Eine Lüge und viele Wahrheiten von Froda ================================================================================ Kapitel 1: Eine Lüge und viele Wahrheiten ----------------------------------------- *Reinwusel und nach enventuellen Lesern Ausschau hal* Ich gratuliere Ihnen. Sie haben soeben den Weg zu meiner Geschichte gefunden. Lehnen Sie sich zurück und genießen (hoffentlich) Sie. Naemi und Fuori stammen aus der Laigabe meiner Freundin Asaki Lux. Ich habe keine Rechte an den Beiden und bin für ihren Gebrauch bis jetzt auch noch nicht verhaftet, sondern zum Weitermachen ermuntert wurden. Der ganze Rest, samt Handlung, Charaktere und Schauplätze entstammt meiner Einbildung. Und ob es ihnen gefiel oder nicht, lassen Sie mich wissen, wie es ihnen gefallen hat. *grins* Scheiß auf die Höflichkeit,Leute, lest!!! Oh und wem es so gar nicht gefällt, der kotzt bitte über den Rand. Viel Vergnügen.... Eine Lüge und viele Wahrheiten „Und ich werde doch über dich triumphieren und über dein verfluchtes Haus, und mein Wille wird euch zerbrechen und wäret ihr alle aus Stahl.“ J. R. R. Tolkien – Die Geschichte der Kinder Hurins „Uff! Ich bin ja so müde. Gedemütigt, am Ende, völlig gescheffelt, so kaputt – KAWUMM – dass ich sogar schon gegen die Türen laufe!“ Jonas Holzmann, derzeitiger Klassenchaot, Überflieger und bester Kumpel lehnte sich völlig erledigt gegen die Wand und schloss demonstrativ die Augen. „Beweg dich, Lulatsch!“ Manna schubste ihren zu groß geratenen blonden Kumpel ins Klassenzimmer und folgte anschließend mit hängenden Schultern. Das große dünne Mädchen war rothaarig und eine der wenigen Frauen, die ich persönlich als angenehm bezeichnen kann. Manna war aus dem zerfallenen Serbien hierher gebracht wurden. Brennende Haustrümmer hatten ihre Familie erschlagen und der Schock saß noch tief und sichtbar in ihren schwarzen Augen. Pao Chai, ihre neunmalkluge und schrecklich nervige, aber auch einzige Freundin saß bereits sprungbereit auf ihrem Platz und ging im Gedanken den Stoff, der letzten Stunde durch. Von meinem eigenen Platz aus, einer strategischen Position mitten im Zentrum der Aufmerksamkeit, konnte ich das Schlachtfeld problemlos überblicken. Das war in etwa der Leitbegriff für alle Klassenzimmer der > Abyssus Alexandra Akademie<, der einzigen Schule, die ihren Unterricht nachts gab. Offen für alle, die verrückt genug waren, sich auf so etwas einzulassen. Und wenn nächstens, der Ruf “Hey, Kasimir-Kumpel, lässt du mich mit ins Geographiebuch kucken?!“ durch die Klasse schalt, so wissen sie, das ich gemeint bin. Entgegen aller Klischees und Vorurteile, die sie mit meinem Namen verbinden - ich bin kein Kater. Ich bin ein ganz stinknormaler 14jähriger. Na ja, gut. So normal bin ich gar nicht. Ich bin ein dunkelhaariger Sonderling mit grauen Augen – und die haben es wirklich in sich! Wenn ich meinen Blick lang genug auf etwas konzentriere geht es meistens kurz darauf in Flammen auf. Zu meiner Verteidigung muss aber fairer weise gesagt werden, dass ich bis jetzt nur einen einzigen Menschen versehentlich in Brand gesetzt habe und besagter Mensch war mein Mathelehrer, nachdem er mich mündlich drangenommen hatte. Immerhin konnte er sich jetzt nicht mehr mit Elan auf seinen viel weicheren Lehrerstuhl fallen lassen, die Möglichkeit habe ich ihm ein für alle Mal genommen. Abgesehen davon kann ich bei nicht ganz so genauer Konzentration besagte Dinge auch durch den Raum fliegen (und unfreundlichen Mitschülern an den Kopf knallen) lassen. Ihre Gedanken stehen mir, wenn ich es möchte, auch offen. Es heißt aber nicht, dass ich diese Fähigkeit immerzu benutze, im Gegenteil Ich tue mein Bestes um ohne sie auszukommen. Anonymität ist überlebenswichtig. Meine Freunde finden das Ganze total genial. Hm, na wenn sie meinen. „Ich will nicht mehr, es ist nachts halb drei und wir haben jetzt Geo bei Morgan. Diese Frau ist eine Killermaschine.“. Ich wurde abrupt aus der Analyse meiner Wenigkeit gerissen, als Jonas sich neben mich fallen ließ und schluchzend den Kopf an meiner Schulter vergrub. Eigentlich ist es ja niedlich, wenn gute Freunde einander trösten, aber in Anbetracht der Umstände, das mein ein Kopf größerer Lucky Man<, nur weil ich ne’ blonde Freundin hab.“ Daraufhin hatte Ewans neuer Freund sie gerettet und sie alle in sein Zelt eingeladen. Dort bekamen sie auch gleich alle ein Glas Tee in die Hand gerückt. Selene kicherte bei der Erinnerung an Dominics und Ewans Gesichter. Die beiden waren ihre besten Freunde. Zwar waren sie bei weitem kein Beispiel für Ordnung, denn Dominic war ein langbeiniger Querkopf mit blau-roten Haaren –stolze 1,89 m groß und Ewan ein liebenswerter, ständig grinsender Träumer mit blonden Rastazöpfen. Giebel beugte sich besorgt über seinen Schützling. Er runzelte die Stirn. Selene steckte den Kopf aus der Klotür und zupfte bedenklich an ihrer Jacke – beim Teetrinken hatte sie einen Lachanfall bekommen. Teetrinken + Lachanfall produziert fabelhafte Flecken auf den Klamotten. „Was hat er jetzt?“, forschte sie nach. Giebel zuckte die Schultern. „Fieber, Krämpfe verbunden mit Beklemmungen und schweren Träumen.“ Selene seufzte und ließ demonstrativ die Schultern hängen. „Und nu?“ Giebel machte ein hilfloses Gesicht. „Ich bin kein Arzt.“ Selene sprang sofort tatkräftig auf. „Ich hab’s. Ich könnte Lydia anrufen, die ist ja zumindest Krankenschwester.“ „Gute Idee.“, nickte der Türmer. Selene griff nach dem Telefon. Hastig wählte sie eine Nummer. „Hallo?!“ Am anderen Ende der Strippe meldete sich eine Jungenstimme. „Jonas?!“ Selene ließ vor Aufregung fast den Hörer fallen. „Kannst du Kasimir heute in der Schule krank melden?“ „Klar, aber was hat er denn?“ In Jonas gelangweilte Stimme mischte sich sofort echtes Interesse. „Das erzähl ich dir andern Mal!“ presste Selene hervor, der langsam die Geduld ausging. „Wirf mir erstmal die Stimme deines Schwesterherzens zu!“ „Hast du gehört?!“, alberte Jonas im Hintergrund mit Lydia. „Wirf mir dein Herz und deine Stimme zu.“ Selene konnte einen hohlen Schlag, gefolgt von einem leisen „Aua“ hören, dann war sie mit Lydia verbunden. „Hallo, Schwester!“, grüßte der zierliche Blondschopf am Telefon. „Was kann ich tun, um deine Sorgen zu zerstreuen?“ Selene hatte keine Zeit für diese vertrauten Scherze. „Du, Lydia der Kasimir hat irgendwie Ausfälle und schläft total verkrampft.“ „Fieber?“, forschte Lydia nach. Selene machte mehrmals zustimmende Laute. „Ziemlich.“ „Leg ihm einen kalten Lappen auf die Stirn und kalte Umschläge um die Füße. So ein altes Hausmittel hilft in solchen Fällen meist besser als alle Spritzen.“, erklärte Lydia, nun ganz in der Rolle der Krankenschwester. „Wenn es nicht besser wird, hol einen Arzt“, fügte sie hinzu. „Hier gehen in letzter Zeit ziemlich üble Sachen rum.“ „Ich dank dir tausendmal, grüß die Familie!“ Selene platzierte einen leichten Kuss auf dem Hörer, dann legte sie auf. Selene und Giebel befolgten Lydias Anweisungen aufs Genauste. Die ganze Nacht rannten sie mit frischen Handtüchern, Tee, Becken und Fieberthermometer zwischen den Zimmern hin und her. Nur ab und zu gönnten sich die Beiden eine Tee- beziehungsweise Kaffeepause. „Wie kommt es eigentlich“, begann Giebel während einer der erwähnten Pausen, „dass du keine Angst hast, dich anzustecken?!“ Er warf einen Blick auf die junge Frau ihm gegenüber, die abgezerrt wirkte und den Teebecher in ihrer Hand leicht schwenkte. „Ich hatte schon fast alles an Krankheiten, die man haben kann.“ Selene war ungewöhnlicherweise zur Mitteilsamkeit aufgelegt – vielleicht hatte sie zuviel Tee getrunken? Sie begann an den Fingern abzuzählen. „Windpocken, Scharlach, Gelbfieber, Typhus, Lungenentzündung und mehrmals Grippe und Angina, ich hab mir fast alles aufgesammelt, was es gab. Mama hat das natürlich nicht die Bohne gekümmert. So nach drei vier Tagen kam dann immer das Sozialamt und hat mich abgeholt.