelegt, dass wir direkt nach der Schule zusammen zum Proberaum fahren konnten. Als ich in die Klasse kam, die Tasche mit meinem Bass in der Hand, ließ Kisaki mich plötzlich nicht mehr aus den Augen. Und als ich mich setzte, stand er auf und kam auf mich zu. „Du spielst Gitarre?“, fragte er übertrieben überrascht. Bevor ich antwortete, musterte ich ihn möglichst unauffällig. Diesem Kerl konnte man doch nur misstrauen. Er war zu perfekt. Irgendwas stimme mit ihm nicht, da war ich mir sicher. „Nein“, sagte ich. „Bass.“ „Echt?“ Kisaki betrachtete meine Tasche, als hätte er etwas Derartiges noch nie gesehen. „Das überrascht mich jetzt etwas.“ „Warum? Was soll dieses Verhör?“, fragte ich verärgert. „Reg dich nicht so auf“, sagte er. „Es ist so… Ich bin auch Bassist. Das ist doch ein cooler Zufall.“ Mir fiel die Kinnlade runter. Dieser Kerl da, der so megaoberhypercool tat und, wenn er gewollt hätte, jedes einzelne Mädchen und 80% der Jungen der Schule hätte flach legen können, der ein Einserzeugnis abkassieren und später mal eins dieser 0-8-15-Leben mit Frau, zwei Kindern, Hund und Hausmädchen (mit dem er eine Affäre haben würde, was seine Frau allerdings nie merken würde) leben würde sollte Bassist sein? Man brauchte ihn nur genau anzusehen um zu wissen, dass dieser Typ die Musik nicht liebte. Er mochte zwar gut sein und er war gut, wie ich später herausfand, aber er liebte die Musik nicht. Was Kisaki machte war vom Blatt spielen. Ich glaube nicht, dass er durch die Musik seine Gefühle verarbeitete, für ihn war es nichts als Business. „In der Tat“, sagte ich und hoffte, dass er meinen Schock nicht bemerkte. „Das ist… Na ja. Was soll ich sagen.“ Meine wunderbare Ignoranz brachte ihn zur Weißglut. Aber er versuchte es zu verbergen. „Wie lange spielst du?“, fragte er. „8 Jahre“, erwiderte ich. „Ungefähr. Und du?“ Er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, dass ich mich mit ihm unterhalten wollte, aber das interessierte mich dann doch. „Zehn“, sagte Kisaki und ich ahnte, welche Genugtuung ihm die Tatsache verschaffte, dass er zwei Jahre länger spielte als ich. „Was du nicht sagst“, erwiderte ich gelangweilt. Mir war klar, dass er mich am liebsten erwürgt hätte. „Und? Hast du eine Band?“, fragte er. Sein Tonfall erschreckte mich - so kalt und berechnend. So als sei das ein Vorwurf… Oder eine Drohung? Ich schluckte. „Ja“, sagte ich und dann noch mal „Ja, habe ich. Und wir haben einen Auftritt.“ Ich sah ihm starr in die dunklen Augen. Er lächelte eisig. „Viel Erfolg“, raunte er mir zu, dann stolzierte er davon. Das war meine erste Begegnung mit Kisaki die mir eine leise Ahnung davon verschaffte, was für ein Mensch er war. Ich sollte ihn später noch besser kennen lernen, aber fürs Erste reichte mir das völlig. Während der Probe am Nachmittag war ich unkonzentriert und verspielte mich immer wieder. „Was ist los mit dir?“, fauchte Kaoru mich an. „Nichts“, sagte ich jedes Mal. „Ich fühl mich heute nicht so gut.“ „Wenn ich nicht wüsste, dass ich mich eigentlich auf dich verlassen kann, würde ich dich einen Kopf kürzer machen“, drohte Kaoru mir. Ich nickte ergeben. Was genau los war, kann ich auch nicht sagen, aber das Gespräch mit Kisaki belastete mich. Ich war mehr als froh, als die Probe zu Ende war und ich mit Shinya auf den Weg zu ihm nach Hause machte. Es war der Abend des 10. August 1992. „Was war denn heute mit dir los?