Anime Evolution: Nami von Ace_Kaiser (Vierte Staffel) ================================================================================ Kapitel 3: Verlust ------------------ Prolog: Als ich auf dem Vorplatz des Arogad-Turms landete, fühlte ich mich merkwürdig, es war beinahe ein wenig wie heim zu kommen. Dennoch. Unser Haus in Tokio, ja sogar das Haus in der AURORA würde immer und jederzeit für mich mehr Zuhause sein als dieser drei Kilometer große Gigant. Vor allem deshalb, weil meine gesamte Sammlung in diesem Moment an Bord der AURORA war. Wütend ballte ich die Hände. Hoffentlich ging Doitsu pfleglich mit ihr um. Hoffentlich ging er pfleglich mit dem Haus um. Wenn ich richtig nachrechnete, war er gerade der einzige Bewohner des großen Anwesens, und ich fragte mich, ob ihm in dem leeren Kasten nicht die Decke auf den Kopf fiel. Falls ihm der Core überhaupt Zeit ließ, um in dem Haus Ruhe zu finden. Bei dem ganzen Ärger, dem wir in den letzten Tagen ausgesetzt gewesen waren, bezweifelte ich das. „O-nii-chan!“ Bevor ich mich versah, hing Yohko an meinem Hals. „O-nii-chan, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Dir geht es gut? Du bist unverletzt? Megumi, Gina, er ist doch in Ordnung?“ Die beiden angesprochenen Frauen lächelten leicht. „Ihm geht es gut, Yohko. Eigentlich ist es ihm zu verdanken, dass wir alle unverletzt sind“, erwiderte Megumi schmunzelnd. „Na, danke. Und ich zähle also nicht“, brummte Henry verstimmt. Er hatte einen rot glühenden Stahlsplitter in die linke Schulter bekommen. Die Wunde war nicht sehr tief, zudem kauterisiert, aber die Zellschäden durch die enorme Hitze waren recht dramatisch gewesen. Unter dem dicken Verband waren drei Prozent seiner Haut verbrannt worden. Mit der Naguad-Technologie keine große Herausforderung, zugegeben, aber er hätte durch den Schock ohne weiteres sterben können. „So habe ich das nicht gemeint“, erwiderte Megumi. „Es fällt mir zwar etwas schwer, meinen alten Erzfeind Taylor jetzt als Verbündeten betrachten zu müssen, aber das schaffe ich sicherlich irgendwann. Was ich meinte ist ernsthaft verletzt. Oder behindert dich dieser Kratzer etwa?“ „Kratzer ist gut. Der Splitter hätte mir beinahe den Arm abgerissen.“ „Akira, alter Junge. Schön zu sehen, dass es dir gut geht“, rief Yoshi und klopfte mir auf die Schulter. „Schönes Husarenstück hast du da abgeliefert. Na, wollen wir vielleicht bei der Gelegenheit nicht gleich das ganze Imperium erobern? Du würdest es schaffen.“ Er zwinkerte mir zu und ich fühlte wie ich rot wurde. „Rede nicht so einen Stuss, ja? Was soll ich mit einem ganzen Imperium? Ist mir viel zu viel Arbeit.“ Yoshi wandte sich ab, barg sein Gesicht in den Händen. „Verdammt, er hat drüber nachgedacht. Er hat wirklich drüber nachgedacht. Ich kriege die Krise.“ „Yohko-chan, wie lange willst du ihm noch am Hals hängen?“, tadelte Joan Reilley. „Such dir nen eigenen großen Bruder“, scherzte meine kleine Schwester. „Hat dir dein Vater nicht beigebracht, dass geteilte Freude die größere Freude ist?“, erwiderte Joan. „Ja, und geteilte Schokolade ist halbe Schokolade.“ „Ist das normal? Oder muss ich mir Sorgen um Akiras Sicherheit machen?“ Argwöhnisch sah Sora Fioran zu Franlin, meinem Sekretär, herüber. Der zuckte in menschlicher Geste mit den Achseln. „Frag mich nicht. Je länger ich in der Nähe von Meister Aris bin, desto mehr nähere ich mich einer Reizüberflutung. Ich wünschte, jemand würde ihn fest ketten und in den Boden betonieren, damit ich ein wenig aufholen kann.“ Henry lachte laut auf. „Ja, das passt zu meinem Fliegerjungen.“ Er klopfte mir auf die Schulter. „Wenn du nichts dagegen hast, dann nehme ich meine Recherchen wieder auf. Ich habe da ein paar Querverweise in den Daness-Archiven gefunden, die ich im Logodoboro-Turm weiterverfolgen muss. Kannst du mit deinem Busenfreund Torum Acati reden, damit ich in den Turm komme? Und am besten frei bewegen kann?“ Ich runzelte die Stirn. „Fragen kann ich ihn, aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich Erfolg haben werde. Immerhin bin ich nicht der Vorsitzende des Arogad-Hausrates.“ Glücklicherweise, fügte ich in Gedanken hinzu. „Was denn, was denn, hat dir der Ausflug zur Macht nicht gefallen?“, tadelte Oma belustigt. Flankiert von ihrer neuen Adjutantin Aria Segeste trat sie ebenfalls auf den Vorplatz. „Nicht wirklich. Macht bedeutet Verantwortung, Verantwortung bedeutet Arbeit, Arbeit bedeutet weniger Schlaf, und weniger Schlaf bedeutet keine Mangas lesen. Also: Nein.“ Ich legte den Kopf schräg und sah an Oma vorbei. „Oren kommt nicht? Hat er zu tun?“ „Dein Uropa liegt gerade in einem Biotank.“ Eridia senkte den Blick. „Ich konnte ihn nicht vollständig schützen, deshalb traf ihn ein besonders großer Felsbrocken und zertrümmerte seine Wirbelsäule.“ Oma ballte die Hände zu Fäusten. „Ich konnte nicht alle beschützen.“ Die Fakten waren mir bekannt. In den oberen Etagen hatten über achtzig Menschen gearbeitet, unter ihnen der geschlossene Hausrat. Bei den Sekundärexplosionen durch den atomaren Angriff waren über die Hälfte umgekommen. Nur gut dreißig Personen, von denen neun unter den Trümmern überlebt hatten, waren dem Inferno entkommen. Gut für alle, die in Omas Nähe gewesen waren. Sie hatte mit ihren überlegenen KI-Kräften getan was sie konnte, um die anderen zu beschützen. Genau wie ich im Daness-Turm. „Wie lange muß er da drin bleiben?“ „Mindestens zwei Tage. So lange bin ich hier der Boss.“ Oma grinste mich an. „Oder willst du den Job weiter machen? Hast dich ja bewährt, drüben bei den Daness.“ Sostre Daness, der bisher geschwiegen hatte, grinste schief. „Das kann ich nur bestätigen, Meister Arogad. Der Junge hat Potential.“ „Das ist eben mein O-nii-chan“, bemerkte Yohko. „Äh“, sagte ich verlegen, „Schwester, ich finde es ja gut, dass du dich so freust, aber würde es dir etwas ausmachen, mich wieder…?“ „Jetzt ist aber genug!“, riefen Yoshi und Megumi synchron und brachen Yohkos Griff um meinen Nacken. Megumi legte einen Arm um meine Schultern und legte ihren Kopf an meine Brust. „Das ist mein Akira. Du hast da deinen eigenen.“ Yoshi hielt meine Schwester von hinten umarmt und drückte sie an sich. „Genau, du hast deinen eigenen Akira… Megumi, meinst du mich damit? Hey, ich bin nicht ihr Akira, ich bin ihr Yoshi.“ „Das war nicht als Wertung gemeint, sondern als Bezeichnung.“ Sie lächelte mich an. „Immerhin haben wir uns vor dem ganzen Imperium der Naguad offiziell verlobt, oder? Und ihr zwei…“ Yohko schluckte hart. Ihr Blick zuckte gehetzt zu Yoshi, dann zu mir und Megumi, danach wieder zu Yoshi. Sie begann zu rennen, kam aber nicht einen einzigen Meter voran, weil Yoshi sie wohlweislich vom Boden gehoben hatte. „YOSHI! Das ist unfair!“ „Das wäre nicht nötig, wenn du nicht immer fliehen würdest. Ich habe hier was in meiner Tasche, das…“ „ICH WILL ES NICHT HÖREN!“ Wütend strampelte sie in seinem Griff. „Aber ich will doch nur…“ „ICH WILL ES NICHT HÖREN!“ Sie stieß den Kopf hart nach hinten, erwischte Yoshis Kinn und brach damit dem Griff. Sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte, lief sie zurück in den Arogad-Turm. „YOHKO!“ Ich runzelte die Stirn. „Entschuldige bitte, bester Freund, aber ich verstehe nicht ganz, was hier vorgefallen ist.“ „Willkommen im Club. Ich verstehe es auch nicht.“ „Wie dem auch sei. Als Oberhaupt des Hausrats der Arogad heiße ich euch hiermit herzlich willkommen, Sostre Daness und Solia Kalis.“ Oma deutete eine Verbeugung an. „Seid meine Gäste und fühlt euch während eures Aufenthaltes im Turm der Arogads wie Zuhause. Wir haben viel zu besprechen, und das meiste davon betrifft die Zukunft aller Naguad. Vielleicht sogar aller Daima.“ „Ich hasse es, wenn du so dramatisch wirst, Oma“, murrte ich, löste mich von Megumi und ging auf den Eingang zu. „Und vor allem hasse ich es, wenn es sinnvoll ist.“ 1. Drei Tage nach den Vorfällen um die Türme der Arogad und Daness, drei Tage nach dem Sturm auf den Logodoboro-Turm, versammelte sich der Rat der Naguad. Die ranghöchsten Angehörigen aller Häuser, so sie sich im System befanden, waren ebenso anwesend wie der Stab der Admiralität und die geschlossene Regierung. Des Weiteren waren die Vertreter kleinerer Häuser und freier Organisationen zugelassen worden. Sie hatten kein Stimmrecht, aber ihnen war erlaubt an den Debatten teilzunehmen. Torum Acati beendete seinen Bericht über den Sturm auf den Turm der Logodoboro mit den Worten: „Ich entschuldige mich dafür, dass wir den Verrat des Hauses Logodoboro nicht früher erkannt haben. Dass wir die Verbindungen dieses Hauses zur Core-Zivilisation erst so spät erkannt haben. Dass die Verantwortlichen um Girona Logodoboro unserem Zugriff entkommen sind. Ich übernehme die volle Verantwortung.“ Torum Acati setzte sich wieder. Innenminister Jorm Ksetral erhob sich stattdessen. „Ich möchte dem Bericht von Admiral Acati einiges hinzufügen. Zuerst einmal: Es ist nicht sein Versagen, sondern das des Geheimdienstes. Dass der Admiral diese Verschwörung aufgedeckt hat, ist ein Wunder, welches uns zur rechten Zeit geschehen ist. Nach der Kaperung der LOKTAR, dem Daness-Schiff, das auf den Arogad-Turm gefeuert hat, wissen wir, dass es Agenten der Logodoboro waren, die diesen verabscheuungswürdigen Angriff ausgeführt haben. Wir kennen ihre Intentionen: Nämlich einen Bürgerkrieg zwischen unseren beiden stärksten Häusern auszulösen. Dass dies nicht gelungen ist, verdanken wir einzig und alleine einem besonnenen jungen Mann, Sostre Daness, weil er verrückt genug war, auf diesen Rebellen und Aufwiegler Aris Arogad zu hören und ihm bei seinem Handstreich zu helfen.“ „Das war nicht ganz die Wortwahl, die ich erhofft hatte“, raunte ich Oren Arogad, meinem Urgroßvater, zu. Er war zwar erst wenige Stunden aus ärztlicher Obhut entlassen, aber diese Sitzung hatte er einfach nicht verpassen wollen. Nun, mir konnte es recht sein. „Sei froh. Ich hätte für deine Wahnsinnstat noch ganz andere Worte gefunden“, schmunzelte der Ältere. „Dennoch“, fuhr der Innenminister fort, „hatte der Plan der Logodoboro teilweise Erfolg. Auch wenn es nicht zum Bürgerkrieg kommen wird, da Arogad und Daness vor drei Tagen ein festes Bündnis eingegangen sind, so haben Logodoboro-Truppen doch im gesamten Imperium Unruhe verbreitet. Wir wissen alle, dass Logodoboro lediglich einen der siebzehn Verwaltungsbezirke kontrolliert. Dafür aber haben sie Kontrolle über vier Marken und Einfluss in weiteren fünf.