“ Sie verschleierte den Satz automatisch durch Lachen, um ihm die Bitterkeit zu nehmen, denn sie war in ausgelassener Stimmung und nicht auf unangenehme Erinnerungen erpirscht. Giebel nutzte Selenes gute Laune und erzählte ihr von dem Vorfall zwischen Kasimir und Naemi. Selene zeigte, obwohl sie selber ein Mädchen oder besser mal eins gewesen war, keinerlei Verständnis für Naemis Neugierde. „Geschieht ihr recht“, meinte sie zwischen einem kurzen Hustenanfall und einem erneuten Schluck Tee. Es hätte sicher ein interessantes und klärendes Gespräch werden können, wenn Kasimir nicht in diesem Moment gerufen hätte „Selene – Becken!“ Selene musste Lydias Rat noch mehrmals per Telefon einhohlen und mühte sich mit dem entschlossenen Giebel an ihrer Seite die ganze Nacht. Kurz vor Sonnenaufgang fiel Kasimir in einen schon fast komaähnlichen Schlaf. Sein Gesicht, vor wenigen Stunden noch nass und verschwitzt, war aschfahl. Selene und Giebel waren mittlerweile völlig erschöpft, doch keiner wagte es einzuschlafen. Um kurz vor fünf klingelte es. Da Giebel sich weigerte jemanden aufgrund der Ansteckungsgefahr in seine Wohnung zu lassen, ging Selene hinunter. Fetzen eines Gesprächs empfingen sie. „Die Katze weigert sich mein Frühstücksbrot zu essen!“ „Ich will Feuchtfudda!!“, krähte eine ihr durchaus bekannte Jungenstimme. „Du kriegst en feuchten Scheißdreck, Jonas!“, fauchte eine ärgerliche Mädchenstimme mit scharfem Akzent. Selene streckte sich in der aufkommenden Morgensonne. „Huuuaahhaa!“, gähnte sie. „Ich habe Müdigkeitsanfälle!“ Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit den zwei streitenden Halbstarken zu. Den Jungen kannte sie gut – Jonas. Das Mädchen hatte sie noch nie gesehen. Sie war dunkelhaarig, sehr hübsch und trotz der frühen Herbstkälte knapp und verführerisch bekleidet. „Das ist Melody.“ Jonas war so mitteilsam wie immer. „Wir wollten Kasimir besuchen!“ „Er ist doch da, oder?“ Melody hatte sich ebenfalls in das Gespräch eingeklinkt. „Ja, schon….. aber eben nach wie vor krank“, setzte Selene zögerlich an. „Und da auch nach wie vor Ansteckungsgefahr besteht, darf er auch erstmal keinen Besuch haben.“ Auf Melodys hübschem Gesicht zeigte sich sofort Besorgnis. „Sagen sie ihm alle guten Wünsche und er soll schnell gesund werden.“ Sowohl der Akzent und auch die Art wie sie ihre Sätze formulierte brachten Selene zu dem Schluss, das Melody keine Deutsche, genau wie sie selbst, war und irgendwie machte allein diese Tatsache sie ihr sympathisch. „Mach ich!“, versprach Selene, „Sobald er wieder aufwacht.“, fügte sie im Geiste hinzu. Sie wimmelte die Beiden mit ein paar Versprechungen, wie zum Beispiel, sofort Bescheid zu sagen, wenn es Kasimir besser gehen sollte, ab und schlurfte dann mit hängenden Schultern zurück in die Türmerwohnung. Der Tag verging in einer Mischung aus Schläfrigkeit und leichter Panik auf beiden Seiten. Selene erwachte aus ihrem leichten Dösanfall, als Giebel in die Küche gepoltert kam. Sie hob den Kopf. „Und?“, fragte sie schon fast ängstlich. Der Türmer hob hilflos die Schultern und ließ sich auf die Küchenbank fallen. „Hör mal, Selene.“ „Ich höre!“ „So geht das nicht weiter! Wir haben alles Mögliche versucht und nichts hat geholfen. Ich glaube es wird Zeit einen Arzt zu Rate zu ziehen.“ „Einen Arzt?!“, echote Selene unbeweglich. „Das geht nicht und du weißt das. Das kann man bei normalen Menschen, aber Kasimir ist leider nicht wie alle anderen! Wir können ihn nicht von einem Arzt behandeln lassen. Alles was wir tun können, ist warten und hoffen, dass er es irgendwie schafft. Vielleicht läuft es ja genau wie bei mir damals und er hat schon so viele Keime abgekriegt, dass es sich vielleicht irgendwie ausbalanciert.“ Giebel schüttelte angesichts von soviel Sturheit den Kopf. Er hielt der bereits wieder dösenden Selene eine Visitenkarte hin. „Hier!“, sagte er entschieden. „Diesen Arzt können wir zu Rate ziehen, er hat mehr Erfahrung mit übersinnlich begabten Menschen, als andere.“ Selene schielte über Giebels Daumen hinweg auf die Karte und entzifferte den Namen mühevoll. „Dr. S. C. Haruno.“ , las sie und nahm die Karte an sich. „Ist das etwa der Vater von dieser komischen Göre, von der du vorhin geredet hast?!“ „Sie ist keine komische Göre!“, meinte Giebel ungehalten. Selene sprang tatkräftig vom Stuhl und steckte die Karte in ihre Jackentasche. „Aber sicher!“, sprudelte sie übertrieben dazu bereit hervor. „Ich geh da hin und erkläre der komischen Göre (SIE IST KEINE GÖRE!), wie man das Wort >Privat< buchstabiert!!“ Giebel packte Selene am Arm. „Du wirst nichts dergleichen tun! Du wirst einfach hinfahren und bitten, dass er sich deinen Bruder ankuckt. Nicht mehr!!“ Selene nickte schicksalsergeben. Giebel in Rage war fast so gefährlich wie Kasimir ohne Verstand. Der Türmer warf ihr einen Autoschlüssel zu, den Selene noch im Laufen auffing. „Nimm mein Auto.“ Es klang nicht wie eine Bitte sondern mehr wie ein Befehl. Selenes Ego erwachte von neuem. „Ich hab ein Motorrad!“ Giebel zuckte gleichgültig die Schultern. „Klar, damit wirst du natürlich auch den besten Eindruck hinterlassen.“ „Dickkopf!!“, fauchte Selene und knallte die Haustür hinter sich zu. Dann stampfte sie laut und polternd die Stufen herab, klappernd und rhythmisch, doch als ihre Knie zu protestieren begannen, versteifte sie sich doch darauf normal zu laufen. Sie klemmte sich so gut es ging hinter das Steuer von Giebels Trabbi und verließ den Kirchhof vorsichtig Gas gebend. Sie verspürte nicht die geringste Lust diese Familie um Hilfe bitten zu müssen. Und ganz besonders störte sie, dass ein wildfremdes Persönchen Kasimirs Vergangenheit, die ja bis zum Abschied von Lublin auch ihre war, durchschnüffelte. Außerdem war sie müde und gereizt. Ganze dreimal wurde sie, bevor sie überhaupt aus Greifenwalda raus war angehupt, weil sie gepennt, fast bei rot über die Kreuzung gefahren und um ein Haar jemandem drauf gefahren wäre. „Beim nächsten Mahl bau ich einen Unfall.“, dachte sie leicht panisch und ihre Finger durchsuchten bereits das Kassettenfach. Wie und ob Giebel einen Radiosender empfangen konnte, wollte sie jetzt nicht herausfinden. „Musik.“, dachte sie, „Das wird mich wach halten!“ Die einzig verfügbare Hülle war leer, die Kassette steckte bereits. Selene drückte auf play. Zwar war Giebels Musikgeschmack zu hundert % nicht ihrer, aber immerhin würde sie dann nicht einschlafen. Sofort drangen leise Töne aus der Anlage, es klang wie ein Klavier, nur tiefer. Im Hintergrund gesellten sich in kurzen Abständen einige kurze Laute hinzu, deren Ursprungsinstrument Selene nicht kannte. Nach wenigen Sekunden begann eine warme volle Stimme zu singen. …"..Sing nicht so schnell dein Glaubenslied, sing nicht so laut, so grell. Der Glaube trägt ein schweres Kleid aus Gnadenglück und Sterbeleid. Vielleicht kommt er dir nahe, vielleicht bleibt er dir fern…….." Selene hielt sich die Adresse in der aufkeimenden Dunkelheit dicht vor die Augen. „Verflucht!“, stieß sie wütend hervor.“ Das liegt bestimmt mitten in der Pampa! Wie soll ich das denn finden!?