“, fragte Shinya, als wir später am Abend bei ihm Zimmer saßen. „Nichts, eigentlich“, sagte ich. „Aber… vorhin in der Schule hab ich mit Kisaki geredet und erfahren, dass er auch Bassist ist. Und es war offensichtlich, dass er mich um die Band beneidet hat. Oder besser, dass er es mir nicht gönnte.“ „Das ist doch nicht dein Problem“, meinte Shinya. „Natürlich nicht“, sagte ich. „Aber irgendwas ist an diesem Kerl, was mir nicht gefällt… In seiner Nähe hab ich ein schlechtes Gefühl. So was wie eine böse Vorahnung… Ich bild mir das wahrscheinlich bloß ein, aber…“ „Nein“, sagte Shinya. „Das kann doch möglich sein. Aber solang du nichts mit ihm zu tun hast, ignorier seine Sprüche oder was auch immer. Wenn er uns beneiden will, soll er es tun.“ „Ja du hast wahrscheinlich Recht…“ Es entstand eine Pause. „Sieh dir diesen Regen an“, sagte Shinya plötzlich in die Stille hinein. Ich sah aus dem Fenster und erst jetzt fiel mir auf, dass es draußen wie aus Eimern schüttete. „Oh scheiße…“, murmelte ich. „Bei dem Wetter kann ich nicht nach Hause laufen… Da würde mir sogar ein Schirm wegwehen und… Scheiße, es ist schon halb zehn!“ Ich hatte vollkommen vergessen auf die Uhr zu sehen. Shinya zerrte mich in den Flur und drückte mir das Telefon in die Hand. „Sag deiner Mutter, dass sie dich abholen soll“, sagte er. „Bei dem Wetter wirst du ganz bestimmt nicht zu Fuß gehen.“ „Zu Fuß?“, schaltete sich auch noch Shinyas Mutter aus der Küche ein. „Auf gar keinen Fall, sie haben im Radio schon gesagt, dass Äste runter krachen könnten! Und hier in der Gegend stehen so viele Bäume.“ Sie schüttelte den Kopf und ging in die Küche zurück. „Du hast es gehört“, Shinya grinste mich an. Ich wählte die Nummer und wartete, bis meine Mutter abhob. Dann fragte ich sie, ob sie mich bei Shinya abholen konnte. „Schön, dass ich das jetzt erfahre!“, giftete sie. „Du weißt doch, dass Noriko noch hier ist… Wir haben Wein getrunken, ich werde heute auf keinen Fall mehr fahren!“ Noriko war eine Arbeitskollegin meiner Mutter, die ab und zu vorbei kam um den neusten Bürotratsch zu berichten und Wein zu trinken. Sie fuhr gewöhnlich mit dem Taxi zurück. „Kannst du nicht Shinyas Mutter fragen, ob sie dich ausnahmsweise fahren würde?“, fragte sie. Ich verzog das Gesicht, dann legte ich eine Hand auf den Hörer und raunte Shinya die Frage zu. „Kleines Problem“, erwiderte er. „Meine Ma hat keinen Führerschein.“ „Das klappt nicht“, erklärte ich meiner Mutter am Telefon. „Dann musst du eben über Nacht dort bleiben“, erwiderte sie genervt. Ich brauchte eine Weile, um diesen Vorschlag zu verarbeiten, dann drehte ich mich erneut zu Shinya und wiederholte die Worte meiner Mutter. „Moment“, sagte er und verschwand in der Küche. Als er zurückkam, nickte er mir zu. „OK“, sagte ich. „Dann komm ich morgen so um…“ „Du stehst um spätestens elf Uhr auf der Matte“, unterbrach meine Mutter mich. „Klar?“ „Klar“, wiederholte ich resigniert. Es klickte in der Leitung. „Tut mir Leid, das war nicht…“, fing ich an, aber Shinyas Mutter unterbrach mich. „Das ist kein Problem“, sagte sie. „Mir ist es lieber, morgen mal mehr zum Frühstück zu machen, als das du noch von einem Ast erschlagen wirst!