“ Über dem Minister entstand ein Hologramm mit der Struktur des Imperiums. Die verschiedenen Regierungsbezirke, blau dargestellt, gruppierten sich um das Nag-System und bildeten eine unförmige Kugel. Davon umgeben waren sie mit einem Halo aus Schutzmarken, die rot dargestellt waren. Marken, in denen Logodoboro aktiv war, wurden gelb schraffiert dargestellt. Ich keuchte erschrocken auf, als ich eine der Marken als das Kanto-System identifizierte. „Wie Sie alle erkennen können und wie uns lange bekannt war, liegen sowohl der von Logodoboro kontrollierte Regierungsbezirk als auch die Marken relativ eng beieinander. Genauer gesagt befinden sich zwei Marken in der akuten Gefahr, zwischen den von Logodoboro kontrollierten Marken zerquetscht zu werden. Eine dieser Marken ist Kanto. Im Kanto-System befindet sich zudem die Regionaladmiralität, und damit die Kontrolle über unsere Flotten in vier Marken. Fällt die Mark Kanto, verlieren wir ein Achtel unseres Gebietes.“ Weitere Effekte wurden hinzugeschaltet. In einzelnen Marken und Regierungsbezirken wurden Planeten hervorgehoben. Datenfenster entstanden neben ihnen und gaben Informationen preis. „Wir können nicht ermessen, in welchem Zustand wir uns befinden würden, wenn Arogad und Daness sich genau in diesem Zeitpunkt bekämpfen würden. Aber der jetzige Zustand ist schlimm genug. In fünf weiteren Marken kam es zu Aufständen, zwei Regierungsbezirke haben sich offiziell vom Imperium losgesagt. Zudem wurden, eindeutig und unmissverständlich, Core-Truppen im Kanto-System entdeckt. Es ist noch nicht verifiziert, aber die Logodoboro-Schiffe der ursprünglichen Strafexpedition für Lorania haben die anderen Schiffe des Verbandes angegriffen und mehrere Schiffe versenkt oder schwer beschädigt. Unter den besonders schwer getroffenen Schiffen befindet sich die AROGAD, das Flaggschiff des Hauses. Wir können das erst als Anfang sehen. Es wird weitergehen und es wird schlimmer werden. Mit Unruheherden über das halbe Imperium verteilt können wir das Logodoboro-Gebiet nicht befrieden. Und mit dem Bündnis mit der Core-Zivilisation verfügen die Logodoboro womöglich über weitere Schiffe. Wie viele es sein können ist unmöglich vorauszusagen. Aber wenn wir die Zahlen als Anhaltspunkt nehmen, die uns von früheren Raids bekannt sind, wenn wir die Schiffe während des Raids im Kanto-System heran nehmen, rechne ich mit mindestens zweitausend Raider-Schiffen.“ Erschrockenes Raunen antwortete dem Innenminister. Auch wenn jedes Raider-Schiff lediglich einer Fregatte entsprach, bei dieser Zahl, dieser Größenordnung waren sie weitaus mehr als eine Gefahr, sie waren eine Nemesis für das Imperium. Jeder einzelne Bürger war bedroht, egal ob in den Marken oder den Bezirken. Sogar die Erde war bedroht. Sostre Daness erhob sich. „Danke, Innenminister Ksetral. Aber es hat nicht dieser Worte bedurft um uns klar zu machen, wie sehr wir in Schwierigkeiten stecken. Die Frage, die sich uns nun stellt ist schlicht und einfach: Was tun wir jetzt? Befrieden wir die rebellierenden Marken, bestrafen wir Haus Logodoboro? Suchen wir nach dieser Raiderflotte, igeln wir uns ein? Was wird unser nächster Schritt sein? Ich werde ihnen allen sagen, was wir jetzt tun sollten: In diesem Moment ist die Core-Zivilisation verletzlich wie nie zuvor. Senden wir eine Expedition aus und vernichten wir ihre Kernwelten!“ Wieder wurde geraunt. „Diese Gelegenheit ist vielleicht einmalig. Mit dem Verrat von Logodoboro hat der Core ein riesiges, zusätzliches Gebiet zu schützen! Raider-Schiffe, die den Logodoboro helfen, können aber die Heimatwelten nicht verteidigen! Schlagen wir zu!“ „Ich bin dagegen.“ Als die sanfte Alt-Stimme aufklang, verstummten die Naguad. Sostre Daness schloss den Mund und starrte die Sprecherin an. Die kleinen Diskussionen im Rat und in den Zuschauerrängen erstarben. Alle Blicke richteten sich auf die Logodoboro-Tische, die bis auf drei Naguad leer waren. Die Sprecherin erhob sich. Ihr langes schwarzes Haar trug sie zu zwei schweren Zöpfen geflochten, die sie je über die Schulter nach vorne drapiert hatte. Ihre roten Augen blitzten aggressiv und spöttisch in dem schneeweißen Gesicht. „Agrial Logodoboro, bitte sprechen Sie.“ Ich runzelte die Stirn. Natürlich hatte ich auch die Berichte gelesen; was die Ratstruppen im Logodoboro-Turm gefunden hatten. WEN sie gefunden hatten. Aber das erklärte nicht, warum ein Angehöriger eines Verräterhauses sofort das Recht zu sprechen bekam, wenn er danach verlangte. Ja, verlangte. Oren bemerkte meine Unsicherheit und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Du musst das verstehen, Aris. Agrial Logodoboro ist die letzte überlebende Anführerin des Exodus von Iotan. Ihr Haus selbst war federführend in den meisten Aktionen. Sie ist eine schillernde Gestalt in unserer Geschichtsschreibung, und ich hätte nie gedacht, diese Frau, nein, diese Legende einmal mit eigenen Augen zu sehen.“ „Aha“, machte ich verständnisvoll und hatte doch nichts kapiert. Ihre roten Augen sahen spöttisch zu mir herüber. „Wenn der Sprecher des Hauses Arogad dann fertig ist, würde ich gerne das mir zugesprochene Sprachrecht wahrnehmen.“ Ich schnaufte missmutig. Sie brauchte mich nicht derart vorzuführen. Sie hätte auch so anfangen können. „Bitte, Miss, beginnen Sie.“ Erschrocken sprachen die Anwesenden durcheinander. Irritierte, ja, ängstliche Blicke trafen mich. „Aris, was tust du da? Du kannst doch Agrial nicht Miss nennen!“ „Ist sie etwa verheiratet?“, fragte ich erstaunt. „Nein, aber…“ „Dann habe ich nichts falsch gemacht“, erwiderte ich trotzig. Wenigstens einen Punkt wollte ich gegen diese Frau haben. Obwohl ich noch nicht mal wusste, ob wir uns überhaupt streiten würden. Und ob es dabei um das sammeln von Punkten ging. „Danke, Aris Arogad“, erwiderte sie amüsiert. Irrte ich mich, oder zeichnete sich eine feine Röte auf ihren Wangen ab? Hübsch war sie in jedem Fall, und bestimmt sah sie nicht aus als wäre sie viertausend Jahre alt. „Sostre Daness. Dein Vorschlag ist gut. Und es ist die richtige Aktion, die wir jetzt in Angriff nehmen sollten, jetzt, wo mein Haus Logodoboro so offen Verrat begangen hat. Aber wir können es nicht.“ Ich erwartete Aufregung im Saal, aber die Naguad hingen an den Lippen dieser Frau. „Logodoboro ist nicht der einzige Verräter“, fügte sie hinzu und erntete damit die ersten entsetzten Rufe. „Während meiner Zeit im Biocomputer hatte ich Zeit, unendlich viel Zeit, um Fakten zusammen zu tragen. Ich kann leider kein Haus mit Namen benennen. Aber die Daten, die ich gesammelt habe, sprechen für sich. Es gibt ein weiteres Haus, welches mit der Core-Zivilisation zusammen arbeitet. Die entsprechenden Fakten habe ich als Dossier an die Regierung gehen lassen. Aber soweit ich weiß sind die Analytiker noch dabei, sich durch die Daten von dreitausend Jahren zu arbeiten. Deshalb können wir die Gelegenheit nicht zur Offensive nutzen. Die Gefahr, dass das zweite Haus uns dann in den Rücken fällt, wenn wir es am wenigsten erwarten, ist viel zu groß. Die Gefahr zu scheitern, ja vernichtend geschlagen zu werden ist zu groß. Es gibt Hinweise auf ein Haus, ja, aber genauso auf vier weitere Häuser, sogar auf Daness und Arogad. Wer immer die Logodoboro für den Verrat aufgestellt hat, er hat das zweite Haus perfekt verborgen.“ „Unter diesen Umständen ziehe ich meinen Vorschlag zurück.“ Sostre grunzte unwillig. „Wenn Agrial Logodoboro Recht hat – und daran zweifle ich nicht – bleibt uns nur eines. Wir müssen unsere derzeitigen Grenzen festigen und alles daran setzen, das zweite Verräterhaus zu identifizieren. Auch wenn dies bedeutet, dass Logodoboro genügend Zeit hat, seine Verteidigung auszubauen oder sogar einen Angriff zu planen.“ „Und wie sollen wir unsere Grenzen festigen? Jedes Haus und der Rat für sich? Misstrauisch und ablehnend gegen alles und jeden?“, fragte der Innenminister? Agrial hob die Hand. „Natürlich nicht. Wir können und dürfen uns bei der Jagd nach dem zweiten Verräterhaus nicht gegenseitig aufbringen. Das wäre ein fataler Fehler. Und es würde uns alle in Chaos stürzen, da die Hinweise, die ich gesammelt habe, darauf hindeuten, dass Einzelpersonen oder kleine Gruppen in jedem Haus entweder mit dem Core sympathisieren oder sogar mit ihm zusammenarbeiten. Wir können nicht jeder gegen jeden kämpfen. Nein, wir müssen weitermachen wie bisher. Die Häuser müssen ihre Zusammenarbeit pflegen. Um ein Beispiel zu nennen: Dort wo sich Fioran und Arogad begegnen, muss die Zusammenarbeit weiterhin fortgeführt werden. Dort wo sich Daness und Bilas verbündet haben, muss das Bündnis weiter ausgeführt werden. Selbst wenn das Verräterhaus alle Bündnisse kappt, seine Partner verrät und Krieg säht, so werden die anderen Bündnisse noch immer existieren und unsere Kraft geschwächt, aber nicht vernichtet sein. Dies müssen wir so lange tun, bis die Verräter entlarvt und entwaffnet sind. Aber ein gutes hat die Entwicklung. Wir können zwei Häuser komplett vom Verdacht freisprechen, mit dem Core zusammen zu arbeiten. Sie sind bestenfalls von Einzelpersonen oder kleineren Grüppchen infiltriert worden, die dem Core zuarbeiten. Es sind die beiden Häuser, die gegeneinander ins Chaos gestürzt werden sollten: Arogad und Daness. Es hätte keinen Sinn gemacht, die beiden in einen Krieg zu treiben, wenn eines von ihnen auf Seiten des Cores stehen würde.“ Sie erhob sich, trat vor die Tische. „Deshalb, zum Wohle des Imperiums, zum Wohle der einfachen Bürger, die wir geschworen haben zu beschützen, zum Wohle der Häuser, rufe ich die Häuser Arogad und Daness auf, ihre Zusammenarbeit fortzusetzen. Beide Häuser sind unsere beste Hoffnung, die schweren Zeiten in die wir getrieben werden, zu überstehen. Aris Arogad, ich vertraue dir die Zukunft unseres Volkes an.“ Ich sprang auf. Mehr aus einem Reflex als augrund einer Emotion. Warum ich? Warum sprach sie mich direkt an? Warum bürdete sie mir so etwas auf? Ich war dagegen! Definitiv dagegen! Es war doch sowieso egal, wen sie ansprach und ihm wortgewaltig wer weiß was aufbürdete. Aber wenn sie schon jemanden mit Namen hervorhob, warum dann nicht Sostre? Oder Oren? Ich hatte wahrlich genug mit der Erde und dem Kanto-System zu tun, ich konnte nicht auch noch die Naguad retten! Dennoch hörte ich meine eigene Stimme, trocken und kratzig, wie sie sagte: „Ich gebe mein Bestes.