“ …"….Sing nicht so schnell dein Liebeslied, sing nicht so laut, so grell. Die Liebe wandelt dich und mich, befreit das selbst-bedachte Ich. Vielleicht kommt sie dir nahe. Vielleicht bleibt sie dir fern…." Die dunkelhaarige Frau gähnte. Vor ihrem inneren Auge erschienen zwei gleichgroße lebende Bilder. Das eine zeigte ein dunkelhaariges Mädchen in kurzem Rock und hohen Stiefeln. Sie lächelte. Das zweite Bild zeigte ein schmales blondes Mädchen, doch ihr Gesicht war beschattet und unsichtbar. Sie hatte nur die Finger konzentriert an die Stirn gelegt und grübelte. Selene schnaubte abwertend. Der Junge hat zu viele Verehrerinnen. …"…Sing nicht so schnell dein Hoffnungslied, sing nicht so laut, so grell. Die Hoffnung kann viel weiter sehn, als heute deine Füße gehn. Vielleicht kommt sie dir nahe. Vielleicht bleibt sie dir fern…..." Selene musste gezwungenermaßen, selbst nach all diesen Jahren, noch an ihre Mutter denken. Sie hatte fett gelogen, als sie sagte, dass sie keine Zeit mehr an ihre Mutter verschwendete. Sicher verband sie nach wie vor nichts Gutes mit ihr, aber sie war ihr nicht egal. Genau wie sie manchmal, in schwachen Momenten, hatte Ilya van Dahli unter fast krankhafter eingebildeter Verlassenheit gelitten. Sie brauchte immer jemanden um sich herum. Ob nun Stimmen aus dem Radio oder ihren eigenen Kinder. Immer wenn sie alleine war, schienen sie die Mauern ihres Zimmers schwer und unnachgiebig zu umschlingen und sie glaubte eingesperrt zu sein, drängte sich in eine Ecke erhob verzweifelt die Hände, wie als müsse sie einen Schlag abwehren. Ob ihre Psyche nachweislich zerrütelt und dauerhaft geschädigt war? Ilya hatte eine Abneigung gegen fremde Personen gehabt, darum bekamen sie niemals Besuch. Auch ihre Schulkameraden dürften das Haus nicht betreten, sie könnten ja Dreck oder etwas kaputt machen. Und so wurde ihr Zuhause in der Fantasie ihrer Freunde zu einem Zauberhaus, einem unheimlichen Ort und Ilya zu einer bösen Fee, die mit dem Pinsel düstere Zauber über den Ort spann und auch über alle die darin lebten. …"…Sing nicht so schnell dein Friedenslied, sing nicht so laut, so grell. Nicht jeder hat ein Traumgesicht, dass Gott ihm guten Mut zuspricht. Vielleicht kommt es dir nahe. Vielleicht bleibt es dir fern……." Sieben Jahre waren vergangen und Selene war eine reife Frau geworden, die dennoch durch ihre sozialen Umstände um die Hälfte ihres Lebens gebracht wurden war. Ihre Mutter hatte ihr nie eine Wahl gelassen. Taten sie und Giebel nicht das Gleiche, in dem sie ihren kleinen Bruder von der Öffentlichkeit abschnitten und ihn manchmal behandelten als wäre er ein wildes gefährliches Tür, das zum Schutze anderer niemals ein freies Leben unter anderen führen konnte. Selene zuckte die Schultern und bog in eine Seitenstraße ein. Nach Ilyas Selbstmord waren sie und Kasimir gezwungen die schöne mittelalterliche Kathedrale zu betreten, sie staunte und brachte zuerst kein Wort, bis Kasimirs leise Kleinjungenstimme sie zurück in die Wirklichkeit brachte. Ave Maria, gratia plena; Dominus tecum; benedicta tu in mulieribus, et benedictus frustus ventris tui, Jesus Hastig suchte sie nach der passenden Stelle, während Kasimir sich an ihr schwarzes Kleid klammerte und traurig an der Kette seines Messingkreuzes zu lutschen begann. Das Kreuz trug er immer noch, genau wie Selene. Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora nostrae. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen Danach steckte sie das Gebetsbuch in die Kleidertasche fügte ein lautloses „Leb wohl, Ilya van Dahli“ hinzu. Das Wort Mutter brachte sie nicht über die Lippe. „Möge Gott dir vergeben, was ich nicht konnte.“ Selene fand reflexartig in die Wirklichkeit zurück, als sie die richtige Straße fand. Sie fuhr sie dreimal ab, bis sie endlich fast mit der auf dem Briefkasten aufgemalten Hausnummer zusammenprallte. Dann parkte sie Giebels alten Wagen in der Einfahrt und würgte Motor und Kassette ab. Vorsorglich prüfte sie noch einmal Karte und Namensschild. Die passten perfekt zusammen. Also zupfte Selene noch mal kurz an ihren Klamotten und ihrer Friseur, dann klingelte sie höflich und nahm sich vor den Docktor in ihrem besten Deutsch anzusprechen. Eigentlich war dieser Vorsatz dumm, denn Selenes Deutsch war so grottig, das man sie bestenfalls kaum, schlimmstenfalls gar nicht verstand. Gespannt starrte sie auf die geschlossene Tür. Letztendlich öffnete eine blasse, schlanke Frau, die sogar noch ein paar Zentimeter größer als Selene war. Sie musterte die Besucherin wie ein streunendes Kätzchen, das aus der allertiefsten Gosse gekrochen war. Ihre Augen glitten über Selenes löchrige Jeans, ihr lavendelfarbens Shirt, verziert mit lauter Pailletten – ein Andenken an Ägypten, ihre zerzausten Haare und blieben schließlich an ihren stahlgrauen Augen hängen. Selene räusperte sich. „Verseih’ung, für die Störung, aber kann ich spreche mit ihre Mann?“ Die Frau starrte Selene an, als hätte sie auf Griechisch gefragt. Sie wippte mehrmals mit dem Kopf. Selene stellte erleichtert fest, dass sie sie wenigstens verstanden hatte und nicht wie viele sonst „Wie?“ und „Hä?“ fragte. „Mein Mann hat bereits sei drei Stunden Feierabend!“, erklärte die Frau sehr wenig freundlich. „Mal davon abgesehen haben wir nachher einen Familienausflug geplant, meine älteste Tochter hat heute zum zehnten Mal in Folge eine eins in Physik gekriegt, da ist so was angebracht.“ Selene wurde abwechselnd heiß und kalt und für einen Moment fürchtete sie, sich bei Kasimir angesteckt zu haben. Das Wort > Familienausflug< kannte sie nicht. Weder auf Polnisch, noch auf Französisch und auf Deutsch schon gar nicht. In Ihrem Sprachschatz existierte kein solches Wort. Sie hatten sich niemals als Familie gefühlt, eher als Gefangene über denen der Schatten lastete, dass bald etwas Furchtbares geschehen würde und Ilya hatte niemals von ihr als ihre Tochter gesprochen. „Bitte kommen sie morgen wieder.“ Die Frau wandte sich ab. „NEIN!“ Selene wollte sie zurückhalten. „Morgen ist es villeigt su spät, warten sie, BITTE…“ Doch die Tür war bereits ins Schloss gefallen. Selene stand allein in der eisigen Kälte und kämpfte mit den Tränen. Subaru stellte seine Tasse ab, als Fuori zurück ins Esszimmer schlenkerte und gerade ihrem Platz am Tisch wieder einnehmen wollte. „Wer war das?“, fragte er neugierig während er Iris mit einem leichtem Nicken bat, ihm die Butter zu reichen. Die Kleine verstand das jedoch völlig falsch und warf die Schale kurzerhand in Subarus Richtung. Der duckte sich, wurde jedoch an der Schulter getroffen, wo die Butter einen großen Fleck auf seinem weißen Hemd hinterließ. Jonathan kicherte und Naemi verzog angeheitert den Mund. Nur Fuori schüttelte missbilligend den Kopf. „Iris! Wie oft soll ich es noch sagen? Mit Essen wird nicht geworfen!!“ „Aber ich dachte Papa fängt es!“ , verteidigte sich der bezopfte Wildfang schmollend. Subaru tat das Ganze mit einem Lächeln ab, während er erfolglos versuchte sein Hemd zu retten. Dann wandte er sich wieder seiner Frau zu. „Fuori, wer war an der Tür?“, fragte er diesmal eindringlicher. Die schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, wer das war. Vermutlich ne’ Patientin, sie wollte nämlich zu dir, abgesehen davon hatte sie einen Jagon, den man einfach nur als furchtbar bezeichnen kann. Ich hab ihr gesagt, sie soll morgen wiederkommen.“ Auf Subarus Gesicht schlich sich ein missbilligender Ausdruck, während er Fuori eindringlich ansah und sie mit seinen Blicken gefangen hielt. „Ich habe dir doch auch schon mehrmals gesagt, dass du meine Patienten nicht einfach wegschicken sollst. Es hätte etwas Wichtiges gewesen sein können.“ Fuori warf ihre Serviette beiseite. „Wir haben den Abend bereits verbucht!“, sagte sie eindringlich. „Wie gehen zusammen ins Kino, Naemi hat sich das gewünscht! Das ist auch wichtig!“ Subaru hob beschwichtigend die Hand und bedachte seine Älteste mit einem kurzen Blick. „Sicher, aber manchmal gibt es Dinge, die noch wichtiger sind. „ Er wandte sich wieder Fuori zu. „Hohl sie bitte zurück, Fuori.“ Selbige wollte schon zu einer protestreichen Antwort ansetzen, doch Subaru hatte einen Blick aus Stahl und so begnügte sie sich damit, schimpfend den Flur entlangzupoltern und dabei inmitten durch die ordentlich aufgereihten Schuhpaare zu pflügen. Die Besucherin stand tatsächlich noch auf der Türmatte. Nur hatte sie jetzt der Tür den Rücken zugedreht und ihre Schultern bebten leicht. Fuori befürchtete, sie zum Heulen gebracht zu haben. Sie wollte der Jüngeren vorsichtig die Hand auf die Schulter legen, doch als diese beinahe im gleichen Moment herumfuhr konnte Fuori keine Tränenspuren auf ihrem bleichen Gesicht entdecken. „Man empfängt sie jetzt.