“ Sie lächelte mich an. Ich habe sie immer sehr gemocht, aber an diesem Abend war ich ihr besonders dankbar. Nicht nur, dass sie mich nicht den Ästen auslieferte, ich konnte bei Shinya bleiben. Die Vorstellung die ganze Nacht zu bleiben, ließ mich zwar mentale Schweißausbrüche erleiden und ich wollte mir wirklich nichts davon erhoffen, aber… Himmel, ich starb tausend Tode. Shinyas Mutter schaffte es mich davon abzubringen, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich ungeplant über Nacht blieb. Shinya selbst schien der ganzen Sache relativ gleichgültig gegenüber zustehen. Ich dachte die ganze Zeit, dass ich mir eine andere Reaktion erhofft hatte, aber ohne sagen zu können, welche. Freudensprünge? Wohl kaum. Als wir ins Bett gingen, sagte Shinya mit entschuldigendem Tonfall, dass wir uns zusammen aufs Bett quetschen mussten, er könnte aber auch auf dem Boden schlafen. „Du spinnst wohl“, sagte ich. „Wenn dann werde ich auf dem Boden pennen.“ „Das wär noch schöner, wenn meine Besucher auf dem Boden schlafen müssten“, widersprach Shinya. So ging es eine Weile hin und her und schließlich quetschten wir uns doch zusammen auf Shinyas Bett. Es war breiter als meins, aber richtig viel Platz hatten wir trotzdem nicht. Ich war mental tot. Bei jeder kleinen Bewegung berührte Shinya mich. „Hör mal, erzähl bloß den anderen nichts davon“, sagte Shinya. „Die denken dann nur wieder… was sie sowieso schon denken.“ „Was denn?“, fragte ich naiv. „Egal“, wehrte Shinya ab. „Aber wenn zum Beispiel Kao hier pennt oder Die oder Kyo dann schläft eigentlich immer einer auf dem Boden.“ Ich nickte. Ich lag ziemlich angespannt unter der Decke und wagte kaum mich zu bewegen, aus Angst ich könnte Shinya zu nah kommen. Als ich zu ihm herüber schielte sah ich, dass auch er starr an die Decke blickte. „Was wäre so schlimm daran?“, fragte ich, wie aus einem Impuls heraus. „Wenn wir ihnen erzählen würden, dass wir in einem Bett gepennt haben?“ „Du kennst sie, es wäre einfach nervig wenn sie ständig mit ihren Andeutungen kommen würden“, murmelte Shinya. „Ich hab dir ja mal erzählt, dass sie mir gerne unterstellen, homosexuell zu sein. Noch denken sie es nicht von dir. Lass es nicht drauf ankommen.“ Er holte einmal tief Luft und ließ mir keine Zeit darüber nachzudenken, was er mit dem letzten Satz gemeint haben könnte. „Nicht nur sie“, fuhr er fort. „Ein paar dumme Witze, Andeutungen, so was kann jeder Vertragen. Sie meinen es ja nicht wirklich böse. Aber gib den Leuten keinen Grund, etwas von dir zu denken, was sie nicht wissen sollten… Es gibt Dinge, die besser im Verborgenen bleiben. Es bleibt oft nicht bei den dummen Sprüchen. Und ehe du dich versiehst, kannst du dir nur noch wünschen, gewisse Dinge niemals an die Öffentlichkeit gebracht zu haben.“ Shinya drehte sich auf die Seite und stützte den Kopf mit der Hand auf. Ich erwiderte nichts darauf und konnte mir auch keinen wirklichen Reim darauf machen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Gehirn hatte sowieso längst ausgesetzt. „Ich will nicht, dass du meinetwegen noch Probleme bekommst. Ich… ich mag dich wirklich sehr“, sagte Shinya leise. Er streckte die Hand aus und berührte meine Schulter. „Man…“, während er sprach, glitt seine Hand langsam abwärts zu meinem Hals, „…könnte fast sagen…“, er unterbrach sich und lächelte. Ohne es wirklich zu bemerken waren wir immer näher aneinander gerutscht und nun trennten uns nur noch wenige Zentimeter. Seine Finger streichelten langsam über meinen Hals und plötzlich beugte er sich vor und küsste mich ganz sanft auf die Lippen, sah mich wieder an und lächelte immer noch. „…ich sei in dich verliebt“, beendete er endlich seinen Satz. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)