“ 2. Das Mädchen mit den bräunlich grünen Haaren stand auf dem sonnenbeschienenen Hügel. Es hatte beide Augen fast geschlossen und bewegte sich nicht. Es sah beinahe so aus, als genieße es lediglich die Sonne. Doch rund um sie entstanden und vergingen permanent Hologramme, die sie mit sanften, kaum wahrnehmbaren Worten steuerte, leichte Bewegungen mit den Händen vervollständigten ihre absolute Kontrolle. Die Daten liefen dabei so schnell über die Hologramme hinweg, dass kaum mehr als Schemen zu sehen waren. Die große, schlanke und strenge Frau mit dem Kapuzenkleid trat neben das Mädchen und beobachtete ihr Tun eine Zeitlang. Aber sie sagte nichts. Endlich erloschen alle Hologramme auf einen Schlag. „Ich… Verstehe“, sagte das Mädchen ernst. Viel zu ernst für die weichen Augen, viel zu ernst für das beinahe noch kindliche Gesicht. „Du verstehst was, Prinzessin?“ „Ich verstehe ein wenig mehr als zuvor. Und ich verstehe uns selbst besser, ebenso wie ich unsere Gegner besser verstehe.“ Das Mädchen ließ ein neues Hologramm aufgehen, in dem die Erde zu sehen war. „Vielleicht verstehe ich auch bereits viel zu viel. Vielleicht ist es nicht gut, so sehr zu verstehen. Ich weiß nicht, ob ich den Krieg jetzt noch führen kann, jetzt, wo ich so viel mehr weiß.“ Die strenge Frau nickte. „Du bist noch weit entfernt vom absoluten Wissen. Nicht einmal ich weiß alles, was in dieser Welt an Daten und Fakten versammelt ist. Sogar ich muß eine Auswahl treffen, um nicht wahnsinnig zu werden. Aber du hast dir einen riesigen Themenkomplex erarbeitet, weit mehr als du brauchst, um diesen Krieg zu führen und zu gewinnen. Oder zu verlieren.“ „Verlieren? Ich habe nicht vor zu verlieren!“, beschwerte sich das Mädchen. Die Ältere schmunzelte. Es war die erste Emotion, die sie bis zu diesem Moment je gezeigt hatte. „Ich selbst habe schon einen Krieg verloren. Verloren, weil ich zu sehr gefangen war in meinem Wissen. Ich kannte meine Gegner zu gut. Ich habe sie geliebt. Ich verlor mich in ihnen und gab den Daima deshalb den Vorzug über mein eigenes Volk. Ich verlor und zog mich zurück. Der Preis den wir bezahlt haben war hoch, aber auch nur ein kleiner Rückschlag. Es hätte uns vernichten können, aber die Daima kamen uns nicht nach. In ihrem Siegestaumel beließen sie es bei dem, was sie erreicht hatten. Aber damals wäre ich bereit gewesen, alles zu verlieren und alles aufzugeben. Ich habe sie geliebt, meine Daima, und ich habe mir gewünscht…“ Die Frau verstummte. Auf ihrem Gesicht spielten sich weitere Emotionen ab. „Es war nicht gut. Meine Wünsche wurden nicht erfüllt, meine Träume enttäuscht. Und das schlimmste ist, ich habe emotional gehandelt, wider mein besseres Wissen. Prinzessin, es ist gut, dass du soviel wie möglich über deinen Gegner wissen willst. Es ist in Ordnung, wenn du deinen Feind lieben lernst. Aber zum Wohle aller Daima. Zum Wohle aller Daina. Du musst dieses Mal siegen.“ Das Mädchen schwieg dazu. Wind kam auf, zerfurchte ihr Haar, spielte mit dem Saum ihres schwarzen Kleides, wehte es auf. Es griff sich mit einer Hand ins Haar, hielt es davon ab, in ihr Gesicht zu wehen. „Ist… Ist es ein Spiel?“ Zweifelnd sah es die Ältere an. „Ein virtuelles Spiel, das wir seit Generationen spielen?“ Die Frau mit dem schwarzen Kapuzenkleid verlor ihr Lächeln. „Nein, Prinzessin. Es ist kein Spiel. Es ist bitterer Ernst. Und jeder Daima der stirbt wird niemals mehr wiederkehren. Niemals. Keine Macht wird ihn jemals wieder zurückholen.“ „Das verstehe ich nicht. Hier…“ „Hier!“, begann die Frau und machte eine weit ausholende Geste, die sowohl die Daima vor ihnen als auch die Daina hinter ihnen umfasste. „Hier ist das Paradies. Hier gibt es keinen Krieg, keinen Hunger, keinen Streit und keinen Hass. Hier gibt es nur Frieden und Eintracht! Hier ist die Vollkommenheit zuhause.“ Wieder lächelte sie, beugte sich vor und strich dem Mädchen über den Kopf. „Aber das Paradies ist nicht das letzte Wort. Finde deinen eigenen Weg und finde deinen eigenen Platz, Prinzessin. Und vergiss nie, für wen du dies alles tust.“ Unsicher sah das Mädchen auf das Hologramm der Erde. Es wechselte, zeigte Schiffe, Raumstationen, Gesichter wichtiger Soldaten und Menschen der Erde und blieb schließlich bei einem Gesicht stehen. Es wirkte mürrisch, beinahe verschlossen, machte den Besitzer älter als er war. Aber in seinen Augen war Lebendigkeit, die faszinierte. Und die feinen Fältchen um die Augen bewiesen, wie sehr und wie gerne er lachte. „Ich will ihn sehen“, sagte das Mädchen bestimmt. „Er wird mir Antworten geben.“ „Wie du wünschst, meine Prinzessin.“ Die große Frau verbeugte sich leicht vor dem Mädchen und wandte sich ab. 3. Während die Stadt in Aufruhr war, während die Vorstädte unter radioaktivem Staub litten, gingen zwei Frauen durch einen Dachgarten des Logodoboro-Turms. Er befand sich in zwei Kilometer Höhe, also jenem Bereich, der noch nicht versiegelt und verlassen war und dementsprechend gepflegt worden war. Die Kämpfe hatten ihn nicht erreicht, und die riesigen Fenster, die Wind und Eiseskälte abhielten waren nicht zerstört worden. Die eine Frau hatte sich das Unmögliche zur Aufgabe gemacht. Sie wollte aus dem, was die Kollaborateure übrig gelassen hatten, einen neuen Turm Logodoboro formen. Und sie wollte die Schiffe einfordern, die von Rechts wegen zu diesem Turm gehörten, nachdem sie den Rat der Logodoboro formell abgesetzt hatte. Die Vorbereitungen dazu liefen bereits, die Regierung hatte das Verfahren zur Enthebung des Rats der Logodoboro wegen Verrat, Hochverrat und hundertfacher Anstiftung zum Mord sowie versuchtem Mord in siebenunddreißig Millionen Fällen bereits eingeleitet. Danach würden die Geschicke des Turms wieder in der Hand dieser Frau liegen: Agrial Logodoboro, Anführerin des Exodus, Oberste Administratorin der Migrationsflotte und Initiatorin des Systems der neun Türme. Die andere Frau hatte ebenfalls alle Hände voll zu tun, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Fakt war, dass ihre Arbeit sogar noch erschwert worden war, sehr erschwert. Und dieser Umstand schien ihr vor Agrial sehr peinlich zu sein. „Agrial, ich…“ „Es ist in Ordnung. Die Logodoboro haben ihre Aktionen gut versteckt und den Kreis klein gehalten. Aber der Orden hat den Verrat trotzdem bemerkt, trotzdem den Turm angegriffen und die Verschwörung ausgehoben. Aus diesem Grund habe ich den Orden initiiert und dich mit dieser wichtigen Aufgabe betraut, Tevell.“ „Aber wir hätten früher…“ „Tevell, ich bin jetzt viertausend Jahre alt und glaub mir, ich habe mich ausreichend mit „hätte, könnte und sollte“ herumgeschlagen. Wenn man dreitausend Jahre in so einem verdammten Tank gefangen ist und als reine Recheneinheit ohne Entscheidungsgewalt verwendet wird, hat man dazu sehr viel Zeit.“ Die jüngere Frau stutzte. „Du hättest wahnsinnig werden können.“ „Vielleicht bin ich das ja schon“, konterte Agrial bissig. „Auf jeden Fall ist mein Temperament ein wenig hitziger geworden, als ich es in Erinnerung habe. Auch ansonsten habe ich mich mit meiner Freiheit noch nicht ganz abgefunden. Weißt du, keine Kleidung zu tragen kann sehr vorteilhaft sein. Wenn man dreitausend Jahre lang nackt in einer Nährlösung schwimmt, kommt einem das Gewicht der Kleidung irgendwie seltsam vor. Selbst bei einer Daima wie mir. Dreitausend Jahre sind dreitausend Jahre.“ Tevell wurde rot und hob eine Hand. „Nein, lass mal, Schatz. Ich weiß, was du sagen willst. Aber das gehört auch zu den „hätte und könnte“, weißt du? Du hast halt nicht gewusst, dass mein eigener Rat meine Macht geraubt, mich entführt und in einen Tank gesteckt hast. Du wusstest nicht, dass die Geschichte mit der Friedensmission nach Iotan nur eine Finte war. Wie hättest du es auch wissen sollen? Also nimm es dir nicht zu Herzen und reg dich nicht auf. Es war in dem Moment Vergangenheit, als mich dieser süße Torum Acati aus dem Tank befreit hat.“ Tevell stoppte. „Hast du ihn gerade süß genannt?“ „Wieso, stimmt das etwa nicht? Ich habe schon immer den maskulinen Typ bevorzugt. Groß, mit kantigen Gesichtszügen und breiten Schultern und einer ordentlichen Portion flauschiger Haare auf der Brust. Das ist ein Mann für mich.“ „Für die Haare auf der Brust kann ich mich nicht verbürgen, aber… Warte mal, warte mal, Torum ist keine tausend Jahre alt! Ist er nicht etwas jung für dich?“ Agrial stutzte. „Bin ich mit ihm verwandt? Ich meine, tausend Jahre sind eine lange Zeit und ich nehme an, dass meine Geschwister Kinder in die Welt gesetzt haben und so.“ „Nein, soweit ich weiß seid ihr nicht verwandt. Sein Vater ist ein Daima und seine Mutter eine Daness.“ „Ist er mit dir verwandt?“, argwöhnte die Herrin der Logodoboro. „Ja, um fünf Ecken ungefähr. Wieso?“ „Gut. Eine Konkurrentin ausgeschaltet.“ „Äh, was, bitte?“ Agrial lachte. Es war ein herzhaftes, mitreißendes Lachen. „Nun guck doch nicht so. Das Leben geht weiter und ein Mädchen muss sehen, wo es bleibt. Torum ist doch wirklich niedlich, und erzähl mir nicht, du hättest das nicht bemerkt, Tevell.“ „Doch, schon“, erwiderte die Meisterin des Ordens. „Aber er ist so viel jünger und so was gehört sich doch nicht zwischen Meister und Begam.“ Agrial seufzte laut und tief. „Hast du eigentlich ein Privatleben, oder geht deine ganze Zeit für den Orden drauf? Ich meine, kannst du in dem Fall überhaupt die Zeit erübrigen, um mit mir hier spazieren zu gehen?“ „I-ich habe ein Privatleben! Ich bin vielleicht nicht vergeben oder habe einen Mann in Aussicht, aber ich habe ein Privatleben!“, versicherte Tevell mit hochrotem Kopf. „Und ich kann es jederzeit verantworten, mit meiner alten Lehrmeisterin in einem Garten spazieren zu gehen, weil es nie verschwendete Zeit ist.“ „Das ist gut zu hören“, schloss Agrial und lächelte. Tevell sah sie von der Seite an. „Die Zeit war gut zu dir. Ich weiß, man altert in einem Tank nicht, aber du siehst noch immer so jung aus, als wärst du gerade erst zwanzig. Das ist nicht nur die Fähigkeit von uns Daima, die eigenen Zellen zu kontrollieren. Das ist eine Fügung der Götter.“ Agrial strich sich unbewusst über ihr schwarzes Haar. „Findest du? Ich fand glatte Haare immer langweilig. Aber Locken drehen wollte ich auch nie. Und Zöpfe flechten ist so aufwändig. Aber ein paar Pferdeschwänze hat man schnell gedreht und die Männer mögen langes, gepflegtes Haar. Und dann ist da noch mein Teint. Viel zu blass. Zusammen mit den roten Augen wirke ich ja wie ein Raubtier.