“, fügte die Docktorsfrau hinzu. Selene brauchte einen Moment um ihre Lage zu begreifen. Dann drängte sie sich ohne ein Dankeschön an der Frau vorbei ins Haus. Die Gesprächsfetzen, die aus der Küche drangen, wiesen ihr den Weg, nachdem sie sich im Flur fast den Hals gebrochen hätte, als sie über ein verirrtes Paar Schuhe gestolpert war. Kaum betrat sie die Küche wandten sich alle Blicke zu ihr und besonders die Kinder starrten sie mit unverhohlenem Interesse an. Dann kletterten ein kleiner schwarzhaariger Junge und ein Mädchen mit Zöpfen hastig von ihren Stühlen, scharrten sich um die Besucherin, zupften an ihrer Kleidung und schauten ehrfurchtsvoll auf die Muster auf ihrem T-Schirt. Das Zopfmädchen war sogar keck genug sich zu strecken um ihr Haar berühren zu können. Dabei murmelte sie Dinge wie „Das glitzert ja.“ und „Das kann nicht echt sein, das wär ja viel zu … oh oh.“ Nur das offenbar älteste Kind blieb sitzen und schaufelte mit unnatürlichem Eifer Grießbrei in sich hinein, ganz so, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres außer essen. Schließlich erhob sich auch der Herr Docktor vom Tisch, scheuchte die Kinder beiseite, dann gab er Selene höflich grüßend die Hand. Selene knabberte an ihrer Lippe und versuchte einen guten und verständlichen Satz in Deutsch zu formulieren. „Entschuldige Sie, dass ich einfach in ihren Küche plazze, aberr .. werden Sie bitte gehen su meine Bruder? Ihn quälen sehrr große Probleme.“ Der Docktor hob die Augenbrauen und Selene erkannte gnadenlos an seinem verwirrten Gesicht, dass er zwar den Satz verstanden, aber nicht seinen Sinn begriffen hatte. „Er seien sehr krank.“, versuchte sie es von neuen. „Er tun… sprechen mit selbst, haben Fieber, aber kalte Hände, und große Schmerzen im Kopf darin.“ Der Docktor hob beschwichtigend die Hand. „Schon gut, ich versteh, was sie sagen wollen.“ Er wandte sich mit schmerzlichem Gesicht an den Rest der Familie. „Tut mir leid, Leute, aber der Familienausflug wird sich wohl fürs erste verschieben.“ Sofort machten die Kinder enttäuschte Gesichter und ihre Mutter legte einen „Hab ich’s doch gewusst“ –Gesichtsausdruck an. Nur die älteste Tochter legte bei diesen Worten Löffel und Messer beiseite und schob den Teller von sich weg. „Papa, kann ich mitkommen?“, fragte sie zaghaft, aber bestimmt. Offenbar hatte sie keine Lust ihren Abend, den sie eigentlich im Kino verbringen wollte, zuhause abzusitzen. Während der Docktor die Stirn runzelte, offenbar hielt er von diesem Vorschlag nicht so viel, meldete sich die Mutter erneut zu Wort. „Naemi! Das kommt nicht in Frage! Du könntest dich anstecken, was wenn du ins Krankenhaus musst? Dann kommen wir ja nie mehr zu unserem Familienausflug!!“ Das Mädel seufzte tief und wandte sich Hilfe suchend an ihren Papa. „Na ich weis nicht…“, schien dieser ebenfalls sagen zu wollen, doch Naemi stellte diesen Bettelblick zur Schau, der Mädchen einfach angeboren sein muss und ihr Vater gab schließlich nach. „Aber keine unerlaubten Experimente!!“, fügte er scharf hinzu, denn die Tatsache, dass Naemi gerne selber mal Docktorsfrau spielte stand ihm noch zu lebhaft vor Augen um sie zu ignorieren. „Aber sicher!“, strahlte die Kleine und fegte voller Tatendrang gleich in den Flur, um ihre Schuhe in dem wüsten Haufen zu finden. Selene betrachtete das Ganze mit gemischten Gefühlen. Der Gedanke, dieses Mädchen in Kasimirs Nähe schleppen zu müssen, besonders wenn er völlig außer Funktion war, machte sie ganz und gar nicht an. Da sie sich aber gerade im Hause der Familie befand und leider auf ihre Hilfe angewiesen war, entschloss sie sich diese Tatsache einfach zu akzeptieren. „Aber das ist ja Herr Giebels Auto.“, stellte der Docktor schmunzelnd fest, nachdem Selene die beiden nach draußen gelost hatte. „Es geht doch nicht etwa um ihn?“, fügte er an Selene gewandt hinzu. Natürlich nicht! dachte Selene angesäuert. Wie ich schon sagte, geht es um meinen Bruder und Giebel ist alt genug um mein Papa zu sein! Sie behielt den Satz aber vorsichtshalber für sich und antwortete schließlich mit einem schlichten „No!“ Dann klappte sie wiederstrebend ihren Sitz zurück, um Naemi auf den Rücksitz klettern zu lassen, während ihr Vater samt seiner Arzttasche auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Selene stöhnte. Dieses Auto war einfach nicht für mehr als eine Person gemacht. Hoffentlich brach es auf dem Rückweg nicht auseinander. Dann wäre die Kacke wirklich am Dampfen. Selene gab sich alle Mühe diesmal gleich den richtigen Weg zu finden. Nichts wäre ihr peinlicher gewesen, als sich Sachen wie „Ja, wo fahren sie denn hin?“ anhören zu müssen. Also, dachte sie angestrengt. Bis vor zur Kreuzung, dann links abbiegen, rechts vorbei am Bahnhof, anschließend am Stadtring, drei Minuten dann dürfte Mitsalza… ahja, da wir da aber nicht hinwollen, fahren wir einfach vorbei. Anschließend zwanzig Minuten Landstraße, geradewegs durch das nächste Dorf und da vorne.. huff Greifenwalda (nicht zu verwechseln mit Greifswald, der Hansestadt, oder man würde sich am anderen Ende Deutschlands wieder finden). Sofort links abbiegen, dann dort die Einbahnstraße, nach schnüffelnden Polizisten Ausschau halten und dann vorsichtig reinfahren, schnell noch mal links abbiegen und – nice! Der Kirchhof. Selene war schon dabei sich gedanklich die volle Punktzahl zu geben, als ihr einfiel, dass es noch zu früh für Jubelsprünge war. Also begnügte sie sich damit die beiden mitgebrachten Gäste im Eiltempo die vielen Stufen hoch zu scheuchen. Schwer atmend riss sie die Tür auf. Giebel zeigte anerkennend mit dem Daumen nach oben, nachdem er Dr. Haruno die Hand gegeben und auch Naemi herzlich begrüßt hatte. „Und wo ist jetzt mein Patient?“, fragte der Arzt beinahe sofort und Selene fiel überstürzt ein, dass sie noch gar nicht nach Kasimirs Befinden geschaut hatte. Nun kam sie natürlich nicht mehr dazu, denn ein eilender Giebel, ein hoffentlich helfender Arzt und dessen viel zu neugierige Tochter waren bereits vor ihr ins Zimmer gestürzt. Also tat Selene das wohl einzig Richtige: Sie rannte einfach hinterher. Dr. Haruno musterte die Stirn nachdenklich gerunzelt Kasimirs aschfahles Profil. Der Junge verzog im Schlaf oft das Gesicht und wollte nach seinem Kopf tasten, doch offenbar fehlte ihm die Kraft dazu. Seine Finger griffen jedes Mal auf halber Strecke ins Leere und fielen kraftlos zurück auf die Decke. Er atmete nur noch flach, als drücke ein schweres Gewicht auf seine Lunge. Der Docktor setzte seine Brille auf und ließ sich auf den Hocker fallen, der noch immer neben Kasimirs Bett stand. „Sie hätten mich viel früher rufen sollen.“ Selene und Giebel machten schuldbewusste Gesichter. Der Docktor kramte in seiner Tasche. „Das sieht böse aus! Wie lange geht das schon so“, meinte er forsch. „Seit gestern Abend.“ ,erklärte Giebel, der jetzt aufgrund seines weitaus besseren Deutsch das Gespräch an sich gerissen hatte. Dr. Haruno legte die Hand auf Kasimirs Stirn, prüfte seinen Pulsschlag und seine Atmung, das gestaltete sich recht schwierig, da der Junge abgesehen von einigen schmerzlichen Zuckungen kaum noch Lebenszeichen von sich gab. „Hm.“, der Docktor überlegte kurz. „Ich kann zwar ohne Blutbild keine endgültigen Schlüsse ziehen, aber es sieht nach einer Meningitis aus.“ „Meningitis?!