“ „Wäre ja nicht mal so falsch, der Vergleich“, brummte Tevell. „Wie war das?“ „Na, stimmt das vielleicht nicht? Seit wir hier im Garten sind, redest du nur über Männer! Zum Glück fängst du nicht auch noch mit Frauen an und…“ Agrial lachte erneut. Dann nahm sie die Jüngere in die Arme. „Entschuldige, manchmal vergesse ich die elementarsten Dinge. Ich freue mich natürlich, dich zu sehen. Ich habe nicht gewusst, was oder wer mich erwarten wird, sollte ich jemals aus diesem Tank rauskommen. Und ich bin sehr glücklich, dich wider erwarten sehen zu können. Und das du gesund bist, ist am schönsten. Meine kleine Tevell. So erwachsen und so verantwortungsvoll bist du geworden.“ „Ich habe dich vermisst“, hauchte die Frau, die den Orden kontrollierte. „Ich habe dich jeden Tag vermisst, Agrial.“ „Und ich habe dich vermisst, kleine Schwester. Ich bin so froh, dass ich dich wieder sehen darf.“ So standen sie eine Zeitlang voreinander, umarmten sich und schluchzten leise. „Jetzt geht es mir besser. Danke. Ich meine, ich bin eine der mächtigsten Frauen von Naguad Prime, ja vom ganzen Imperium. Aber es tut gut, jemanden zu haben, bei dem man einfach mal schwach und hilflos sein darf.“ „Ja, ich weiß. Es tut wirklich gut, absolutes Vertrauen haben zu dürfen.“ „Was hast du jetzt vor, Agrial? Mit den Ruinen dessen, was du einst gegründet hast?“ „Hm“, machte die Logodoboro, „der Rat hat mir zwei Millionen Menschen meines Hauses zurückgelassen. Ich denke, ich werde einen provisorischen Rat errichten, und ihm so lange vorstehen bis jemand anderes den Job machen kann. Logodoboros hatten schon immer gute Veranlagungen für Führungsaufgaben. Und wir haben immer noch große Besitzungen auf dieser Welt, also alles was wir für einen Neustart brauchen. Danach werde ich die Logodoboro-Besitzungen in den Distrikten und Marken auffordern, dem alten Rat die Unterstützung zu versagen und sich meinem Kommando zu unterstellen. Das gleiche gilt für die Schiffe. Ich rechne damit, dass eventuell zehn Prozent zu mir zurückkehren. Für alles andere werde ich meinen neuen Verbündeten bemühen.“ „Du hast einen neuen Verbündeten?“ „Der Junge weiß noch nichts von seinem Glück, aber ich werde mit seiner Hilfe wieder ein wenig Ordnung in die Dinge bringen.“ Tevell kniff die Augen zusammen. „Du sprichst doch nicht etwa von Aris Arogad, oder? Der Junge ist doch wirklich etwas jung für dich.“ „Was soll das denn heißen? Ich bin im besten Alter, oder?“ Agrial lächelte dünn. „Aber ich glaube, er wäre eher jemand für dich, Tevell.“ „W-warum für mich?“ „Magst du keine tatkräftigen, entschlossenen und vor allem hinterhältigen Männer? Wie er die Arogads und die Daness gegeneinander ausgespielt hat war doch einfach Klasse.“ „Was war denn daran hinterhältig? Er hat einen Bürgerkrieg verhindert.“ „Aha, du magst ihn also“, stichelte Agrial. „M-mögen? Er könnte der Sohn des Sohnes des Sohnes des Sohnes meines Sohnes sein!“ Sie senkte den Blick. „Aber ich setze einige Hoffnungen in ihn, genauso wie du.“ „Dann wollen wir ihm unsere Kraft leihen, oder?“ Agrial schmunzelte. „Nach seinen letzten beiden Coups hat er sicherlich etwas Neues angefangen. Weißt du, wo er sich befindet?“ „In den Vorstädten, zusammen mit Torum Acati. Sie wollen die störrischen Bürger evakuieren.“ „Ein netter Kerl. Sucht sich nie die einfachen Aufgaben. Ach, Tevell, ich habe eine Bitte. Können deine Begams detaillierte Berichte über die Marken und Bezirke anfertigen, die der Rat unter Kontrolle hat? Ich weiß, ihr habt da dieses Gerät, dass AO-Meistern erlaubt, Lichtjahreweit ins All hinaus zu spähen.“ „Ich werde es mit auf den Plan setzen. Aber ich lasse bereits rund um die Uhr beobachten und lasse auch schon weitere Geräte installieren.“ Agrial runzelte die Stirn. „So? Was beobachtet der Orden denn so neugierig?“ „Alle Gebiete, in denen es bisher weder Rebellionen noch desertierende Häuser gegeben hat.“ „Gute Idee“, lobte Agrial. *** Die Vorstädte außerhalb der vereinten Schirme der Türme bereiteten den Hilfstruppen erhebliche Probleme. Nach einer ersten erfolgreichen Welle der Evakuierung stockten die Arbeiten nun beträchtlich. Gerade in den isolierten Vierteln, verschachtelten Blockbauten aus dem ersten Jahrtausend der Besiedlung, hatten sich Naguad regelrecht verschanzt, um der Evakuierung unter den Schirm zu entgehen. Die meisten von ihnen waren Hauslos oder gehörten kleineren Gemeinschaften an. Und damit bereiteten sie den Grandanar, die das Evakuierungsprojekt aus dem Boden gestampft hatten und nun anführten, erhebliche Probleme. Die Vorstädte waren mit radioaktivem Staub durchsetzt. Die Konzentration war nicht tödlich, jedenfalls nicht wenn man sich dem Staub für kurze Zeit aussetzte. Wurden es allerdings Tage oder Wochen, war ein Zusammenbruch des Immunsystems unausweichlich. An manchen Stellen konnte es auch durch die energiereiche Strahlung zu Verbrennungen kommen, die teilweise zentimetertief ins Fleisch reichten. Kurz gesagt, die Naguad, die sich verbarrikadiert hatten, starben auf Raten. Sicherlich würden sie in Tagen oder Wochen bemerken, welche Dummheit sie begangen. Sobald sie ihr Haupthaar verloren, die Haut zu schuppen begann und die Zähne immer lockerer wurden, weil das Zahnfleisch zurückwich. Das war nichts, was die moderne Naguad-Medizin nicht in den Griff bekam… Aber selbst wenn man alle Kapazitäten des Planeten zusammennahm, selbst des ganzen Sonnensystems, würde es nicht reichen, um zeitgleich zwanzigtausend Naguad auf Strahlenkater zu behandeln. In diesem Fall hingegen ging es um geschätzte dreihunderttausend; Männer, Frauen, Kinder. Die Zeit würde kommen, in der die Ärzte vor die schwierige Entscheidung gestellt werden würden, wer leben durfte und wer sterben musste, weil der Platz einfach nicht reichte. All das konnte vermieden werden, wenn man die Naguad unter den Schirm evakuierte. Alle großen Türme, der Rat, das Militär und auch mehrere der kleineren Türme hatten ihre Gästequartiere geöffnet und somit Platz für die gut siebzehn Millionen Bewohner der Vorstädte geschaffen. Die Versorgung war gesichert und es gab auch schon Pläne, den radioaktiven Staub aus den Vorstädten zu entfernen. Sichere, funktionierende Pläne. Tausendfach bewährt und in der Geschichte der Naguad schon ein paar Mal erfolgreich ausgeführt. Allerdings überlebte kein lebendes Wesen diese Behandlung, ausgenommen vielleicht ein KI-Meister vom Range Torum Acatis. Das Dilemma war offensichtlich. Keine Evakuierung – keine Präparation der Städte. Keine Präparation der Städte – keine Rückkehr der Bewohner. Die Zurückgebliebenen verschärften nicht nur die Situation für ihre eigene Gesundheit, sie spitzten auch die Lage für diejenigen zu, die mittlerweile in Kasernen oder den Türmen Zuflucht gefunden hatten. Hätte das Militär noch an diesem Tag mit der Operation begonnen, binnen einer Woche wäre die erste Stadt wieder freigegeben worden. So aber mochte es alleine Wochen dauern, bevor sie präpariert werden konnte. In dieser Zeit konnte alles geschehen, von Protestnoten bis hin zu Aufständen der unzufriedenen Evakuierten, die in ihre Häuser zurückkehren wollten. Und auf jeden Fall waren da draußen gut dreihunderttausend Naguad, die mit ziemlicher Sicherheit sterben würden. Und wofür? Ihren Dickschädel und ihr Misstrauen gegen die staatliche Autorität. „Wer ist der Blödmann?“ „Der? Dieser verrückte Bursche in der Arogad-Uniform? Der alles und jeden ausfragt? Der im Kartenraum auf und abläuft?“ „Genau der. Er stört uns bei unserer Arbeit.“ „Er ist mit Torum Acati gekommen. Mit ihm und hundert von Acatis Elite-Soldaten.“ „Ach, wieder so ein Idiot? Warum lässt man es nicht einfach unser Haus Grandanar und die Koromandos machen, und wartet das Ergebnis ab? Warum schicken sie uns die unerfahrenen Wichtigtuer?“ „Der Wichtigtuer hat ziemlich gute Ohren“, raunte ich in die Unterhaltung der beiden Grandanar-Offiziere. Beide zuckten zusammen. „Und der Name des Wichtigtuers ist Aris Arogad, wenn ihr zwei es genau wissen wollt.“ „D-der Hauserbe?“ „Was? DER Aris Arogad? Meister Arogad, verzeihen Sie, wir…“ „Und der Wichtigtuer hätte gerne eure Meinung über den Bezirk zwischen Andori-Straße und Caplam-Platz. Wie sieht es da unten aus? Wie viele Naguad haben sich dort verbarrikadiert? Was ist mit einer freiwilligen ärztlichen Versorgung?“ Der Ältere der beiden straffte sich. „Andori-Straße bis Caplam-Platz ist offenes Kriegsgebiet. In diesem Stadtteil siedeln viele Veteranen der Flotte, die sich keinem Haus angeschlossen haben. Viele haben ihre Ausrüstung noch immer zuhause, und einige setzen sie auch ein. Sie haben keine schweren Waffen, aber selbst mit einem Karabiner gibt ein fähiger Soldat einen guten Scharfschützen ab. Zudem wurden Barrikaden aufgetürmt, hinter denen sie sich verschanzen können. Eine vertrackte Lage, die nicht aus der Luft geklärt werden kann, weil die Straßen verwinkelt und klein sind. Der Caplam-Platz würde für einen Angriff einen guten Landeplatz bieten, aber erstens gab es noch keinen Befehl dazu und zweitens wäre eine Eingreiftruppe hier im offenen Schussfeld. Die Verluste wären astronomisch hoch, Meister Arogad.“ „Sie gehen also davon aus, dass auf die Soldaten, die die Evakuierung leiten werden, geschossen wird.“ „Es wurde bereits auf sie geschossen. Wenn Sie mich fragen, Meister Arogad, haben wir es hier mit einem Aufstand zu tun! Einem Aufstand!“ „Einem Aufstand von Leuten, die radioaktiv kontaminiert wurden und vor Angst nicht wissen, was sie da wirklich machen. Also, wie sieht es mit einer freiwilligen ärztlichen Versorgung aus? Gibt es keine Menschenfreunde im Militär, die ihr eigenes Leben riskieren?“ Der Jüngere seufzte. „Meister Arogad, es ist nicht so als hätten wir das nicht probiert. Aber die Naguad in den Vorstädten sind extrem misstrauisch und schießen auf alles, was nach Militär aussieht. Ehrlich gesagt zeigt die Satellitenüberwachung, dass es bereits zu Plünderungen kam und wir befürchten, dass diese Menschen einfach die Strafe befürchten.“ Ich brummte unwillig. Dieser Platz bis hin zu dieser Straße würde eine ganze Vorstadt defacto halbieren. Wer diese beiden Punkte kontrollierte, hatte aus einer riesigen Vorstadt zwei kleinere gemacht. Und mit kleineren Städten konnte man leichter umgehen als mit einer großen. Zudem schrumpfte das Gebiet, dass man aufrollen musste. „Plünderungen? Lebensmittel aus öffentlichen Verteilzentren?“ „Äh, was? Öffentliche Verteilzentren?“ „So muss man die Supermärkte auf der Erde bezeichnen. Du weißt doch, er ist nicht von hier“, zischte der Ältere. „Ja, Meister Arogad, hauptsächlich Lebensmittel aus öffentlichen Verteilzentren und, äh, Niedrigpreissegmentgeschäften. Wir nennen sie Discounter.“ Ich bemühte mich, sowohl ein Lachen aus auch eine zynische Erwiderung zu unterdrücken. Irgendwie mochte ich die Jungs. „Ihre Namen, meine Herren.“ „Joglund Grandanar, Meister Arogad.“ „Festram Ortis, Meister Arogad.“ „Zur Kenntnis genommen. Torum?“ „Ich bin direkt in Hörweite. Planst du etwa was, mein junger Freund?“ „Ich brauche einen Schweber.“ „Soll ich ein Begleitkommando für dich zusammenstellen, Akira?“ „Du kannst ja mitkommen, wenn du Lust hast. Ansonsten bitte nur Freiwillige. Ich habe nicht vor, mir da draußen Freunde zu machen.“ Ich grinste wölfisch. „Du fliegst in eine Stadt, die gerade geplündert wird, die von Veteranen diverser Kriege besetzt ist, zudem radioaktiv verseucht und willst dir keine Freunde machen?“ Acati schmunzelte. „Interessant. Natürlich bin ich dabei.“ Zufrieden nickte ich. „Oberst Joglund Grandanar“, sprach ich den Älteren an. „Meister Arogad?“ „Über wie viele Schrittmeter verfügen Sie hier?“ Schrittmeter war ein Jargonwort, eines, das in der Naguad-Flotte geläufiger war als der Fachbegriff für das Gerät. Im Klartext sagte einem das Gerät, wie viel Schritte man besser zulegen sollte, denn defacto maß es Radioaktivität an. Auf der Erde nannten wir dieses Gerät Geigerzähler. „Wir haben etwas über achtzig Stück, dazu weitere zwanzig in den Spezialteams.“ „Wie schnell können Sie mir zehntausend oder mehr besorgen?“ Der Mann sah mich überrascht an. „Ein paar Stunden vielleicht, wenn die anderen Türme ihre Bestände hergeben. Aber wieso?“ „Besorgen Sie die Schrittmeter und verteilen Sie sie an die Stadtbevölkerung. Radioaktivität kann man nicht sehen, nur messen. Vielleicht werden ein paar Bürger williger wenn sie mit eigenen Augen sehen, in was für einem Schlamassel sie gerade sitzen.“ „Ja, Meister Arogad. Festram, du klapperst die Türme ab. Ich spreche mit dem Militär.“ „Okay.“ „Und? Wo bleibt mein Transportmittel?“, fragte ich Torum Acati mit einem dünnen Grinsen. „Sollen ein paar Schrittmeter auf dem Transportmittel bereitstehen, Aris Arogad?“ „Das wäre nett, Begam Acati.“ „In fünf Minuten, Aris Arogad.“ Der Mann grinste schief. „Ich mag dich, Torum Acati.“ „Ich dachte, du hast ne Freundin.“ „Bitte keine schlechten Witze in Krisensituationen.“ „Du hast damit angefangen“, konterte Acati. „Ich bleibe ja auch nur in deiner Nähe, weil es hier nie langweilig wird.“ „Was für ein Kompliment“, erwiderte ich. Und ich hoffte, es war auch eines. *** „Du bist wirklich ein selten arroganter Bastard“, raunte mir Acati zu. „Stellst dich hier so offen zur Schau und lädst jeden halbwegs kompetenten Scharfschützen dazu ein, dir eine zu verpassen.“ „Was denn, was denn? Das geht dir schon auf die Nerven, alter Junge?“, erwiderte ich bissig. „Das von dem Mann, der die AURORA angegriffen hat?“ Ich hustete hart. Dieser Gedanke brachte ein paar Erinnerungen hoch, die nicht so schön waren. Vor allem den Gedanken, dass wir damals Feinde gewesen waren. Wie es jetzt aussah, wusste ich noch nicht mal, wenn ich ehrlich war. Acati mitzunehmen konnte ebenso Fehler wie Chance sein. „Wer steht denn hier offen sichtbar für jedermann und wirft sich auch noch in Heldenpose?“ Ich musterte Acati. Okay, er stand nicht im offenen Gleiter, wie ich es tat. Aber er hatte sich ziemlich lässig in die Polster gefläzt und die Beine übereinander geschlagen. Und er sah relativ entspannt zu mir auf. „Heldenpose? Spinner.“ „Vorsicht was du sagst, junger Arogad. Das kann man durchaus als Admiralsbeleidigung werten.“ „Das kannst du nicht nur so werten, das war auch eine!“ „Was? Du kleiner Dreikäsehoch! Willst du dich etwa mit mir anlegen? Da musst du aber noch etwas früher aufstehen, sagen wir fünfhundert Jahre, damit mir nicht langweilig wird!“ „Ach ja? Ach ja? Auf der AURORA hätte ich dich durch die Mangel gedreht, wenn ich nicht das Schiff hätte beschützen müssen!“ Und Joan, ging es durch meine Gedanken. „Da habe ich doch gar nicht aufgedreht! Das war ja nur halbe Kraft! Sind wir etwas sehr von uns selbst überzeugt, Meister Arogad?“ „Ich stehe hier in einem offenen Gleiter und lande gleich auf einem freien Platz, der angeblich von aufständischen und bewaffneten Bürgern umlagert ist, oder?“ „Meister Arogad, Admiral Acati…“, meldete sich der Pilot zögerlich. „Was?“ „Wir sind schon gelandet. Seit etwa zwei Minuten. Und es scheint, als würde nicht sofort auf uns gefeuert werden.“ Erstaunt sah ich mich um. „Oh. Wie gut.“ „Hey, wir streiten gerade!“, rief Acati mir nach, als ich mich über den Rand des Gleiters schwang. „Wir können ja nachher weiter machen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Oder willst du hier ein kleines Duell? Ich habe keine Probleme damit, mich durch Naguad Prime zu bohren.“ Acati schwang sich ebenfalls aus dem Gleiter. „So siehst du aus. Wir würden einen neuen Vulkan produzieren. Und das mitten in der Hauptstadt.“ Der Admiral rieb sich nachdenklich das Kinn. „Hm. Schirmfelder würden die Lava bändigen. Die Erdbeben können wir kompensieren. Und wir hätten eine neue Attraktion in der Vorstadt.“ „Du spinnst, Admiral. Ein Thermogeschütz erledigt diese Arbeit schneller und sauberer.“ „Jetzt bist du es, der spinnt. Das Thermogeschütz hätte zu große Streuwirkung und würde die halbe Stadt abbrennen. Wir reden hier von einem Geschütz für den Raumkampf. Es braucht genügend Energie, um auch nach zwei Millionen Kilometern noch mit ein wenig Wumms ins Ziel einzuschlagen. Von der Fokussierung mal gar nicht zu reden.“ „Könnten die beiden Herren ihre Zerstörungstheorien für einen Moment beiseite schieben?“, mahnte der Pilot. „Wir kriegen nämlich Besuch.“ Ich wechselte einen Blick mit Torum. „Dein Mann?“ „Nein, aber ich denke, ich will ihn haben. Einen Admiral und einen Hausmeister Maßzuregeln erfordert eine Menge Mumm.“ „Ihr Name, Corporal?“ „Jonsto Fioran, Meister Arogad.“ „Haben Sie schon mal daran gedacht, in ein anderes Haus zu wechseln oder zu einer Spezialeinheit wie die des Admirals zu gehen?“, fragte ich freundlich. „Nun, das sind großzügige Angebote“, erwiderte der Fioran. „Hört auf uns zu ignorieren!“, blaffte der vorderste der gut zwanzig Männer, die bis auf Rufweite zu uns herangekommen waren. „Kleine Kinder haben den Mund zu halten, wenn sich Erwachsene unterhalten!“, rief ich zurück. „Das hat mich eigentlich immer an dir interessiert, Akira. Willst du dir mit Absicht Todfeinde machen? So wie jetzt?“ „Was heißt hier kleine Kinder, du Zwerg? Ich habe zwanzig Jahre gedient, und das in einer Mark in einer Infanteriedivision! Was hast du schon drauf?“ Ernst sah ich herüber. „Sieben Jahre Dienst und ein paar tausend Tote auf meinem Gewissen.“ „Ein paar tausend gleich? Die Banges-Industrie bei euch muß ja dank dir mächtig zu tun haben“, murmelte Acati. „Es waren nicht alles Banges. Wir nennen sie übrigens Mechas. Die meisten Toten gab es in den Schiffen, die ich zerstört habe.“ „Warum wundert mich das jetzt nicht?“ Acati grinste dünn. In die Männer war Unruhe gekommen. Leise diskutierten sie miteinander. Ich hörte Wortfetzen heraus wie Arogad, Hausuniform und Admiral. Stellenweise fiel auch der Name Acati, meistens ehrfürchtig. „Es war wohl doch eine gute Idee, dich mitzunehmen“, brummte ich in Acatis Richtung. „Ach wie gnädig, dass Sie das bemerken, Meister Arogad.“ „Wenn du weiter so spottest schicke ich dich wieder nach Hause. Und ohne Abendbrot ins Bett, junger Mann“, scherzte ich. „Ich fürchte mich. Du bist so streng mit mir. Das sage ich alles meiner Mama und die verhaut dich dann.“ „Ihr macht euch doch nicht etwa lustig über uns?“, argwöhnte der Anführer. „Nein, wir machen uns übereinander lustig. Ist das nicht erlaubt?“ Die Männer steckten kurz die Köpfe zusammen und diskutierten dieses Thema. Ich seufzte. „Ein Komitee. Die haben ein verfluchtes Komitee gegründet. Und nun wird jede Entscheidung ausdiskutiert.“ „Was diskutieren sie wohl gerade?“, fragte Torum nachdenklich. „Wenn Sie mich fragen, Admiral, diskutieren sie darüber, mit wie vielen Einschusslöchern sie uns zurück zu unserem Posten schicken“, raunte der Fioran. „Ich fürchte, der Mann hat Recht“, sagte Acati ernst. „Uns haben mindestens acht Scharfschützen im Visier, und die Waffen sind nicht auf kuscheln gestellt. Einer von ihnen hat sogar ein illegales Partikelgewehr.“ „Also Schluss mit lustig.“ Ich ging auf die Gruppe Männer zu und klatschte in die Hände. „Gut, gut, gut, Herrschaften, genug gespielt. Wir hatten alle unseren Spaß, aber jetzt wird es Zeit, die Sachen zu packen und den Abtransport vorzubereiten. Dieser Platz erlaubt es Schiffen bis zur Größe einer Fregatte zu landen. Eine Fregatte kann immer kurzfristig eintausend Menschen aufnehmen. Ich erwarte, dass ihr die Bewohner in Eintausender-Gruppen organisiert, ohne Familien auseinander zu reißen. In zwei Stunden landet die erste. Geht das soweit klar?“ Ich sah einen Lichtblitz, dann spürte ich einen harten Ruck an meinem Schädel und hörte den Schuss. Ich ging zu Boden, ohne mich abzufangen. „Drängler“, sagte der Anführer. „Ich hasse Drängler.“ „Hey, Junge, geht es dir gut?“, fragte Torum. „Warum soll es mir denn nicht gut gehen? Das war ein Geschoss, kein Schuss aus einem Partikelgewehr.“ Langsam stand ich wieder auf, strich mir den Staub von der Kleidung und bewegte den Kopf ein paar Mal. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. In zwei Stunden. Obwohl, jetzt sind es nur noch eine Stunde dreiundfünfzig Minuten. Ausführung, Herrschaften, Ausführung!“ Ungläubig starrten die Männer mich an, während ich die flach gedrückte Kugel, die noch immer auf meiner Stirn klebte, abpulte. „Das kann kein Mensch sein“, hauchte einer angstvoll. „Und davon lässt du dich beeindrucken? Es gibt noch viel mehr Soldaten in der Armee, die statt eines Stirnknochens eine Stahlplatte implantiert bekommen haben! Das ist nichts Übernatürliches! Was meinst du was mit ihm passiert, wenn wir auf sein Herz schießen? Gut, du kleiner Bastard von einem Haus-Clown! Du hast überlebt! Also geh jetzt zurück zu deinen über tausend Toten und spiel dort weiter! Hier habt ihr jedenfalls nichts mehr zu sagen, klar?“ „Torum, ich verspüre gerade die unstillbare Lust in mir, ein paar Idioten zu töten.