“, echoten Selene und Giebel allarmiert. Dr. Haruno nickte und zog eine Spritze aus seiner Tasche. „Ich glaube, sie beide wissen, was ich meine. Die Meningitis ist eine Entzündung bzw. Reizung der Hirnhäute. Zumindest deutet alles darauf hin. Die sogen. "Meningen" sind Hirnhäute, die das Gehirn umschließen. Bei einer Entzündung reagiert das Gehirn mit und kann neben Symptomen wie Fieber, allgemeinem Krankheitsgefühl, Abgeschlagenheit, etc. auch allgemeine nervliche Symptome aufweisen: Bewusstseinstörungen, Orientierungsstörungen, Aufwachschwierigkeiten, bis hin zu Koma und Krämpfen können sich entwickeln und auf diesem Wege auch zum Ausfall zentraler notwendiger Körperfunktionen führen. So kann es schlimmsten Fall auch durchaus zum Tode führen. Aber hoffen wir einfach, dass das nicht eintritt.“, presste der Docktor zwischen den Zähnen hervor. Er wandte sich an die Anwesenden. „Ich muss ihm Blut abnehmen, sicherheitshalber. Einer von euch muss mir assistieren.“ „Ich mach das!“, stieß Selene sofort hervor. Erstens weil sie viel besser als der schon etwas kräftige Giebel in die Lücke zwischen Bett und Wand passte, aber hauptsächlich wollte sie nicht riskieren, dass Naemi Kasimir in diesem Zustand anfasste und möglicherweise schon wieder seine Erinnerungen las. Das würde seinem Gehirn sicher den Rest geben. „Entfernen sie das mal bitte“, ordnete Dr. Haruno an und deutete auf den Verband, der um Kasimirs Handgelenk geschlungen war. Selene gehorchte nur äußerst widerwillig und wickelte den schwarzen Stofffetzen nur langsam auf. Sie steckte ihn anschließend ein und zog ihre Finger von seinem Handgelenk, hielt den Arm straff und angespannt, so dass die Venen unter der Haut hervortraten und legte die längst verheilte Narbe bloß. Auf Kasimirs Handgelenk zeigten sich in etwa gleicher Reinfolge mehrere waggerechte gräuliche Striche. Beinahe, als hätte er eine Liste auf sein Handgelenk geschrieben und die einzelnen Punkte anschließend durchgestrichen, nur waren die Worte verschwunden und die Linien anschließend in die Haut übergegangen. Senkrecht durch diese Linien zog sich einen blasse Narbe, etwa zehn bis zwölf Zentimeter über Kasimirs Arm. Sie war zu schmal, um von einem Suizidversuch oder etwas Ähnlichem zu rühren. Selene sog schmerzlich Luft ein und tastete kurz nach ihrem eigenen ebenfalls bedeckten Handgelenk. Diese Narbe war das Geheimnis, dass die beiden Geschwister verfolgte, der Beweis, den man nicht auslöschen konnte. Aber Selene verdrängte gleich alle Gedanken, an dieses seltsame Mal, es wäre eh zu schwierig gewesen, es dem Docktor zu erklären und er fragte zum Glück auch nicht mehr danach. Dr. Haruno führte die Nadel vorsichtig in die Haut ein, während Selene zur gleichen Zeit das Gesicht wegdrehte. Das noch mit anzusehen ging über ihre ohnehin schon in Mitleidenschaft gezogenen Kraftreserven. Von Kasimir kam kein Laut während des Vorgangs. „Tapferer Junge.“, murmelte der Arzt anerkennend. Selene wickelte den Stoffstreifen wieder vorsorglich um Kasimirs Handgelenk Dann stemmte sie sich aus ihrer unangenehmen Sitzposition hoch und hielt sich kurz an der Wand fest. Eine leichte Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus. „Ich muss mal ins Bad“, stammelte sie in Richtung Giebel. Der alte Türmer nickte und legte der jungen Frau in einer Geste der Beschwichtigung die Hand auf die Schulter. „Selene, es wird alles gut.“ „Und woher weist du, dass alles gut wird?“, wisperte Selene mit einer Stimme die gebrochen war. Der Türmer zuckte die Schultern. „Irgendwo in mir drin weis ich das.“ „Ich glaub es erst, wenn ich es sehe“, presste Selene hervor. Sie hatte eigentlich giftig klingen wollen, aber ihre Stimme war nur noch ein heißeres Wispern. Sie drückte alle Lichtschalter im Bad an und postwendend brannte das sterile Licht in ihren blassen Augen. Selene schlug den Klodeckel zurück und verkrampfte die Finger. So kann es schlimmsten Fall auch durchaus zum Tode führen……. Sterben müssen wir alle irgendwann, versuchte sie sich einzureden. In ihrem Kopf meldete sich eine altbekannte Stimme. Aber doch nicht krank im Bett, das ist doch lächerlich! jammerte Kasimir. Mein Tot soll einen Sinn haben. Selene fuhr aus ihrer ungewollten Trance hoch. Sie faltete schnell die Hände, stammelte Worte die auf ein. „..rette mich wenn ich verzweifle, hilf mir deiner Gnade zu vertrauen“ hinausliefen. Amen. Ende „Ich habe Tote, und ich ließ sie hin und war erstaunt, sie so getrost zu sehn, so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht, so anders als ihr Ruf. Nur du, du kehrst zurück; du streifst mich, du gehst um, du willst an etwas stoßen……“ Kapitel 3: Der Zauberlehrling ----------------------------- Nach - ich weis - viel zu langer Wartezeit nun das dritte Kapitel. Ich hoffe das trotzdem noch ein wenig Interesse besteht. Dieses Kapitel war ursprünglich länger. Ich hab es an einer früheren Stelle beendet, sonst hätte der geneigte Leser eine Flut von Informationen auf verhältnismäßig wenig Seiten zu spüren gekriegt. Bleibt nur noch das übliche "Viel Vergnügen beim Lesen." Der Zauberlehrling „Zwar gibt es ohne Kopf kein Denken, Doch ist es darum nicht so schad, Man kann mit Wein die Kehle tränken, Es ist das beste Gurgelbad. Und ach, wie lebt es sich so stille: Kein Wort, kein Lärm, kein grelles Licht! Und nie mehr sucht man seine Brille Und nie mehr macht man ein Gedicht.“ H. Hesse – Kopflos Als vernunftbegabtes Lebewesen beschäftigt man sich doch irgendwann mal mit der Frage, was eigentlich gut und richtig ist. Früher war das natürlich ganz einfach: Alles was das eigene Leben schützte galt zumindest als annehmbar. Wie auch immer das heute aussehen mochte, es gab immer wieder einige hinterlistige Widehupfe, die in ihrem ganzen traurigen Leben noch keine nachdenkliche Sekunde an diese Frage verschwendet hatten. Selene lag ausgestreckt auf drei aneinander geschobenen Hockern und döste in Holzmanns Küche vor sich hin. Plötzlich riss jemand ohne Vorwarnung die Stütze unter ihrem Kopf zur Seite und Selene hätte wohl eine schmerzhafte Begegnung von Holzkopf zu Holzfußboden gehabt, wäre da nicht ein zuvorkommendes Händepaar gewesen, das ihr seine kalten Nägel in den empfindlichen Nacken rammte. Selene grummelte müde und blinzelte in zwei dunkelbraune Augen unter einer Flut von langen blonden Haaren. Lydia. Kaum hatte sie Selenes offene Augen bemerkt, ließ sie sie auch schon los und verschränkte die Arme vor der Brust. „Kurz wirken lassen“, grinste sie. Das linke Bein hatte sie hinter dem rechten angewinkelt. Es wurde von einer schweren stählernen Schiene geschützt. Vor einigen Jahren war sie mit dem Bein in die Quetsche geraten und Jonas munkelte in ihrem Schienenbein steckten etliche Nägel, damit die einzelnen Knochenstückchen nicht durcheinander purzelten. Lydia gab auf seine Frotzelei nichts. Sie wusste auch so, dass es stimmte. „Lyda…“ Selene klammerte sich noch im Halbschlaf an den Küchentisch und ihre Antwort ging in einem unglücklichen Wimmern unter. „Bitte, lasse mich in mei Ruhe. Seit dri Tage, ich haben nicht richtige geschlafen...“ Lyda hob verständnislos eine Augenbraue. „Und dein Deutsch ist so scheiße, wie eh und je!“ Selene stemmte sich aus ihrer unangenehmen Liegeposition in Richtung der Tischplatte. „Was du meckern! Ich war siebenzehn, wenn ich kommen nach New-old-Germany. Wie viel du hättest da noch gelernt! Please speak france or english with me, but not this damn german.” Lyda grinste ein weiteres Mal und schüttelte mitleidlos den Kopf. „Ach, Mumpitz und Krittelei! Du musst das doch irgendwie lernen. Wie magst du deinen Kaffee?“ Es war früh halb fünf und die meisten Einwohner der Furtstraße lagen noch tief schlummernd in ihren gemütlichen Betten eingekuschelt. Nur in der Dreiundzwanzig herrschte stille Allnacht, wie Ewan es gerne nannte. In dieser kleinen Sechs-Zimmer-Wohnung schlief man am Tag und vergnügte sich oder arbeitete nachts. Was Dinge wie Staubsaugen und andere geräuschvolle Tätigkeiten anging, hatte Lydas „gutes“ Herz ein Einsehen mit den Nachbarn und so verrichtete sie solche immer schon am frühen Abend. Selene brummelte. „Ich nehm’ ihn wie immer.