“ „Ich bin nicht hier, um dich aufzuhalten, mein Junge.“ „Seid ihr immer noch hier? Und eurer dämlichen Fregatte könnt ihr sagen, sie kann ja innerhalb des Schirms landen und…“ „Was ist dein verdammtes Problem, du Arsch?“, blaffte ich. „Diese ganze Stadt ist radioaktiv verseucht! Wir wollen euch hier rausholen und die Städte säubern! Geht das nicht in eure Schädel rein?“ „Jetzt hörst du mal zu, du arrogantes Großmaul! Ich kenne euch Trottel von den Häusern! Ihr inkompetenten Inzuchtprodukte glaubt doch, euch gehört das Universum und jeder muß tun was ihr sagt! Aber nicht mehr mit mir! Nicht mehr mit mir! Verschwindet endlich und nehmt eure Schauermärchen mit!“ „Schauermärchen?“ Erschrocken starrte ich den Mann an. „SCHAUERMÄRCHEN? Ja, habt ihr die Explosionen nicht gesehen?“ „Wir haben die Explosionen im Arogad-Turm gesehen, das war ein sehr schöner Anblick“, rief der Anführer spöttisch. „Jonsto, bitte, sind Sie so nett und holen mir einen Schrittmeter aus dem Gleiter?“ „Sofort, Meister Arogad.“ Der junge Soldat kam kurz darauf mit dem Messgerät zu mir zurück. Ich schaltete es ein. Sofort begann ein Warnblinklicht zu leuchten. „Oh, hm, tja, das habe ich mir so gedacht. Fünftausend Weg an dieser Stelle.“ Ich schwenkte den Sensor hin und her. „Da hinten sind es sogar sechseinhalbtausend Weg und hier nur etwas über viertausenddreihundert. Corporal Fioran, was wissen Sie über die radioaktive Belastung auf diesem Planeten?“ „Sir. Jeder Naguad ist einer natürlichen Belastung von vierhundert Weg ausgesetzt, das ist die normale tägliche Dosis. Einhundertvierzig Weg kommen als kosmische Strahlung aus dem Weltraum, einhundertzwanzig aus dem Boden in Form ionisierter Edelgase und der Rest emissiert unser eigener Körper.“ „So, so. Vierhundert Weg ist also die normale Dosis. Corporal, was passiert mit einem Menschen, der fünftausend Weg ausgesetzt ist?“ „Eigentlich nichts, wenn er nicht besonders anfällig ist oder einer zu stark strahlenden Quelle zu nahe kommt.“ Die Männer lachten leise bei diesen Worten. Idioten, alles Idioten. Jeder ehemalige Soldat musste doch wissen, dass der Corporal nicht zu einem Freibrief ansetzte. „Jedenfalls nicht bei kurzfristiger Belastung. Nach mehreren Tagen aber kommt es zu strahlenkaterähnlichen Ausfallerscheinungen. Aber ein gesunder Mann kann sicherlich drei oder vier Wochen fast beschwerdefrei überleben.“ „Wir sind hier alle gesund! Also macht das ihr wieder weg kommt!“ „Noch seid ihr gesund! Aber es wird nicht lange dauern, dann haben die ersten Blut im Urin. Dann werden sie anfällig für harmlose Ateminfektionskrankheiten! Die Nieren werden schlechter arbeiten und das Blut schlechter gereinigt. Ihr habt gut lachen. Ihr könnt noch eine ganze Zeit die Dummen spielen. Aber es sind die Alten, die Kranken und die Kinder, die bei diesem Spiel zuerst den Preis zahlen müssen! Es wird nicht mehr lange dauern, dann fallen den Kindern die ersten Haare aus, weil sie noch zu jung sind, ihr Immunsystem besonders störanfällig. Sie werden sich schneller an der energiereichen Radioaktivität verbrennen als ihr Erwachsenen und die Verletzungen werden in dieser Umgebung schlechter abheilen! Dann geht das Zahnfleisch zurück und die Zähne fallen aus. Danach werden sie Blut husten und spätestens nach einem Monat zu sterben beginnen. Und das alles nur, weil ihr plötzlich beschlossen habt, die störrischen Idioten zu spielen!“ Ich hatte übertrieben, wirklich übertrieben. Aber ich wollte verdammt sein, wenn auch nur ein einziges Kind starb, weil es noch länger als die bereits verstrichenen vier Tage fünftausend Weg und mehr ausgesetzt war. „Du verdammter Arsch! Das ist doch sowieso alles eure Schuld! Eure und die der Türme! Wegen euch und euren ewigen Kriegen stecken wir doch jetzt in dieser Klemme! Wir haben es wieder mal den großartigen Häusern zu verdanken, dass unsere Leben noch schlechter werden!“, blaffte der Anführer. „Ach ja? Ach ja? Ich will dir mal was sagen! Ich habe dich nicht gerade bei der letzten Wahl zum Bürgermeister als Kandidaten gesehen! Und als Kandidat für den Rat warst du auch nicht aufgestellt! Erst lässt du alles die da oben machen und fügst dich, anstatt Entscheidungen selbst in die Hand zu nehmen, und dann wenn dich die Entscheidungen mal direkt betreffen, dann schwingst du dich plötzlich zum alles und jeden verstehenden Anführer auf? Du hast doch nur Angst! Und du ziehst alle hier mit! Aber dieser Weg führt in den Tod!“ „Ihr wollt ja nur keine Verantwortung übernehmen, wie immer! Schön reden könnt ihr ja, aber hier ist noch keiner gestorben! Und das wird auch so bleiben, auch wenn wir hier bleiben, wo wir geboren wurden!“ „Schon wieder der Anführer! Was hat dich nur gebissen, dass du ausgerechnet in einer radioaktiv verseuchten Stadt den Boss rauskehrst?“ „Euer Schrittmeter ist doch manipuliert!“ „Er ist nicht manipuliert! Das einzige was hier manipuliert ist, das sind all die Leute, die nicht wissen, in welcher Gefahr sie schweben!“ Ich spürte wie mein Gesicht vor Aufregung glühte. „Verdammt, ich bin hier, um Verantwortung zu übernehmen! Ich bin hier, um euch zu retten! Und ich bin hier, um euch diese Stadt wiederzugeben, sobald wir sie vom radioaktiven Staub gereinigt haben. Mehr solltet ihr nicht verlangen und verdammt noch mal auch nicht erwarten!“ Der Anführer grinste mich an. „Ja, reden könnt ihr gut. Aber sagen tut ihr nichts dabei.“ Aus den Augenwinkeln nahm ich einen weiteren Reflex wahr. Dann umgab mich ein Orkanartiger Sturm, Hitze brandete an mir vorbei. Ich sah erschrocken zur Seite und erkannte Torum Acati, der mit ausgestreckter Rechter seitlich von mir stand. „Das Partikelgewehr, Akira. Kein Problem, wirklich kein Problem.“ „Ihr könnt uns nicht töten, nicht einmal wenn ihr alle zugleich schießt!“, rief ich laut. „Ich weiß, ihr habt alle Angst. Ihr wisst nicht, was euch erwartet! Ihr wisst nicht was mit euch passiert ist. Und ihr vertraut denen nicht, die euch anführen. Vielleicht weil ihr es nicht besser wisst… Oder weil ihr es viel zu gut wisst. Ich weiß, ein Versprechen von einem Mann aus einem Turm ist nicht viel wert bei euch. Ich weiß, mein Wort als Arogad zu verpfänden bedeutet euch gar nichts. Und viele würden eher sterben als diese Stadt zu verlassen. Aber wir können euch nicht hier lassen. Das diese Stadt verseucht wurde ist unsere Schuld, also ist es auch unsere Pflicht, sie wieder zu säubern! Und es ist unsere Pflicht, euch zu beschützen, zu versorgen und euch eure Leben wiederzugeben! Dafür steht der Rat ein! Dafür steht Admiral Acati ein!“ „Hey, was habe ich damit zu tun?“ „Halt die Klappe, Torum. Dafür stehe ich selbst ein! Mein Name ist Aris Arogad und ich habe vor drei Tagen einen Bürgerkrieg zwischen den Daness und den Arogad verhindert. Da wirkt das Problem, diese Stadt wieder bewohnbar zu machen wie ein Kinderspiel. Und es ist ein Kinderspiel! Wenn ihr alle mithelft. Ihr werdet zurückkehren, ihr werdet hier wieder leben können! Das verspreche ich!“ „Ich sagte es schon, wir glauben euch nicht!“, rief der Anführer wieder. Ich seufzte leise. „Vielleicht solltest du, nachdem du dich endlich entschlossen hast wie ein Anführer zu handeln, es endlich tun und deine Leute fragen was sie denken? Das Beste für dich und deine Leute auswählen? Anführer sein ist nicht leicht und man kann es niemals allen recht machen. Und man kann sich selbst nicht immer treu bleiben. Aber man kann so vielen wie möglich ein so gutes Leben wie möglich geben.“ Ich wandte mich ab, ging langsam auf den Gleiter zu. „Zweimal. Sie haben zweimal auf mich geschossen! Sie wollten mich töten! Oh, ich könnte diese Kerle in der Luft zerreißen!“ „Reg dich ab. Wenn sie es wirklich darauf angelegt hätten, dann hätten sie mit allem was sie haben Dauerfeuer geschossen“, erwiderte Torum Acati schmunzelnd. „Der Mann ist ehemaliger Unteroffizier. Er weiß, dass es trainierte Männer und Frauen mit deinen Fähigkeiten gibt. Er wollte dir nur Angst machen. Und vielleicht wollte er einfach nur aus einem ehrlichen Mund ehrliche Worte hören, die ihm sagen, was wirklich hier passiert ist und woran sie sind.“ Acatis Blick wurde traurig. „Wenn ich ehrlich bin, hapert es da bei unserem Rat etwas. Und ich bin als Admiral noch relativ gut informiert.“ „Trotzdem. Sie haben zweimal auf mich geschossen! Zweimal! Und ob ich die Partikelwaffe hätte abwehren können, weiß ich nicht mal!“ „Ich habe nur eingegriffen, weil ich dir die ganze Show nicht alleine überlassen wollte“, meinte Acati und zwinkerte mir zu. „Ja, klar.“ „AROGAD!“, rief der Anführer hinter mir her. Ich stoppte, Acati und der Fioran-Pilot taten es mir gleich. „WAS?“ „Sag mir, was passiert ist!“ „Einer der Türme, Logodoboro, wurde vom Core infiltriert. Seine Agenten haben ein Schiff der Daness übernommen und ließen es auf den Arogad-Turm feuern. Die Schirme des Turms haben gehalten, dann hat er sich mit den Schirmen der anderen acht Türme synchron geschaltet. Die Explosionsenergie ging als Feuerwalze über den Schirm hinweg. Beim Rücklauf der Luft in das durch die Explosionen entstandene Vakuum wurden hunderttausende Tonnen Staub aufgesogen. Der Staub wurde von der Strahlung kontaminiert und setzte sich nach und nach auf den ungeschützten Vorstädten ab. Wir haben es nicht geahnt und wir haben es nicht kommen gesehen, aber zwei Häuser, Grandanar und Koromando, haben sofort reagiert und begonnen, die verseuchten Städte zu evakuieren. Nachdem der Bürgerkrieg zwischen Daness und Arogad abgesagt war, habe ich dafür gesorgt, dass auch diese Türme ihre Kraft in die Evakuierung stecken. Das ist die Geschichte in Kürze. Und nun stehe ich hier. Willst du noch etwas wissen?“ „Ja. Hast du am Wochenende schon was vor?“ Seine Männer lachten, und für einen Moment musste ich selbst ein Schmunzeln unterdrücken. Der Ärger, der in mir aufwallte, half mir dabei. „Leider, leider. Ich muss siebzehn Millionen Naguad das Leben retten. Aber du kannst mir dabei helfen.“ Der Mann verstaute seine Waffe wieder und kam ein paar Schritte auf uns zu. Er hob eine Hand. „Die Scharschützen verlassen ihre Positionen. Interessant“, raunte Acati. „Ihr seid kein Ablenkungsmanöver und ihr seid auch keine kleinen Offiziere, die man beliebig opfern kann“, stellte er fest. „Ihr meint ernst was ihr sagt. Deshalb glaube ich, dass ihr nichts mit dem Core zu tun habt. Deshalb glaube ich, man kann euch vertrauen. Akira Otomo und Torum Acati.“ Ich runzelte die Stirn. „Moment mal. Heißt das, der ganze Kram hier war dazu da um… Um herauszufinden, ob wir Agenten des Cores sind?“ „Äh, nein. Erschießen lassen wollte ich dich, weil du eine lose Klappe hast.“ „Na, danke“, brummte ich unter dem Gelächter der anderen Männer. „Daness schießt auf Arogad, Arogad sammelt seine Schiffe. Zwischendrin Meldungen, dass ein Turm vom Core unterwandert ist. Wie hättest du reagiert, Junge? Es stimmt, ich habe mich nie um Verantwortung gedrängt. Aber ich war mit Oren Arogad dabei, als wir den ersten Core erobert haben. Ich habe gesehen, was sie mit Naguad, was sie mit Iovar machen. Ich wusste nicht was passiert war. Ich wusste nicht, wem ich trauen kann. Ich wusste nicht was noch wahr und was Lüge war. Also nahm ich meine Verantwortung an und beschützte meine Leute.“ „Und dafür harrt ihr in einer radioaktiven Hölle aus?“, argwöhnte ich. „Du hast die Augen eines Kriegers, Junge. Du hast bereits viel zu viel gesehen. Aber du hast den wahren Schrecken noch nicht gesehen. Du warst nicht da. Du hast nicht auf den Befehl von Admiral Lencis auf die Reihen der Tanks mit den aus ihren Körpern entfernten Gehirnen geschossen. Du hast…“ Der Mann schluckte hart, als ihn die Erinnerungen übermannten, die fast zweitausend Jahre alt waren. „Du hast nicht gesehen, zu was der Core fähig ist. Als er hier angriff, in unserem Zentrum, unserem Herz, konnte ich nur nach meinem Gewissen handeln.“ Er trat direkt vor mich und streckte mir beide Hände entgegen. „Du kannst mich jetzt verhaften, Junge. Die anderen werden kooperieren. Ruf deine Fregatten.“ Ich sah auf die Hände. „Verhaften?“ „Nun, ich habe zweimal auf Aris Arogad schießen lassen, den Erben des Ratsvorsitzes der Arogad.“ „So habe ich das gerne! Erst große Reden schwingen und dann die Arbeit auf andere abwälzen, was? Nichts da! Du bleibst schön hier und organisierst die Evakuierung deiner Leute selbst! Ich mach doch hier nicht jeden Scheiß! So ein Kerl! Lässt sogar auf mich schießen, damit ihm der Verwaltungskram erspart bleibt! Aber nicht mit mir, also zurück an die Arbeit!“ Abrupt wandte ich mich ab und ging die restlichen Meter zum Gleiter zurück. „In fünf Stunden komme ich wieder und dann will ich hören, dass fünf Fregatten fünftausend Naguad evakuiert haben, verstanden?“ „Jawohl, Meister Arogad.“ Ich wandte mich noch einmal um. „Das heißt Division Commander Akira Otomo. Offizier der United Earth Mecha Force.“ „Meinetwegen auch das“, erwiderte der Mann schmunzelnd. „Na also“, brummte ich, schwang mich in den Gleiter und hörte wie Torum sich neben mir in die Polster lümmelte. „Jonsto, nach Hause. Die Evakuierung geht weiter.“ „Einmal zum Hauptquartier, kommt sofort, Division Commander Akira Otomo.“ Er zwinkerte mir zu, bevor er startete. „Hm. Ein paar von euch können ja doch zuhören.“ „Ein paar“, gestand Torum ein. „Wir sollten öfters solche Ausflüge machen, Akira. Das hat Spaß gemacht.“ Spaß gemacht? Ungläubig starrte ich den Admiral an. „Du bist kein Mensch, oder?“ „Natürlich nicht. Ich bin ein Naguad.“ Er zog seine Schirmmütze über sein Gesicht. „Weckt mich, wenn wir wieder zurück sind, ja?“ „Eventuell“, scherzte ich, während der Gleiter startete. Es wartete noch eine Menge Arbeit auf uns. Sehr, sehr viel Arbeit. 4. Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl für Henry William Taylor, hier in den Elwenfelt-Turm zurückzukehren. Und es war noch seltsamer zu erleben, wie die Haus-Mitglieder ihn behandelten. Selbst zu seiner besten Zeit, vor seiner Flucht in den Arogad-Turm, als er noch als entmachteter Anführer einer zukünftigen Elwenfelt-Mark galt, war er nicht so freundlich empfangen worden. Und bestimmt hatte er nicht diese umfassenden Rechte in den Archiven. Alles was ihn interessierte und bisher verschlossen und versiegelt gewesen war, öffnete sich für ihn als hätte es niemals Kodierungen, Sicherheitsfallen und Geheimhaltungsstufen gegeben. Nach seiner Recherche im Logodoboro-Turm – eigentlich steckte er ja noch mittendrin – war er schnell auf einen Querverweis gestoßen, der ihn in den Elwenfelt-Turm zurückgebracht hatte. Sicherheitshalber hatte er sich eine Empfehlung von Oren Arogad geholt, Akiras Unterstützung, genauer gesagt hatte er sich Sora Fioran und Franlin Litov ausgeliehen und war damit zu Elwenfelt zurückgeflogen. Ein wenig irritiert hatte es ihn, dass Megumi ihm dieses kleine Gör Gina Casoli aufs Auge gedrückt hatte. Was sollte eine Köchin schon in einem Archiv für eine Hilfe sein? Er verließ sich lieber auf das Historiker-Team, das Akira ihm zur Verfügung gestellt hatte, und dessen Mitglieder mittlerweile auf fünf Türme verteilt waren. Elwenfelt war der sechste und Henry plante nicht, so schnell wieder fort zu gehen. Vielleicht half auch ein wenig die Tatsache, dass Sora eine Fioran-Assasinin war, eine der besttrainiertesten Mordmaschinen in diesem System, vielleicht sogar im ganzen Imperium. Eventuell hatten die Elwenfelt Angst. Oder auch nicht, stellte Henry resignierend fest, als Franlin von einem seiner Interviews zurückkam. Als offizieller Sprecher von Aris Arogad hatte er hier sämtliche Verpflichtungen des Fliegerjungen übernommen. Unter anderem hatte er schon zum vierten Mal erklären müssen, unter welchen Umständen Jarah Arogad Elwenfelt-Gene erhalten hatte. Franlin hatte bei der Geschichte kein Blatt vor dem Mund genommen und die ganze Geschichte unverfälscht erzählt. Seitdem trafen Henry vermehrt bewundernde und verehrende Blicke. Immerhin war es sein Großmut gewesen, der einer der höchsten Töchter der Arogads das Leben gerettet hatte – und zwar mit ihren Genen, dem Pool der Elwenfelt. Sicherlich hofften nicht wenige Naguad dieser Generation im Turm, dass sich dadurch die erkalteten Beziehungen zu Arogad wieder verbesserten. Immerhin waren die Türme lange Jahrhunderte beste Verbündete gewesen, bevor Fioran ihnen den Rang abgejagt hatte. Egal. Die Arbeit ungestört verrichten zu können war wichtiger. Beinahe ungestört. Fast ungestört. Eigentlich störte er sich selber, weil er immer wieder zu der konzentriert arbeitenden Gina herüber sah. Entgegen seinen Erwartungen machte sie ihre Arbeit bisher gut – Logodoboro-Unterlagen checken und anhand der Querverweise die entsprechenden Datenbanken der Elwenfelt markieren. Sie spürte laut Plan gerade der Daima-Legende nach. Es gab in jedem Turm andere Geschichten zu diesem Themenkomplex, Variationen, Neues, viele Teile eines Mosaiks, die sich sehr oft glichen, aber dann wieder Details offenbarten, die vorher unbekannt waren. Diese unbekannten Details jagte sein Team gerade. Ausgearbeitet sollten sie das ergeben, was Henry bei sich das unvollständige Bild einer verzerrten Vergangenheit nannte – den bestmöglichen Blick in die hohe Zeit der Daima. In dieser Epoche lag die Antwort auf viele seiner Fragen. Dieser Suche hatte er sich verschrieben. Und er wusste, dass die Beantwortung der einzelnen Fragen neue aufwerfen würde und er weiter forschen würde, und weiter und weiter und… Wie das Kaninchen in die Augen der Schlange starrrte Henry auf den schlanken Arm, der sich in sein Gesichtsfeld schob. Besonders interessiert starrte er dabei auf die braun gebrannte Frauenhand, die gerade ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit vor ihm abstellte. „Du solltest etwas trinken, Henry“, tadelte ihn eine altbekannte Stimme. „Ich kenne dich. Wenn du in einem Thema drin bist, könntest du glatt verdursten, wenn niemand auf dich aufpasst.“ Sein Herz drohte ihm bis zum Hals zu schlagen. Erschrocken fuhr er herum. „Ai?“ Die Frau, die auf ihn herab lächelte war Gina. Nur Gina. Nur… Nein. Das konnte doch nicht sein. Da war etwas in den Augen der Frau aus Argentinien, das war so vertraut… Das war so bekannt und so… „Ai?“, hauchte er leise und erhob sich. Verdammt, Akira hatte doch gesagt das er sie nicht hatte beschützen können! Dass sie gestorben war, auf der AURORA, im Kampf gegen Torum Acati! Aber diese Augen, dieser Schimmer, dieser Blick! Das konnte doch nicht sein! „Ai!“ Übermütig schloss er die junge Frau in die Arme. Ohne Halt begann er zu zittern, während er den warmen Leib an sich drückte. „Ai“, schluchzte er ihr ins Ohr. „Ai, ich dachte du bist tot! Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen!“ „Technisch gesehen“, erwiderte Gina und stemmte sich halbherzig gegen Taylors Griff, „siehst du sie auch gerade nicht wieder, weil das eigentlich mein Körper ist. Aber Ai-chan und Corinne waren der Meinung, dass wir dir endlich die Wahrheit sagen sollten, egal wie beschäftigt du bist, Henry.“ Erschrocken sah sie ihn an. „D-das ist mir nur so raus gerutscht, Legat Taylor!“ Langsam löste er sich von der jungen Frau. Mit einem Lächeln strich er ihr über den Kopf. „Gina, du darfst mich immer und jederzeit Henry nennen. Ich könnte sowieso nicht unterscheiden, wer es gerade sagt. Du, Ai oder Corinne Vaslot.“ „Danke, das ist sehr… Moment mal, ich habe Corinnes Nachnamen doch überhaupt nicht genannt!“ „Ich habe nur eins und eins zusammengezählt.“ Henry setzte sich wieder und bot der jungen Frau ebenfalls einen Platz an. „So, nachdem der erste Schreck und die erste Freude abgeklungen ist, will ich dir, oder besser euch, etwas erklären und ihr drei korrigiert mich einfach. Erstens. Corinne Vaslot gehört zu einem Spezialprojekt unserer Agentenausbildung, dem No Trace-Projekt, dass es ermöglichen sollte, Agenten in die Körper von hochrangigen Menschen zu verpflanzen, um so die perfekte Spionage zu begehen, richtig?“ Gina nickte. „Aber die Zerschlagung des Legats kam zu früh und zu schnell. Stattdessen wurde das Projekt auf die Erde ausgelagert und von Spionage auf Attentat verlegt. Da diese Forschung dem Magier Tora unterstand wurden vor allem seine Zöglinge dazu herangezogen. Also Menschen, die zumindest Erfahrung im Umgang mit KI hatten. Richtig?“ Wieder nickte die Argentinierin. Ursprünglich wurde Corinne offensichtlich in die bedauernswerte Gina verpflanzt, nachdem ihre, nun, Freundschaft mit Mamoru Hatake bekannt wurde. Damit brachte man sehr effektiv eine Attentäterin in die unmittelbare Umgebung vom Fliegerjungen.“ Als Gina ihn verständnislos ansah, ergänzte Henry: „Akira.“ „Ach so, ja.“ „Leider ging alles schief. Corinne hat sich von Akira mächtig beeindrucken lassen oder gleich in ihn verknallt und ihren Auftrag nicht ausgeführt, richtig?