“ Sie war einfach wieder zu einer anderen Sprache übergegangen, die ihr zu solch gottlosen Zeiten weniger Probleme bereitete. „Schon verstanden. Ich weis, dass du keinen Kaffe magst, sondern bloß schwarzen Tee mit Zucker.“ Die Antwort war ein müdes Lächeln. „Mercy.“ Mit einem Klacken öffnete sich die ehemals grüne Haustür. Jonas watschelte mit hängenden Schultern herein. „Ich bringe Besuch.“, gähnte er und zog die Kapuze von seinem blonden Zausschopf.“ Selene lugte über den Rand ihrer Tasse und entblößte ihre leicht schiefen Zähne. „Bonjour, Manna.“ Das große rothaarige Mädchen hinter Jonas nickte grüßend und ließ ihren Schulrucksack einfach fallen. Müde sank sie auf einen Küchenstuhl. Jonas nahm neben ihr Platz. Lydas jüngerer Bruder war einer der Gründe für das nächtliche Leben der drei Holzmanns, bestehend aus Jonas, Lyda und Ewan. Sowohl bei Jonas, als auch bei Manna hinterließen die nächtlichen Unterrichtszeiten ihre Spuren. Lang und dünn waren sie beide, blass und in ihre Augen hatte sich ein stumpfer Ausdruck eingebrannt. Selene wärmte ihre klammen Hände in der Zwischenzeit an der heißen Tasse. „ Ihr beiden seht aus, wie einfach nur lang gezogen und nicht, als würdet ihr wachsen. Habt ihr in eurem Bunker denn nur solche Jammergestalten?“ „Pao Chai nicht …und Kasimir auch.“, murmelte Manna in ihre Teetasse. Die lange Pause in ihrem Satz war darauf zurückzuführen, dass Manna daran gewöhnt war, dass ihre Zwillingsschwester Marthe ihre Sätze zu Ende brachte. Doch die war jetzt nicht mehr. „Wie geht’s eigentlich Kasimir?“, unkte Jonas in die unbehagliche Stille. Selene sackte in sich zusammen und strich eine hellblond gefärbte Strähne hinters Ohr. „Der liegt immer noch flach. Aber gib ihm noch zwei, drei Tage und er kann wieder anfangen sich zu bewegen.“ „Kida-Sensei wird Zeter und Mordio schreien, wenn er noch länger fehlt.“, warf Manna ein. „Wie will er den ganzen Stoff aufholen?“ Selene setzte den Becher ab. „Na auf die herkömmliche Art! Eiskalt die Tage durchlernen.“ Hallo, Leute. Ich bin’s – der Kasimir. Um ehrlich zu sein, ich hatte schon bessere Tage gesehen. Die Genesung wollte auch nicht so recht vorangehen und der Grund waren unter anderem Giebels miserable Fähigkeiten als Krankenpfleger. Vor drei Tagen hatte mich Selene mit diesem zwei Zentner schweren Kerl allein gelassen und ich machte mich auf ein Martyrium gefasst. Bereits heute Morgen erinnerte mich der Lärm von Giebels antikem Staubsauger wieder daran, wie krank ich doch eigentlich noch war. Nachdem Selene – mit meinem flehenden Blick im Nacken- verschwunden war, hatte ich mich sofort darauf schlafend gestellt, um von Giebels Fürsorge verschont zu bleiben. Zu dumm auch. Das hatte leider gar nichts gebracht. Kaum hatte ich mich eine halbe Stunde in Sicherheit geglaubt, musste ich das beklemmende Gefühl der chinesischen Wasserfolter erfahren, als Giebel mir einen triefenden Lappen auf das Gesicht drückte, um gegen mein fast erloschenes Fieber vorzugehen. Weiterhin flößte er mir eine Jauchebrühe von Medikament ein, die mir die Speiseröhre verätzte und bestand außerdem darauf, mich den ganzen Weg zur Toilette zu stützen. Das er mir dabei ununterbrochen in die Fersen trat, war ihm einerlei. Zum Glück hatte er nicht auch noch darauf bestanden, mir den Po abzuwischen. Mein Magenknurren holte mich zurück in die Gegenwart. Ich rollte mich zu einer Kugel zusammen und vergrub die Nase in dem platt gekuschelten Kissen. Und wieder einmal juckte es mich in den Fingern. Ich hätte ihm am liebsten Feuer unterm Hintern gemacht, damit er mir vielleicht endlich einen genießbaren Tee brachte. Bei zehn zur Verfügung stehenden Sorten kochte er mir natürlich Zitronentee, dessen Schwebeteilchen fast jeden meiner Hustenanfälle in Erstickungsanfälle verwandelten. Kurz gesagt, ich war auf dem besten Wege wieder ganz der Alte zu werden und sei es nur, um Giebels Fürsorge zu entrinnen. Letztlich war es mal wieder Selene, die mich aus meiner Krankheitsdepression riss. Sie hatte die letzten drei Tage, in dehnen ich krank daniedergelegen und mich foltern lassen hatte, genutzt um ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, nämlich der äußerlich nicht angebrachten Veränderung. Ihr Haar war inzwischen wieder hellblond, eingefasst in einen knapp schulterlangen Schnitt, den man nicht mehr als gestuft, sondern nur noch als radikal bezeichnen konnte. Nachdem Giebel sie freundlicher als beim letzten Mal begrüßt hatte, wuchtete er einen Riesenordner auf den Küchentisch, den er bis dahin unter seinen kräftigen Arm geklemmt hatte. Ich, wie der Blitz, hob neugierig den Kopf von den Kissen. Neue Fälle? „Sind die für mich?“, meldete ich ein wenig zu hastig an und wurde nach meinem abgeklungenen Hustenanfall sofort von Selene zurück ins Bett gedrückt. („Du bist noch krank.“) Giebel würdigte mich wenigstens überhaupt einer Antwort, die auch im Bezug zu meiner Frage stand. „Hm, naja fast.“, grummelte er und hob dabei eine angegraute Braue. „Dachtest du die magischen Unfälle stehen still, während du faul im Bett liegst, Junge? Oh nein.“ Den letzten Teil hätte er sich sparen können, von Selenes missbilligenden Blicken gar nicht zu reden. Giebel pflügte sich weiter fröhlich durch die Seiten. „Hm, hm, hm,… Aha. Verunglückter Zauberlehrling seit drei Tagen in Zwangsjacke gefangen, fünf angebrannte Tischplatten bei nächtlichem Gläserrücken, Werwolf in Mitsalza…. Hä?!“ Und wieder mal hatte ich es im Voraus gewusst: Aller Guten Dinge sind drei! Selene indessen zog bei der letzten Nennung die Nase kraus. Mal was anderes, als immer nur schief gelaufene Experimente junger Zauberlehrlinge, die noch immer nicht geschnallt hatten, dass Magie nun mal immer etwas bewirkte, egal ob der eigentlich angestrebte Zaubertrick nun gelang oder nicht. „Dieser Bericht ist falsch formuliert.“. murrte Giebel. „Ach?“ Selene hob eine dunkle Augenbraue und zerrte Giebel die Folie aus den Händen. „Ich erkenn daran nichts Falsches. Keine Rechtschreibfehler.“ Giebel stieß Luft aus und schien daraufhin ein wenig einzusacken. „Du hast mich wie immer missverstanden, Selene.“ „Was?!“ „Es gibt keine Werwölfe. Das meinte ich.“ „Wirklich nicht? Es gab doch Fälle… in nicht allzu junger Vergangenheit. Dieser Stüpp, oder?“ Giebel überlegte einen Moment. Und ich? Ich war vergessen wurden, wie immer. „Du meinst Stübbe, Selene.“ Angesäuert verdrehte meine herzensgute Schwester die Augen. „Ich weis ja, dass es da mal eine Zeit gab, an der ich an jeden Satz ein ‚Korrigier mich, wenn ich etwas Falsches sage’ angehängt hab. Aber jetzt weist du doch, was ich meine!“ „Ja, ja, weis ich. Und ich weis auch, dass der Werwolf, unter dem Einfluss des Hexenglaubens, mehr zum Gegenstück der Hexe wurde und sich damit einige Schritte von der Sagenfigur entfernte, die er eigentlich war. Dieser Stüppe war, sollte er wirklich dreizehn Menschen getötet haben, nur verrückt, und halt ein Mörder, aber kein Werwolf.“ „Nur verrückt?!“, echote Selene in dümmlicher Manie. Sie beugte sich mit gerunzelter Stirn vor und brachte damit die Kupferplättchen an ihrem Pulli zum Klingen. „Gleich wirst du mir sagen, dass nur die Verrücktheit böse und der Mensch im Grunde immer gütig ist.“, fauchte sie angriffslustig. Giebel stand halt nicht nur im Ruf des gläubigen Christen, sondern auch in dem des kosmopolitischen Humanisten. Trotzdem prallte die geistige Attacke so gut wie wirkungslos ab. Giebel kratzte sich am Kopf, auf dem aufgrund seiner fortschreitenden Kahlheit nicht mehr so viel vorhanden war. Dann musterte er Selene durch die Gläser seiner Plastikbrille, die bei mir unwillkürlich den Eindruck hinterließ, er hätte sie vor etlichen Jahren mal im Chemieunterricht mitgehen lassen und dann einfach die Gläser ausgetauscht. „Sehr scharfsinnig, Selene. Aber das Böse waltet in allen Dingen und steckt auch im Menschen. Auch wenn es auf das Dasein der meisten von uns nur einen blassen Schatten wirft. Aber es ist trotzdem eine interessante Theorie“, fügte Giebel nach seiner moralischen Standpauke hinzu, „wir sollten uns bei Gelegenheit darüber unterhalten. Was dann auch immer das Ergebnis dieses zweifellos interessanten Gesprächs wird, es hat nichts mit unserem Fall zu tun.“ Nachdem Giebel die Diskussion im Keim erstickt hatte, wandte er sich wieder seinem Zettelberg zu. „Unser ‚Stüppe’ hat zwar „bloß“ drei Menschen getötet, dafür aber nachweislich.“, fasste Giebel den Zettelinhalt zusammen. „Fällt so was nicht eigentlich in die Abteilung Soko Okkult? Wieso krieg ich das auf den Teller?“, brummte ich den Raum. Giebel und Selene starrte mich an, wie zwei Nachtmützen, die aus einem Traum erwachten und ich fand mich in meiner Ahnung bestätigt. Man hatte mich tatsächlich vergessen. Giebel knirschte hörbar mit den Zähnen und verfluchte den Umstand, dass seine Türmerwohnung nur aus drei Zimmern bestand. „Ich dachte, du schläfst? Wären wir nicht dazu verdammt, alle im selben Zimmer zu sitzen, hättest du diesen Fall gar nicht zu Gesicht bekommen, bevor ich nicht seine ominöse Herkunft in Erfahrung gebracht habe!“, knurrte er und unterstrich seine Worte, indem er mir drohend den Zeigefinger unter die Nase hielt, die bei diesen Worten wie aufs Stichwort zu laufen anfing. Sein Arbeitszimmer dürfte eben nach wie vor nur er selbst betreten. Da blieb nicht mehr viel. Selene hatte sich bis jetzt erstaunlich ruhig verhalten, doch bei Giebels letztem Satz horchte sie wieder auf. „Nur damit auch ich das verstehe, Giebel. Du hast einen Fall in deinen Akten und weist nicht, wer ihn versehentlich in deinen Briefkasten fallen gelassen hat?!“ Sie machte eine kurze Pause. „Bist du sicher, dass nicht vielleicht nur ein makaberer Scherz ist? Von der Göre vielleicht? Passen würde das zu ihr….Autsch!“ Selenes Indizienführung wurde von einem jähen Fußtritt Giebel seits beendet. „Hey! Nur weil du die Kleine nicht magst, musst du ihr nicht alles aufhuckeln, was hier in letzter Zeit schief läuft.“ Giebel überflog den Bericht noch ein weiteres Mal. „So harmlos ist es nämlich nicht. Wenn du gelegentlich mal Augen und Ohren aufhalten würdest, Selene, wüsstest du nämlich, dass die Person, um die es geht, tatsächlich existiert. Und seit einiger Zeit in Untersuchungshaft hockt.“ „Mein Analphabetentum ist noch nicht so weit vorangeschritten, wie du denkst!“, keifte Selene. Ich kann deutsch verstehen. Ich kann es nur halt nicht sprechen.“, fügte sie eine Spur kleinlauter hinzu. „Was dir in diesem Fall auch nichts genützt hätte.“, sagte Giebel unsinnigerweise. Der Streit ging unentschieden aus und von dem Moment an schlummerte der Werwolf in Giebels Schreibtischschublade. Und ich erhielt endlich von - Selenes liebevollen Händen zubereitet – eine Tasse Pfefferminztee. Während der Honig auf meiner Zunge zerging geschahen in unserem kleinen Anwesen mehrere Dinge. Giebel hatte sich zu seinen Konfirmanden in den Gemeindesaal zurückgezogen und Selene stand auf dem Kirchhof und tat etwas gegen die Gesundheit, während mehrere Eimer Regenwasser den Weg auf die Erde fanden und sich trommelnd an unserer Fensterscheibe niederschlugen. Nach wenigen Minuten gesellte sich zu dem gleichmäßigen Klang der Tropfen ein hastiges Trippeln, Schritte, die die Treppe heraufkamen, untermalt von einem schmatzenden Geräusch beim Auftreten. Das ließ mich darauf schließen, dass der Jemand fürchterlich nasse Hosenbeine hatte und ich machte mich erneut auf die Ehre von Selenes Anblick gefasst. Beinahe im selben Moment lugte ein blonder Kopf um die Ecke und grinste mich unter einer Kapuze dümmlich an. Aber es war nicht Selene. Es war Jonas. Der Kerl hatte vermutlich den gesamten Schlamm des Kirchhofes an Hosenbeinen und Schuhen klebend herauf getragen, und ließ diesen jetzt gewissenlos auf die sauberen Holzdielen tropfen. Wie die Personifizierung des Wortes ‚spannenlanger Hansel’ kam er auf mein Bett zugestapft und zog dabei eine matschige Fußspur. „So sieht aber kein gesunder Junge aus, was Kasi? Ich gehe davon aus, dass du mich heute nicht zum Unterricht begleiten wirst.“ Volltreffer. „Ich entdecke gerade die angenehmen Seiten des Krankseins.“ Jonas grinste wehleidig. „Nicht mehr allzu lange, hoffe ich. Wenn du nicht bald wieder zum Unterricht erscheinst, reißt Kida - Sensei sich ’n Bein aus.“ „Na und. Lasse’ doch.“, grummelte ich. Jonas platzierte als Antwort einen Stapel durchweichter Kopien auf meinem Schoß, dessen Schwere mir gleich die Knie einsacken ließ. „Was?! Das alles!“ Seufzend nahm ich das erste Blatt und ließ es im gleichen Zug wieder sinken. „Deine Handschrift ist erbärmlich, Jonas.“ „Verzeiht, euer Merkwürden.“ Nach einer quälend dahin schleichenden, halben Stunde verabschiedete sich Jonas, nachdem er noch einmal sanft gemahnt hatte, dass ich schon zu lange krank war und endlich wieder aufstehen müsste. Den Blätterstapel ließ ich unangetastet liegen. Stattdessen zog ich mir die Decke über den Kopf und schlief mit dem Gedanken, der das Wort „Werwolf“ formte, ein. Von Träumen voll glühender Augen und Jaulbojen blieb ich zum Glück verschont. Das Grauen stellte sich nämlich noch früh genug ein und zwar am nächsten Morgen. Giebel hatte in unserem Badezimmer den Fußbodenbelag abgerupft und darunter hatte sich – seinem gedämpften Fluchen nach zu urteilen – der Alptraum offenbart. „Ein vergammelter Balken..“ Selene hockte mit einer Tasse Milch in der Hand auf einem der Küchenstühle und gab ihre fachliche Meinung kund. „Er ist nicht vergammelt!“, protestierte Giebel in Tönen, die den mittelalterlichen Vorbesitzern dieser Türmerwohnung alle Ehre gemacht hätten. „Er ist nur ein wenig grün und…. Ach du Schreck! Da bröckelt’s.“ Selene setzte die Tasse ab und raste mit klingendem Oberteil in Richtung Bad. Ich folgte ihr stehenden Fußes und zog mir dabei drei Splitter ein. Wie von einer unsichtbaren Mauer aufgehalten passten wir in der Tür und starrten mit aufgerissenen Augen auf Giebels Husarenstück. Selene nutzte den Halt um ihr Tuch festzuziehen, das über den Pulli gekreuzt um ihre Brust geschlungen war. Als Dominic die Kläranlage auf dem Hinterhof reparieren und dabei fachliche Kompetenz demonstrieren wollte – und bemerkte, dass er dazu nicht im Stande war – hatte er sich an Selenes Pulli gekrallt um nicht in den stinkenden Schacht zu stürzen. Seitdem wies der Pulli im Brustbereich einen Riss auf. „Hm.“ Selene legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Am besten, Giebel, klebst du den Fußbodenbelag wieder drauf und tust, als hättest du diesen Balken nie gesehen.“ In Anbetracht der Umstände schien das eine annehmbare Alternative. Bei einer eventuellen Renovierung hätte ich um mein Leben fürchten müssen, denn Giebel hätte in seinem Renovierungswahn sicher die ganze Kirche eingerissen. Und damit wäre Greifenwalda um ein wunderschönes Feldsteinbauwerk und einen genialen Magier ärmer gewesen. Dieses Ereignis lieferte für mich letztendlich den Beweis, dass die Tage im Bett gezählt waren und der Alltagstrott mit drohendem Finger auf mich wartete. Ich zog mich für den Rest des Tages auf meine Schlafstatt zurück und begann unauffällig die Arbeitsblätter durchzulesen. Mit jedem Blatt, das sich auf der Bettdecke neben mir wieder fand, sackte meine Laune unaufhaltsam dem absoluten Nullpunkt entgegen. Offensichtlich hatte Kida – Sensei auf die üblichen sieben noch einige Zusatzstunden gepackt. Es gab gar keine andere Erklärung für diese Menge an Unterrichtsmaterial. Ich war doch nur vier Tage krank gewesen! Jonas dürfte während dieser Zeit das Erfolgserlebnis seiner gesamten Schullaufbahn gehabt haben. Mit meiner Abwesenheit, war die sichere Instanz, immer jemanden zum Abschreiben zu haben versiegt und so hatte er notgedrungen seine eigenen Hände benutzt. Das Ergebnis ließ noch etwas zu wünschen übrig, dann nach der ersten halben Seite nahm die Schrift Ähnlichkeit mit dem Nachlass einer an Durchfall leidenden Fliege an, aber ich wollte mich nicht beschweren. Ich hatte die Aufzeichnungen. Weder Giebel noch Selene zeigten für meinen plötzlichen Lerneifer Verständnis und bei der Erwähnung, dass ich gedachte, heute Abend wieder in gewisse heilige Hallen zurückzukehren, zog sich hinter den Augen meiner Schwester ein Orkan zusammen. Es hagelte eine Bandbreite von Argumenten auf mich ein, die im Grunde alle das Selbe bedeuteten: „Du bist noch krank!