“ „Ersteres“, erwiderte Gina mit geröteten Wangen. „Dann kam der Kampf mit Torum Acati und Ai hat die Waghalsigkeit, ja, den Todesmut besessen, ihn anzugreifen. Damit hast du Akira wertvolle Zeit erkauft, wie ich weiß, aber der Preis war hoch. Acati, brodelnd vor KI, hat dich getötet und fort geschleudert. Gina muss dich relativ schnell gefunden haben.“ „Sie wurde mir direkt in die Arme geschleudert“, korrigierte die Italienerin verlegen. „Und dabei…“ „Und dabei wurde ihre Seele aus ihrem sterbenden Körper gerissen. Acati war aufgeladen mit seinem eigenen KI. Er war wie ein großer Bandgenerator und hat teilweise Energie auf Ai übertragen, ohne es zu wollen. Und dabei…“ „Im Prinzip ganz richtig, nur ist Ais Körper nicht tot. Er ruht in der AURORA in einem Biotank. Aber sie kann nicht mehr zurückwechseln. Wir dachten, Akira und die Naguad könnten uns bei unserem Problem helfen. Aber bisher hatte einfach noch keiner Zeit für uns… Bitte schau mich nicht so an, Henry. Wir sind hier zu dritt im Körper, und eine hat Angst vor dir, die zweite birst fast vor Respekt vor dem Legaten und die dritte ist… Schwamm drüber.“ „Angst vor mir?“ Henry lachte. „Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben, Gina.“ „Ich doch nicht. Ai hat Angst, weil sie so eine Dummheit gemacht hat.“ Taylor schluckte trocken. „Nun setz dich endlich. Kein Wunder, dass du mit dieser Arbeit so gut klar kommst, wenn du das denken drei Personen überlassen kannst. Hilfst du mir beim Iotan-Block? Ich glaube, das ist ein interessanter Komplex, der uns einige Antworten bringen wird.“ „Gerne“, rief Gina erfreut. „Und sicher wird er uns für jede Antwort eine neue Frage bescheren.“ „Sicherlich“, schmunzelte Taylor. „Über das andere Thema reden wir nachher… Ai.“ Gina hustete, als hätte sie sich verschluckt? „So? Ich aber nicht, und… Mist, jetzt habe ich laut geredet. Alles in Ordnung, Henry, alles in Ordnung.“ „Du teilst deinen Körper mit zwei weiteren Frauen und denkst es ist alles in Ordnung? Du bist sehr optimistisch, Gina“, spottete Henry. „Ich bin ja nur froh, dass ich den Körper mit keinem Mann teilen muss“, brummte sie unwillig. „Argument.“ Und treffend auf den Punkt gebracht. *** „Und der Arogad-Turm ist wirklich drei Kilometer hoch?“, rief Soren aufgeregt. „Aber natürlich“, erwiderte ich und sprang mit dem kleinen sechsjährigen Jungen auf den Schultern ein paar Treppenstufen herab. Dem Kleinen gefiel das natürlich. Er lachte aus vollem Hals. „Ich habe jede Menge Cousins und Cousinen in deinem Alter“, berichtete ich. „Ich werde ihnen sagen, sie sollen mit dir spielen, Soren.“ „Wirklich? Das würdest du machen?“ „Aber natürlich. Jaga, Inuse, Prilic, Asserda, Jogran, Pihlin, sie werden ganz wild darauf sein dich kennen zu lernen. Bis auf den Turm kennen sie noch nicht viel von der Welt.“ „Echt? Aber ist das nicht traurig? Ich meine, hier unten gibt es doch Parks und die Schule und… Und… Und…“ Der Junge bekam einen Hustenanfall, und unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte. Ich hoffte inständig, dass der Junge kein Blut spuckte. Das hätte mich vor Sorge in den Wahnsinn getrieben. „Na, geht es wieder?“ „Klar, Akira. War ja nur husten. Das macht der viele Staub, sagt Mama. Sag mal, langweilen sich deine Cousins und Cousinen da nicht? Da oben, meine ich?“ „Ach, Schulen und Parks gibt es da oben auch. Aber nicht so große wie hier in der Stadt.“ „Aber ist das nicht wie im Märchen? Gefangen im Turm.“ „Sie sind doch erst sechs und sieben“, erwiderte ich lachend. „Die ganze Welt steht ihnen offen, wenn sie älter sind. Aber diesmal ist es anders herum. Die Welt kommt zu ihnen.“ Ich lachte, hob den Jungen von meinen Schultern und reichte ihn dem Vater, der bereits auf dem großen Schweber stand und den anderen Familienmitgliedern sowie den Mitbürgern beim einsteigen half. Die Evakuierung dieser Menschen war nur noch wenige Minuten entfernt. „Das bist du, Soren. Erzähle ihnen wie es hier unten ist, okay?“ „Okay. Akira, kommst du dann auch bald?“ „Ach, ich habe hier noch zu tun. Aber irgendwann komme ich nach, keine Sorge.“ Der Schweber ruckte an und erhob sich in die Luft. Kurz darauf startete er in Richtung Platz zur wartenden Fregatte. Ich winkte Soran nach, der zu mir herunter sah, solange seine Mutter es ihm erlaubte. Seufzend wandte ich mich um und ging zu meinem eigenen Schweber. Nachdem die Evakuierung erst mal ins Rollen gekommen war – nachdem wir den fatalen Fehler erkannt hatten, der uns passiert war, nämlich die Angst der Menschen zu zerstreuen, in eine gigantische Falle des Cores zu laufen – war die Aktion ein Selbstläufer. Eigentlich hätte ich mich nun wieder in den Turm zurückziehen können, um vielleicht bei der Koordinierung der Flüchtlinge zu helfen. Oder die Operation zur Reinigung der Städte vorzubereiten. Es gab so viel zu tun. Aber ich konnte es nicht, noch nicht. Ich musste hier vor Ort sein, im radioaktiven Staub. Hier, direkt am Puls des Geschehens. Hier, wo tapfere Männer und Frauen Leben retteten. Ich musste meinen Teil beitragen, meine Zeit im Staub absitzen, oder ich platzte vor Scham. „Meister Arogad! Meister Arogad!“ „Ja? Was gibt es denn, mein Junge?“ Der Bursche, der wild winkend auf mich zu gerannt kam, mochte sechzehn oder älter sein. Etwas an ihm alarmierte mich, und als er näher kam, wusste ich auch was. Er hatte Verbrennungen. Sie waren nicht groß, aber unregelmäßig über seinen Körper verteilt, soweit ich es sehen konnte. „Meister Arogad, Sie sind doch ein AO-Meister! Sie müssen mitkommen! Bitte! Luvven hat diesen Stein gefunden und dann hat unsere Haut angefangen zu brennen und Rose atmet nicht mehr und…“ Ich sah die wilde Panik in den Augen des Jungen. Gott, Junge. Er war vielleicht nur vier Jahre jünger als ich. Wie arrogant konnte man nur werden, wenn man ein paar Jahre mehr drauf hatte? Obwohl, war ich jemals so jung? Ich konnte es mir nicht vorstellen, denn als ich vierzehn gewesen war, jünger als dieser Bursche, da hatte ich bereits als Blue Lightning Leben beendet. Ich setzte mich sofort in Bewegung, folgte dem Jungen tiefer in die Straßen hinein, durch eine Nebengasse, einen Hinterhof und dachte gerade daran, was für ein Idiot ich doch war, dass ich dem Bengel, der offensichtlich – etwas zu offensichtlich – Strahlungsverbrennungen hatte, so ohne weiteres herlief. Und das nur weil der Bursche wusste, dass ich ein AO- oder KI-Meister war und bei solchen Verletzungen Erste Hilfe leisten konnte, anstatt sofort ein Medoteam anzufordern. Abrupt blieb ich stehen. Moment. Woher wusste der Knabe, dass ich ein AO-Meister war? Und warum wusste er überhaupt von den AO-Kräften? Ich beschloss, wenigstens Verstärkung in Form von einem Medo-Team anzufordern und… Grelles Licht… *** „…hast ihn umgebracht!“ „…ist doch ein AO-Meister. So schnell stirbt…“ „…schneller gehen und euch beeilen…“ „…der Gleiter? WO ist der Gleiter? Wir müssen schnell machen, bevor…“ Die Wortfetzen, die an mein Ohr drangen erschienen mir so sinnlos, so vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Müde öffnete ich ein Auge, aber es fiel sofort wieder zu. Erneut versuchte ich es, öffnete diesmal beide Augen und sah in den prächtigen Mittagshimmel über der Hauptstadt. Wie schön. Fast mochte man nicht glauben, dass hier beinahe ein Bürgerkrieg begonnen hätte. Dass diese Stadt radioaktiv verseucht war. Ich drehte den Kopf zur Seite – und schrie auf! Ich sah direkt in ein Paar leerer, grüner Augen. Ein Toter! „Verdammt, er ist wach! Die Dosis war zu gering!“ „Die Dosis hätte einen Erwachsenen ausgeschaltet! Er ist ein AO-Meister, das hätten wir bedenken müssen! Gebt ihm noch mal was, bevor er wieder klar denken kann!“ Moment mal, dieses Gesicht, es kam mir bekannt vor. Auch wenn ich die Augen nicht so leblos in Erinnerung hatte, ich kannte dieses Gesicht. Ich taumelte, und das lag nicht nur an dem merkwürdigen Druck in meinem Nacken, von dem sich ein Kribbeln in meinem ganzen Körper ausbreitete und wieder ins Dunkel trieb. Kein Wunder, dass ich das Gesicht kannte. Es gehörte mir, Akira Otomo. Dann wurde es schwarz. Epilog: Es war sehr unproduktiv, dass die Umstehenden heran eilten, anstatt auseinander zu gehen und ihnen eine Gasse zu machen. Megumi war am Rande einer Panik! Akira brauchte Hilfe, so schrecklich schnell Hilfe, und was machten die Arogad? „Das ist Aris! Verdammt, das ist Aris! Macht Platz für Aris Arogad!“ „Aris!“ „Sie bringen Aris rein!“ „Was ist mit ihm passiert?“ Die Worte pflanzten sich durch die Menge fort, und diesmal wurde nicht gedrängt. Die Naguad bildeten eine Gasse zu den Liften. Dort ging gerade ein Tür auf, Oren Arogad und Eridia Yodama stürmten heraus. Dazu ließ Helen Otomo ihren Avatar direkt neben ihnen entstehen. „Was ist passiert? Die ersten Nachrichten aus der Vorstadt haben gesagt, Akira wäre katatonisch!“ Eri legte beide Hände auf das Gesicht ihres Enkels. „Ich weiß es nicht! Er hat sich nicht zum vereinbarten Zeitraum gemeldet und ein paar seiner neuen Freunde aus der Vorstadt haben begonnen nach ihm zu suchen. Er ist schon eine halbe Stunde so! Ich dachte, wenn ich ihn so schnell es geht in den Turm schaffe, dann… Oh Gott, Akira!“ „Was ist mit ihm, Mutter?“ Ein Leuchten entstand um die Hände der Halb-Iotan. Es existierte für fünf bange Minuten. Dann nahm sie die Hände wieder fort und fluchte undamenhaft ein paar Phrasen, die geringere Männer als Raumsoldaten die Schamesröte in die Wangen und Tränen in die Augen trieb. Zum Glück sehr leise. „Er ist fort“, sagte sie schlicht. „Nein“, hauchte Megumi. „Nein, das kann nicht sein! Er atmet doch noch! Er kann nicht tot sein! Er ist nicht tot! Nein!“ „BERUHIGE DICH!“, rief Eridia, ergriff Megumi an der weißgelben Hausuniform und zog sie zu sich heran. „Akira ist nicht tot! Aber er ist da nicht mehr drin! Sein KI wurde entfernt! Sein Bewusstsein ist weg! Oder um es banal auszudrücken, man hat ihm die Seele aus dem Körper geklaut!“ „Was?“ Erschrockenes Raunen ging durch die Menge. „Informiert unsere Verbündeten, informiert den Rat und das Militär! Niemand darf den Planeten verlassen! Alle Flüge müssen gestoppt werden! Sofort! Ich bin sicher, das zweite Verräterhaus hat da seine Hand im Spiel! Sofort!“ Sie legte eine Hand auf Megumis Schulter. „Komm. Lass ihn uns in einen Biotank legen, bevor die anderen zurückkommen.“ „Nein. Kein Biotank. Nicht schon wieder ein Biotank“, schluchzte sie. „Doch. Und dann bringst du ihn zur Erde zurück.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)