“ Da keines der Argumente auf fruchtbaren Boden fiel, verließ Selene schließlich vor Wut stampfend die Wohnung und den Kirchhof in einer Auspuffwolke. Nachdem der Dunst von Selenes Motorrad sich verzogen hatte, gesellte ich mich an den Abendbrottisch. Giebel musterte mich über den Rand seiner Brille mit zusammengekniffenen Augen. Er hieß die Sache genauso wenig gut, wie Selene, war aber anscheinend doch der Ansicht, dass ich ein großer Junge war und in der Lage eigene Entscheidungen zu treffen. Trotzdem lies er es sich nicht nehmen, mich mit guten Ratschlägen einzudecken. „Hey, Kasimir.“, fing er an, während er sich ein weiteres Käsebrot herrichtete. „ Es kann gut sein, dass die Leute in deiner Schule über diesen Fall Bescheid wissen, den wir gestern so ausschweifend erörtert haben. (Das war gut. Eigentlich hatten wir ihn ruckartig zur Seite geknallt.) „Und ich dachte die Sache wäre irgendwie geheim.“, grummelte ich durch einen Löffel Nudelsuppe. „Ist es auch.“, war Giebels unverblümte Antwort. „Aber immerhin hat dieser vom Floh gebissene „Werwolf“ drei Menschen in die ewigen Jagdgründe geschickt. Und das mitten in einem Provinznest.“ Er verzog wehleidig das Gesicht. „Glaubst du, es bestand auch nur der Hauch einer Möglichkeit, dass das nicht durchsickert?“ „Schon gut, schon gut.“ Ich hielt einen Moment inne. „Ich frage mich, wieso davon nichts in der Zeitung stand.“ „Gute Frage.“, pflichtete Giebel bei. „Die kannst du an den Absender richten, wenn wir ihn gefunden haben.“ Er ließ das Käsebrot, welches er gerade zum Mund führen wollte sinken. „Falls dich jemand auf die Sache ansprechen sollte – du weist nichts! Mit ein bisschen Glück wissen wir dann hinterher mehr.“ „Hä?!“ „Wir müssen den Tatsachen auf die Schliche kommen, die nicht in diesem Bericht stehen, Kasimir. Und eine öffentliche Untersuchung verschließt meist mehr Wahrheit, als sie preisgibt.“ „Sollten wir in diesem Fall nicht eher von Spekulationen reden?“, wagte ich meine Bedenken offen zu äußern. „Die wirst du noch massenweise zu hören kriegen, wenn die Angelegenheit in Form des rollenden Steinchens in Gang kommt. Bis dahin sollten wir uns nicht von irgendwelchen Mutmaßungen beeinflussen lassen, sondern unseren Verstand gebrauchen.“ „Und am Ende herausfinden, dass von Anfang an was faul an der Angelegenheit war.“, fügte ich provokativ hinzu. Giebel zog die Nase kraus. Sein Blick glitt über den Käse zum Badezimmer. „Das ist nicht das Einzige, was hier faul ist.“ Ich hatte mich mit Absicht ein wenig früher auf die Socken gemacht und mit Unbehagen festgestellt, dass ich nach zehn Minuten Laufschritt ins Hecheln geriet und ein unsichtbares Körnerkissen warm auf meinen Nacken drückte. Ich wusste es: Es war doch keine so gute Idee gewesen. Oder fairer gesagt, hatten es andere gewusst. Nachdem ich mit der Schnelligkeit eines Senioren den Einstieg passiert hatte, sank ich auf meinen Stammplatz im Gang, während der Bus beschleunigte. Und als die Straßenlaterne mein Gesicht, wie ein Spot streifte, durchzuckte mich ein warnender Geistesblitz. Rasch okkupierten meine Augen die übrigen Sitzreihen. Keine Naemi – Gelobt sei der Herr. Schon fast gemütlich rollten wir durch Greifenwaldas Straßen – ich und der Busfahrer. Und zugegeben, die Straßen waren etwas ungewöhnlich. Es gab zum Beispiel keinerlei Müll. Vielleicht lag der Grund dafür darin, dass die Stadtverwaltung die Verunreinigung dieses lange Zeit industriell genutzten Schrottplatzes mit hohen Gebühren versehen hatte. Das ewige Rätsel, wo die Anwohner ihre Tonnen versteckt hielten würde wohl nie gelöst werden. Greifenwalda war keine feindselig wirkende Stadt und der Architekturbrutalismus war fast spurlos an ihr vorübergegangen. Die Einwohner fristeten ihr Dasein nicht in Betonklötzen sondern in Häusern. Dennoch ertappte ich mich immer wieder bei dem Gedanken, dass dieses Städtchen nur oberflächlich gesehen heimelig und aufenthaltsfreundlich wirkte, sobald ich einen Blick auf die Zeit warf, in der die Stadt gebaut wurden war. Für gewöhnlich ging man darüber hinweg, denn das Gesicht der Stadt wurde nicht nur von seiner Architektur geprägt, sondern auch von den Bewohnern. Von der präsenteren Seite betrachte, war unsere Stadt eine gute Stadt zum Leben. Die Leute waren freundlich, sobald man sich ihnen ein wenig nährte. Ein Vermögen nannte wohl keiner sein Eigen und einige Scherzbolde verbrachten die Nächte mit unverschlossener Tür. Um jeder Zeit erreichbar zu sein, behaupteten sie, um zu vertuschen, dass sie ihre Schlüssel verloren hatten, alle anderen. Aber mit dem Aufkommen der Abenddämmerung sank diese Seite von Greifenwalda in sich zusammen. Andere Städte erwachten nachts überhaupt erst zum Leben, Greifenwalda dagegen sackte in ein Komatief. Über die Dächer wabberte eine unheimliche Stille, die alle Nachtschwärmer – wie mich gerade – mit hübscher Regelmäßigkeit irritierte und wenn es dafür eine Erklärung gab, war sie vermutlich in den Köpfen der Urgesteine unter all dem unterschlagenen Müll verschüttet. Die Lautstärke ebbte mit dem Schwinden des Lichts und die ganze Stadt hatte sich die Gewohnheit zu eigenen gemacht nur noch zu flüstern, um nicht irgendwas zu erwecken. Und wer genau hinschaute, konnte es erkennen… „Hey! Seit ihr denn nur des Wahnsinns?!“ Die urplötzlich hereinbrechende Stimme des Busfahrers durchbrach meine sentimentalen Überlegungen mit der Wucht einer biblischen Heimsuchung. Urheber des wiedererwachten Geräuschpegels war offenbar ein klackerndes Geräusch, ausgelöst von einem noch unbekannten Wesen, dass die Fensterscheiben des Busses mit Wurfgeschossen traktierte. Ich drückte mir das Gesicht an der Scheibe platt und erkannte wenige Meter entfernt unter einer Straßenlaterne zwei atmende Zaunlatten. Während der eine fröhlich weiter Zielwerfen betrieb, gestikulierte der andere wild mit den Armen und wies dabei immer wieder mit beiden Zeigefingern in die Richtung, in die ich nicht fuhr. Sofort schoss ich in die Höhe und jagte schnaufend zur Tür. „Halt! Lassen sie mich raus!“ Dem Busfahrer ging in diesem Moment vermutlich der Grund für das ganze Theater auf, und so fiel es ihm nicht schwer mich loszuwerden. Dann steuerte ich zielgerecht auf die beiden Übeltäter zu. „Was sollte denn das?!“, fauchte ich und unterstrich meine Frage mit ebenso wilden Handbewegungen, wie zuvor Manna – die die Arme mittlerweile wieder gesenkt hatte. „Das fragst du noch? Du bist an allen drei möglichen Haltestellen vorbeigefahren! Das konnten wir doch nicht einfach zulassen.“, erleuchtete Jonas mich und schob dabei die Tatsache, dass er eben fast zwei Fensterscheiben zu Bruch geschmissen hatte unauffällig in den Hintergrund. Manna sagte nichts. „Musstest du deswegen gleich mit Steinen schmeißen?“ Jonas kaute als Antwort zunächst an den Schnüren seiner Jacke. „In Wahrheit waren es … Getränkedosen.“, murmelte er und hob den Fuß von einem zerquetschten Subjekt, das nicht mehr zum Einsatz gekommen war. „Aber es war nicht gut. Sie fliegen schlecht.“ Manna holte uns zurück in die Wirklichkeit, indem sie uns warnend ihre Uhr unter die Nase hielt, die an ihrem dünnen Handgelenk schlackerte. Und so machten wir uns angesichts des drohenden Unterrichtsbeginns auf den Weg und erreichten Alex’ Bahnhof in rekordverdächtigen sechs Minuten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)